Der Drachenjäger - Die erste Reise ins Wolkenmeer - Bernd Perplies - E-Book

Der Drachenjäger - Die erste Reise ins Wolkenmeer E-Book

Bernd Perplies

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit der ersten Reise ins Wolkenmeer führt Bernd Perplies seine Leser an die raue Südküste einer mittelalterlichen Fantasywelt. ›Der Drachenjäger‹ ist ein Abenteuerroman, der in einer atemberaubenden Landschaft aus Nebelmeeren und Hochplateaus spielt – die von jeder Menge Drachen bevölkert wird … In der Stadt Skargakar, an den Gestaden des geheimnisvollen Wolkenmeeres, leben die Bewohner von der Jagd auf Drachen, die es in den dunstig weißen Weiten jenseits der großen Klippe in schier endloser Zahl gibt. Auch Lian trägt seinen Teil bei. Als Kristallschleifer verarbeitet er magische Kyrilliane, die die Flugschiffe der Jäger in die Lüfte heben. Eines Tages jedoch macht sich Lian einen gefährlichen Mann zum Feind und ist gezwungen, aus Skargakar zu fliehen. In seiner Verzweiflung heuert er auf dem erstbesten Flugschiff an, dessen Kapitän ihn mitnimmt. Ein Fehler, wie sich bald herausstellt: Denn Adaron, der fanatische Kapitän der Carryola, jagt nicht irgendwelche Drachen. Sein Ziel ist der Urdrache Garganthuan selbst, ein Geschöpf der Legenden – und er ist bereit, für diese Jagd alles zu opfern. Ein großer, bildreicher Fantasy-Roman für Leser von Tad Williams und Naomi Novik.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 597

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bernd Perplies

Der Drachenjäger - Die erste Reise ins Wolkenmeer

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung][Motto]Kapitel 1 Jäger im WolkenmeerKapitel 2 Begegnung mit der BestieKapitel 3 Die Straßen von SkargakarKapitel 4 Süße und zerstörte TräumeKapitel 5 Kraghmas RachenKapitel 6 Der SidhariKapitel 7 Am ScheidewegKapitel 8 In der DrachenklaueKapitel 9 Die CarryolaKapitel 10 Ins WolkenmeerKapitel 11 AdaronKapitel 12 Der BronzeneKapitel 13 Das dunkle HerzKapitel 14 Bei den TaijirinKapitel 15 Die zweite JagdKapitel 16 Die schwersten StundenKapitel 17 Im SturmKapitel 18 Auf dem Grund des WolkenmeersKapitel 19 Aus der TiefeKapitel 20 Vom Regen in die TraufeKapitel 21 In der Gewalt der TaijirinKapitel 22 Unerwartete HilfeKapitel 23 Flucht aus VindirionKapitel 24 Das Blut und die WüsteKapitel 25 Die InselKapitel 26 Die Quelle der MagieKapitel 27 NockNockKapitel 28 Der RoteKapitel 29 Auf Leben und TodKapitel 30 Das Wasser des SehensKapitel 31 Der Zorn des DrakKapitel 32 Die HerrenloseKapitel 33 Hort des BösenKapitel 34 GarganthuanKapitel 35 Der Weg des HeldenEpilogDanksagungAnhang

Für Eva,

die alle meine Bücher liest,

obwohl sie Fantasy gar nicht mag.

Das nenne ich Geschwisterliebe.

Es geht die Legende von einem Drachen, der größer ist als alle anderen Drachen dieser Welt. Sein Leib ist gewaltig und schwarz wie die Nacht, durch die er fliegt, schwarz wie die Nebel, aus denen er zuschlägt, schwarz wie die lichtlosen Abgründe, in denen er am Anbeginn der Zeit geboren wurde. Er ist der Vater aller Großen Echsen, und sein Name lautet Garganthuan.

 

3. Buch der Chronik

des Kristalldrachenordens

Kapitel 1Jäger im Wolkenmeer

7. Tag des 4. Mondes im Jahr 822

Der hölzerne Rumpf des Flugschiffs verwirbelte die Nebelschwaden, durch die er glitt. Lautlos trieben die Dunstfetzen in die Höhe, wo die feineren von ihnen im Schein der hell vom blauen Himmel strahlenden Sonne vergingen, während die dichteren zurück in das endlose Weiß sanken, das sich rund um das kleine Gefährt erstreckte.

Adaron legte beide Hände auf das geschwungene Schanzkleid am Bug des Schiffs und blickte versonnen hinaus über das Wolkenmeer. Es sah aus, als läge frisch gefallener Schnee auf einer Hügellandschaft, doch der Eindruck täuschte, und dies in zweierlei Hinsicht. Bis zum Grund ging es mehr als tausend Schritte abwärts. Und es war kein Wasser, das diesen Grund bedeckte, nichts, was einen getragen hätte, wenn man hineinfiel, sondern bloß dieser lichte Dunst, der mit zunehmender Tiefe dicht und grau wurde, bis man selbst die größten Geschöpfe, die sich dort unten verbargen, nicht mehr ausmachen konnte.

Wegen dieser Geschöpfe, wegen der Drachen, waren sie nun seit zwei Wochen hier draußen zwischen den Inselreichen unterwegs. In Skargakar, der großen Stadt an der Küste, hatten Adaron und seine Gefährten – Enora, Ialrist, Jonn und Finnar – alles entbehrliche Hab und Gut versetzt, das sie im Laufe früherer Abenteuer angesammelt hatten, und die Nebelkönigin erworben. Der Name machte mehr her als das Flugschiff selbst. Das Gefährt war ziemlich klein, und es gab kaum Platz unter Deck. Doch die Steuermechanik war in gutem Zustand, und alle Kyrillian-Kristalle, die dem Flugschiff seinen Auftrieb verliehen, saßen fest in ihren Metallhalterungen. Zudem hatte der Verkäufer, ein greiser Nondurier, ihnen versichert, dass es kein wendigeres Schiff zwischen Skargakar und Luvhartis draußen im Wolkenmeer gab.

Noch stand der Beweis dieser Behauptung aus.

Mit den restlichen paar Münzen hatten Adaron und die anderen eine kleine Besatzung aus drei jungen Nonduriern angeheuert. Wie so viele in diesen Tagen hatten die Hundeköpfigen nach Arbeit gesucht, und die Aussicht, bei einer Drachenjagd das große Glück zu machen, hatte sie fast mehr überzeugt, an Bord der Nebelkönigin zu gehen, als die Handvoll geringwertiger Kristalle, die Jonn ihnen in die Hand gedrückt hatte.

»Woran denkst du, Adaron?«, erklang eine Frauenstimme hinter ihm.

Adaron drehte den Kopf und gewahrte Enora. Unwillkürlich trat ein Lächeln auf seine Züge, als sich die rothaarige Frau an seiner Seite ans Schanzkleid lehnte. Enora trug ihr abgewetztes Lederbeinkleid über den bequemen Reisestiefeln, dazu ein helles Leinenhemd, und vor der frischen Morgenluft schützte sie ein dunkelgrünes Wams. Die beiden kurzen, gebogenen Sidhari-Schwerter, die sie vor Jahren von einem Prinzen der Wüstenelfen erhalten hatte und die seitdem die Waffen ihrer Wahl waren, hingen in verzierten Scheiden links und rechts an ihrer Hüfte.

»Nun?«, ermunterte sie Adaron, als er nicht gleich antwortete. »Was geht dir durch den Sinn?«

»Dass mein Leben in diesem Augenblick kaum besser sein könnte. Dass die Dreigötter mich lieben müssen, denn sie bescheren mir das größte Glück.«

»Ohne eine Münze im Geldbeutel auszuziehen, um die gefährlichsten Kreaturen in diesem Teil der Welt zu jagen, empfindest du als das größte Glück?« Enora sah ihn erstaunt an, aber das Funkeln in ihren blauen Augen verriet, dass sie die Worte nicht ganz ernst meinte.

Adaron lachte. »Es ist wohl alles eine Frage des Blickwinkels. Ich sehe es so: An Bord eines eigenen Schiffes und in Begleitung der treuesten Gefährten, die ein Mann sich wünschen kann, fliegen wir hinaus in die verheißungsvollen Weiten des Wolkenmeers. Große Abenteuer erwarten uns ebenso wie große Reichtümer. Dazu strahlt die Sonne vom blauen Firmament und verblasst nur vor dem Lächeln der Frau, der mein Herz gehört.«

»Du hast manchmal eine so poetische Ader.« Enora lächelte. »Jeder Barde würde grün vor Neid werden. Oder bleich vor Schrecken.«

Entrüstet stemmte er die Hände in die Seiten. »Soviel ist klar: In meinem nächsten Heldenlied wird dir keine Strophe gewidmet sein.«

Nun lachte Enora. »Gemach, gemach. Ich mag dich lieben, weil du tapfer bist und ein gutes Herz hast. Aber die schönen Worte, die du mir ins Ohr flüsterst, mehren diese Liebe ohne jeden Zweifel.« Ihre rechte Hand glitt wie unbewusst zu dem Medaillon, das sie an einer Kette um das linke Handgelenk trug und das Adaron ihr vor einigen Mondläufen geschenkt hatte. Vogelmenschen hatten es gefertigt, und man sagte ihm nach, dass es seinen Träger beschütze.

