Der Dorn der schwarzen Rose - Simone Gütte - E-Book
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Der Dorn der schwarzen Rose E-Book

Simone Gütte

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Beschreibung

»Rache vergeht, wenn Liebe entsteht« Der letzte Eiswinter im Onyxwald hat viele Opfer unter den Waldbewohnern gefordert. Um eine neue Kältezeit zu verhindern, richten die Elfenschwestern Luana, Taria und Noe die Onyxnacht aus. Kurz vor den Feierlichkeiten werden ihnen die kraftspendenden Onyxsteine von einem Puka, einem Gestaltwandler des Nachbarwaldes, gestohlen. Was will ein Puka mit den Steinen? Was verheimlichen die anderen Waldwesen? Die Schwestern begeben sich auf die Suche. Bald müssen sie erkennen, dass es einen Feind in ihrem Wald gibt, der weit gefährlicher ist als der Puka - und den sie nie als solchen erkannt hätten. Ein Blick in die Anderswelt - und warum sie vor unseren Augen verborgen ist

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Inhalt

Eine vergessene Begegnung

Die Jägerin im Lindenlaub

Die Herrin der Hunde

Die Dornenkönigin

In den Tiefen des Rosenpalastes

Der Dorn der schwarzen Rose

Eine vergessene Begegnung

Luanas Lider flatterten, dann öffnete sie mit einem Schlag ihre Augen. Über ihr hingen die Zweige der Johannisbeersträucher, bestückt mit prallen, schwarzen Früchten. Sanft wehten die Blätter im Wind. Vereinzelte Sonnenstrahlen schimmerten durch das Astwerk, Vögel zwitscherten und irgendwo hämmerte ein Specht gegen einen hohlen Baumstamm.

Stöhnend griff sich die Elfe an den Kopf. Er dröhnte und ihr Körper fühlte sich an, als wäre er in Nesseln getaucht worden. Vorsichtig setzte sie sich auf und stemmte sich mühevoll auf die Beine.

Sie sah sich um. Vor ihr blubberte der Koboldweiher. Warum lag sie unter den Johannisbeersträuchern? Sie blinzelte mehrmals und schüttelte sich, als könne sie so ihrem Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wie aus einem Nebelschwaden tauchte die Gestalt der Koboldin Oona in ihren Erinnerungen auf, ein Mensch zeichnete sich ab und sie meinte, sogar ihre Dornenkönigin Coraxenia gesehen zu haben. Ein blonder Elf in rotgoldener Jagdkleidung, ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, hatte sich ihr als Ahorn vorgestellt, der Königssohn aus dem Ahenwahra. Er hatte freundlich gewirkt, war hochgewachsen wie ein Löwenzahn und damit nicht viel größer als sie selbst.

Sie senkte den Blick und zuckte zusammen. An ihren Händen haftete Blut. Es war nicht mehr frisch, sondern hinterließ einen klebrigen Abdruck an ihren Handflächen. Ihre Arme schmerzten ein wenig, als hätte sie schwere Körbe getragen. Auch sonst entdeckte sie nur die üblichen Kratzer, die manchmal beim Beerenpflücken Spuren hinterließen.

Bin ich an den Zweigen hängengeblieben und abgestürzt?, grübelte sie. Oder hatte es etwas mit den Anwesenden zu tun? Wieso kann ich mich nicht erinnern?

Sie nieste heftig und geriet ins Taumeln. Verwundert wischte sie sich mit einem Blatt die Nase ab. Seit wann reagierte sie auf Johannisbeeren allergisch?

Das Brennen auf ihrem Körper ließ nach, aber ihr Kopf schmerzte noch immer. Luana straffte sich und flog hinüber zum Hillock, auf dem morgen um Mitternacht das Onyxfest stattfinden sollte.

Was bei allen heiligen Lindenbäumen war nur passiert?

***

Die Tautropfen auf den Grashalmen des Hillock funkelten wie Bergkristalle in der aufgehenden Sonne. Auf der Wiese lag das erste Herbstlaub, noch leicht wie frisch gefallener Schnee, und schimmerte grüngolden.

Taria pustete in ihre kalten Hände und rieb sie kräftig, während sie ihre Schwestern beobachtete, die Kiesel am Wiesenrand aufsammelten und sich mit ihrer Last in die Lüfte erhoben. Sie ließen ihre Flügel surren, sodass sie mit ihren farbigen Blütenkleidern aussahen wie kleine, bunte Hummeln, die Blumen bestäuben wollten. Im Gegensatz zu den beiden konnte Taria nicht mit einem Paar filigraner Elfenflügel abheben.

Sie richtete ihren Köcher mit den Pfeilen auf dem Rücken, zog die Kapuze über ihr kurzes, haselnussbraunes Haar und spurtete ebenfalls zum Wiesenrand. Sie packte einen weiteren Kiesel und lief flink wie ein Eichhörnchen auf das Oval zu, dessen Form sich durch die Legung der Steine abzeichnete. Bald würde daraus ein Auge mit Augenlidern, langen Wimpern, einer Iris und einer Pupille entstehen. Besonders auf die großzügige Gestaltung der Mitte kam es an. Jedes Waldwesen würde seinen Onyx stellvertretend für seine Sippe in den Kreis legen, um das Onyxfeuer zu entzünden.

Endlich, dachte Taria. Endlich ist es wieder so weit.

