Der doppelte Tod - Andreas Franz - E-Book
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Der doppelte Tod E-Book

Andreas Franz

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Beschreibung

Authentisch, aktuell, hochspannend: Band 23 der Bestseller-Reihe »Der doppelte Tod« ist der 23. Teil der Krimi-Reihe um die toughe Frankfurter Kommissarin Julia Durant.  Mitten in der Frankfurter Innenstadt kommt es zu einer blutigen Messerstecherei: Am Ende gibt es einen Toten, vom flüchtigen Täter fehlt jede Spur. Kommissarin Julia Durant und das K11 ermitteln in alle möglichen Richtungen, am ehesten scheint eine Beziehungstat oder ein Fall von Bandenkriminalität infrage zu kommen. Doch dann taucht ein Handy-Video auf, auf dem zu erkennen ist, dass das vermeintliche Opfer der Bluttat in Wahrheit der Angreifer war. Ein Fall von Notwehr also? Während Julia Durant und ihr Team erfolglos versuchen, die Identität des Geflüchteten zu festzustellen, gibt es einen Treffer bei der DNA-Analyse: Der Getötete hatte offenbar Kontakt zu einer Frau, deren Leiche man wenige Tage zuvor in einem Steinbruch gefunden hat …  Temporeich und ganz nah an der Realität setzt Bestseller-Autor Daniel Holbe auch im 23. Fall für Julia Durant das Erbe von Andreas Franz fort, der mit seiner Kult-Kommissarin zum erfolgreichsten deutschen Krimi-Autor wurde.  Die Krimi-Reihe »Julia Durant ermittelt« ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Jung, blond, tot - Das achte Opfer - Letale Dosis - Der Jäger - Das Syndikat der Spinne - Kaltes Blut - Das Verlies - Teuflische Versprechen - Tödliches Lachen - Das Todeskreuz - Mörderische Tage - Todesmelodie - Tödlicher Absturz - Teufelsbande - Die Hyäne - Der Fänger - Kalter Schnitt - Blutwette - Der Panther - Der Flüsterer - Julia Durant. Die junge Jägerin - Todesruf - Der doppelte Tod   

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Seitenzahl: 518

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Andreas Franz / Daniel Holbe

Der doppelte Tod

Julia Durants neuer Fall

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Vor dreißig Jahren wurde eine junge Frau ermordet, deren Leiche jetzt in einem alten Steinbruch in der Wetterau auftaucht.

Vor zwanzig Jahren starb der Mann, der damals schon auf der Liste der Verdächtigen stand - ebenfalls ermordet, in einem Eifersuchtsdrama.

Gegen diesen rätselhaften Cold Case scheint die blutige Messerstecherei in der Frankfurter Innenstadt reine Routine für Julia Durant und das K11 – bis ein Handyvideo beweist: Das verstorbene Opfer der Bluttat war der Angreifer! Und seine DNA passt zu einer Probe, die man an einer Frauenleiche fand. Es ist die Leiche im Steinbruch …

Inhaltsübersicht

Motto und Widmung

Prolog

Gegenwart

Dienstag

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Epilog

Nachwort

Nichts

kann das Leben ersetzen

 

 

 

 

In dankbarer Erinnerung an

Christine Steffen-Reimann

Prolog

Er nannte sich Dave.

Es war nicht sein richtiger Name, aber er wollte so angesprochen werden. Dave hing gelegentlich bei den DJs rum, einen Guaranadrink in der Hand, doch meistens saß er einfach nur da und wippte mit dem Kopf zu den Beats. So wie es in dem Technokeller üblich war. Hier legte niemand Kommerz auf, hierher kam man nicht zum Herumhüpfen. Hier landete man zu später Nachtstunde, wenn der neue Tag schon an der Tür kratzte, und ließ sich außerhalb von Raum und Zeit tragen.

Dave war ein Durchschnittstyp, vielleicht machte ihn genau das interessant. Kein Poser, kein Macho, aber auch kein sich anbiedernder Softie. Mehr so der Unnahbare, der zwar am weiblichen Geschlecht interessiert war, um dessen Aufmerksamkeit man sich aber bemühen musste. Sexy Schlaghosen mit tief sitzendem Bund und bauchfreie Tops, die nur wenig verbargen, genügten da nicht.

Ein Kleidungsstil, mit dem sie sich ohnehin schwertat, was nicht zuletzt daran lag, dass sie das, was ihr an Busen fehlte, entlang der Hüfte trug. Jedenfalls war das ihre Sicht der Dinge. Es gab so viele Tussis, die besser aussahen. Die sich einfach neben Dave pflanzten und ihre Reize feilboten. Sie fand das abstoßend. Aber gleichzeitig ließ irgendetwas an ihm sie nicht los.

Zwei Wochen später war es dann so weit. Eine Party auf der Jagdhütte irgendeines Typen, der vor zwei Jahren Abi gemacht hatte. Sein Bruder verteilte Flyer. Farbdrucke, die professionell wirkten und einem das Gefühl gaben, eine exklusive Einladung in Händen zu halten. Sie wusste noch nicht, wie sie dorthin gelangen sollte, denn die Hütte lag zwischen zwei abgelegenen Käffern im Taunus. Andererseits war sie auch schon ins FUN nach Usingen gelangt und wieder zurückgekommen. Der Rückweg war ja meist noch viel komplizierter, vor allem, wenn der Fahrer sich dann doch entschied, zu trinken oder etwas einzuwerfen.

Aber sie wusste genau, dass sie sich diese Party nicht entgehen lassen durfte. Ihre Eltern waren auf Reisen. Sie hatte sturmfrei. Sie hatte ihnen Stein und Bein geschworen, keinen Unfug zu machen und sich auf die bevorstehenden Klausuren zu konzentrieren. Ein gutes Abi, bla, bla …

Auf der Party waren sicher viele Ältere aus dem Jahrgang des Hüttenbesitzers. Zügellose Typen aus reichem Elternhaus. Doch die gab es auch in ihrer Klasse. Die meisten würden an diesem Abend dort feiern.

Vor allem aber Dave.

*

Der Subaru Allrad holperte über den Waldweg. Ein häufig frequentierter Weg. Mehrere Wanderrouten nahmen hier ihren Anfang oder ihr Ende, dazu kamen Mountainbiker und regelmäßig auch Reiter. Hochsitze gab es hier kaum, und wenn, dann standen sie ein gutes Stück abseits. Zu dieser Stunde war hier niemand zu erwarten. Nieselwetter und eine mondlose Nacht. Keiner würde ihn sehen, keiner würde ihn stören.

Und falls doch?

Das Ziel näherte sich, und er unterbrach seinen Gedanken. Erinnerungen strömten auf ihn ein. Wie oft schon war er hier draußen gewesen? In besseren, nein, anderen Zeiten. Waren sie wirklich besser gewesen? Darüber wollte er nicht nachdenken. Zum Trinken, zum Knutschen, was man als Heranwachsender eben so trieb, wenn man die Entfernung bis in den alten Steinbruch überwunden hatte. Zu Fuß, per Fahrrad, später auch mit dem Motorroller. Wie oft hatte es Ärger mit dem alten Förster gegeben! Er hatte sie regelmäßig verscheucht, und sie waren mit derselben Beharrlichkeit wiedergekommen. Bis zum Ende der Schulzeit. Danach waren die Lebenswege in unterschiedliche Richtungen verlaufen, wie das eben so war. Doch ausgerechnet heute endete der Kreislauf des Lebens genau hier.

Der Motor erstarb. Es knisterte. Er schaltete die Innenbeleuchtung aus, bevor er am Hebel des Türöffners zog. Er rutschte ab, griff ein zweites Mal zu. Wischte sich den Schweiß von den Händen; er war nervös. Sein Herz klopfte. Wieder tauchte ein Bild in seinem Kopf auf. Der alte Eugen. So war der Name des Försters gewesen. Mit seinem schlammgesprenkelten Land Cruiser, der nach alter Hundedecke roch. Und nach Apfelwein. Was, wenn er plötzlich vor ihm stünde?

Nein!

Gab es den Alten überhaupt noch? War da nicht …

Er zwang sich zur Konzentration und stieg aus. Die Kühle der Nacht half ihm dabei. Einatmen, ausatmen. Orientieren. Er kannte das Areal wie seine Westentasche, das half ihm in der milchigen Schwärze, die ihn umgab. Er konnte die Wasseroberfläche erst erkennen, als sie wenige Schritte vor ihm lag.

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte man hier Quarzit abgebaut. Ein graues, witterungsbeständiges Gestein, das für Schotter, Bodenbeläge und auch in der Glasproduktion seine Verwendung fand. Er schluckte, denn er musste an die Kunstszene denken. Auch den alten Tutenchamun hatten die Ägypter einst als Quarzitbüste verewigt.

Was tust du hier eigentlich?

Er schüttelte das Altertum und die Schatten, die es warf, von sich, drückte die Autotür so leise wie möglich zu und umrundete das Fahrzeug. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Mitten in der Nacht, im dünnen Verkehr. Eine leblose Frau auf der Rückbank. Was sich in seinem Kopfkino als völlig plausibel dargestellt hatte, war rückblickend der blanke Wahnsinn gewesen. Was, wenn er in eine Kontrolle geraten wäre? Alkoholisiert, in einem Fahrzeug, das nicht auf ihn zugelassen war. Dazu das Mädchen. Sie war bestimmt noch keine achtzehn.

Doch das Drehbuch war wie von allein in seinen Kopf gelangt.

»Fahrzeugpapiere bitte.«

»Tut mir leid. [Das Beben in der Stimme hätte er nicht einmal spielen müssen.] Das ist nicht mein Wagen.«

Der Uniformierte beugte sich argwöhnisch nach unten. »So, so. Haben Sie getrunken?«

Die blauen Lichtblitze des Polizeiwagens fielen auf das blasse Gesicht im Fond des Wagens.