»Eine Liebe, die ich erwidere.« Adaron trat hinzu, schloss Enora in die Arme und sah sie an. »Nun fehlt uns nur noch eines, um all das hier perfekt zu machen.«

»Wenn du ›ein Erbe für meine Linie‹ sagst, verlasse ich dich auf der Stelle«, warnte Enora ihn.

Adaron grinste. »Ein Drache«, verriet er. Sein Blick wanderte wieder hinaus aufs Wolkenmeer. »Ein Drache, den wir verfolgen, bezwingen und ruhmreich mit in die Heimat bringen können.« Sie lösten sich voneinander und stellten sich wieder ans Schanzkleid.

»Es ist wahr, bislang hatten wir nicht viel Erfolg mit unserer Jagd«, pflichtete Enora ihm bei. »Einen einzigen Bronzenacken haben wir erwischt – und nicht einmal einen besonders großen. Wenn wir nicht bald einen ordentlichen Drachen finden, kehren wir so arm nach Skargakar zurück, wie wir von dort abgeflogen sind.«

»Noch sind unsere Vorräte nicht aufgebraucht«, beruhigte Adaron sie. »Außerdem bewegen wir uns mehr und mehr in Gebiete, in denen nicht Dutzende andere Drachenjägerflugschiffe unterwegs sind. Warte es nur ab: Schon bald werden wir den Fang unseres Lebens machen.«

»Was macht dich da so sicher?«

»Ich weiß es einfach.«

»Freunde!«, rief Jonn, der oben am Hauptmast im Ausguck saß. »Ialrist kehrt zurück.«

Adaron hob den Blick und sah, dass sein Gefährte mit dem Arm nach Backbord wies. Der kleine, drahtige Mann mit dem krausen schwarzen Haar hatte die Augen eines Luchses, weswegen er die meiste Zeit im Mastkorb verbrachte, um nach Drachen oder anderen Flugschiffen Ausschau zu halten.

Diese Flugschiffe waren eine wundersame Verschmelzung aus Konstruktionsgeschick und Magie. An einem Holzrumpf, der dem Körper eines Seeschiffs ähnelte, waren mehrere – für gewöhnlich sechs – Metallkästen befestigt, die, durch einen Rahmen gehalten, jeweils halbkreisförmig den Bug und das Heck umschlossen. An der Unterseite der Kästen befanden sich Lamellen, die sich mit Hilfe von Tauen und Umlenkrollen von einem mittigen Steuerstand oben an Bord öffnen und schließen ließen. In diese Kästen aber waren an Amethyste gemahnende Kyrillian-Kristalle eingesetzt, denen die magische Eigenschaft innewohnte, mehr oder weniger stark in den Himmel hinaufzustreben, sofern man sie nicht mit schwerem Metall einschloss. Eine ausreichende Menge der Kristalle war imstande, nicht nur Schiffsrümpfe in die Luft zu erheben, sondern auch gewaltige Felsmassen in der Schwebe zu halten, an deren Unterseite Kyrillian für gewöhnlich gefunden und abgebaut wurde. Um Vortrieb und Lage zu steuern, waren die meisten Flugschiffe obendrein mit mehreren fächerartigen Segeln an den Seiten sowie trapezförmigen oben auf Deck ausgestattet.

In der Küstenregion rund um Skargakar hatte die Technik der Flugschiffe vor etwa hundert Jahren Einzug gehalten. Die Menschen und die echsenartigen Drak, die dort lebten, waren damals an einem kühlen Herbsttag von einer ganzen Flotte solcher Flugschiffe überrascht worden. Mit ihnen war das Volk der kleinwüchsigen, rothäutigen, hundeköpfigen Nondurier an die Nebelküste gekommen, Flüchtlinge aus einem fernen Land, die ein unbekanntes Übel nach Süden getrieben hatte. In den ersten Wochen noch als Eroberer gefürchtet, zeigte sich bald, dass die Nondurier keinerlei kriegerische Absichten hegten und dass ihr Geschick und ihre Flugschiffe ein Gewinn für die ganze Küste waren. Denn erstmals war es nun möglich, frei fliegend wie die Vogelmenschen in das Wolkenmeer vorzustoßen.

Rasch entwickelten sich die Nondurier dank ihrer Schiffe zu gefragten Männern und Frauen, und als die Vielfalt an Großen Echsen in den Weiten des Wolkenmeers bekanntwurde und sich die damit verbundenen Möglichkeiten enthüllten, gab es für das Küstenvolk kein Halten mehr. Mehr und mehr Flugschiffe wurden gebaut, eine Entwicklung, die durch reichhaltige Funde an Kyrillian-Kristallen erleichtert wurde. Die Küstenregion, zuvor ein Ort kleiner, verstreuter Siedlungen in der üppigen Wildnis, blühte auf, und vor allem Skargakar wuchs zu einer Stadt heran, die weit über ihre Grenzen hinaus einen Ruf als Hort von Flugschiffern und Drachenjägern erlangte. Wer nach den Großen Echsen suchte, landete früher oder später dort – so wie Adaron und seine Gefährten.

Mit einem letzten Schlagen seiner großen, aus dem Rücken wachsenden Flügel landete Ialrist neben Adaron und Enora. Der Taijirin – wie sich das Volk der Vogelmenschen selbst nannte – wirkte nicht ganz so fremdartig wie die an Bord arbeitenden Nondurier, dennoch hätte ihn niemand mit einem Menschen verwechselt. Seine Haut war mit feinem weißbraunem Flaum bedeckt, die Augen blickten groß und dunkel aus einem hageren Gesicht, und aus dem Rücken ragte nicht nur ein fast bodenlanger Kranz aus Schwanzfedern, sondern auch die mächtigen Flügel, die ausgebreitet eine Spannweite von annähernd vier Schritt hatten. Gleich den meisten Angehörigen seines Volkes war Ialrist von schlankem, sehnigem Wuchs, so wie es sein musste, wenn man sich aus eigener Kraft in die Lüfte erheben wollte.

»Ich bringe erfreuliche Kunde«, rief der Vogelmensch und wandte sich damit an ihre ganze Gruppe. »Ich habe eine Silberschwinge entdeckt, die gar nicht weit von hier rund um eine Ansammlung schwebender Felsen Vögel jagt.«

»Eine Silberschwinge?«, wiederholte Adaron. »Das wäre ein Drache, den zu jagen es sich lohnt.«

Silberschwingen, eine Drachenart von – je nach Alter – zehn bis zwanzig Schritt Körperlänge, waren bekannt für ihre schimmernden Schuppen und für die wundervoll silbrigen Flügel, aus deren Haut sich kostbare Gewänder fertigen ließen.

»In welcher Richtung befindet sich die Echse?«, fragte Belhac, der Nondurier, der den Steuerstand bemannte.

»In dieser.« Ialrist deutete nach Steuerbord. In der Ferne zogen Wolkenbänke über den Himmel.

»Das führt uns gefährlich nahe in jenen Teil des Wolkenmeers, den manche auch die Todesbreiten nennen«, gab der Hundeköpfige zu bedenken.

»Die Todesbreiten?« Adaron machte ein belustigtes Gesicht. »Das klingt in meinen Ohren bemerkenswert dramatisch. Wer hat sich diesen Namen ausgedacht?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Belhac. »Nur so viel vermag ich zu sagen: Die erfahrenen Drachenjäger, die man in den Tavernen von Skargakar trifft, meiden diese Gegend. Es soll dort tückische Bergspitzen dicht unter der Wolkendecke geben, die einem Schiff zum Verhängnis werden können. Außerdem erzählt man sich, dass Große Rote in den Nebeln dort auf Beute lauern.«

»Große Rote?« In Enoras Augen trat ein aufgeregtes Glitzern. »Das wäre der Fang unseres Lebens!«

»Vergesst das bloß gleich«, erwiderte Belhac kopfschüttelnd. »Weder wir noch dieses Schiff sind bereit für den Kampf gegen einen Feuerdrachen.«

»Noch sind wir es, die Euren Sold zahlen«, entgegnete Adaron. »Also entscheiden wir, was getan wird. Wenn Euch das nicht gefällt, könnt Ihr gerne von Bord gehen.«

»Und wer fliegt dieses Schiff dann?« Der Nondurier blickte ihn herausfordernd an. »Ihr etwa?«

»Belhac hat recht«, meldete sich nun Finnar zu Wort, der zweifellos besonnenste unter den Freunden. Der große, bärtige Mann, der einst als Waffenschmied seinen Lebensunterhalt verdient hatte, bevor widrige Umstände ihm das unstete Dasein eines Abenteurers aufzwangen, verschränkte die Arme vor der tonnenförmigen Brust. »Dies ist unsere erste Reise ins Wolkenmeer. Lasst uns nicht gleich die größten Drachen herausfordern. Das kann nur ein böses Ende nehmen. Und ich für meinen Teil möchte auch wieder zurückkehren, um unsere Beute zu verkaufen und von dem Geld Fässer voll Met zu erwerben.«

»Weise gesprochen«, sagte Belhac. »Meine Brüder und ich sind der gleichen Meinung.«

»Gut, halten wir uns von Roten Drachen einstweilen fern«, entschied Adaron. »Aber eine Silberschwinge sollten wir nicht einfach ziehen lassen. Ihr alle wisst, wie selten silberne Echsen sind. Allein das Schuppenkleid der Bestie ist ein Vermögen wert.«

»Vielleicht finden wir in ihrem Herz sogar eine der legendären Drachenperlen«, fügte Enora hinzu.