Sie legte ihren Kiesel neben die anderen und lief zum Wiesenrand, um den nächsten zu holen. Immer wieder, bis sie nach einer Weile keuchte. Laufen, Tragen und Legen war eine schweißtreibende Arbeit, obwohl sie es wie alle Elfen gewohnt war, sich täglich um das Wachstum der weitaus größeren Pflanzen und Tiere des Onyxwaldes zu kümmern. Sie blieb am Oval stehen, stemmte beide Hände in den unteren Rücken und kam mit einem Ächzen in die Gerade.

»Möchtest du dich ausruhen?«, fragte Noe, ihre jüngere Schwester, die neben ihr gelandet war. »Wir schaffen das auch allein.«

»Kommt nicht infrage. Wenn uns die Dornenkönigin erlaubt, die Onyxnacht vorzubereiten, helfe ich mit. Was ihr mit euren Flugkünsten schafft, packe ich locker mit meinen Armen.« Taria lief zurück, griff nach dem nächsten Kieselstein und kippte vornüber. Schnaufend stand sie auf und hob pfeifend einen kleineren an.

»Taria?«, wandte sich Noe erneut an ihre Schwester. »Findest du nicht, dass Luana heute abwesend wirkt?«

Taria drehte sich um und folgte Noes besorgtem Blick. Ihre älteste Schwester arbeitete an dem Oval, aber sie spähte über den Hillock, als suche sie dort irgendetwas.

»Ob sie hofft, dass Mama Serena und Papa Tarkan der Zeremonie beiwohnen werden?«, flüsterte Noe.

»Die Geister des Hillock treten nie persönlich in Erscheinung.« Taria seufzte traurig. »Aber unsere Eltern werden sicher am Rande zuschauen, wie wir die erste Onyxnacht nach der großen Kältezeit begehen.«

»Was sucht Lu dann?«

»Ich werde sie fragen. Hol du neue Steinchen.«

Sie ging zu ihrer Schwester und tippte ihr auf die Schulter. Luana fuhr mit einem kleinen Aufschrei herum.

»Ich bin’s nur. Wen hast du denn erwartet?«, fragte Taria.

»Ich weiß nicht.« Luanas Stimme klang ungewöhnlich leise.

Stirnrunzelnd betrachtete Taria ihre Schwester. Das sonst fein mit Blumen und Ranken durchzogene rote Haar hing ihr in ungekämmten Wellen über den Rücken. Sie trug auch nicht ihren Moosumhang über dem gelben Kleid, mit dem sie sich im Grün des Waldes verbarg.

»Warum sieht dein Haar so strähnig aus? Und wo ist dein Tarnkleid? Du leuchtest wie eine Butterblume bei Mondschein.«

Luana tastete ihre Arme ab, als bemerke sie erst jetzt, dass sie keinen Umhang trug.

Erschrocken starrte Taria auf Luanas Handflächen. »Du blutest ja! Was ist passiert?«

Hastig versteckte ihre Schwester die Hände hinter dem Rücken. »Ich habe vergessen, es abzuwaschen und ich kann mir auch nicht erklären, woher es stammt oder ob es sogar mein eigenes ist.«

»Was ist denn geschehen?«

»Das ist es ja gerade. Ich habe keine Ahnung. Bitte sprich nicht mit Noe darüber. Du weißt ja, wie ängstlich sie ist. Sie versteht die Situation womöglich falsch. Und morgen Nacht steht die Herbsttagundnachtgleiche an. Der Herbstanfang … Da wollen wir die Onyxfeier begehen …«

»Lu«, unterbrach Taria ihre Schwester. »Du stammelst wie ein Pixie.«

»Tut mir leid. Ich bin so durcheinander. Ich erinnere mich, dass ich in der Morgendämmerung zum Johannisbeerensammeln ausgeflogen bin. Als ich in der Nähe des Koboldweihers war, hörte ich ein Geräusch. Wie ein Röcheln. Ich lief hin … und dann …« Luana hielt inne.

Taria rüttelte ihre Schwester sanft an den Schultern. »Wer hat geröchelt? Einer der Kobolde am Weiher?«

Luana nickte. »Oona. Es muss Oona gewesen sein.«

»Du weißt es nicht genau?«

»Nein. Seit ich von der Beerensuche zurück bin, ist in meinem Kopf alles verschwommen. Ich meine sogar, einen Menschen gesehen zu haben.«

»Wie bei allen heiligen Lindenbäumen kommt ein Mensch in den Onyxwald?«, rief Taria verwundert.

Luana presste ihr eine Hand auf den Mund.

Taria schob sie beiseite, spuckte und wischte über ihre Lippen. »Igitt! Jetzt hast du mir das Blut ins Gesicht geschmiert. Das ist eklig.«

»Entschuldige.«

Taria sah zu Noe hinüber. Ihre jüngere Schwester stand zwischen den Kieseln und zog ihren purpurnen Fingerhut tief in die Stirn. Sie drehte den Kopf in ihre Richtung, kam jedoch nicht näher.

»Am Koboldweiher war nicht nur ein Mensch«, sprach Luana weiter. »Plötzlich war dort ein Elf, den ich nie zuvor gesehen habe. Ich glaube, Coraxenia war auch dort.«

»Nun wird es seltsam, Schwesterherz«, sagte Taria. »Die Dornenkönigin würde niemals an den Weiher kommen. Sie verlässt das Gebiet um ihren Rosenpalast nie. Außerdem mag sie die Kobolde nicht.«

Luana seufzte. »Das stimmt. Alles ist so verwirrend.«

»Wer war der Elf?«, hakte Taria nach. »Jemand aus dem Rosenpalast?«

»Nein«, antwortete Luana. Doch dann leuchteten ihre Augen. »Es sagte, er sei Ahorn, der Königssohn aus dem Ahenwahra. Er erwähnte seine Eltern, die während des Eiswinters verstorben sind.«

»Wenn wir Mamas Schutzzauber nicht gehabt hätten, wären wir auch erfroren«, erwiderte Taria betrübt.