Ein zweiter Beamter trat herbei.

[Mittlerweile war er allein vom Gedanken daran schweißnass. Nein. Das konnte man nicht spielen. Aber er antwortete ungemein überzeugend.]

»Das ist … ich kenne sie nicht … wir müssen ins Krankenhaus! Ich glaube … sie hat eine Alkoholvergiftung.«

Ob er damit durchgekommen wäre? Natürlich, dachte er. Wie immer. Im Zweifelsfall hätte ihn das Geld seiner Familie aus der Sache rausgepaukt. Er hatte nur helfen wollen. Alles andere musste man ihm erst mal nachweisen.

Er dachte daran, dass er kein Kondom benutzt hatte. Na und? Auf Partys hatte man nun mal Sex. Genau wie hier am Steinbruch.

Nachdem er die Autobahnunterführung der A5 zwischen Friedrichsdorf und Rosbach genommen hatte, war er der B455 weiter gefolgt bis zur ersten Abbiegung. Dann nach links in Richtung Tennisclub. Hier hatte sein Vater ihn einmal unterbringen wollen. Nicht, weil er in ihm einen neuen Boris Becker sah, sondern vielmehr, um ihm Anschluss zu den »richtigen« Leuten zu verschaffen. Ein Unterfangen, das schon beim ersten Besuch in der Halle zum Scheitern verurteilt gewesen war. Er hasste sowohl den Sport als auch die Leute, mit denen sein Vater zu tun hatte. Außer vielleicht, wenn man eine Gefälligkeit brauchte.

Doch es war alles gut gegangen. Auf dem kleinen Parkplatz hatte er einen Zwischenstopp eingelegt. Parkte rückwärts, öffnete den Kofferraum und entblätterte eine Folie, die er für diesen Zweck mitgenommen hatte. Danach war er zur hinteren Beifahrertür gegangen. Zuerst fiel ihm das Reisekissen entgegen, das er zwischen Gurt und Fenster geklemmt hatte, damit ihr Kopf nicht ziellos hin und her fiel. Ihre Haut war noch warm. Er löste den Gurt. Hob sie an und trug sie nach hinten. Als er sie in den Kofferraum gleiten ließ, mischte sich ein Röcheln unter das Knistern des verrutschenden Plastiks. Sofort war sein gesamter Körper mit einer Gänsehaut des Entsetzens überzogen. Für mehrere Sekunden stand er wie erstarrt. Dann gewannen seine logischen Gedanken die Oberhand.

Leichen machen solche Dinge.

Es hätte viel schlimmer kommen können, dachte er weiter. Er wollte es sich gar nicht im Detail vorstellen.

Das Drehbuch für den Waldweg war ein anderes. Würde man ihn hier anhalten, dann fiele die Erklärung mit dem Krankenhaus wohl weg. Dafür verkehrten im Wald keine Bullen. Schlimmstenfalls musste er sich mit Eugens Nachfolger herumschlagen. Eine Erklärung, weshalb er ausgerechnet hierherfuhr, hatte er sich noch nicht zurechtgelegt.

Nostalgie? Ein spontaner Entschluss, weil er zufällig in der Gegend war?

Er atmete schwer. Hätte es nicht tausend andere Möglichkeiten gegeben? Bessere Möglichkeiten?

Wieder schüttelte er sich.

 

Der Weg hinunter zum Wasser war beschwerlich. Dave war kein Schwächling, aber allein der nasse Boden und das karge Licht hielten ihn davon ab, das Mädchen zu tragen. Also zerrte er sie halb neben, halb hinter sich her. Eventuelle Schleifspuren würde er auf dem Rückweg zertrampeln müssen. Einerseits war es idiotisch, ausgerechnet hierher zu kommen. Hierhin, wo er in den Sommern seiner Jugend schwimmen gewesen war. Wo er jeden Quadratzentimeter kannte. Andererseits war genau das der Grund, weshalb es hier sein musste. Dave hatte seine Verbindungen zu diesem Ort gekappt, aber er wusste sehr genau, in welche Bereiche nie jemand ging. Sei es wegen der Steine, wegen des knietiefen Schlamms oder wegen irgendwelcher Giftschlangen, von denen man sich Schauermärchen erzählte.

Das Wasser reichte ihm bald bis zu den Knien. Schilfblätter fuhren ihm durchs Gesicht. Aus der Entfernung plumpste es. Ein Frosch, der zurück ins Wasser sprang? Unmittelbar vor ihm flatterte ein Vogel auf. Kreischend. Vor Schreck ließ Dave das Mädchen fallen.

Reflexartig griff er nach der Folie. Das Zerren und Schleifen hatte sie beschädigt und außerdem verrutschen lassen. Der Kopf klappte nach draußen, und das blasse Gesicht der Kleinen lag frei, als wolle sie noch einmal den Himmel sehen. Ihre Augen aber blieben geschlossen und regten sich nicht.

Dave wickelte sie notdürftig wieder ein. Er würde das Plastik im Schlamm versenken und mit Steinen bewehren. Die Natur würde den Rest erledigen. Vielleicht war es ganz gut, dass die Folie an so vielen Stellen Risse bekommen hatte. Je schneller sie … je schneller er diese Nacht aus seinem Kopf bekommen konnte …

Für einen Moment hielt er inne. Der Vogel hatte sich in einen der umliegenden Bäume verzogen. Das Nieseln hatte aufgehört. Hinter dem lichter werdenden Wolkenschleier deutete sich sogar das Leuchten des Mondes an. Es war wieder still und einsam hier draußen.

Nur er und sie. Sein beschleunigter Herzschlag, sein schwerer Atem.

Und wieder dieses Röcheln.

Da zuckte es unter dem Plastik.

Dave wurde heiß und kalt. Waren das wirklich nur die Geräusche einer Leiche? War ihre Körpertemperatur vielleicht deshalb noch so warm, weil da ein letzter Funken Leben in ihr steckte?

Doch sein Entschluss stand fest.

»Tut mir leid«, sagte Dave leise, während der Körper in seinem nassen Grab versank.

Doch seine Gefühle waren dabei genauso kalt wie das Wasser des Steinbruchs.

Gegenwart

Freitag, 24. Januar, 14:20 Uhr

Doris Seidel keuchte und verlangsamte ihr Tempo. Seit einem halben Jahr fühlte sich jeder Tag an wie ein immerwährender Herbst, der die Feuchtigkeit in alle Ritzen trieb. Die Sportkleidung war wie vollgesogen, und während sie innerlich kochte, fror sie gleichzeitig. Wieder einmal gab es keine Spur von Schnee, nicht einmal in den Höhenlagen, aber vermutlich kam der dann, wenn es auf Ostern zuging. Verrückte Zeiten. Sie drehte sich um und erhaschte einen Blick auf die Stadt, die in der Nachmittagsdämmerung lag. Keine Spur mehr von Festlichkeit. Das herbeigesehnte neue Jahr war bereits nach wenigen Tagen in denselben Trott verfallen wie das alte. Mit einem Schlag vermisste sie ihren Mann, ihre Tochter und natürlich die Kanarischen Inseln, wo sie noch vor Kurzem mit den Zehen im Sand gemalt hatten. Elisa war nun schon neun Jahre alt. Urlaube waren nur noch in den Schulferien möglich und kosteten seither das Doppelte. Sie waren gerade aus einem solchen Urlaub zurückgekehrt. Peter hatte Sandburgen mit Elisa gebaut, nur um anschließend das Monster zu mimen, das die Prinzessin in ihren Gemächern bedroht. Wie ausgelassen die beiden miteinander gelacht hatten. Wie schnell würde diese kindliche Leichtigkeit vergehen. Schon jetzt erkannte man zuweilen, wie sich in dem Mädchen etwas Frauliches rührte. Wie sich ihre Sprache veränderte, wie sie mit ihren Mitschülerinnen umging. Viel zu schnell musste man sich heutzutage weiterentwickeln. Viel zu früh.

Die Kommissarin nahm wieder Tempo auf. Drei Kilometer. Sie hatte versprochen, nicht erst bei Dunkelheit nach Hause zu kommen. Die Ereignisse, die sich über die Weihnachtsferien in der Stadt abgespielt hatten, saßen noch tief. Dabei war der Täter längst in Haft, und die Dinge nahmen ihren Lauf. Julia Durant und ihr Team hatten einen harten Kampf ausgefochten und dabei Federn gelassen. Eine Kollegin lag im Koma. Ein anderer Kollege fügte sich nur schwer ins Team ein. Bald würde der Chefsessel neu besetzt werden. Allein diese Gedankengänge ließen die Sehnsucht nach den Kanaren erneut aufflammen.

Seidel bog in einen einsamen Weg ein. Für ihre heutige Runde hatte sie sich das ehemalige Flugplatzgelände zwischen Bonames und Kalbach auserkoren. Bisher hatte der Weg kaum Steigungen gehabt, diese würden auf dem Nachhauseweg auf sie warten. Vorbei an zwei Spielplätzen, der Reitsportanlage, dann unter der Autobahn 661 hindurch und später über die Gleise. Wenige Menschen, lediglich ein paar Halbstarke, die am Spielplatz herumgelungerten. Dann verschwanden die Häuser, und wie auf Knopfdruck befand sie sich in der Natur. Inmitten von Wiesen und Sträuchern das alte Rollfeld, das bei schönem Wetter von unzähligen Menschen bevölkert wurde. Heute herrschte hier Leere. Bis auf einen etwas verborgen gelegenen Bereich, von wo sie Stimmen und herumrollendes Glas vernahm. Seidel näherte sich, es blieb ihr auch nichts anderes übrig. Sie war durch die Bäume gelaufen, wollte vom westlichen Ende der Rollbahn den Trampelpfad in Richtung Nidda-Ufer nehmen.