»Warum nicht? Die Wahrscheinlichkeit ist jedenfalls um einiges höher als bei einem Bronzenacken.« Adaron ließ seinen Blick von Ialrist zu Jonn und Finnar gleiten. »Ich sage, wir folgen Ialrists Spur. Am Rand dieser sogenannten Todesbreiten droht nur geringe Gefahr, auf irgendwelche Felsen aufzulaufen. Und dass wir einem der seltenen Großen Roten begegnen, werden die Dreigötter schon zu verhindern wissen.«

»Ich sehe es wie Adaron«, sagte Ialrist voller Tatendurst. »Lasst uns die Silberschwinge jagen.«

»Ich bin dabei«, rief Jonn vom Mastkorb aus, und Enora nickte.

»Also gut«, stimmte Finnar zu. »Schauen wir uns unsere Beute an.«

Auf den Befehl hin zog Belhac die Nebelkönigin in eine weite Kurve. Man sah ihm an, dass er mit der Entscheidung nicht glücklich war. Auch sein jüngerer Bruder Wuffzan blickte mürrisch drein. Nur den jüngsten der drei Brüder, Felhim, schien das Jagdfieber gepackt zu haben. Er hatte die spitzen Ohren aufgestellt und hisste voller Eifer das Zusatzsegel unter dem Bugspriet. Nebelschleier wirbelten um das Schiff auf, als es in schneller Fahrt dem Unbekannten entgegenglitt.

 

Die Sonne hatte den Zenit überschritten und versteckte sich immer häufiger hinter Wolkenbänken, die sich am Himmel zusammenzogen, als die Gefährten die Silberschwinge entdeckten. Der Drache kreiste elegant über einem Felsenriff, dessen Doppelspitze wie zwei mahnend erhobene Finger etwa vierzig Schritt hoch aus dem Dunst aufragte.

Zu Beginn ihrer Reise hatte Adaron nicht unterscheiden können, ob ein Stück Land, das aus dem Wolkenmeer ragte, der Gipfel eines tief unter der Oberfläche beginnenden Berges war oder ob es sich um einen Felsen handelte, der dank reicher Kyrillian-Vorkommen an der Unterseite frei in der Luft schwebte. Mittlerweile hatte sich sein Blick für die sanften Bewegungen geschärft, die treibende Massen von unverrückbaren unterschieden.

Das Felsenriff, das vor der Ankunft des Drachen einem Schwarm Vögel als ungestörte Brutkolonie gedient hatte, hob und senkte sich langsam, so als drifte es auf den flachen Wellen eines ruhigen Ozeans. Noch heute konnte Adaron es kaum fassen, wenn harter, schwerer Stein – oft bloß von der Größe eines Hauses, gelegentlich jedoch ein Landstrich mit einem Durchmesser von einer Meile und mehr – schwerelos in den Nebeln hing. Es kam ihm wie die Aufhebung aller Gesetzmäßigkeiten der Natur vor. Aber er drängte sein Staunen zurück. Sie waren nicht hier, um den Zauber der Kyrillian-Kristalle zu bewundern.

»Seht ihn euch an!«, rief Enora mit leuchtenden Augen. Ihr Blick war auf die Große Echse gerichtet.

Der Drache maß etwa zwölf Schritt vom Kopf bis zur Schwanzspitze – es handelte sich also um ein junges Tier –, und sein Körper war von hellgrauer Farbe. Das Schuppenkleid aber, das sich vom Schwanz über seinen Rücken und die Flanken bis zum Hals zog, glänzte in mattem Silber, wobei einige schwarz angelaufene Schuppen entlang der vier Beine zu sehen waren, die darauf hindeuteten, dass es sich um einen männlichen Drachen handelte. Die großen Flügel der Silberschwinge machten ihrem Namen alle Ehre, denn die zwischen knochigen Speichen gewachsene Lederhaut schimmerte in jedem Sonnenstrahl, der durch die Wolken am Himmel fiel.

»Er ist prachtvoll.« Adaron wandte sich den anderen zu. »Also los, Freunde. Ich übernehme den Platz an der Harpunenschleuder. Finnar, Enora, haltet euch bei den Kyrillian-Bojen bereit. Ialrist, hole deine Sichelschwinge. Und, Belhac …« Adaron machte eine bedeutungsvolle Pause. »Verliert ihn bloß nicht aus den Augen.«

»Keine Sorge, Herr Adaron, wir wissen mit diesem Flugschiff umzugehen. Der Drache wird uns nicht entkommen.«

Die Nebelkönigin nahm Fahrt auf und legte sich in eine weite Kurve, um einen Wolkenberg zu umrunden und sich an den Drachen anzupirschen. Adaron trat an das am Bug befestigte Harpunengeschütz, das an eine übergroße Armbrust auf einer Schwenklafette erinnerte. Er legte eine der schlanken, mit Widerhaken versehenen Metallstangen auf die Führungsschiene und fädelte feines, unzerreißbares Seil aus Sidhari-Flachs durch die Öse am hinteren Ende der Harpune. Vier Rollen Tau lagen neben ihm bereit, um ihre Beute nach und nach an das Flugschiff zu binden. Mit einer Kurbel begann er, die mehrfach verdrillte Drachensehne des Geschützes zurückzuziehen. Dabei hob er immer wieder den Kopf, um zu schauen, wann sie Schussentfernung erreichten.

Neben Adaron tauchte Ialrist auf. Der Vogelmensch hielt eine fast drei Schritt lange Stangenwaffe in den Händen, an deren einem Ende eine flache, scharfe Klinge von der Form einer zum Schaft hinweisenden Mondsichel angebracht war. Am anderen Ende befand sich als Gegengewicht eine Eisenkugel mit Dornenspitze. Neben dem Kurzbogen, der im Fernkampf Verwendung fand, war die in weiten Schwüngen geführte Sichelschwinge die gebräuchlichste Waffe unter Taijirin, die einander am Himmel begegneten. In einem Handgemenge in den verwinkelten Gassen von Skargakar mochte Ialrist damit verloren sein, doch die Vogelmenschen kämpften ohnehin nicht gerne am Boden. Sie benötigten Raum, um die Sichelschwinge und ihre Flügel zum Einsatz zu bringen, und wenn sie ihn hatten, waren sie sehr gefährliche Gegner.

Selbst ein Drache musste sich dann vor ihnen in Acht nehmen, denn ein Taijirin-Krieger vermochte, schnell und zielsicher wie ein Raubvogel auf sein Opfer herabzustoßen. Wenn alles wie geplant lief, würde Ialrist der Silberschwinge im Vorbeiflug die Muskelstränge an den Flügelansätzen durchtrennen, denn ein fluglahmer Drache stellte eine vergleichsweise leichte Beute dar.

Eine Große Echse allerdings, die im Vollbesitz ihrer Kräfte war, durfte man nicht unterschätzen. Selbst wenn sie keine außergewöhnlichen Fähigkeiten besaßen, weder Feuer noch giftigen Odem speien konnten, waren sie enorm stark. Ihr Schlag brach Knochen, ihr Biss zerteilte Ungerüstete ohne Mühe. Außerdem waren sie kluge und vorsichtige Geschöpfe – wie sich in dem Moment zeigte, als der schwebende Berg vor der Nebelkönigin wieder in Sicht kam.

»Wo ist er hin?« Suchend sah sich Adaron um. Die Silberschwinge, die sich eben noch an der Vogelkolonie gütlich getan hatte, war verschwunden. Ob sie satt gefressen war oder ob ihre guten Sinne sie vor der nahenden Gefahr gewarnt hatten, vermochte er nicht zu sagen.

Jonns scharfe Augen entdeckten den Drachen. »Dort vorne fliegt er«, rief der drahtige Mann und deutete rechts an dem Felsen vorbei.

Adaron verengte die Augen. Tatsächlich funkelte ein Körper zwischen den Wolken im Schein der Nachmittagssonne. »Belhac, nehmt die Verfolgung auf!«

»Schon dabei«, antwortete der grimmige Nondurier am Steuer.

»Er taucht nicht ab«, bemerkte Enora. »Er scheint nicht unsretwegen davonzufliegen.« Sie stand neben den Kyrillian-Bojen, metallenen Kästen mit Lamellen an der Unterseite, die – ähnlich wie die Kästen am Rumpf – geöffnet werden konnten, um die Kraft der darin verborgenen Kyrillian-Kristalle zu entfesseln. Die Bojen wurden eingesetzt, um einem Fangschiff zusätzlichen Auftrieb zu geben, sollte ein durch einen Harpunenschuss erfolgreich gebundener Drache versuchen, in die Tiefe des Wolkenmeers zu entkommen und seine Häscher dabei mit in den dunstigen, dunklen Abgrund zu ziehen.