»Sie übertrugen alle Wärme auf uns und mussten dafür ihr Leben lassen«, fügte ihre Schwester traurig hinzu. »Vielleicht war es ein Zeichen, dass ich dem Königssohn begegnet bin?«

»Ich hoffe doch ein gutes? Aber was sollte es bedeuten, besonders so kurz vor der Onyxnacht? Was, wenn uns wieder dreizehn Jahre Kälte erwarten? Mir gruselt es irgendwie, wenn ich an Zeichen denke.« Taria stockte und sah ihre Schwester mit aufgerissenem Mund an. Deren Wangen glühten. »Was ist denn mit dir los?«

»Er sieht hübsch aus.« Luana senkte die Lider.

»Wer?«, fragte Taria. Dann griff sie sich an die Stirn. »Aha! Daher weht der Wind. Hast du dich etwa verliebt?« Eine steile Falte erschien auf ihrer Stirn.

»Sei bitte still«, bat Luana. »Noe kommt zu uns herüber. Solange ich nicht weiß, woher das Blut an meinen Händen stammt, möchte ich nicht darüber sprechen.«

»Also schön. Wir gehen der Sache später nach. Am besten wäre es, wenn du dir die Hände wäschst.«

Luana lächelte erleichtert und flog davon, bevor Noe sie erreichte.

»Was habt ihr für Geheimnisse? Und warum hat Lu Blut an den Händen?« Sie sah ihrer Schwester hinterher.

Verdammt, sie hat es gesehen!, dachte Taria.

»Keine Sorge, Liebes«, beruhigte sie die Jüngste. »Lu hat sich heute Morgen beim Beerensammeln an einem Dorn verletzt.« Sie richtete sich stolz auf, weil ihr spontan eine Antwort eingefallen war.

Noe betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Was für ein Dorn? Mit Lügen solltest du gar nicht erst anfangen, Taria. Lu kümmert sich um uns, seit unsere Eltern ihren Platz auf der Dämmerlichtung eingenommen haben. Nie hat sie sich gehen lassen. Und plötzlich sieht sie wie ein gerupfter Wiedehopf aus, taumelt wie ein betrunkener Kobold und blutet an den Händen. Ich mag ja zuweilen etwas ängstlich sein, aber wenn ihr glaubt, mir fiele so etwas nicht auf, habt ihr euch getäuscht.«

Sie setzte sich an den Rand des Ovals und drapierte sorgsam die Kieselsteine.

Taria ließ die Schultern sinken. Nein, Noe mochte sich vor allem fürchten, aber vormachen konnte sie ihrer kleinen Schwester nichts. Dass sie sogar ihre Lüge durchschaut hatte, war ihr unheimlich peinlich.

»Lu wird es dir später erklären«, sagte sie. Wenn sie es denn kann, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Jetzt sollten wir das Auge fertigstellen. Ich freu mich schon, wenn wir wieder gemeinsam feiern«, munterte Taria Noe auf. »Vor dem Eiswinter wimmelte es auf dem Hillock nur so von verrückten Waldwesen. Die Kobolde führten Kunststücke für die Kinder auf. Und wir haben dem Gebrabbel der Pixies gelauscht, auch wenn wir nichts verstehen konnten.«

»Ja, daran kann sogar ich mich erinnern, obwohl ich damals noch sehr jung war«, erwiderte Noe.

»Dreizehn Jahre Kälte haben viel verändert«, sagte Taria. »Die Waldwesen haben sich zurückgezogen. Wenn wir sie treffen, spielen uns die Kobolde Streiche und die Pixies hüpfen davon. Die Zwerge haben sich abgesondert und meiden uns. Keine Ahnung warum, aber jedes Wesen kümmert sich nur noch um sich selbst.« Taria sah, wie über Noes Gesicht ein Lächeln huschte. »Was ist so lustig daran?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete ihre Schwester. »Ich musste an die Zwerge denken. Wenn ich auf den Flusswiesen liege, lausche ich dem Klang ihrer Werkzeuge. Überall klirrt, klimpert und hämmert es. Dazwischen höre ich den Fluss rauschen. Sie scheinen ständig zu arbeiten, ohne müde zu werden.« Verträumt blickte sie in diese Richtung. »Vielleicht könnten sie dir Flügel schmieden?«, fiel ihr ein. »Ich glaube, sie können alles anfertigen, sogar zarte Elfenflügel.« Sie schaute Taria an und erblasste.

Diese knurrte ärgerlich. »Lass uns weitermachen«, bestimmte sie kühl. »Die Steine sortieren sich nicht von selbst. Im Übrigen brauche ich dazu keine Flügel.«

Natürlich ist Noe nicht entgangen, dass ich mir Flügel wünsche. Jede Elfe besitzt Flügel. Jede, wirklich jede Elfe.

Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde und zog hastig die Kapuze tiefer in die Stirn. Sicher bildeten sich gerade unpassende, hektische Flecken, die Noe nicht sehen musste. Sie setzte ihre Arbeit fort und linste hin und wieder zu ihrer Schwester.

Noe antwortete nicht mehr, legte jedoch zügig Kiesel an Kiesel und summte ein Lied. Taria lächelte. Es war ein Frühlingslied, das ihnen ihre Mutter früher vorgesungen hatte. Schließlich fiel sie in die Melodie ein. Kurz vor Mittag war ein aufmerksam blickendes Auge entstanden.