Sie sah drei Männer. Alkoholisiert, wie ihre Stimmen und Bewegungen verrieten. Jetzt entdeckten die Männer auch sie. Bloß nicht einknicken, mahnte sie sich. So weit kam es noch! Vor vielen Jahren hatte sie den schwarzen Gürtel erlangt. Sie mochte auf den ersten Blick nicht so aussehen, doch hinter der eher zierlichen Frau mit den feinen Gesichtszügen steckte eine durchsetzungsfähige und durchtrainierte Person. Doris Seidel war nicht nur hochintelligent und analytisch, sie wusste sich durchaus auch körperlich zu verteidigen.

Sie beschleunigte das Tempo und taxierte die Gruppe. Nur zwei von ihnen schienen sich für sie zu interessieren und glotzten sie mit glasigen Augen an. Muskulöse Kerle Anfang zwanzig mit Undercut. Das verbleibende Haar militärisch kurz. Zwei Hänflinge und ein Fleischiger, allesamt in Trainingshosen und den dazugehörigen Flatterjacken. Wodka, Bier und Energydrinks. Während sie ihren Weg durch das Spalier nahm und bereute, nicht doch einfach umgekehrt zu sein, als es noch möglich war, meinte Doris schon zu spüren, wie sie nach ihr grapschten.

Stattdessen hörte sie nur ein lüsternes Grunzen, den Playboy-Pfiff und ein paar Worte, deren Sprache sie zwar nicht verstand, aber deren Tonfall eindeutig war. Es roch nach Haschisch. Dann befand sie sich auch schon auf dem schmalen Pfad und hatte den Testosteron-Club hinter sich gelassen. Erst nachdem sie das Ufer erreicht und sich für den Weg nach links in Richtung Brücke entschieden hatte, fühlte sie sich ein wenig sicherer. Doch die Kommissarin brauchte weitere zweihundert Meter, bis sie schließlich stehen blieb. Sie hielt sich am Geländer fest. Dehnte sich. Der Atem ging schwer, und sie spürte, wie ihr Herz bis in die Kehle hämmerte. Für eine Sekunde dachte sie, ob sie die Kollegen verständigen sollte. Möglicher Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz? Doch wer nahm das in diesen Zeiten denn noch ernst? Sollte sie nicht lieber dankbar sein, dass nichts Schlimmes passiert war?

Schritte näherten sich.

»Verzeihung.« Die braunhaarige Frau mit dem Pferdeschwanz wippte auf der Stelle und deutete in Richtung Brücke. Sie war vielleicht halb so alt wie Doris und sah so aus, als könne sie einen Halbmarathon absolvieren und danach fitter aussehen als sie selbst nach dreieinhalb Kilometern. »Darf ich mal durch?«

Automatisch wie eine Supermarkttür schob Doris sich zur Seite und blickte ihr nach. Die Brünette nahm denselben Weg, den sie hergekommen war, und war schon hinter der ersten Uferbiegung verschwunden. Doris setzte sich ebenfalls in Bewegung, direkt in Richtung des anderen Endes der Rollbahn. Man sollte das Schicksal nicht zweimal herausfordern, dachte sie und ertappte sich noch mehrere Male dabei, wie sie das Kinn über ihre linke Schulter drehte. Doch die junge Frau war nicht mehr zu sehen. Vermutlich lief sie am Ufer entlang bis nach Heddernheim. Auch eine Strecke, auf der sie gerne joggte. Abseits des Nidda-Radwegs, auf dem man im Sommer nur selten ungestört war.

Als sie nach Hause kam, setzte schon fast die Dämmerung ein. Der Zähler auf der Smartwatch zeigte acht Kilometer, und sie gönnte sich eine lange, warme Dusche.

Von dem Angstmoment, den sie durchlebt hatte, erzählte die Kommissarin niemandem.

Dienstag

Dienstag, 11. Februar, 11:25 Uhr

Er musste an Sabine Kaufmann denken, und ein Grinsen trat auf sein Gesicht. Es war keine Häme, kein Spott, vielmehr ein Lächeln der Bestätigung. Der alte Lada Niva brachte ihn mit seinem Allradantrieb souverän den steiler werdenden Waldweg hinauf. Zugegeben: Ausgewaschene Stellen oder größere Steine nahm er mit einem Hüpfen, das man nur mit gesunden Bandscheiben überstand. Einer der Kritikpunkte, den Sabine immer wieder anführte. Das und der schwarze, stinkende Dieselqualm, der ohne Feinstaubfilter aus dem Auspuffrohr drang. Aber Ralph Angersbach wollte seinen Dinosaurier just in diesem Moment nicht missen. Der Pappbecher mit Kaffee, den er sich am Autoschalter des hiesigen McDonald’s geholt hatte, wackelte bedrohlich in der provisorisch angebrachten Klemmhalterung. Dann war er auch schon da. Flatterband spannte sich über den Schotter, und ein Beamter in Uniform signalisierte dem Kommissar mit einer wischenden Handbewegung, dass es ab hier kein Weiterkommen gab.

Angersbach kannte den Kollegen vom Sehen, er konnte seinen Ausweis daher stecken lassen. Mit der rechten Hand zog er den Reißverschluss seines Rollkragenpullovers zu, dann griff er den Becher und überlegte, ob er die Jacke mitnehmen sollte.

»Gummistiefel wären wichtiger«, kommentierte der Uniformierte, der seinem Blick offensichtlich gefolgt war. Angersbach bedankte sich und ging nach hinten. Wechselte die Wanderschuhe gegen ein Paar extrahohe Stiefel und näherte sich dem kniehohen Zaundraht, der von einem Warnschild flankiert war.

Betreten verboten. Lebensgefahr.

Im Untertitel wurde darauf hingewiesen, dass das gesperrte Areal durch Erdrutsche gefährdet sei.

Na toll, dachte Angersbach und stieg über den Draht. Dafür, dass der hiesige Leichenfund ihn nur am Rande betraf, durfte er direkt mal sein Leben aufs Spiel setzen.

Viele schienen sich allerdings weder um den Zaun noch um das Schild zu scheren, denn der Trampelpfad nach unten war nicht erst seit heute ein breit ausgetretener Weg.

Angersbach ließ sich Zeit und nippte noch einmal an seinem Kaffee, bevor er das im Winter dürr gewordene Schilf erreichte. Heiß war er ja, aber viel zu bitter.

Zuerst fielen ihm die Kollegen der Spurensicherung ins Auge, deren Schutzanzüge in einer leichten Brise flatterten. Ein ihm fremder Mann steckte in einer olivfarbenen Wathose, und braunes, aufgewühltes Wasser hatte ihn bis knapp über die Knie verschluckt. Auf einer weißen Folie, die notdürftig mit Steinen bewehrt war, um sie am Wegflattern zu hindern, erkannte er etwas, das ihn an eine alte Reuse erinnerte. Einzelteile umgaben es. Soeben legte einer der Schutzgekleideten ein neues Stück dazu. Er tat das sehr bedächtig.

Ralph Angersbach hatte längst begriffen, dass es sich bei dem Gebilde nicht um einen Fangkorb handelte und die Mordkommission auch sicher nicht wegen eines Falles von illegaler Fischerei verständigt worden war. Er näherte sich, dann erkannte er die zweite markante Form, die man auf der Folie abgelegt hatte.

Einen Totenschädel.

Donnerstag

Donnerstag, 20. Februar, 9:40 Uhr

Julia Durant wog das Mobilteil in der Hand. Es war warm, sie hatte bis vor einigen Minuten damit ein nicht enden wollendes Telefonat mit einer Anwaltskanzlei in Norddeutschland geführt. Immer wieder waren ihre Gedanken dabei in Richtung Côte d’Azur entglitten. Zu ihrer Freundin Susanne Tomlin, bei der sie immer ein offenes Ohr und eine Schulter zum Anlehnen fand. Leider musste sie dafür tausend Kilometer reisen, aber dieser Umstand war schon seit vielen Jahren so und würde sich auch nicht ändern. Die beiden Frauen hatten sich damit arrangiert, und ihrer Freundschaft tat dies keinen Abbruch.

Die Kommissarin lehnte an der Arbeitsplatte ihrer Küche. Das Display war längst auf Standby gegangen. Im selben Modus fühlte sie sich selbst. Auf Stand-by. Im Wartemodus. Hab Acht, wie es in der Militärsprache hieß. Nur, dass Julia Durant sich nicht aufgekratzt und wachsam fühlte wie ein junger Soldat, der sich in Alarmbereitschaft befand. Stattdessen fühlte sie sich eher wie ein ausgespuckter Kaugummi. Schlaff, zäh und ausgelutscht. Kein angenehmer Gedanke, aber das traf es wohl am besten.

Julia fuhr sich durch das frisch getönte Haar. Knapp schulterlang und kastanienbraun. Sie hatte den Tod ihrer Freundin Alina Cornelius noch immer nicht verarbeitet. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie noch nicht einmal dazu bereit war, diesen Verlust zu akzeptieren! Alina und Susanne waren ihre beiden engsten Freundinnen. Nur dass Alina nicht eine Tagesreise entfernt gelebt hatte, sondern direkt hier in Frankfurt. Jederzeit greifbar. Immer nah. Vor einem halben Jahr war sie ermordet worden. Der Hass des Täters aber hatte ihr, Kommissarin Durant, gegolten. War es das, was die Sache unerträglich machte? Der Gedanke, dass Alinas Tod damit auch ihre Schuld war? Ob direkt oder indirekt – was spielte das schon für eine Rolle? Jetzt blieb nur noch Susanne in ihrem Mittelmeerparadies, das sich an einem Tag wie diesem unendlich weit entfernt anfühlte.