»Eine Silberschwinge können wir mit diesem Flugschiff nicht einholen«, warf Belhac ein. »Wir müssen dem Drachen folgen, bis er erneut rastet oder frisst.« Er zögerte.

»Was gibt Euch zu denken?«, fragte Adaron.

Der hundeköpfige Mann verzog die Lefzen. »Die Richtung, in welche der Drache fliegt«, knurrte er.

»Sprecht etwas klarer.«

Belhac beugte sich vor. Ein unheilvoller Ausdruck trat auf seine Züge. »Wenn der Silberne nicht abdreht, führt er uns auf geradem Weg in die Todesbreiten.«

Kapitel 2Begegnung mit der Bestie

7. Tag des 4. Mondes im Jahr 822

Das Wolkenmeer änderte sich nicht, als sie die unsichtbare Grenze überschritten, hinter der dem Volksmund nach die Todesbreiten begannen. Auf den ungenauen Karten, die von dieser Region der Welt existierten, lagen sie südlich einer Gruppe Bergspitzen, die als Westliche Vogelinseln bekannt waren. Einer der großen Taijirin-Stämme hatte sich dort vor Jahrzehnten niedergelassen und das Inselreich Aiostra gegründet. Die Aiostra-Taijirin galten Fremden gegenüber als feindselig, doch die kleine Besatzung der Nebelkönigin bekam keinen ihrer Krieger zu Gesicht.

Die Silberschwinge zog gemächlich über den Nebeln dahin. An ihrem Verfolger schien sich die Große Echse nicht zu stören, sofern er ihr überhaupt aufgefallen war. Belhac hielt genug Abstand, dass der Drache, dessen rückwärtige Sicht durch seine Hornkämme und die großen Flügel eingeschränkt war, das Flugschiff vermutlich nicht wahrnahm, zumal der Rumpf der Nebelkönigin in Weiß und Grau gestrichen war und sich auf die Ferne kaum vom Dunst abhob, durch den es lautlos pflügte.

»Wann übermannt diese Kreatur endlich Erschöpfung?«, fragte Finnar ungeduldig und strich sich durch den Bart.

»Mir scheint, als würde sie langsamer werden«, meinte Enora, die neben ihm am Bug stand.

Ialrist schüttelte den Kopf, während er sich auf seine Sichelschwinge stützte. »Das bildest du dir nur ein.«

Adaron beschattete seine Augen mit einer Hand. »Ich glaube, sie hält auf diese Felsengruppe zu.« Er deutete in die besagte Richtung.

Plötzlich wurde die Nebelkönigin langsamer und begann abzudrehen. Überrascht wandte Adaron sich zu dem Nondurier im Steuerstand um. »Belhac, was treibt Ihr da?«

»Wir fliegen zu tief in die Todesbreiten, Herr Adaron«, erwiderte der Hundeköpfige. »Wir müssen umkehren.«

Adaron sah ihn scharf an. »Die Silberschwinge hat ihr Ziel beinahe erreicht und damit wir das unsere. Wir brechen die Jagd jetzt nicht ab.«

»Es werden andere Drachen kommen«, widersprach der Nondurier. »Das Wolkenmeer ist groß. Es lohnt nicht, sein Leben für diesen einen aufs Spiel zu setzen.«

Mit schnellen Schritten war Adaron an Belhacs Seite. »Das meint Ihr nicht ernst«, zischte er. »Wir setzen unser Leben während dieser Fangfahrt Tag für Tag aufs Spiel. Dies ist der Preis, den jeder zahlt, der Große Echsen jagt. Unsere Reise war nur deshalb bislang so geruhsam, weil bis auf den elenden Bronzenacken im Frachtraum kein Drache unseren Weg gekreuzt hat. Und nun ist eine prachtvolle Silberschwinge in unserer Reichweite, und Ihr wollt den Schwanz einkneifen und sie ziehen lassen? Hätte ich geahnt, dass Ihr so ein Feigling seid, hätte ich Euch und Eure Brüder nicht an Bord genommen.«

Belhac knurrte leise und legte die Ohren an.

»He, Adaron, beruhige dich.« Finnar legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Er lässt unsere Beute entkommen!«, verteidigte sich Adaron.

»Sie fliegt mitten in die Todesbreiten«, beharrte der Nondurier. »Das ist kein guter Ort. Es gibt hier …«

»Ja, ich weiß: tückische Felsen und Rote Drachen. Davon spracht Ihr bereits. Aber schaut Euch um.« Adaron vollführte eine weit ausholende Geste, die alle Nebel um sie herum einschloss. »Seht Ihr irgendwo einen Großen Roten? Glaubt Ihr, der Silberne hätte seinen Hort hier, wenn es Rote Drachen in der Nachbarschaft gäbe?«

»Aber die Gefahr verborgener Felsen …«

»Lasst das Schiff aufsteigen. Haltet Euch über den Wolken. So wird uns nichts passieren.« Adaron beugte sich vor. »Vertraut mir. Meine Gefährten und ich meisterten schon ganz andere Gefahren. Hier gibt es nichts, womit wir nicht fertig würden.«

»Freunde!« Behände kletterte Jonn den Hauptmast hinunter. »Etwas Seltsames geht hier vor. Seht euch den Drachen an.« Er deutete nach vorn auf ihre Beute.

Adarons Blick richtete sich auf die Bestie, der sie folgten. Jonn sprach die Wahrheit. Die Silberschwinge schoss unruhig hin und her. Die Flügel des Drachen wirbelten den weißen Dunst auf, und der schlanke Kopf an seinem langen Hals schien sich suchend umzusehen.

Das erkannte auch Belhac. »Er ist voller Unruhe.«

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Enora, die sich zu ihnen an den Steuerstand gesellte.

»Gewiss nichts Gutes«, knurrte Finnar unheilvoll.

Adaron bemerkte, dass Ialrist, der am Bug verblieben war, den Himmel absuchte. »Siehst du etwas, mein Freund?«, fragte er.

Der Vogelmensch schüttelte langsam den Kopf. »Keine unmittelbare Gefahr, nein. Aber die Wolkendecke verdichtet sich mit unnatürlicher Schnelle, wie mir scheint. Und die Sicht zum Horizont nimmt ab, als ob die Nebel, auf denen wir segeln, aufsteigen würden.« Er drehte sich zu Adaron und den anderen um. »Ich bin zwar nicht auf den Inseln des Wolkenmeers aufgewachsen, aber ich weiß eine Menge über Wind und Wetter – und so etwas habe ich noch nie erlebt.«

»Da!«, rief Jonn aufgeregt. »Er taucht ab!«

Tatsächlich schwang sich der Drache mit einem mächtigen Schlag seiner schimmernden Flügel in die Luft, kippte dann zur Seite und stieß in das weiße Nichts hinab, das dampfend den Rumpf des Flugschiffs umspülte.

»Flieht er vor uns?«, fragte sich Enora.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Adaron. »Er hat uns gar nicht beachtet. Es wirkt, als wolle er sich vor etwas verstecken. Als hätten seine feinen Sinne einen Feind ausgemacht, der ihm weit mehr Furcht einflößt, als unser Schiff das könnte.«

Ein grauenvolles Geräusch – halb Heulen, halb Brüllen – drang aus der Tiefe und ging ihnen allen durch Mark und Bein. Der Laut wurde schriller, ein Ausdruck schrecklicher Schmerzen und Todesangst. Dann plötzlich, von einem Herzschlag auf den nächsten, brach er ab, und Stille kehrte erneut in den Nebeln ein. Ein Hauch von Endgültigkeit schwang in ihr mit, wehte aus dem Abgrund empor und ließ Adaron frösteln.

»Bei den Dreigöttern«, murmelte Finnar. »Was war das? War das die Silberschwinge? Es klang, als hätte sie etwas bei lebendigem Leib zerfleischt.«

»Ein anderer Drache vielleicht?«, flüsterte Enora. »Ein Roter gar?«

»Das kann nicht sein«, widersprach Adaron. »Rote greifen ihre Opfer mit Feuer an. Es war kein Flammenschein zu sehen.«

»Schweigt kurz«, bat Jonn. Er beugte sich über das Schanzkleid der Nebelkönigin und lauschte. »Hört ihr das?«

Adaron verstummte und horchte ebenfalls in die Stille hinein. Zunächst vernahm er nur das Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Dann jedoch bemerkte er, dass dieses Rauschen nicht zum Schlag seines Herzens passte. Es kam nicht von innen, sondern drang aus den Wolken.

»Dort unten fliegt etwas«, raunte Jonn. »Etwas Großes.«

»Verschwinden wir.« Belhacs Ohren zuckten unruhig. »Das ist mir nicht geheuer.«

»Ja, vielleicht habt Ihr recht.« Adaron wandte sich seinen Gefährten zu. »Lasst uns die Nebelkönigin von hier fortbringen. Die Silberschwinge ist ohnehin verloren. Wir wollen nicht noch mehr verlieren.«

»So nehmt Ihr endlich Vernunft an.« Erleichtert gab Belhac den Befehl an seine Brüder weiter, und das Flugschiff legte sich knarrend in eine weite Kurve. Doch als der Bug der Nebelkönigin herumschwenkte, erwartete sie eine Überraschung. Eine weiße Wand versperrte ihnen die Sicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Der Nebel!«, entfuhr es Enora. »Seht doch, wie dicht er auf einmal ist.«

»Das kann doch nicht sein!« Jonn klang entsetzt. »Das ist widernatürlich.«

»Ist es möglich, dass der Schatten in der Tiefe dafür verantwortlich ist?«, fragte Finnar. »Dieses Geschöpf, das wir zu hören glaubten?«

»Kein Drache, dem ich jemals begegnet bin, vermochte, das Wetter zu beeinflussen«, knurrte Belhac.