»Es ist schön geworden«, sagte Taria und nahm Noe an die Hand. »Jetzt müssen wir nie wieder einen Eiswinter erleben.«

»Stimmt«, antwortete die Jüngere. »Bleibt nur noch zu klären, wobei sich Luana blutige Hände geholt hat.«

Taria verzog zerknirscht den Mund.

***

Luana stand vor einer Felswand, aus der ein silbriger Wasserstrahl plätscherte, der in einen Bach mündete. Sie ließ sich auf einem Stein nieder, tauchte die Hände in das kühle Nass und wand eifrig die Handflächen ineinander, bis alles Blut abgewaschen war. Sie beugte sich tiefer und wusch ihr Gesicht mit dem klaren, kalten Wasser, bis auch ihr Haaransatz und ihr Kleid durchnässt waren.

Aber die Erinnerungen wollten sich nicht zeigen. War es tatsächlich die alte Koboldin Oona gewesen, die sie gesehen hatte? Woher kam das Blut an ihren Händen? War es Oonas Blut? War es ihr eigenes? Sie drehte die Handflächen hin und her. Nein, sie konnte keine Verletzungen erkennen.

Sie spritzte sich nochmals Quellwasser ins Gesicht. Ein Mensch war zugegen gewesen und Coraxenia, die Dornenkönigin, die sich sonst nie in die Nähe des Weihers begab. Und was hatte Ahorn, ein Königssohn, in diesem Sumpf zu suchen?

Luana seufzte. Wieso war heute Morgen alles so verwirrend? Warum kamen und gingen die Erinnerungen, wie sie wollten? Ihr fehlte jeder Zusammenhang.

Ich könnte mich bei Oona erkundigen.

Früher hatte sie die alte Brombeerpflückerin oft in der Nähe ihrer Eltern gesehen. Ihre Mutter Serena und sie hatten viel gelacht und gescherzt. Aber seit dem Vorfall mit dem Hundewelpen ging Oona allen Elfen aus dem Weg.

Luana sackte ein Stück in sich zusammen. Es war das erste Mal, seit ihre Eltern verstorben waren, dass die drei Elfenschwestern das Onyxfeuer allein ausrichten mussten. Alle Waldwesen gemeinsam um das Feuer zu sammeln, um eine neuerliche Kältezeit zu verhindern, das war nun ihre Aufgabe. Ihre Eltern hätten es sich so gewünscht.

Luana taumelte und griff sich an den Kopf. Er schmerzte, als hätte sie zu viele Tollkirschen genascht.

Über was habe ich gerade nachgedacht? Sie rieb sich die Schläfen. Das Abbild ihrer Königin tauchte vor ihr auf. Ich werde Coraxenia im Rosenpalast besuchen. Sie lebt bei uns, seit sie uns die Onyxe zurückgebracht hat. Und wir drei waren noch nicht einmal bei ihr, obwohl ihr ganzes Dienstpersonal aus fleißigen Elfen besteht.

Sie erinnerte sich an den Königssohn und eine Wärme breitete sich in ihrem Herzen aus. Vielleicht hat mich wirklich Ahorns Ankunft überrascht.

Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, als sie sich über die Wasseroberfläche beugte. Es war unverkennbar: Eine feine Röte hatte ihre Wangen überzogen. Ihr Herz machte einen Hüpfer und sie sprang jauchzend ins Wasser. Das klebrige Zeug in ihren Haaren wollte endlich ausgewaschen werden.

***

Taria lag mit weit geöffneten Augen auf dem Lindenast und spähte durch die Zweige. Ein Geräusch, als wäre eine Eule durch die Baumkrone gerauscht, hatte sie aus dem Schlaf gerissen. Der Mond war mit Wolken verhangen, nur hin und wieder bestrahlte sein Licht die Umgebung. Den Lindenbaum hatte er in ein fahles Dunkelgrün getaucht.

Die Elfe setzte sich aufrecht. Im Baumwipfel raschelte es. Die Schwestern bewohnten den Lindenbaum nicht allein. Glühwürmchen, Mücken, Spinnen, Motten und unzählige Grünwichtel hatten ihr Zuhause auf den Blättern, Ästen und Zweigen. Sie rekelten sich wohlig, aber das Geräusch schien sie nicht geweckt zu haben.

Taria war sich sicher: Etwas hatte die Krone ihres Lindenbaums durchgeschüttelt. Nun hörte sie nur noch den Wind durch die Blätter rauschen, es klang eher sanft als stürmisch.

Aber dann spürte sie ein neuerliches Zittern des Lindenlaubs. Vom Boden schien ein Beben auszugehen, das sich über den Stamm hinauf in die Äste bis in die kleinsten Zweige fortsetzte. Geistesgegenwärtig fing sie einen schlafenden Grünwichtel auf und legte ihn behutsam vor sich auf dem Ast ab. Es war Marv, erkannte sie. Der grüne Geselle ließ sich nicht weiter stören, drehte sich auf die Seite und schnarchte. Ein Glühwürmchen hatte sein Licht angeknipst und blickte ihr müde in die Augen.

»Nichts passiert, schlaf weiter«, wisperte Taria.

Das Glühwürmchen gähnte und verdunkelte sich. Ein paar weitere sanfte Stoßwellen erreichten die Baumkrone, dann ebbte das Beben ab.