Das Gespräch mit dem Anwalt hatte sich um Alinas Nachlass gedreht. Die Wohnung, den persönlichen Besitz. All das musste abgewickelt werden. Und hier kam Julia Durant ins Spiel, denn offenbar war sie der einzige Mensch auf Erden, dem Alina nahegestanden hatte. Für das Erbrecht war das nicht relevant, aber Julia wollte nicht, dass das Hab und Gut von Fremden verramscht wurde. Außerdem hatte sie die Wohnung in der Nähe des Polizeipräsidiums kurzerhand einer schwangeren Alleinerziehenden überlassen, um sie aus der Schusslinie einer laufenden Ermittlung zu nehmen. Für den Umstand, dass es vorübergehend keinen Mann gab, war ebenfalls die Mordkommission verantwortlich. Die Kommissarin wusste natürlich, dass sie sich weder die Schuld noch die Verantwortung für alles Leid dieser Welt aufbürden konnte. Aber sie konnte wenigstens versuchen zu helfen, wo es ihr möglich war.

Es gab noch weitere Baustellen in ihrem Leben. Viel zu viele. Am liebsten hätte sie sich für ein, zwei Jahre an der französischen Riviera vergraben, aber das war nicht ihre Art. Eine Julia Durant lief nicht davon, eine Julia Durant gab nicht auf.

In diesem Moment vernahm sie Schritte an der Haustür, dazu eine Kinderstimme, gleichzeitig meldete sich ihr Diensthandy. Anstatt durchs Wohnzimmer in Richtung Eingang zu laufen, blieb sie an der Arbeitsplatte stehen und nahm das Gespräch entgegen. Die Handynummer des Anrufers war ihr unbekannt.

»Durant hier, hallo?«

»Ralph Angersbach, Mordkommission Gießen. Haben Sie kurz Zeit für mich? Es geht um einen Fall. Einen Cold Case, um genau zu sein.«

Angersbach. Sie erinnerte sich. Sabine Kaufmanns Kollege. Ein ziemlicher Stoffel, wie Sabine mal erzählt hatte. Allerdings klang er ganz sympathisch. Und hatte Sabine nicht erwähnt, dass es zwischen den beiden geknistert hatte? Oder war das nur ein flüchtiger Funke gewesen? Julia lenkte ihre Gedanken zurück. Von einer alten Ermittlung, die auch Frankfurt betraf, hatte sie nichts mitbekommen.

»Ja, natürlich. Haben Sie Details? Ich war bis vor Kurzem im Urlaub, deshalb frage ich.«

Die umliegenden Präsidien hatten erst unlängst zusammengearbeitet, da war es um sexuelle Übergriffe an Frauen gegangen. Außerdem war der Fall weitgehend gelöst, auch wenn am Ende ja immer Fragen offenblieben. Wenn sich nun weitere Fälle ergaben, die ins Tatschema passten, musste die Staatsanwaltschaft das wissen.

Angersbach unterbrach ihre Gedanken. »Nein, ich glaube nicht. Es geht um eine Tote, die letzte Woche aufgefunden wurde. In einem aufgegebenen Steinbruch bei Rosbach vor der Höhe. Wetteraukreis.«

»Kenne ich«, brummte Durant, ohne ihren Kollegen unterbrechen zu wollen. »Also ich meine, ich kenne Rosbach. Nicht den Steinbruch.«

»Wunderbar. Das Opfer weist Schädelfrakturen auf, die auf eine Gewalttat hindeuten. Wir können im Grunde ausschließen, dass es sich um eine reine Sturzverletzung handelt. Das Gelände dort ist heimtückisch, sagt man. Es liegt mindestens seit den Neunzigern brach, so genau konnte mir das noch niemand sagen. Und mindestens genauso lange ist es ein beliebter Treffpunkt für die jungen Leute aus der Umgebung. Rauchen, Trinken, was man da eben so treibt.«

»Bis jetzt war das alles noch kein Grund, weshalb es keine Sturzverletzung sein soll«, hakte Durant nach.

»Wie? Ach so. Es gibt zwei Aussichtspunkte, von denen es ziemlich steil hinuntergeht. Und auch ringsherum bieten sich da natürlich Möglichkeiten. Aber unser Rechtsmediziner ist sich sicher, dass es bei einem – gewaltsamen oder versehentlichen – Absturz weitaus mehr Knochenbrüche geben müsste. Hackebeil …« Angersbach stockte und räusperte sich. »Entschuldigung. Professor Hack hat sich intensiv mit den skelettierten Überresten befasst. Die Verletzung am Hinterkopf sowie das gebrochene Zungenbein lassen leider nur einen Schluss zu: Sie wurde geschlagen und gewürgt, und anschließend hat man sie verschwinden lassen.«

Durant dachte nach. »Sie sagten skelettiert und haben von einem Cold Case gesprochen. Von welchem Zeitraum reden wir da?«

»Dem Verwesungsgrad nach müssen wir von mindestens zwanzig Jahren ausgehen. Fingerabdrücke oder Haarproben sind aus demselben Grund leider keine Option mehr, aber Hack ist es gelungen, eine DNA-Probe zu erstellen.«

Durant rechnete nach. Zwanzig Jahre plus x. Wie groß sollten die Chancen da schon sein? Damals war man noch lange nicht so weit wie heute gewesen, geschweige denn hatte es eine Datenbank gegeben, bei der man sich darauf verlassen konnte, dass wirklich alle erfassten Proben abrufbar waren. So etwas gab es nur im Fernsehen.

Doch Angersbach war noch nicht fertig. Irgendeinen Ansatzpunkt für das K11 in Frankfurt musste er ja schließlich haben, sonst hätte er nicht angerufen. Machte er es gerne spannend? Das konnte sie nur bedingt leiden. Stoffelig allerdings fand sie ihn noch immer nicht.

»Kurz gesagt«, schloss er, »konnten wir die Probe tatsächlich einer alten Vermisstenanzeige zuordnen. Haben Sie einen Computer in der Nähe?«

»Jein. Moment.«

Durant hatte die Welt um sich herum vollkommen ausgeblendet, sie zuckte leicht, als sie aus der Küchentür trat und zwei Personen im Wohnzimmer standen.

»Es ist dienstlich«, flüsterte sie. Claus nickte und sagte etwas zu dem Kind an seiner Hand. Ein Bild, an das sie sich erst noch gewöhnen musste. Aber das gehörte jetzt nicht hierher. Die Kommissarin griff den Laptop, der die meiste Zeit auf dem Couchtisch lag, und kehrte in die Küche zurück. Dabei warf sie Claus einen Handkuss zu. Sie schaltete den Computer ein und beobachtete, wie der Startbildschirm sich regte.

»So gut wie bereit«, ließ sie ihren Kollegen aus dem nördlichen Nachbarkreis wissen.

»Fein. Wenn Sie so weit sind, rufen Sie mal die Vermisstenmeldungen auf.«

»Wie weit muss ich zurückgehen? Bis ins Jahr 2000?«

»1992«, antwortete Angersbach, und Durant blies die Backen auf.

»Wow. Da war ich ja noch überhaupt nicht …«

Ihr Gesprächspartner unterbrach sie. »Ging mir auch so. Vermutlich den meisten von uns.«

Durant loggte sich ein und rief die entsprechende Benutzeroberfläche auf. »Ich wäre dann so weit.«

Ralph Angersbach nannte den Namen des Mädchens und das Datum ihres Verschwindens.

»Die Eltern haben den Kollegen damals persönliche Gegenstände zur Verfügung gestellt. Zunächst wegen der Fingerabdrücke, aber es gab auch eine ausgedehnte Suche von einer Staffel mit Spürhunden. Dort, wo sie verschwunden ist, ist eine Menge Wald und Dickicht.« Er seufzte. »Allein wegen dieser Gegenstände von damals haben wir heute überhaupt eine brauchbare DNA-Probe. Ich weiß nicht, ob man sie mit anderen Methoden so zuverlässig identifiziert hätte.« Er seufzte. »Es ist nicht mehr viel von ihr übrig, wie Sie sich vermutlich vorstellen können.«

Durant atmete ebenfalls schwer. »Steinbruch, sagten Sie. Wurde sie dort vergraben?«

»Versenkt. Wasser und Schlamm. Das ganze Areal gleicht einem Baggersee. Die meisten Stellen sind allerdings nicht tief. Laut den Kollegen handelt es sich um einen Bereich, wo selten jemand hinkommt. Verwuchert, sumpfig, das könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Täter ortskundig war.«

»Vermutlich. Wobei, wenn der Steinbruch derart bekannt ist …«

Die Kommissarin versuchte, parallel zu ihrem Gespräch die Fakten zu lesen, die der Bildschirm ihr preisgab. Neben dem Konterfei, das eine Sechzehn- bis Achtzehnjährige mit Schlafzimmerblick, schmaler Nase und einer dunkelblonden Pferdeschwanzfrisur zeigte, gab es ein ganzes Sammelsurium an Informationen. Eine Ermittlung, die in Durant keinerlei Erinnerungen wachrief. Das alles musste sich vor ihrer Zeit in Frankfurt abgespielt haben.

Angersbach räusperte sich. »Wie wollen wir es machen? Schauen Sie sich erst einmal alles an, und dann telefonieren wir noch mal?«

Sie bejahte und rechnete nach. Auch für Angersbach dürfte der Fall Neuland sein. Wie alt war er? Jedenfalls einige Jahre jünger als sie. Die Neunziger fühlten sich an wie eine ferne Erinnerung, auch wenn man nur das Radio einschalten musste, um sie wiederaufleben zu lassen. Die Musik. Die Kleidung. Automodelle der frühen Neunziger würden nach und nach das Oldtimeralter erreichen und avancierten längst zu Kultmodellen – selbst wenn man sich damals noch über sie lustig gemacht hatte. Retro, wohin man schaute. Der verzweifelte Versuch, die fliehende Jugend noch einmal einzufangen?