»Aber, Bruder«, meldete sich Wuffzan zur Wort, »erzählte uns nicht einst ein alter Jäger von den Großen Alten, den legendären Urdrachen, die direkt von den Sterngeborenen abstammen? Von Ariocrestis der Weisen und Garganthuan dem Hornbekränzten? Ihnen wurden Kräfte zugesprochen, noch gewaltiger als der Feueratem ihrer ersten Kinder, der Roten Drachen.«

Belhac nickte knapp. »Ich erinnere mich. Doch die Lichtgeflügelten und die Schwarzen Leviathane sind Legenden. Sie haben sich längst über die Grenzen unserer Welt hinaus in die ewigen Nebel zurückgezogen.«

»Das mag wahr sein. Aber könnte nicht einer von ihnen nach Endar zurückgekehrt sein?«

»Du sprichst von Geschöpfen, die man nur aus Geschichten kennt, Bruder. Wer weiß, ob es sie jemals wirklich gab.«

Die Worte des Nonduriers erinnerten Adaron auf unangenehme Weise an das Gespräch, das er vor gar nicht langer Zeit mit ihm über die Todesbreiten geführt hatte. Dort war Belhac die mahnende Stimme und Adaron derjenige gewesen, der ihr mit Spott und Unglauben geantwortet hatte.

Ialrist am Bug spähte in den Dunst, der dichter und dichter um sie wurde. Plötzlich stieß er einen warnenden Schrei aus. »Unter uns!«

Sofort stürzten Adaron und die anderen ebenfalls ans Schanzkleid der Nebelkönigin. Adaron riss die Augen auf. Ihm blieb keine Zeit mehr, etwas anderes zu tun, als sich an den Holzbalken festzuhalten. Dann rammte der gewaltige dunkle Schatten, der ohne jede Vorwarnung aus der Tiefe unter ihnen aufstieg, mit rücksichtsloser Gewalt den Rumpf des Flugschiffs.

Die Nebelkönigin wurde in die Höhe geworfen, und alle schrien durcheinander. Adaron spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor. Mit der Kraft des Verzweifelten krallten sich seine Finger um die Holzbalken des Schanzkleids. Finnar wurde nach hinten geschleudert und prallte gegen den mittleren Mastbaum. Ialrist breitete die Flügel aus, um sich zu fangen. Eine kleinwüchsige Gestalt wurde über das Schanzkleid geschleudert und verschwand mit einem langgezogenen Heulen in den Wolken.

»Jonn!«, rief Adaron.

»Nein, ich bin hier«, erwiderte sein Freund. »Es war Felhim.«

»Bruder!«, schrie Belhac. »Felhim!«

Zur Antwort ertönte ein Brüllen, so dunkel und machtvoll, als dringe es aus dem Herzen der Erde selbst. Ein heißer Luftstrom wehte zu ihnen empor, als das Monstrum unsichtbar durch die Wolken zog.

»Was bei Indra, Jerup und Vazar ist das?«, rief Enora.

»Es ist ein Schwarzer Leviathan!«, erwiderte Wuffzan aufgeregt. »Es gibt sie wirklich. Die Ahnen stehen uns bei, es gibt sie wirklich!«

Adaron sah zu Belhac, der mit wildem Blick um sich schaute. »Wir müssen an Höhe gewinnen! Vielleicht gelingt es uns, die Wolkendecke zu durchstoßen. Allein dann haben wir eine Aussicht, dem Ungeheuer die Stirn zu bieten.«

»Die Stirn bieten?« Der Hundeköpfige japste fassungslos. »Seid Ihr des Wahnsinns? Wenn das wahrhaftig ein Schwarzer Leviathan ist, sind wir des Todes! Dann bleibt uns nichts mehr, als Frieden mit unserem Ende zu schließen und uns den Göttern zu empfehlen.«

»Haltet Euer Maul und öffnet gefälligst alle Kyrillian-Kästen«, fuhr Adaron ihn an. »Vom Tod will ich nichts hören, bis nicht Vazar selbst zu mir spricht. Finnar, Jonn, startet die Kyrillian-Bojen. Wir brauchen allen Auftrieb, den wir bekommen können. Ialrist, warne uns, wenn …«

Ein spitzer Schrei Enoras unterbrach ihn. Dann wurde das Schiff ein zweites Mal getroffen, heftiger noch als beim ersten Mal. Das Seitensegel backbord brach und riss ab. Diesmal wurde Adaron endgültig von den Beinen geholt. Er flog in die Höhe, leicht wie ein Blatt im Wind, wurde gleich darauf von der Erdenschwere aufs Neue erfasst und landete krachend auf dem Deck. Der Aufprall trieb ihm die Luft aus den Lungen, und ein stechender Schmerz fuhr durch sein linkes Bein.

Er rappelte sich auf und sah sich rasch um. Finnar und Jonn – Letzterer bleich und blutverschmiert – klammerten sich an unterschiedliche Teile der Deckaufbauten, ebenso Belhac und Wuffzan. Ialrist schwebte flügelschlagend über dem Bug. Enora dagegen konnte Adaron nirgends ausmachen.

Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein Blitzschlag. Die Frau, die er mehr liebte als sein eigenes Leben, war fort.

»Enora!«, schrie er und rannte nach Steuerbord zum Rand des Schiffes. Er blickte in den Dunst hinaus und suchte fiebrig nach einem Lebenszeichen, obschon er sehr wohl wusste, dass es keine Schiffbrüchigen im Wolkenmeer gab. Wenn man über Bord ging, fiel man ins Verderben. »Enora!«

»Adaron!«, vernahm er eine Stimme von Backbord. »Hilfe!«

Sofort stürzte er auf die andere Seite der Nebelkönigin. »Enora!«

Er beugte sich über das Schanzkleid und erblickte sie. Seine Gefährtin hing seitlich unter dem Rumpf. Wie es aussah, war sie bei dem zweiten Rammstoß des schattenhaften Ungetüms über Bord geworfen worden, doch ihr Gewand hatte sich im halbabgerissenen Gestänge des Seitensegels verhakt. Nun baumelte sie mit den Füßen über dem Nichts, während sie sich mit beiden Händen verzweifelt an einer dünnen Holzstrebe festhielt.

»Halte aus!«, rief Adaron ihr zu. Er streckte ihr den Arm entgegen, erreichte sie aber nicht. »Finnar, halt meine Beine fest. Ialrist, hilf uns!« In fieberhafter Eile entledigte Adaron sich seines Harnischs und seiner Waffen, anschließend schwang er sich, ohne zu zögern, über die hüfthohe hölzerne Außenwand. Er wartete, bis der ehemalige Waffenschmied seine Füße und Beine fest mit den Armen umklammerte, dann ließ er sich zur Seite fallen, so dass er kopfüber am Schiffsrumpf hinunterbaumelte.

Dass Finnar ihn verlieren und er in den Tod stürzen könnte, kam Adaron dabei keinen Herzschlag lang in den Sinn. Sie hatten schon so viele Gefahren gemeinsam gemeistert; er konnte sich auf seine Gefährten verlassen. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ialrist über ihm zu einer Schleife ansetzte, um sich Enora von unten zu nähern.

Erneut streckte Adaron die Hand aus, reckte sich der unter ihm hängenden Enora entgegen. Diesmal gelang es ihm, ihr linkes Handgelenk zu packen. »Lass die Stange los und halt dich an mir fest.«

Sie zögerte. Ihr Blick glitt in den Dunst zu ihren Füßen. Er war so dicht, dass man dem trügerischen Irrtum erliegen könnte, der sichere Boden läge nur ein oder zwei Manneslängen entfernt. Doch dem war nicht so, das wussten sie beide. Der Abgrund klaffte sicher tausend und mehr Schritte tief unter ihnen. Und irgendwo im undurchdringlichen Weiß lauerte das Monstrum, der Schwarze Leviathan.

»Schau nicht runter«, beschwor Adaron sie. »Schau nur mich an. Vertrau mir. Wir werden es schaffen. Wir werden auch dies hier überleben – so wie immer. Wir können nicht sterben, denn die Dreigötter lieben uns. Und jetzt los! Gib mir deine Hand!«

Er sah, wie neue Entschlossenheit Enoras Züge erfüllte. Sie löste die Finger der Rechten von der Strebe und umfasste Adarons Handgelenk. Er zog sie etwas nach oben, und auch seine zweite Hand schloss sich um ihre Linke, als sie den unsicheren Halt an der Seitensegelverstrebung endgültig aufgab.

»Sehr gut. Nun pass auf. Ialrist kommt. Er bringt dich zurück an Bord. Wenn er dich packt, lass mich los. In Ordnung?«

»Gut, ja.« Enora blickte zu ihm auf. Furcht schimmerte in ihren blauen Augen, aber auch Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Gefährten, Vertrauen in ihren Geliebten Adaron.