Von den Adlern hatte Taria gehört, dass es in der Menschenwelt Beben gäbe, die Berge zum Brodeln bringen würden, um dann rot-glühendes Gestein an die Erdoberfläche zu spucken. Das war jedoch in ihrer Heimat noch nie vorgekommen. Das schwarze, stärkende Onyxgestein lagerte zusammen mit einem großen Vorkommen an Bergkristallen tief im Boden und stabilisierte den nach ihm benannten Wald. Sechs dieser kräftigenden Edelsteine hatte er eigens für die Waldwesen zutage gefördert, um sie vor Kälte zu schützen.

Taria dachte an Luanas seltsame Begegnung mit dem Königssohn aus dem Ahenwahra. Dort wehte stets ein rauer Wind. Zog dieser jetzt durch ihren Wald?

Eine Weile lauschte sie noch. Als nichts weiter geschah, ließ sie sich etwas beruhigter auf den Ast zurückfallen, umfasste mit beiden Armen den Bogen und den Köcher und drehte sich auf die Seite. Bald fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.

***

Ein ohrenbetäubendes Donnern und Krachen riss Taria erneut aus dem Schlaf. Dieses Mal saßen auch ihre Schwestern aufrecht auf den Ästen. Schlaftrunkene Glühwürmchen und zornige Mücken umkreisten die drei, als könnten sie auf diese Weise eine Antwort auf den Lärm erhalten. Kleeblattgroße Grünwichtel schnatterten aufgeregt durcheinander, hüpften durchs Geäst, krallten sich an der Borke fest oder zupften an den Kleidern der Elfenschwestern.

Taria warf sich eilig ihren Jagdumhang über.

»Was war denn das?«, fragte Marv und schlüpfte unter ihr Gewand.

»Hast du was gesehen, Jägerin?«, mischte sich Grünwichtel Carl ein, der aussah wie ein getrockneter Kiefernzapfen.

»Nein«, entgegnete Taria unwirsch und schüttelte Marv aus den Falten ihres Umhangs.

»Es könnte ein Vogel gewesen sein, der durch die Baumkrone geflogen ist«, meinte Luana. »Es hörte sich ziemlich laut an. Vielleicht ist er abgestürzt?«

Seitdem sie sich das Blut von den Händen gewaschen hatte, wirkte die Älteste wieder gefasst. Sogar einen neuen Überwurf aus Farnen und Moosen hatte sie sich gewebt, den sie sich nun über ihre Schultern legte.

»Heute Nacht habe ich ein Beben gespürt«, sagte Taria. »Ich dachte zuerst auch an einen Vogel …«

»Könntet ihr mal aufhören, Rätsel zu raten und nachgucken?«, meckerte Marv.

Noe klammerte sich an Luana und starrte hinab. »Ich glaube, da unten bewegt sich etwas, aber ich erkenne nichts«, hauchte sie.

Abrupt stand Taria auf. »Jemand will die Onyxsteine stehlen!«

»Lasst uns zu den Wurzeln fliegen, dann wissen wir mehr«, schlug Luana vor.

Sie versuchte, sich aus dem Klammergriff ihrer jüngsten Schwester zu befreien, aber es gelang ihr nicht. Noe verfügte über erstaunliche Kräfte, wenn sie Angst hatte. »Noe, Liebes, lass bitte los.«

Die Elfe gehorchte und zog langsam ihre Hand zurück.

»Was ist denn jetzt?«, brachte sich Marv abermals ein.

»Ihr müsst uns beschützen«, stimmte Carl zu.

»Wirklich?«, meinte Taria, legte sich jedoch ihren Köcher mit den Pfeilen um und griff nach dem Bogen. Flink wie eine Haselmaus krabbelte sie den Stamm hinunter.

Währenddessen wies Luana Noe an, sich ihren Fingerhut über den Kopf zu ziehen, dann setzte sie sich selbst eine frische Blüte auf. Die Digitalis würde sie schützen, sollte ein Fremder sie angreifen. Ihre Moosumhänge zogen sie dichter um den Körper, schoben ihre Flügel durch die Zwischenräume des Pflanzengewandes und ließen sie rotieren. Leise folgten sie Taria zum Boden.

Ein Schrei wie der eines tödlich verletzten Tieres zerschnitt die Stille der Nacht.

Mit angehaltenem Atem sah Luana sich um. Taria verharrte unterhalb von ihr regungslos an der Baumrinde. Sämtliche Grünwichtel waren verstummt. Die Glühwürmchen hatten auf der Stelle ihr Licht gelöscht, die Motten flatterten nicht, die Spinnen seilten sich nicht ab und auch die Mücken summten nicht mehr.

»Was war das?«, fragte Noe mit bebender Stimme.

»Ein ertrinkender Bergwerkskobold hätte sich nicht schlimmer anhören können.« Taria blickte nach unten.

»Vorwärts!«, bestimmte Luana.

»Bist … bist … « Noe sah sie mit großen Augen an.

»Was bin ich?«, fragte ihre Schwester nach.

»Bist du verrückt?!«, stammelte die Jüngste.

»Ich bin ja bei dir.«

Die beiden Elfen schwebten zum Boden, während Taria weiterkletterte. Das Mondlicht brachte nur wenig Helligkeit, da die Wolken den Nachtwächter verhüllten.

»Li, Tri, Si, Jar und Kiri!«, befahl Luana. Sofort flogen fünf Glühwürmchen auf die Augenhöhe der Elfe.

»Macht uns ein bisschen Licht. Dieses Wesen muss hier irgendwo abgestürzt sein.«

Die Glühwürmchen flogen dicht über dem Boden und strahlten einen dunkelgelben Lichtschein aus.