»Geben Sie mir ein wenig Zeit«, schlug Durant vor. »Ich bin eigentlich erst morgen wieder im Dienst, deshalb stehe ich hier in der Küche. Aber ich fahre sofort ins Präsidium und arbeite mich in die Sache ein.«

Wie immer, wenn ein Mensch gewaltsam zu Tode gekommen war, setzte sich bei ihr eine Gedankenmaschinerie in Gang. In diesem Fall kam hinzu, dass das Ganze eine halbe Ewigkeit her war. Lebten die Eltern noch? Waren sie in Frankfurt geblieben, oder hatten sie irgendwo anders einen Neuanfang versucht? »Wissen Sie schon, ob es Angehörige gibt?«

»Nein. In dem Moment, wo wir den Treffer hatten, der nach Frankfurt führte, habe ich Sie informiert. Eigentlich gehöre ich ja auch nach Gießen, das heißt, meine Anwesenheit in Rosbach ist auch eher zufällig. Kurz gesagt: Ich pfusche Ihnen da mit Sicherheit nicht in die Ermittlung. Bei uns gibt’s genug zu tun.«

Durant zog eine Grimasse, auch wenn niemand sie sehen konnte. »Verstehe. Dann vertagen wir uns mal auf später. Erreiche ich Sie unter dieser Handynummer?«

»Ja.«

Während sie erneut in das Gesicht des Mädchens blickte, fiel ihr etwas ein. »Eins noch. Sie haben da vorhin etwas von einem Hackebeil gesagt.«

»Wie?« Angersbach schien ein Kichern zu unterdrücken und geriet für ein paar Sekunden ins Schlingern. »Ach so. Na ja. Unser Rechtsmediziner, Professor Hack, ist ein Unikat. Ziemlich schwarzhumorig und manchmal recht schroff. Der Name Hackebeil trifft es also recht gut, und wenn man sich so was erst angewöhnt hat, dann rutscht es einem auch mal so raus. Verraten Sie mich also nicht, sonst bekomme ich seinen heiligen Zorn zu spüren.«

Julia Durant musste grinsen. Ein solches Original kannte sie ebenfalls. Dr. Andrea Sievers. Leiterin der Rechtsmedizin in Frankfurt. Sie war zwar nicht schroff und Furcht einflößend, doch eine zutiefst respektable Persönlichkeit. Und der pechschwarze Humor war unter Menschen ihrer Branche ohnehin verbreitet.

Nachdem das Gespräch beendet war, rief sie das Foto von Nicole Geßler noch einmal in voller Auflösung auf. Es handelte sich allem Anschein nach um ein Passbild, so wie man sie früher für den Personalausweis oder Führerschein verwendet hatte. Nicoles Augen wirkten müde, aber sie lächelte. Das war in Zeiten biometrischer Aufnahmen längst nicht mehr erlaubt. In ihrem Blick lag etwas Warmes, aber auch eine gewisse Scheu. Wie auf Bildern dieser Sorte üblich, sah das Mädchen in die Kamera. Dadurch blickte sie Julia Durant, die ihr am Bildschirm gegenübersaß, direkt in die Augen.

Sie schluckte. Es war beinahe, als würde Nicole ihr trotz aller Müdigkeit etwas sagen wollen.

Hilf mir.

10:30 Uhr

Der frische Kaffee auf ihrem Tisch dampfte und erfüllte das Büro mit einem angenehmen Duft. Ihr Partner Frank Hellmer war unterwegs, also hatte Durant das gemeinsame Büro im vierten Stock des neuen Polizeipräsidiums an der Adickesallee für sich alleine. Neu … Ihre Gedanken entglitten in die Vergangenheit. Der Umzug aus dem Präsidium in der Friedrich-Ebert-Anlage war schon so viele Jahre her, und trotzdem würde der quadratische Bau auf dem alten PX-Gelände unter den dienstälteren Kollegen wohl stets das neue Präsidium bleiben. Dabei gab es kaum einen Grund, die ehemalige Dienststelle zu vermissen. Schlechte Substanz, ungünstige Raumaufteilung und ein enger Fahrstuhl, der einen jedes Mal ein Stoßgebet sprechen ließ, wenn die Türen sich schlossen. Das Gelände in der Nähe von Hauptbahnhof und Festhalle stand bis zum heutigen Tage leer. Denkmalschutz und die Statik des Untergrunds mussten für jeden Investor die Hölle sein. Aber irgendwann würde sich schon jemand finden, der einen weiteren Komplex mit Luxusappartements baute.

Genau das, was Frankfurt braucht, dachte sie bitter und nippte an ihrem Kaffee. Ihr Blick wanderte durch den Raum und verfing sich an einem herausgetrennten Kalenderblatt, welches die Frankfurter Hochhäuser vor einem verblichen blauen Sommerhimmel zeigte. Irgendwann hatte sie dieses Motiv einmal schön gefunden, dachte sie. Mittlerweile gab es einige neue Bauten und Baustellen. Nichts blieb, wie es einmal gewesen war. Im Grunde war das Foto reif für den Papierkorb.

Sie vernahm Schritte, aber niemand trat ein, sie eilten an ihrem Büro vorbei in Richtung Hochgräbes Dienstzimmer. Wieder drohten ihre Gedanken abzudriften. Es gab einfach zu viele Baustellen in ihrem Leben, doch sie waren alle miteinander verwoben wie ein gordischer Knoten. Claus Hochgräbe war das beste Beispiel dafür. Seines Zeichens ihr zukünftiger Ehemann, der scheidende Kommissariatsleiter und außerdem frischgebackener Großvater eines bereits vierjährigen Jungen. Doch das alles durfte im Augenblick keine Rolle spielen, weder die Hochzeitspläne für Mai noch die Nachfolgefrage auf dem Chefsessel. Und auch der Rest nicht. Denn da draußen gab es eine Tote, die vor fast dreißig Jahren zumindest bei der Polizei in Vergessenheit geraten war und der sie ein stilles Versprechen gegeben hatte.

Ich helfe dir.

 

Sie stand auf und wollte instinktiv in Claus’ Büro gehen. Doch dieser hatte frei. Er wollte sich den angesammelten Resturlaub nicht bis zum Schluss aufheben. Plötzlich, nach all den Jahren, in denen er kaum Hobbys gepflegt hatte und eigentlich immer im Dienst gewesen war, gab es Wichtigeres für ihn. Julia unterband es, sich tiefer in diesen Gedanken zu verlieren, und wählte seine Handynummer.

»Hey, Schatz.« Im Hintergrund waren Kinderstimmen zu hören.

»Hi. Seid ihr auf dem Spielplatz?«

»M-hm. Wenn es schon mal nicht regnet …«

Julia hatte ihren Verlobten nur flüchtig informiert, bevor sie ins Präsidium aufgebrochen war. Nun berichtete sie im Telegrammstil, was sie über den alten Fall wusste.

»Nicole Geßler, Jahrgang fünfundsiebzig. Vermisst gemeldet am 30. Mai 1992 nach einer Party irgendwo im Hinterland bei Usingen. Also im Taunus. Eine Jagdhütte oder so was. Die Party war tags zuvor. Als sie dann nicht nach Hause kam, machten die Eltern sich Sorgen und verständigten irgendwann die Polizei. Es wurden jede Menge junge Leute befragt, darunter auch ihr Freund. Wobei dieser leugnete, fest mit ihr zusammen zu sein. Das habe ich aber auch alles nur oberflächlich betrachtet, dafür ist es viel zu viel Aktenmaterial. Kurz gesagt: Die Kollegen aus Mittelhessen haben ihre Leiche vor zehn Tagen in einem Steinbruch aufgefunden. Verwest, wie du dir denken kannst. Der Rechtsmedizin ist dennoch ein DNA-Abgleich gelungen, und dieser hat zu einem Treffer geführt.«

»Wahnsinn«, kommentierte Claus. »Wieso wurden ihre Überreste ausgerechnet jetzt entdeckt?«

»Das muss ich den Kollegen Angersbach noch fragen. Wir haben uns verabredet, ich wollte nur zuerst mit dir …«

»Warte.« Claus rief einen Namen. Und dass er gleich käme, nur eine Minute noch. Als ob Vierjährige schon einschätzen konnten, wie lange eine Minute dauerte. »Sorry. Lynel hält mich ganz schön auf Trab. Du willst dich der Sache also annehmen?«

»Ja. Zuerst noch ein Telefonat mit diesem Angersbach. Das ist übrigens der, von dem Sabine schon erzählt hat. Erinnerst du dich?«

»Gerade nicht, aber ich bin auch nicht bei der Sache.«

»Macht nichts. Jedenfalls würde ich gerne mit Nicoles Eltern reden. Das checke ich noch. Die beiden müssten um die siebzig Jahre alt sein. Hoffentlich gibt es die noch. Na ja, und dann dieser Ex-Freund oder was auch immer er für Nicole gewesen ist. Caspar Sonstwas. Der Name sagt mir was, aber nur dunkel. Da steckt eine Menge Arbeit drin, also brauche ich mindestens Frank oder Doris.«

»Oder Uwe«, erwiderte der Kommissariatsleiter, und Durant biss sich auf die Unterlippe. Uwe Liebig war neu im Team und Durants Empfinden nach kein sonderlich angenehmer Zeitgenosse. Bevor sie etwas sagen konnte, meldete sich Claus wieder zu Wort. »Keine Sorge«, sagte er, und das Grinsen war nicht zu überhören. »Such dir jemanden raus. Es steht ja gerade nichts anderes an, und du sollst deinen Boss nicht als Tyrann in Erinnerung behalten.«

Julia Durant musste ebenfalls grinsen, wenn auch nur kurz. Noch immer blickte Nicole sie an, und außerdem war das Thema mit dem neuen Chef noch nicht bis in alle Details geklärt. Mit solchen Störungen kam sie zurzeit überhaupt nicht gut zurecht, auch nicht im Angesicht der brutalsten Verbrechen.

Und zurzeit war Julias Haut sehr dünn.