Von unten näherte sich Ialrist. Der Taijirin vermochte nicht, in der Luft zu schweben, aber er konnte Enora im Vorbeiflug ergreifen und sie mit sich in die Höhe ziehen. Eine Person war Ialrist imstande zu tragen, das hatten sie in früheren Abenteuern festgestellt.

Der Vogelmensch kam heran, streckte die Arme nach der rothaarigen Frau aus.

In diesem Augenblick tauchte der Leviathan auf.

Die Nebel zu ihren Füßen verdunkelten sich und wurden schwarz wie die finsterste Nacht, als das riesenhafte Ungeheuer ein drittes Mal aus dem Abgrund emporstieß. Ledrige Schwingen, größer als die Segel eines Flugschiffs, schlugen und entfesselten einen Sturmwind in den tieferen Wolkenschichten. Ein Körper, gepanzert, um Burgmauern im Anflug zu zerschmettern, traf Ialrist und schleuderte den Taijirin mit einer Leichtigkeit beiseite, mit der ein Schlachtross ein Graufederküken aus seinem Weg treibt. Und dann öffnete sich an einem riesigen, hornkranzbewehrten Schädel ein Maul voller unterarmlanger Zähne.

Adaron war, als bliebe die Zeit stehen. Mit einer Klarheit, die ihm jede Einzelheit auf ewig in den Geist brannte, sah er das Verderben nahen. Heißer, fauliger Atem fauchte ihm entgegen und raubte ihm beinahe das Bewusstsein. Eine violette, fleischige Zunge bewegte sich im Rachen des Monstrums, und aus den Tiefen seiner Kehle drang ein dumpfer rötlicher Schein, als brenne ein unheiliges Feuer in seinem Inneren. Doch es war der Hornkranz, der Adaron besonders ins Auge fiel, als der schwarze Tod kam, um ihn zu holen.

Garganthuan …

Adarons Miene verzerrte sich vor Anstrengung, als er Arme und Bauchmuskeln anspannte in dem verzweifelten Versuch, seinen Oberkörper nach oben zu wuchten, um so Enora und sich selbst dem gierigen Schlund des Monstrums zu entziehen. Es gelang ihm nicht.

Der Leviathan stieg so weit auf, dass Adaron bloß die Hand hätte ausstrecken müssen, um seine schuppige Schnauze zu berühren. Ein entsetzter Schrei erklang – ob von Enora oder ihm ausgestoßen, wusste Adaron nicht. Er fing ihren Blick auf, einen kurzen Lidschlag lang. Verzweiflung brannte darin, so bodenlos wie die Nebel jenseits des Weltenrands. Alles, was sie geteilt hatten, und alles, was sie noch miteinander hatten teilen wollen, war dahin. Diese bösartigste aller Kreaturen riss ihre Zukunft in Fetzen. Und es gab nichts – das erkannten sie beide –, was sie dagegen tun konnten.

Dann schloss sich das gewaltige Maul, Fleisch und Knochen wurden zermalmt, und das Untier warf sich zur Seite. Ein nicht enden wollender kolossaler Körper zog vor Adarons schreckgeweiteten Augen vorbei, bevor schließlich ein dornenbewehrter Schwanz in die Höhe peitschte und das Heck der Nebelkönigin zerschmetterte.

Der Schlag schleuderte Adaron in die Höhe und über den Rand des Schanzkleids. Finnar hinter ihm brüllte vor Anstrengung auf, aber er hielt Adaron fest. Gemeinsam schlugen sie auf die Holzplanken.

Im nächsten Moment kippte das Flugschiff zur Seite, und sie kamen ins Rutschen. Glitzernde Kristalle stiegen um die Nebelkönigin auf. Der Angriff des Drachen musste gleich mehrere der Kyrillian-Kästen vom Rumpf gerissen haben.

Adaron prallte gegen den Mast, blieb daran hängen. Finnar jedoch rutschte weiter.

»Adaron!«, schrie er und streckte die Arme aus, doch Adaron war zu betäubt, um ihm beizustehen. Außerdem hielt er bereits eine Hand in seinen Händen. Ein Kettchen mit einem Taijirin-Schutzmedaillon baumelte daran. Sein Glitzern erschien Adaron wie Hohn, denn der Körper, der zu dieser Hand gehörte, fehlte. Enora, seine geliebte Enora war fort, verschlungen von dieser Ausgeburt der Dunkelreiche.

Nein!, schrie es in seinem Kopf, als er auf die schlanken Finger und den glatten Handrücken, das schmale Handgelenk und den blassen Unterarm starrte, der knapp oberhalb des Ellbogens in einem blutigen, von Fetzen eines Leinenhemds bedeckten Stumpf endete. Das darf nicht sein! Enora!

Eine seltsame Entrückung überkam ihn. Kaum bei Sinnen, erlebte Adaron, wie die schemenhafte Gestalt des Ungeheuers eine Schleife um das verheerte Flugschiff zog. Dann rammte es sie ein weiteres Mal, diesmal von der Seite. Adaron wurde in die Luft geworfen und landete wieder auf harten Holzplanken. Takelage, Fässer und ein rothäutiger Mann mit Hundekopf, dessen Schnauze zu einem lautlosen Schrei geöffnet war, fielen an ihm vorbei und verschwanden im Nebel. Wind zerrte an Adarons Haaren und Kleidern. Die Nebelkönigin stürzte ihrem Untergang entgegen.

Adaron unternahm nichts, um den Fall aufzuhalten. Der verbliebene Teil seines Verstandes wusste, dass er nichts tun konnte. Vielleicht sollte er nach einer Kyrillian-Boje suchen. Wenn er sich an ihr festhielte, könnte er mit ihr aufsteigen und sich womöglich retten. Aber wozu? Warum sollte er? Enora, Ialrist, Finnar – seine Gefährten hatten ihr Leben verloren. Die schwarze Bestie hatte Adaron alles geraubt, was ihm je etwas bedeutet hatte. Der Tod war ein gnädiges Schicksal, denn er würde ihn den furchtbaren Schmerz vergessen lassen, der mit reißenden Klingen sein Herz verwüstete.

Es dauerte einen Moment, bis er gewahrte, dass jemand neben ihm stand und ihn an der Schulter rüttelte. »Adaron!«, schrie ihm eine Stimme ins Ohr. »Komm zurück, Adaron! Du und ich, wir können es noch schaffen.«

Blinzelnd blickte Adaron auf. Ialrist!, durchfuhr es ihn.

Wie ein geflügelter Bote der Götter ragte der Taijirin vor ihm auf. Die Schwingen auf seinem Rücken waren zerzaust, und Blut tränkte den Flaum auf seiner linken Gesichtshälfte. Doch wundersamerweise hatte Ialrist den Zusammenprall mit dem Leviathan überlebt, und nun stand er hier und streckte Adaron die Hand entgegen. »Komm mit mir. Wir sind die Letzten, die verblieben sind, aber, bei den Lichtgefiederten, ich verliere dich nicht auch noch!« Er beugte sich herab und zog Adaron an seinem Wams in die Höhe.

Der Rumpf der Nebelkönigin knarrte und ächzte, während das Flugschiff zunehmend Schlagseite bekam. Das Segel des Hauptmasts flatterte wie eine Fahne im Sturm. Das Deck war leer. Von Jonn, Belhac und Wuffzan war nichts zu sehen. Bei den Göttern, wir sind wirklich die letzten lebenden Seelen an Bord, erkannte Adaron. Meine Torheit und mein Leichtsinn haben alle anderen umgebracht. Hätte ich bloß auf Euch gehört, Belhac, und diese verfluchten Breiten gemieden. Was für einen Preis wir jetzt zahlen!

»Halt dich an mir fest!«, drängte Ialrist. »Halt dich an meinem Harnisch fest. Ich bringe uns von hier fort.«

Adaron starrte auf Enoras Hand, die das Einzige war, was er von seiner Geliebten hatte retten können. Ihre Finger wurden kalt, die Haut unnatürlich weiß, während das Blut aus dem Stumpf auf die hölzernen Deckplanken rann. Abwesend strich er mit dem Finger über das Vogelmenschenamulett. Sie war so jung und so wunderschön. Warum, ihr Götter, musstet ihr sie holen?

Aber es waren nicht die Götter gewesen, die sie geholt hatten. Nicht Indra, Jerup und Vazar hatten an Enoras Tod Schuld – und auch nicht er selbst. Niemand anderes als der Schwarze Leviathan trug dafür die Verantwortung. Sein unstillbarer Hunger, seine urtümliche Bosheit hatten Adaron die Frau geraubt, die ihm wertvoller als alle Reichtümer der Welt gewesen war.

Und auf einmal verwandelte sich das Grauen, das ihn bis dahin fest im Griff gehabt hatte, in etwas Neues. Ein Funke entzündete sich in seiner Brust und entfachte sich binnen weniger Herzschläge zu einem tosenden Inferno. Es war das Feuer des Hasses, und Adaron zog daraus Stärke wie ein Geschöpf der Alten Macht aus einem magischen Amulett.