Luana winkte Taria herbei und zeigte auf den Waldgrund. Er war aufgewühlt, Grassoden lagen verstreut umher, überall waren Löcher und Kerben entstanden.

»Es hat sich hier herumgetrieben«, murmelte die Elfe.

»Was war es, Lu?«, fragte Noe mit zittriger Stimme. »Und ist es jetzt fort?«

»Zumindest sehe ich nirgendwo einen Körper oder höre ein Geräusch. Wenn es ein Vogel war, könnte er weitergeflogen sein. Lasst uns nachsehen, vielleicht entdecken wir Federn, Haare, Schuppen oder Fell.«

»Was soll das für ein Geschöpf sein?« Ängstlich sah sich Noe um.

»Ein Puka!« Taria nickte wissend.

Luana hielt in der Bewegung inne und drehte sich zu ihrer Schwester um. »Es gibt im Onyxwald keine Pukas, das weißt du. Mach Noe bitte keine Angst mit solch einem Blödsinn.«

»Was ist ein Puka?«, fragte Noe.

»Ein Gestaltwandler«, erklärte Taria. »Sie kommen aus dem Ahenwahra. Nur dort leben sie.« Sie trat einen Schritt auf Luana zu und zog sie beiseite. »Du sagtest, du hast gestern Morgen mit einem Elfen gesprochen, der sich als Ahorn aus eben diesem Wald vorgestellt hat. Was meinst du? Könnte er …?«

Luana schüttelte energisch den Kopf. »Nein! Warum sollte er uns schaden? Er war freundlich. Außerdem hält unsere Dornenkönigin jede Schreckenskreatur vom Onyxwald fern. Es könnten die Kobolde gewesen sein, die uns einen Streich spielen wollten.«

Taria zuckte die Achseln. »Nun ja, du nimmst ihn in Schutz, weil du offensichtlich in ihn verliebt bist.«

Sofort scharten sich Noe, die Grünwichtel und Glühwürmchen um die Schwestern.

Luana funkelte Taria an, verkniff sich jedoch eine Antwort. Nur zu gut wusste sie, wie die Baumbewohner auf diese Nachricht reagieren würden. Ihre Nerven waren dünn wie Spinnfäden, aber ebenso kräftig, um daraus ein handfestes Chaos zu weben.

»Also das war gestern Morgen passiert?«, hakte Noe nach. »Du bist einem Puka begegnet? Hast du etwa gegen einen gekämpft und dich dabei verletzt?« Sie wies auf Luanas nunmehr saubere Hände.

Die Umstehenden schrien entsetzt auf.

»Siehst du, was du anrichtest, Taria?«, schimpfte Luana. »Du plauderst sorglos alles aus und unsere Mitbewohner werden panisch! Das wollte ich vermeiden.«

»Die Angst wird sich nicht mehr lange vermeiden lassen«, konterte Taria. »Wir müssen der Gefahr ins Auge sehen, Lu. Sie wird nicht vergehen, nur weil wir behaupten, es gäbe keine.«

Luana seufzte und sah in die Runde. »Entschuldigt. Seit gestern Morgen bin ich etwas zerstreut. Aber ich glaube, Ahorn, der Königssohn aus dem Ahenwahra, hat sich am Koboldweiher aufgehalten. Mama hat mir einmal erzählt, dass es in diesem Wald noch immer Gestaltwandler, also Pukas, gibt.«

»Ja, ja, die Ahörner!«, warf Marv ein. »Sie haben mit dem Wind einen Pakt geschlossen, damit er ihre Ahornsamen verbreitet. Aber nur im Ahenwahra. Das ist auch der Grund, warum es bei uns keinen einzigen Ahornbaum gibt.«

Plötzlich schrie Taria auf und alle Köpfe ruckten zu ihr. Sie zeigte auf eine Öffnung, die das Wurzelwerk der Linde freilegte. »Lu, ich hatte recht! Sie sind weg, sie sind alle weg!«

Luana zuckte zusammen, als sie das Loch bemerkte. Die Glühwürmchen schwärmten hinzu und beleuchteten den leeren Hohlraum. Sogleich wimmerten sie und steckten die übrigen Baumbewohner mit ihrem Geheul an.

»Lindenvolk, wir haben einen Puka in unserer Mitte. Womöglich hat der Königssohn unsere Steine gestohlen!«, rief Taria.

»Es muss nicht Ahorn gewesen sein.« Luana sah ihre Schwester stirnrunzelnd an.

»Dann eben ein anderer«, beharrte Taria. »Aber es passt! Denn welches Ungetüm fliegt nachts, weil es tagsüber schläft? Was ärgert, quält, entführt, betäubt …«

»Hör auf, Taria!«, mahnte Luana.

»Und was ernährt sich von Fleisch und … Onyxsteinen?« Taria verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihre ältere Schwester herausfordernd an.

»Es ernährt sich davon?«, fragte Noe ungläubig. Ihre Zähne schlugen aufeinander, sie geriet ins Stottern. »Da-Dann … sehen wir die St-Steine nie wieder! Ohne sie können wir kein Onyxfeuer entzünden. Wir werden erfrieren!«

»Noch nie hat jemand im Onyxwald den fliegenden Ziegenbock gesehen oder weiß, von was er sich ernährt«, erklärte Luana.

»Fliegender Zie-Ziegenbock?«, fragte Noe. »Wenn ihn noch nie jemand gesehen hat, woher weißt du, wie er aussieht?«

Luana biss sich auf die Unterlippe.