11:40 Uhr

Roland und Helga Geßler hatten sich Anfang der Siebziger ein Einfamilienhaus in Nieder-Erlenbach gebaut. Hatte die Gemeinde zuvor noch eigenständig im ländlichen Raum vor den Toren der Stadt gelegen, bildete sie seit der Gebietsreform von 1972 den nördlichsten Ortsbezirk der Stadt. Einer Stadt, die immer weiter wuchs. Dennoch war es ein ruhiges Wohnviertel geblieben, und man lockte hauptsächlich junge Eltern an, von denen der Vater zur Arbeit in die Innenstadt pendelte, während die Kinder in der Natur aufwachsen konnten.

Acht Jahre nach Nicoles Verschwinden hatten die Geßlers noch immer hier gelebt. Dann starb die Mutter, und das Haus wurde verkauft. Der Vater war unter einer neuen Adresse gemeldet. In einem Mehrfamilienhaus in Oberursel, etwa aus derselben Bauepoche wie sein Eigenheim. Die Fassade war wenig einladend, und doch wusste Julia Durant, dass es sich hier um eine der begehrtesten Wohngegenden handelte. In unmittelbarer Nähe zu Frankfurt auf der einen Seite, gleichzeitig nahe den weitläufigen Wäldern und Hügeln des Taunus.

Das Telefonat mit Ralph Angersbach hatte kaum Neues ergeben. Der Fund der sterblichen Überreste schien zufällig erfolgt zu sein. Mitglieder der örtlichen Naturschutzgruppe hatten einen Bereich des Sumpfgebiets pflegen wollen, um Brutmöglichkeiten zu erhalten und neue zu schaffen. Solche Eingriffe waren ein sensibler Vorgang, weshalb ihnen Ortsbegehungen und Expertisen vorausgingen. Ein Experte hatte sich bestimmte Bereiche des Steinbruchs genauer betrachtet und war im Zuge dessen sprichwörtlich über die Tote gestolpert. Zuerst die Plastikfolie und dann ein paar Knochen, bei denen er ziemlich schnell auf den Gedanken gekommen war, dass sie von einem Menschen stammen könnten.

Durant hatte nachgerechnet. Auch der Täter war seit damals drei Jahrzehnte gealtert. Er hatte seinen Lebensweg fortgesetzt, einen Beruf oder eine Berufung gefunden. Vielleicht hatte er ja auch so etwas wie ein spätes Gewissen bekommen und setzte sich nun für seine Mitmenschen ein. Oder für den Naturschutz.

»Wie alt ist unser Auffindungszeuge denn?«, fragte sie deshalb.

»Achtundsiebzig«, antwortete Angersbach. »Das hat er mehrfach betont. Aber springt herum wie ein junger Gott. Das ist echt beneidenswert. Wieso ist das Alter wichtig?«

»Ich dachte nur. Manchmal kehren Täter ja doch zum Ort ihrer Verbrechen zurück. Manche erst nach vielen Jahren.« Sie machte eine Pause. »Aber er war ja damals schon fast fünfzig. Tauchte so jemand in den Protokollen auf? Ein Kerl, der sich auf der Party oder in Nicoles Umfeld herumgetrieben hat?«

»Nicht dass ich wüsste.« Angersbach schnaubte. »Um ehrlich zu sein, passt das auch gar nicht ins Bild.«

»War nur ein Gedanke«, sagte Durant.

Die beiden verabschiedeten sich, und Angersbach wünschte ihr viel Erfolg mit den weiteren Ermittlungen. Sie solle ihn gerne kontaktieren bei Fragen, aber auch, wenn es einen Ermittlungserfolg gebe.

Julia Durant versprach es ihm und musste daran denken, was passieren würde, wenn die Presse von alldem Wind bekäme. Cold Cases waren ein gefundenes Fressen. Vermutlich würde sie bald gar nicht mehr dazu kommen, Informationen weiterzuleiten, weil man alles schon vorher als Spekulation in den Sensationsblättern lesen konnte.

 

Dann hatte sie die Adresse erreicht.

Roland Geßler stand bereits in der offenen Haustür, noch bevor sie das Gittertor in einem hüfthohen Holzlattenzaun geschlossen hatte, der das Grundstück zur Straße hin abgrenzte. Es blieb ihr keine Zeit, jetzt noch nach besseren Worten zu suchen als jenen, die sie sich auf der Fahrt hierher zurechtgelegt hatte.

Geßler überraschte sie mit einem aufgeschlossenen Lächeln und einer altmodischen Höflichkeit. Er führte sie in die Erdgeschosswohnung. Eine gerahmte Luftaufnahme hing an der Wand im Flur. Weiter hinten einige Familienfotos mit leicht verstaubten Rahmen.

Er bot ihr Kaffee und Tee an, sie lehnte dankend ab. Dann kam sie ohne Umschweife zur Sache. Zuerst reagierte Roland Geßler gefasst, dann brach er zusammen. Er entschuldigte sich, eilte hinaus, minutenlang herrschte Stille unter der holzverkleideten Decke. Irgendwann hörte Julia eine Toilettenspülung und den Wasserhahn.

Geßler schlurfte zurück auf den braunen Wohnzimmerteppich.

»So viele Jahre«, murmelte er und sank in einen Ledersessel, auf dessen Armlehne eine Fernbedienung lag. Er hatte geweint. Die Stimme war ein wenig nasal. Julia Durant hatte gehört, wie er sich geschnäuzt hatte. Er fuhr sich mit der faltigen Hand übers Gesicht. Der Handrücken trug zahlreiche Leberflecken in unterschiedlicher Größe. Sie musste unwillkürlich an ihren Vater denken, dessen Hände ähnlich ausgesehen hatten. Pastor Durant war ein Mann Gottes gewesen, sein Glaube hatte ihm auch in den schwierigsten Phasen seines Lebens Kraft gegeben. Wen aber hatte Roland Geßler?

Dieser nahm wieder Platz. »Entschuldigen Sie. Aber um ehrlich zu sein, habe ich es immer gewusst. Jedenfalls die letzten Jahre.«

»Dass Nicole nicht mehr am Leben ist?«

Er nickte langsam. »Helga konnte das nicht. Sie hat sich bis zu ihrem Tod an die Hoffnung geklammert, dass Nicole irgendwo ein Leben führt.« Er ergänzte leise: »Ein glückliches Leben.«

»Und bei Ihnen war das anders?«

Geßler hob die Schultern. »Wie soll das denn auch funktionieren? Sie verschwindet einfach so, schmeißt das Abi und geht irgendwo anders hin? Wohin denn? Mit welchem Geld? Sie hatte weder ihren Reisepass bei sich noch ihren heiß geliebten Discman, geschweige denn Hygieneartikel und Wechselkleidung. Nichts. Auch hinterher fehlte nichts. Die Mär vom weggelaufenen Mädchen wollte uns eine Polizeipsychologin schon damals verkaufen.«

»Also sind Sie von Anfang an von einem Verbrechen ausgegangen?«

»Ja. Und glauben Sie mir, das war schlimm. Aber ich bin Realist, vielleicht liegt das an meinem Beruf.«

Durant meinte, sich an irgendetwas mit Informatik zu erinnern. Das würde Roland Geßler zu einem Vorreiter seines Fachs machen, wenn man sein Alter betrachtete. Sie wollte ihn in diesem Augenblick nicht unterbrechen. Stattdessen lauschte sie seinen Worten, als er weitersprach: »Ich musste mit dem Gedanken leben, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Ein schreckliches Verbrechen. Das ist mir nie aus dem Kopf gegangen, und es tut verdammt weh, als Vater einer einzigen Tochter, wenn man sich vorstellt, was ein Monster meinem Mädchen angetan hat.«

Tränen rannen ihm über die Wangen, und die Stimme bebte. Er merkte es womöglich nicht einmal. Seine Finger waren tief in den Cordstoff seiner Hose gegraben, der im Oberschenkelbereich verschlissen war. Offenbar tat er dies öfter. Die Kommissarin beugte sich vor, unsicher, ob sie ihn berühren sollte. Bevor sie ihn erreichte, hob er die Hände.

»Vielleicht sähe sie Ihnen ja ähnlich«, sagte er kratzig. »Bitte entschuldigen Sie.«

Wieder eilte er aus dem Raum. Wieder schnäuzte er sich.

Gehörte er der Generation an, in denen es sich für Männer nicht ziemte, einer Frau gegenüber Gefühle zu zeigen? Oder hatte Roland Geßler sich einfach nur daran gewöhnt, mit seinen Problemen alleine klarzukommen? Wann hatte die Kriminalpolizei ihn zuletzt kontaktiert? Musste er nach so vielen Jahren nicht jegliches Vertrauen in die Behörden verloren haben?

Als er wiederkehrte, hatte er eine Flasche Mineralwasser in der Rechten, in der anderen Hand trug er zwei Gläser. Er stellte alles auf den Couchtisch. Ein achteckiges Modell, durchgehend mit schwarzen Kacheln überzogen, sogar der einzelne dicke Standfuß.

»Nehmen Sie sich bitte, wenn Sie schon sonst nichts wollen. Etwas anderes habe ich leider nicht. Ich vertrage keinen Saft und keine Limonade.«

Er setzte sich, während Durant sich bedankte, aber keine Anstalten machte, eins der Gläser zu greifen.