Rache!, ging es ihm durch den Kopf. Oh, du sollst meinen Zorn spüren für das, was du mir angetan hast. Ich werde dich jagen, du Bestie, bis an die Pforten der Dunkelreiche und an die Grenzen der Welt. Und mag es mein ganzes Leben und darüber hinaus dauern: Am Ende bringe ich dich zur Strecke! Ich werde dir dein Herz herausreißen, wie du mir meines aus der Brust gerissen hast.

»Hörst du, Garganthuan?«, schrie er ins Weiß hinaus. »Ich, Adaron, werde dein Untergang sein!«

Ialrist schüttelte ihn. »Bei den Lichtgefiederten, schweig, sonst lockst du das Ungeheuer wieder zu uns!«

»Es soll nur kommen«, knurrte Adaron.

»Aber nicht heute«, erwiderte Ialrist. »Wir bekommen unsere Rache, das schwöre ich dir. Aber heute noch nicht.«

Kurz blickten Adaron und der Taijirin einander fest in die Augen. Dann schob Adaron Enoras Hand entschlossen unter sein Wams. Er packte Ialrists mit Bronze beschlagene Lederrüstung und hielt sich daran fest. »Bring uns fort von hier, mein Freund.«

Ohne ein weiteres Wort breitete Ialrist die Schwingen aus. Der Sturzwind verfing sich darin und riss sie regelrecht nach oben. Binnen zweier Lidschläge war die sterbende Nebelkönigin unter ihnen verschwunden.

Mit kraftvollen Flügelschlägen gewann der Vogelmensch an Höhe, den Blick angestrengt nach oben gereckt, wie ein Versinkender, der verzweifelt und mit aller ihm verbliebenen Kraft der rettenden Wasseroberfläche entgegenschwamm. Irgendwo in der Tiefe vernahmen sie ein machtvolles, dröhnendes Brüllen, das langsam leiser wurde. Der Schwarze Leviathan hatte sein Opfer vernichtet. Nun zog er sich in die lichtlosen Abgründe zurück, die ihn ausgespien hatten.

Adaron hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie aufwärtsgeflogen waren, aber auf einmal wurde der weiße Dunst um sie lichter. Gleich darauf stießen sie hinauf in den freien Himmel. Eine tiefstehende Abendsonne glühte im Osten und ergoss ihr rotes Licht über die Wolkenberge zu ihren Füßen, so dass diese aussahen wie mit Blut getränkt. Eisiger Wind umwehte Adaron und Ialrist, zerrte an Haar und Gefieder und fuhr ihnen unter die Kleider.

»Halt dich gut fest«, wiederholte der Taijirin schwer atmend. »Hak dich bei mir ein.«

Adaron nickte knapp. Sie hatten solche Flüge schon zu früheren Zeiten unternommen, wenn auch nie unter annähernd so schlimmen Umständen. Er löste eine Hand von Ialrists Harnisch, schnallte seinen Gürtel auf und flocht ihn durch den seines Freundes. Nun waren sie fest verbunden, und Adaron lief nicht mehr Gefahr, seinem Gefährten versehentlich zu entgleiten.

Vorsichtig drehte Adaron sich zur Seite und ließ den Blick schweifen. Was er sah, war nicht sehr ermutigend. Ialrist hatte ihn gerettet. Sie beide hatten den Angriff des Schwarzen Leviathan überlebt. Dennoch war ihr Leben über kurz oder lang verwirkt, denn in alle Himmelsrichtungen erstreckte sich bis zum Horizont nichts als das einsame, leere Wolkenmeer. Kein schwebender Fels und kein Berggipfel ragten aus dem ewigen Weiß. Und Ialrists Kräfte, das spürte Adaron, begannen zu schwinden.

Nein, sagte er fest zu sich selbst. Ich werde nicht sterben. Nichts wird mich in Zukunft töten können – bis zu dem Tag, da wir uns wieder gegenüberstehen, Garganthuan. Er richtete den Blick in die blutigen Nebel und schickte dem schwarzen Drachen seinen stummen Hass. Sieh dich vor, Bestie. Ich werde kommen, um den Preis für das Leben meiner Freunde und für das Leben meiner Geliebten einzufordern!

Kapitel 3Die Straßen von Skargakar

12. Tag des 5. Mondes im Jahr 841 (fast zwanzig Jahre später)

Nebel hing in den Straßen von Skargakar wie so häufig, wenn die Nacht kalt gewesen war. In den ersten Stunden des neuen Tages würden die wärmenden Sonnenstrahlen die Dunstschwaden auflösen, doch bis dahin verwandelten sie die Stadt in eine Welt aus kaltem, feuchtem Weiß und dunklen Schemen. Unwirklich mutete sie an. So als ende jedes Leben wenige hundert Schritt entfernt, verschlungen vom ewigen Nichts.

Lian fröstelte und zog den Kapuzenmantel aus grauem Drachenleder enger um die Schultern, während er eilig durch die Gassen des Hafenviertels lief. Der Boden war mit hellem Klippengranit gepflastert, dennoch klangen seine Schritte dumpf und verursachten kaum Hall zwischen den Hauswänden.

Er hasste es, auf den Beinen sein zu müssen, bevor die Nacht auch nur der Dämmerung gewichen war. Aber die Brutzeit der meisten Drachenarten näherte sich dem Ende, so dass derzeit an jedem Tag mehr Flugschiffe hinaus ins Wolkenmeer zogen, deren Besatzungen aus Kühnen und Verzweifelten auf die Jagd nach den Großen Echsen gingen. Das wiederum bedeutete, dass für die Kyrillian-Schleifer in Skargakar die arbeitsreichste Zeit des Jahres angebrochen war. Und da Lian seit beinahe zwölf Monden bei einem dieser Handwerker in die Lehre ging, begannen auch seine Tage so früh, dass ihm auf dem Weg zur Arbeit noch die letzten Betrunkenen des vergangenen Abends entgegentorkelten.

Lian bog um die Ecke eines verwitterten Hauses und betrat eine schmale Gasse. Das Hafenviertel war ein Gewirr aus verwinkelten Wegen. Sie verliefen zwischen schindelgedeckten Holzschuppen und niedrigen Gebäuden aus dem hellen Klippenstein, deren Fassade Moos ansetzte, weil die Luft in Skargakar das ganze Jahr über feucht war.

Diese immerwährende Feuchtigkeit, die im Sommer für dumpfschwüle Nächte und im Winter für klamme graue Tage sorgte, war dem der Stadt benachbarten Wolkenmeer geschuldet, das sich weiß und endlos in südlicher Richtung bis zum Horizont erstreckte. Doch sosehr gerade jene, die erst seit kurzer Zeit in Skargakar weilten, über die Nässe klagten, die in Kleidung, Rüstungen, Schriftrollen und Hauswände kroch, hätte das Leben in der Stadt ohne jenen dunstigen Ozean gänzlich anders ausgesehen.

Die Bewohner von Skargakar verdankten dem Wolkenmeer all ihren Wohlstand. An keinem anderen Ort der bekannten Welt fand sich ein größerer Reichtum an Drachen und Drachenartigen. Und Drachen – oder vielmehr deren Haut, Fleisch, Knochen, Schuppen, Zähne und fast alle Eingeweide – ließen sich hervorragend in alle Länder jenseits von Skargakar verkaufen. Selbst für die unappetitlichsten Teile der drachischen Anatomie fanden sich Abnehmer. Dafür sorgten findige Händler, die wussten, wie sich Aberglaube und verzweifelte Hoffnung in bare Münze verwandeln ließen.

Lian beschwerte sich nicht darüber, im Gegenteil. Er selbst lebte von der Drachenjagd, wenn auch als Lehrling eines Lieferanten für geschliffene Kyrillian-Kristalle nur mittelbar.

Erneut bog er um eine Ecke, schließlich um eine weitere. Die Straße, die er erreichte, war etwas breiter und mündete direkt auf die Hafenpromenade. Schemenhaft nahm Lian die Masten eines der großen Flugschiffe wahr, die dort vertäut lagen. Von irgendwoher zu seiner Linken erklang Rufen und das Ächzen einer Winde. Der schwache Gestank von kalter, nasser Echse drang an Lians Nase. Anscheinend war über Nacht ein weiteres Jägerschiff in Skargakar eingetroffen, und die Mannschaft lud gerade ihre Fracht aus.

Es musste sich jedoch um Anfänger handeln. Erfahrene Jäger verarbeiteten ihre Beute immer schon draußen auf dem Meer, um nicht nur die harten Anteile zu erhalten, sondern auch die weichen. Kein Mensch kaufte Drachenfleisch, das eine Woche lang an Deck herumgelegen hatte.

Vielleicht haben sie Glück, und ein Drak-Händler nimmt ihnen den Kadaver ab, dachte Lian. Die Echsenartigen, die in Stämmen draußen in der Wildnis lebten, hatten robuste Mägen – so hieß es zumindest.

Wenige Schritte vor Lian ragte ein Schild in die Straße hinein. Es war aus Holz und hing an einer kurzen Kette, die verhinderte, dass es davonschwebte. Waunars Kristallschleiferei stand darauf geschrieben, und unter dem Schriftzug waren ein gutes halbes Dutzend kleine Kristalle eingelassen. Drei davon schimmerten in dem unverkennbaren Blassviolett von Kyrillianen. Sie waren der Grund dafür, dass das Schild im Himmel verschwände, statt zu Boden zu fallen, falls irgendein Witzbold die Kette durchschlug.