Taria umfasste ihren Bogen. »Ich werde herausfinden, ob ein Gestaltwandler in den Onyxwald eingedrungen ist. Wenn er wirklich die Steine gestohlen hat, müssen wir sie schleunigst wiederbeschaffen.«

»Was willst du tun, wenn du ihn gefunden hast?«

»Ich lasse mich von ihm fressen und schieße aus seinem Innersten mit Pfeil und Bogen auf ihn.«

»Nein, Taria!«, kreischte Noe. Sie zerrte am Umhang ihrer Schwester, als könne sie diese so zurückhalten.

»Lass das«, schimpfte Taria und zog ihre Kleidung zurecht.

Noe hielt inne. »Versprich mir, das sein zu lassen.«

»Aber vielleicht ist das unsere einzige Chance«, unterbrach Marv die Schwestern. »Ich brauche keinen zweiten Eiswinter. Der letzte steckt mir noch in den Knochen. Die Bäume blieben kahl, kein Blatt wollte sprießen. Der Frost hatte jeden Baum und Busch bis in den Kern ausgesaugt. Kein Gras kroch aus dem Boden, nur Flechte und Moose hielten der feuchten Kälte stand.«

»Unsere Alten, Kranken und viele Kinder sind dem schneidenden Frost zum Opfer gefallen«, ergänzte Carl.

»Erinnert ihr euch?«, fragte Luana. »Damals halfen Taria und ich unseren Eltern, das Auge zu legen. In der letzten Onyxnacht vor dem langen Eiswinter erschien ein Hundewelpe an unserem Feuer. Ein knuddeliger Menschenhund. Er legte sich auf den Rücken und ließ sich kraulen. Aber von jetzt auf gleich war der Welpe verschwunden und mit ihm die Onyxsteine. Als wir den Diebstahl bemerkten, war es zu spät. Der Eiswinter fror unseren Wald ein. Zum Glück entdeckte Coraxenia die Onyxe unter den Wurzeln unserer Linde und rettete uns damit das Leben. Endlich konnte die Natur ihren alten Rhythmus finden.«

»Meinst du, der Welpe ist zurückgekehrt?«, fragte Noe.

»Möglich«, sagte Luana. »Noch ist nichts geklärt.«

»Na, prima. Dann stehen wir jetzt vor der nächsten Katastrophe!«, jammerte Marv.

»Die Zwerge hätten besser auf die Onyxe aufgepasst«, brachte sich Carl ein.

»Woher willst du das wissen?«, fragte Luana ärgerlich.

Carl verschränkte die Arme und gab ein »Mmpf!« von sich.

Lu versucht, den Verdacht von diesem Königssohn abzulenken, ging es Taria durch den Kopf. Aber der Wind, der Verbündete der Ahörner, war heute Nacht durch die Linde gerauscht. Ich muss herausfinden, ob es da einen Zusammenhang gibt oder ob das ein Zufall war.

»Genug der langen Reden!«, beendete sie den Disput und wandte sich an Grünwichtel Marv. »Lass uns den Puka suchen. Wir holen uns die Steine zurück.«

Marv schüttelte den Kopf, bis ihm seine spitze Mütze herunterrutschte.

Taria seufzte. »Macht nichts. Ich besitze Mutters Pfeile und den Bogen. Das sollte genügen.«

Sie legte die Stirn in Falten und sah in den Himmel. Der Morgen war noch Stunden entfernt. »Wo fange ich mit der Suche an?«, murmelte sie und kratzte sich am Hinterkopf.

»Soll ich dich begleiten?«, fragte Luana.

Taria verdrehte die Augen in Noes Richtung. »Pass auf unsere verängstigten Lindenbewohner auf. Damit hast du alle Hände voll zu tun.«

Augenblicklich scharten sich die Glühwürmchen und Grünwichtel um Luana.

»Du brauchst Licht«, hörte Taria ein piepsiges Stimmchen. Vor ihren Augen glimmte ein Glühwürmchen auf.

»Wer bist du?«

»Kiri. Ich weiß, dass die Kobolde hier waren. Kommt mit!«

Das Glühwürmchen flog zu den Wurzeln der Linde und umkreiste einen Gegenstand. Die Lindenbewohner folgten ihm.

Taria trat näher, hob das Fundstück auf und betrachtete den Dreispitz. »Dann lagst du mit deiner Vermutung gar nicht so falsch, Lu. Die Kobolde waren tatsächlich hier. Ob sie den Puka verfolgt haben?«

Luana runzelte die Stirn. »Der Hut sieht ziemlich demoliert aus.«

»Vielleicht kam es zu einem Kampf, als sie auf das Ungeheuer trafen, das die Steine stehlen wollte!«, rief Noe und zuckte beim Klang ihrer Stimme zusammen.

Taria nickte grimmig. »Kiri und ich machen uns auf den Weg zum Koboldweiher. Noe, du bleibst bei Lu.«

Die Jüngere setzte ihre Fingerhutblüte ab, sodass ihre blonden, geflochtenen Zöpfe über die Schultern fielen. »Für dich, Taria. Trage sie in der Not.«

Ein zarter, süßer Geruch entströmte der Blüte. Gerührt knetete Taria die Kopfbedeckung in ihren Händen und überlegte, was sie Besänftigendes sagen könnte.

»Keine Angst. Ich brauche sie sicher nicht. Habe ich den Puka gestellt, schlitze ich ihn auf und kralle mir die Steine!«

Sie kniff Noe in die Wange, sodass ein roter Abdruck zurückblieb. Schnell drehte sie sich zu dem Glühwürmchen um. Sie hatte Noes aufgerissene Augen bemerkt und war sich bewusst, dass sie ihre jüngere Schwester keinesfalls beruhigt hatte. Doch ihr blieb keine Zeit.