»Ist das auch der Grund, warum Sie weggezogen sind?«, wollte sie wissen. »Die schlimmen Gedanken? Die Erinnerungen?«

Geßler nickte. »Meine Frau wollte das nicht, aber ich konnte es nicht ertragen. Diese mitleidigen Blicke, das Tuscheln der Nachbarn. Jedes Mal hatte man das Gefühl, dass man nur noch darauf reduziert wird. Ach, die armen Geßlers. Wie schlimm das sein muss. Keiner konnte mehr normal mit uns reden, ständig schwang das mit, und das wurde im Lauf der Monate und Jahre nicht besser. Im Gegenteil. Na ja«, er schluckte, »und dann war da noch Nicoles Zimmer. Wie oft hat Helga da drinnen gesessen und die Wände angestarrt. Den Kuschelhasen umklammert. Ich konnte das nicht mehr ertragen. Es war, als lebe man in einem Mausoleum. Aber immer wenn ich etwas gesagt habe, bekamen wir Streit. Meine Frau beharrte darauf, dass wir das Haus nicht verkaufen dürften. Nicoles Elternhaus. Es war ihr ein Horror, sich vorzustellen, dass Nicole eines Tages nach Hause kommt und uns dann nicht vorfindet.« Leiser ergänzte er, nach einer kurzen Pause: »Ja. Meine Helga. So war sie. Bis zum Schluss.« Er sah Durant fest in die Augen. »Irgendwie tröstet mich der Gedanke, dass Nicole auf sie gewartet hat.«

»Als sie starb?«

Geßler nickte und schüttelte sich. »Genug davon. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das Ganze hat mich doch ziemlich aufgewühlt. Außerdem muss ich bestimmt eine Menge organisieren. Eine Beerdigung zum Beispiel. Ich würde mich gerne etwas ausruhen. Oder haben Sie noch Fragen?«

»Ich wollte gerne noch über Nicoles Freund reden.«

Finstere Schatten jagten über das Gesicht des Mannes. »Welchen Freund?«

Verdammt! Ausgerechnet jetzt verweigerte Durants Namensgedächtnis seinen Dienst. Sie wollte vermeiden, in ihren Notizen herumzublättern, also nannte sie das, was sie parat hatte. Den eingängigen Vornamen.

»Na, dieser Kasper.«

»Ach. Caspar Bahl.« Geßler winkte ab und klang wütend, als er weitersprach: »Mistkerl! Aber der machte seinem Namen alle Ehre. Ein reicher Kasper, der über dem Gesetz steht. Der hat so viele illegale Sachen getrieben, von den Partys über Drogen und sonst was alles. Passiert ist da nie was. Aber wenn eine Familie reich und angesehen genug ist, dann sieht die Obrigkeit ja gerne mal weg. Nichts gegen Sie persönlich«, er schien sich wieder zu beruhigen, »aber von dieser Familie kam da nicht viel, was hilfreich war. Allerdings sag ich’s noch mal: Caspar war nicht Nicoles Freund. Sie hat ihn zwar angehimmelt, das war aber auch schon alles. Da war sie im Übrigen nicht die Einzige. Bei vielen galt er wohl eher als Sonderling, aber die Mädchen haben irgendwas an ihm gefunden. Das verstehe, wer will. Vielleicht ist es dieses Straßenkötersyndrom. Große Augen, strenger Vater, der alles, was er tut, missbilligt. Ein Rebell, der in seiner weiblichen Umgebung irgendwelche Sympathien auslöst. Wie sehr er das ausgenutzt hat … das weiß ich nicht.«

»Hat Nicole denn über solche Dinge offen mit Ihnen gesprochen? Normalerweise sind Mädchen in diesem Alter …«

»Tagebuch«, unterbrach Geßler sie. »Ihre Kollegen haben hier jeden Fitzel Papier untersucht. Graben Sie mal in den Akten.« Er kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf. »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«

Durant zögerte kurz, weil sich in ihrem Unterbewusstsein etwas regte, das sie aber noch nicht in einen Gedanken fassen konnte. Also nickte sie. »Bitte.«

»Wie lange sind Sie schon bei der Kriminalpolizei? Waren Sie damals …«

Dieses Mal war Durant es, die den Satz abschnitt. »Nein. Ich bin erst später nach Frankfurt gekommen. Tatsächlich muss ich gestehen, dass mir der Fall völlig neu ist. Allerdings gehörte die Sache bis heute zu den Vermisstenfällen. Ich bin bei der Mordkommission.«

Roland Geßler schien ihr nur mit einem Ohr zuzuhören. »Sie sind also gar nicht von hier?«

»München«, antwortete sie knapp.

»Verstehe.«

Sie wusste nicht, was er daran zu verstehen glaubte. Julia Durant hatte ihre Polizeilaufbahn in der bayerischen Landeshauptstadt begonnen. Aufgewachsen war sie in einem Dorf vor der Stadtgrenze. Mit dem Ehebruch ihres ersten Ehemanns kam auch der Bruch mit ihrer Karriere und mit der Heimat. Frankfurt. Sittendezernat. Alle Uhren zurück auf null. Dann der Wechsel zur Mordkommission. Und auch wenn die Sehnsucht manchmal an ihr nagte, bereut hatte sie diesen Schritt nie.

Was auch immer sich zuvor in ihr geregt hatte, war nun wieder von den Schuttbergen ihrer Vergangenheit begraben. »Um noch mal auf diesen Caspar zurückzukommen. Stehen Sie in Kontakt mit der Familie?«

Geßler lachte bitter. »Sie sind wirklich nicht von hier.«

»Wie meinen Sie das?«

»Caspar Bahl ist längst tot. Wenn das nicht in Ihren Akten steht, dann wundere ich mich über gar nichts!«

»Ich sagte ja, ich habe noch nicht alles gelesen. Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen, damit Sie es nicht aus der Presse erfahren.«

Roland Geßler sank in sich zusammen. »Tut mir leid. Das ist alles zu viel für mich. Auch in mir hat es eine Spur von Hoffnung gegeben, das will ich nicht leugnen. Als Eltern hofft man doch immer … mit der Gewissheit um Nicoles Tod ist diese letzte Hoffnung nun ebenfalls gestorben.«

Er unterdrückte seine Tränen, und die Kommissarin entschied, dass sie das Gespräch besser vorerst beenden sollte.

Sie stand auf. »Herr Geßler, ich lasse Sie jetzt in Ruhe. Noch mal mein tiefes Beileid.«

Geßler stemmte sich ebenfalls in die Senkrechte, und sie drückten einander die Hände.

»Danke«, antwortete er kehlig. Seine Knie zitterten, Durant konnte es deutlich sehen.

»Nur eine letzte Frage noch«, sagte sie. »Haben Sie denn jemanden, mit dem Sie das alles durchstehen können? Die kommenden Tage werden sicher vieles hervorholen, und das kann hart werden. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede.«

»Danke«, er lächelte matt, »ich habe jemanden.«

An seinem Blick glaubte die Kommissarin zu erkennen, dass er damit eine Frau meinte. Gleichzeitig strahlte ihr ein gewisser Trotz entgegen, vielleicht war das nicht ganz der richtige Begriff, aber es war eine Art Selbstbestätigung, dass man nichts Falsches tat. Helga war lange tot. Der Verlust des einzigen Kindes eine Bürde, wie man sie sich schwerer nicht vorstellen konnte. Aber musste man deshalb ein Leben in Sack und Asche führen? Durfte man nicht lieben, auch wenn es vermutlich niemals der Liebe zu Frau und Tochter gleichwertig wurde?

Sie entschied, dass es ihr nicht zustand, darüber zu urteilen. Und auch niemandem sonst.

 

Erst als die Kommissarin wieder am Steuer ihres grauen Kombis saß, traf sie die Erkenntnis wie ein Blitz. Und zwar nicht, dass sie dringend wieder ein eigenes Fahrzeug brauchte, weil allein die fleckigen Sitze und der Geruch des Dienstwagens eine Zumutung waren. Doch die Erinnerung an den jungen Caspar Bahl war mit einem Mal so klar, dass sie sich beinahe dafür schämte, nicht früher darauf gekommen zu sein. Ein reicher Kasper aus einem einflussreichen Hause. Das konnte kein Zufall sein. Sie rechnete nach. Es musste um die zwanzig Jahre her sein, dass sie mit der Familie Bahl in Kontakt gewesen war. Im Grunde nur in einer Nebenrolle, denn die Zuständigkeit hatte nicht in Frankfurt gelegen. Caspar Bahls Jaguar war in der Nähe des Mainspitzdreiecks aus dem Wasser geborgen worden. Ein Stück außerhalb Hochheims, so genau kannte sie die Ortsnamen nicht. Im Bereich der Mainmündung. Anscheinend hatte man den Wagen über die Uferpromenade ins Wasser gesteuert. Über die Ermittlungen war der Kommissarin nicht viel bekannt, sie war erst ins Spiel gekommen, als es Monate später zu einer Verhaftung in Frankfurt gekommen war. Irgendein Kumpane Bahls, den Namen hatte sie vergessen. Die Anklage lautete auf Doppelmord. Anhand der Indizien ging man davon aus, dass er nicht nur Caspar Bahl auf dem Gewissen hatte. Im Kofferraum des Jaguars hatte sich außerdem eine Frauenleiche befunden. Mutmaßlich eine Beziehungstat, jedenfalls hatten sich die Dinge im Laufe der Ermittlungen so dargestellt. Jemand hat eine Affäre mit einer liierten Frau, die sich letztendlich für ihren Partner entscheidet. Er tötet zuerst sie, dann den Mann und versenkt die beiden anschließend mit dem Auto im Fluss.

Julia Durant konnte sich noch an den Tag dieser Verhaftung erinnern. Die Polizeibeamten fanden den Tatverdächtigen offenbar nichts ahnend vor. Er hatte zu Hause vor dem Fernseher gesessen, ungewaschen und unrasiert. Seine Kleidung schien er mindestens seit dem Vortag nicht gewechselt zu haben. Die Außentemperatur hatte an diesem Tag schon am Vormittag die Dreißig-Grad-Marke geknackt. Und dann hatte ausgerechnet Durant sich mit diesem Typen in den Fahrstuhl des Präsidiums zwängen müssen. So diffus auch alles rund um den Fall Bahl noch auf sie wirkte, umso deutlicher erinnerte sich ihre Nase an diesen Sommertag. Der Fahrstuhl war zwischen dem zweiten und dritten Stock hängen geblieben. Zwischen feuchtem Mief, verzweifelten, alkoholbeseelten Unschuldsbeteuerungen und einer unterdrückten Portion Platzangst hatte Durant gebetet, dass der Alarmknopf nicht auch noch seinen Dienst versagte. Glücklicherweise befreite ein Techniker sie schnell. Schon damals hatte sie sich geschworen, irgendwann einmal mit dem Rauchen aufzuhören und mehr Sport zu treiben. Doch solche Vorsätze waren meist nur von kurzer Lebensdauer.

13:20 Uhr

Es war keine richtige Dienstbesprechung, mehr eine Zufallsbegegnung. Frank Hellmer, Julias ältester und langjähriger Partner, saß zu ihrer Linken, und beiden gegenüber stand der Chefsessel von Claus Hochgräbe. Durant hatte die beiden nach ihrer Rückkehr ins Präsidium angetroffen und sich zuerst gewundert, weshalb Claus überhaupt hier war. Offenbar hatte Lynel sich beim Spielen verletzt und weinend nach seiner Mutter verlangt. Aber das alles war längst in den Hintergrund getreten.

Die Kommissarin brachte die beiden auf den aktuellen Stand in Sachen Leichenfund und Angehörigenbesuch. Danach erwähnte sie den Fall Caspar Bahl. Claus Hochgräbe wusste darüber nichts, denn vor zwanzig Jahren hätte er nicht einmal im Traum geahnt, dass er einmal nach Frankfurt wechseln würde. Dafür war Frank Hellmer sofort im Bilde. »Ach schau an. Der alte Bahl. Der J.R. Ewing des Rhein-Main-Gebiets.«

»Wieso? Ist er ein Öl-Multi?«

Hellmer schüttelte den Kopf. »Nicht direkt. Wobei … Ölgemälde. Das ist sein Steckenpferd. Einer der bedeutendsten Kunsthändler Europas, glaube ich, mit einer entsprechend ausgestatteten Kunstsammlung.«

»Hmm.« Durant erinnerte sich an das, was Roland Geßler über die Familie gesagt hatte. »Und so wie J.R. in Dallas meint er auch, hier über dem Gesetz zu stehen?«

Hochgräbe räusperte sich. Seine Hand lag auf der Computermaus und erzeugte Klickgeräusche. »Genau genommen schwebte er über den Dingen. Ich habe mal im Netz nach ihm gesucht, der Name hat mir gar nichts gesagt. Bahl ist schon seit einigen Jahren tot. Was hat er mit unserem Cold Case zu schaffen?«

»Sein Sohn, Caspar, war der Schwarm von Nicole Geßler. Die beiden waren am Abend ihres Verschwindens auf derselben Party.«

»Aber Caspar wurde nicht ernsthaft verdächtigt«, stellte Hellmer fest.

Durant hob die Schultern. Sie hatte sich bisher nur oberflächlich mit den Akten beschäftigen können. Tatsächlich tauchte Caspar Bahl recht prominent darin auf, aber am Ende war man zu dem Schluss gekommen, dass er nichts mit Nicoles Verschwinden zu tun gehabt hatte.

»Laut Unterlagen gab es keine Beweise und auch keinen triftigen Grund, ihm etwas zu unterstellen«, antwortete sie gedehnt. »Aber was heißt das schon, wenn da so eine mächtige Familie im Hintergrund steht?«

Hellmer wippte mit dem Kopf. »Der alte Bahl hat damals sogar eine Art Finderlohn ausgelobt.«

»Na und? Das macht den Sohn nicht weniger verdächtig. Könnte ein Ablenkungsmanöver sein.«

Hochgräbe meldete sich zu Wort: »Das sind eine Menge Spekulationen, und leider gibt es nicht mehr viele Zeugen. Laut Internet führt Catharina Dorothea Bahl die Familiengeschäfte weiter. Das ist Caspars Schwester. Es existieren stapelweise Vernehmungsprotokolle aus der Partynacht. Da es sich bei Nicole Geßler nun um einen Mordfall handelt, der zudem in unserer Zuständigkeit liegt, schlage ich vor, wir trommeln alle zusammen. Es gibt viel zu tun. Vor allem die Sache mit der Leiche in Bahls Jaguar will mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich fordere den Obduktionsbericht an.«

»Sind das nicht zwei Paar Schuhe?«, widersprach Hellmer. »Die Fälle liegen doch Jahre auseinander.«

»Mag sein. Aber immerhin war es jemand aus Bahls direktem Umfeld. Das alles ist entweder verflochten oder hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Je eher wir das rausfinden, desto besser.«

15:05 Uhr

Kaum eine halbe Stunde war vergangen, seit Hellmers Range Rover über die A66 gejagt war und auf der Strecke zuerst das Main-Taunus-Zentrum und kurz darauf Okriftel passiert hatte. Von Dienstwagen hielt der Kommissar nichts, der jahrelang fast ausschließlich mit seinem 911er unterwegs gewesen war. Bis er ihn kurz nach Silvester bei einem Fahrzeugaufbereiter gehabt und anschließend abgemeldet hatte, um ihn zu verkaufen. Diesen Gedanken hatte er geraume Zeit mit sich herumgetragen, und wenigstens einen Vorsatz konnte man sich im neuen Jahr erfüllen. Das Interesse an dem Wagen war groß gewesen, nach dem Aussortieren von Besserwissern und zwielichtigen Typen allerdings nicht viel übrig geblieben. Irgendwann würde es klappen. Bis dahin ruhte der Flitzer in seiner Garage unter einem Schutzvlies, und Hellmer fuhr den schwarzen Riesen seiner Frau Nadine. Sein Traum war ja ein neuer Alter, wie er es ausdrückte. Ein 911er SC Targa aus den Achtzigerjahren. Allein die Preise, die man für ein gut erhaltenes Fahrzeug hinblättern musste, ließen ihn noch zögern, auch wenn er seit seiner Heirat mit Nadine keine Geldprobleme mehr hatte. Auf dem Präsidium musste er sich zwar hin und wieder anhören, dass er sich von seiner Frau aushalten ließe, aber alle wussten, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Frank Hellmer war in seinem Leben durch mehr als eine Hölle gegangen, und er kniete sich im Job mit voller Hingabe hinein – mehr als manch anderer.

Julia Durant hatte sich darauf verlassen, dass er den Weg kannte. Erst, als sie das Ortsschild von Ginsheim-Gustavsburg passierten, wunderte sie sich. »Müssen wir nicht auf die andere Seite?«

»Lass mich mal machen«, antwortete Hellmer mit einem Lächeln. Unterwegs hatte er seiner Partnerin so ziemlich alles berichtet, was er über Caspar Bahls Tod noch wusste. Der Jaguar hatte nicht lange im Wasser gelegen. Die Stelle war ungünstig gewählt worden. Im Unterleib der Toten hatte man Spermaspuren gefunden, die Bahl zugeordnet werden konnten. Da es sich bei der Frau aber um seine Lebensgefährtin handelte, war das keine große Hilfe. Eine Beziehungstat? Eine Form des erweiterten Suizids? Mann tötet Frau und anschließend sich selbst? Vielleicht aus Eifersucht, weil diese eine Affäre hatte. Doch man hatte zudem ein Handy sichergestellt, auf dem SMS vorzufinden waren, die in eine andere Richtung wiesen. Bahls Nebenbuhler, ein enger Vertrauter namens Dennis Schäfer, hatte ihm offenbar die Freundin ausspannen wollen. Manuela soundso. Irgendetwas musste dabei schiefgegangen sein – vielleicht wollte sie sich dann doch nicht trennen –, und am Ende waren sowohl sie als auch Caspar tot. Dass man nur eine Leiche fand, konnte mit der Strömung des Rheins erklärt werden, die auch in Ufernähe einen gefährlichen Sog ausüben konnte. Jedes Jahr verunglückten hier Menschen, auch ausdauernde Schwimmer waren davor nicht gefeit. Die Fahrertür des Jaguars hatte offen gestanden. Das allerdings deutete weniger auf einen Rettungsversuch des Fahrers hin, sondern sprach dafür, dass ein Dritter den Wagen über die Steine in Richtung Wasser bugsiert hatte.

»Na ja, und dann ging alles seinen Gang«, schloss Hellmer, die Hand am Blinker. »Das Auto war ausschließlich von Bahl bewegt worden. Sein Schlüsselbund hing noch am Wagenschlüssel im Zündschloss. Als er immer länger fortblieb, kam es zur Vermisstenmeldung. Seine Schwester hat ausgesagt, dass er ihr gegenüber von einem heftigen Streit mit Dennis Schäfer erzählt habe. Er habe Todesangst. Vielleicht müsse er für ein paar Tage verschwinden. Na ja, und dann fand man den Wagen, die tote Freundin, dazu kamen die ganzen SMS mit einer unmissverständlichen Todesdrohung von Schäfer. Er hat das Ganze praktisch gestanden, nachdem er eine Weile in Untersuchungshaft gesessen hatte. Auf Anraten seines Anwalts, wenn ich mich richtig erinnere. Caspar Bahl wurde daraufhin für tot erklärt. Ende der Geschichte.«

Sie fuhren durch ein Wohngebiet mit kubischen Mehrfamilienhäusern. Passierten ein etwas zurückgesetztes Haus mit Vorplatz, auf dem ein blonder Junge waghalsige Stunts mit seinem Roller übte. Der gestresst wirkende Vater lief ihm hinterher und fuchtelte mit den Armen. Feuerte er ihn an oder mahnte er ihn zur Vorsicht? Julia musste an Claus und Lynel denken, aber das passte jetzt nicht hierher. Dann endete das Wohngebiet, und der Range Rover polterte über eine Bodenwelle. Links und rechts lagen Felder, Bäume säumten den Weg. Dann wurde der Bewuchs stärker, und wenige Hundert Meter weiter erreichten sie einen einsamen Parkplatz am Ufer. Niemand außer ihnen war hier.

Hellmer ließ den Wagen so weit wie möglich nach vorne rollen und stoppte erst, als Julias Hände sich auf ihren Oberschenkeln verkrampften.

»Steigen wir kurz aus.« Er stoppte den Motor.