»Auf zum Koboldweiher, Kiri. Lass uns die Bestie vor dem Morgengrauen erlegen«, machte sie sich selbst Mut.

Kiri gab einen zustimmenden Laut von sich und flog vor der Jägerin her.

***

Marv sah den beiden kopfschüttelnd hinterher. »Wie will unsere zarte Taria einen ziegenbockgroßen Puka aufschlitzen und die Steine herausholen?«

»Der verspeist sie eher als Nachtisch«, meinte Carl.

»Ich hätte mitgehen sollen«, murmelte Luana bestürzt. »Wieso will sie immer alles allein machen?«

»Weil du es ihr erlaubst!« Noe schniefte laut.

Luana sah sie erstaunt an. Es war völlig untypisch für Noe, dass sie Widerworte gab.

»Taria benutzt bei Gefahr sicher deinen Fingerhut«, erwiderte sie und hoffte, dass Noe das Zittern ihrer Stimme überhören würde.

Sollte der Königssohn, der ihr so gefallen hatte, wirklich ein hinterhältiger Puka sein? Und wenn ja, warum wollte er den Waldbewohnern schaden?

Die Jägerin im Lindenlaub

Geschmeidig wie eine Wildkatze bewegte sich Taria durchs Unterholz. Den Bogen ihrer Mutter Serena hielt sie fest in den Händen, bereit, ihn jederzeit einzusetzen. Sogar im Dämmerlicht konnte sie erkennen, dass der Waldpfad übersät war mit frisch abgebrochenem Ast- und Blattwerk. Sie nahm Anlauf und sprang über eine Ansammlung kleinerer Zweige hinweg.

Aha! Es war kein Beben. Der Wind des Ahenwahra ist hier durchgefegt.

Sie zog die Kapuze des Jagdumhangs tiefer in die Stirn. Noes Fingerhut steckte in ihrer Innentasche. Vor Taria schwirrte Kiri und bemühte sich, dem Tempo der Elfe einen Schritt voraus zu sein. Ein raschelndes Geräusch ließ die beiden herumwirbeln.

»Da drüben«, flüsterte Taria und deutete auf einen Haselnussstrauch.

Kiri nickte, seine Leuchtantennen zitterten. Die Elfe griff nach dem Glühwürmchen und platzierte es auf ihrer Kapuze. Der dunkelgelbe Lichtschein tauchte den Waldboden vor ihr in ein Dämmerlicht.

Dann sahen sie die neun Kobolde. Krummbeinig stützten sie sich auf Stöcke oder hockten auf Steinen. Die Wichte waren groß wie Runkelrüben und blickten missmutig unter ihren Dreispitzen hervor. Durch ihre ungleichmäßig geknöpften Mäntel wirkten sie doppelt so breit als sie wirklich waren.

Hinter der Schar blubberten Wasserblasen im Koboldweiher. Gras, Schilf und Röhricht erhoben sich schattengleich in der nebelgrauen Morgendämmerung. Direkt dahinter befand sich die Barghöhle, ein breiter, oben abgeflachter Hügel, den die Kobolde als Vorratskammer nutzten. In ihrer Eile und dem Dämmerlicht hatte Taria nicht darauf geachtet, dass sie bereits auf dem Terrain der Kobolde angelangt waren.

Wie dumm von mir, schalt sie sich, zumal sie den Weg zum Weiher gut kannte. So ein Fehler darf mir als Jägerin nicht passieren.

»Willst du uns aufspießen?«, wollte einer der Kobolde wissen.

Taria merkte, dass sie den Bogen noch immer umklammerte, und ließ den Arm sinken. Sie erkannte den dicken Leopold, der ihr und ihren Schwestern öfter mal die vollen Erntekörbe ausgeleert hatte. Offensichtlich fand er sowas spaßig.

Sie entdeckte Oona, die regungslos auf einem Stein saß und sie beobachtete. Taria richtete sich auf und wandte sich an die ganze Gruppe: »Heute Nacht ist ein Puka durch unseren Lindenbaum geflogen. Wir glauben, dass ihr ihn dorthin geführt habt. Nun bin ich auf der Jagd nach ihm.«

»Das ist witzig!«, kicherte Leopold und drehte sich zu den anderen um. »Das Elfchen jagt einen Puka!«

Die Kobolde schnatterten aufgeregt durcheinander, zeigten ihr einen Vogel oder griffen sich an den Kopf.

»Was du da verfolgst, ist gefährlich«, unterbrach Oona den Tumult. »Mit deinem federleichten Bogen und den fliegenbeindünnen Pfeilen wirst du nichts gegen das Ungeheuer ausrichten können.«

Die alte Koboldin war so etwas wie die Anführerin der Schar. Taria betrachtete das Weiblein in seinem übergroßen Kleid. Oona sprang behände vom Stein herunter, trat vor die Elfe und blickte auf sie herab.

»Sei gegrüßt«, sagte Taria.

Die ersten Strahlen der Morgensonne hatten sich ihren Weg durch die Wolken gebahnt. Taria bedeckte ihre Augen, als sie zu der Koboldin aufsah. »Hast du gestern in der Früh Luana getroffen?«, fragte sie in der Hoffnung, mehr zu erfahren.

Oona nickte nur.

»Sie hat erzählt, dass sie dem Königssohn aus dem Ahenwahra begegnet sei. Hast du Ahorn auch gesehen?«

Oona überlegte eine Weile, dann schüttelte sie den Kopf.