Das war allerdings noch nie geschehen und würde wohl auch nicht passieren. Niemand legte sich mit Waunar an. Der greise Nondurier stand unter dem Schutz aller Drachenjäger, die ihn für die Kunstfertigkeit achteten, mit der er Kristalle schliff und Steuerkästen anfertigte, die ihre Schiffe über den Wolken hielten. Natürlich lebten auch andere Kristallschleifer in Skargakar. Die Stadt war groß, und Arbeit gab es genug. Aber niemand war in diesem Handwerk so bewandert wie Waunar, dessen kräftige rote Hände bereits Diamantschneider und Schleifstab geführt hatten, als Lian an einem klaren, eiskalten Wintermorgen das Licht der Welt erblickte.

Gebückt trat Lian durch die für Menschen niedrige Eingangstür. Waunar war schon bei der Arbeit. Das verwunderte Lian nicht. Der alte Meister lebte praktisch in seiner Werkstatt. Nur hier, wenn er sich mit Ruhe und Geduld einem Kristallrahmen widmete, schien er glücklich zu sein, im Frieden mit sich und der Welt. Das hieß jedoch nicht, dass er ein umgänglicher Kerl gewesen wäre. Lian wusste zwar, dass Waunar ein gutes Herz hatte, aber er verbarg es für gewöhnlich recht erfolgreich.

»Ihr seid spät dran«, murrte der Nondurier statt einer Begrüßung. Er blickte nicht auf, sondern hielt seine Aufmerksamkeit auf den Kristall gerichtet, der vor ihm auf der Werkbank in eine metallene Halterung eingespannt war, während er ihn mit einem feinen Schleifstab polierte.

Lian ließ seinen Blick durch den von weißblauen Feenfeuern hell erleuchteten Raum schweifen. Er ersparte sich den Hinweis, dass noch keiner der beiden anderen Gehilfen Waunars – weder der bucklige Jorun noch der Nondurier Klaefften – an seinem Platz saß. »Verzeiht, Meister. Meinem Vater ging es nicht gut in der letzten Nacht.«

Nun hob Waunar doch den Kopf. Seine klugen dunklen Augen musterten Lian über die Ränder der filigranen Sehhilfe hinweg, die auf seiner breiten Hundeschnauze ruhte und die sich der Kristallschleifer selbst angefertigt hatte. »Nicht gut, hm?«, knurrte er. »Hat Lonjar erneut zu tief in die Flasche mit Blutwasser geschaut?«

Lian presste die Lippen zusammen und schwieg. Es war kein Geheimnis, dass sein Vater dazu neigte, sich zu berauschen. Trotzdem sprach er nicht gerne darüber.

Sein halbes Leben hatte Lonjar Drachentod auf verschiedenen Schiffen auf dem Wolkenmeer verbracht. Von einigen der Jagden, an denen er teilgenommen hatte, erzählte man sich noch heute in den Schänken am Hafen. In einer fatalen Nacht vor sieben Sommern hatte ein Großer Roter Lonjar beide Beine unmittelbar unter den Knien zermalmt. Der Heiler an Bord hatte sie abnehmen müssen, Lonjars Tage in den Wolken waren gezählt gewesen. Seitdem trank er – bevorzugt den starken Rum, den die Einheimischen brannten und der von skrupellosen Seelen in gefährlich hoher Dosis mit Drachenblut versetzt wurde. Blutwasser nannte man dieses Gebräu, dessen Feuer nicht nur Körper und Geist verzehrte, sondern auch jeden Schmerz.

»Sei’s drum«, murmelte Waunar. »Setzt Euch an Euren Rahmen, Lian. Er muss bis heute Mittag fertig werden.«

»Ich mache mich sofort an die Arbeit«, versicherte Lian.

Er legte seinen Mantel ab und band sich die braune Arbeitsschürze um. Dann ließ sich Lian an seiner Werkbank aus schwerem Holz nieder, die zusätzlich im Steinboden verankert war. Man konnte bei der Bearbeitung von Kyrillian gar nicht vorsichtig genug sein. Waunar hatte ihm von einem unerfahrenen Schleifer erzählt, dessen Arbeitstisch mit Wucht durch die hölzerne Rückwand seiner Werkstatt gebrochen war, nachdem der Narr einen an besagten Tisch gelehnten Steuerrahmen voller Kristalle geöffnet hatte, um die Beweglichkeit der metallenen Lamellen zu prüfen.

Mit geübten Handgriffen legte Lian sein Werkzeug zurecht, entzündete eine Schale mit Drachenöl und ließ darüber in einer zweiten Schale einen Klumpen Siegelwachs schmelzen. Er nahm die Schatulle mit fertiggeschliffenen Kristallen aus einer Holzschublade seiner Werkbank. Dann zog er das Leintuch beiseite, das den geschlossenen Steuerrahmen bedeckt hatte, der schwarz und gewichtig mitten auf der Arbeitsfläche ruhte und in den er seit zwei Tagen die Kyrilliane einsetzte.

Auch in ihrem Rohzustand – unbearbeitet und halb umschlossen von dem Gestein der Felseninseln, an deren Unterseite sie wuchsen – besaßen die Kristalle die Gabe, die Erdenschwere aufzuheben und selbst bergesgroße Massive in den Himmel zu heben. Diese Wirkung ließ sich vervielfachen, wenn man die Steine reinigte, schnitt und schliff. Das ersparte den Luftschiffern, sich ganze Geröllfelder unter den Rumpf ihrer Fluggefährte zu binden. Es genügten vier bis sechs Steuerrahmen, die nicht einmal ganz geöffnet sein mussten, um ein Flugschiff von gewöhnlicher Größe durch die Wolken segeln zu lassen.

Warum Kyrillian statt nach unten nach oben strebte, wusste Lian nicht. Er hatte Meister Waunar gefragt, aber der hatte ihm auch keine Antwort darauf geben können. »Es ist Magie«, hatte der alte Nondurier gesagt, »und die Magie kann man nicht erklären. Nun, zumindest ich kann sie nicht erklären. Aber das will ich auch gar nicht. Derlei Forscherdrang überlasse ich den Magistern der Akademien. Für mich zählt allein, dass ich weiß, wie ich den Stein streicheln muss, damit er tut, was ich von ihm will.«

Dieser Ansicht hatte sich Lian nur mit Mühe angeschlossen. Anders als Waunar arbeitete er in der Kristallschleiferei nicht nur, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen und einen Ruf zu erwerben. Er kam auch deshalb Tag für Tag hierher, weil ihn der glühende Kyrillian faszinierte. Für Lian hatte der Kristall Symbolgehalt. Er stand für alles Geheimnisvolle, was dort draußen in den dunstigen Weiten des Wolkenmeers lag.

Vorsichtig öffnete Lian die unterste Lamelle des Steuerkastens. Ein sanftvioletter Schimmer drang aus dem Inneren hervor, kaum merklich allerdings, da Lian den Großteil der bereits eingesetzten Kristalle mit einem Metallvlies bedeckt hatte, um ihre Wirkung zu schwächen. Warum ausgerechnet schwere, unedle Metalle den Kyrillian banden und ihn seiner Kraft beraubten, war ein weiteres Mysterium, das die Gelehrten beschäftigte. Lian würde es wohl niemals erfahren. Ihm blieb nur, sich diesen Umstand bei seiner Arbeit zunutze zu machen.

Die Schatulle mit den Kyrillianen hatte keinen Deckel, sondern ließ sich aufschieben. Da sie sich im Inneren an einem Ende verjüngte, war es Lian möglich, mit einem Greifer immer nur einen Kristall hervorzuholen. Dabei musste er aufpassen, dass ihm das Kleinod nicht in Richtung Deckengebälk entwischte. Der Trick bestand darin, die Kristalle immer so zu drehen, dass ihre geschliffene Seite nach oben zeigte, so dass ihre Kraft zur Erde strebte. Auf diese Weise konnte man ganz gut mit ihnen hantieren.

Jene, die zum ersten Mal in ihrem Leben einen Kyrillian in die Hand nahmen, waren stets überrascht von seiner scheinbaren Masse. Ein gewöhnlicher Edelstein von vergleichbarer Größe wog so gut wie nichts, wenn man ihn in der Handfläche hielt. Ein Kyrillian dagegen übte ungefähr so viel Druck aus wie ein großes Hühnerei – oder ließ ein solches in die Luft aufsteigen, wenn man beide zusammenband.

Ein einzelner mochte noch leicht zu handhaben sein. Schwierig wurde es, wenn mehrere Kristalle beisammenlagen, denn deren Kräfte nahmen nicht einfach in gleichem Maße zu, sondern verstärkten sich gegenseitig. Schon eine Handvoll Kristalle vermochte, einen Menschen von Lians Statur zu tragen. Und sechs Metallkästen, in denen – je nach Güte des Schliffs – jeweils vierzig bis achtzig Kyrilliane steckten, hoben ein Flugschiff in den Himmel, das selbst auf große Rote Drachen Jagd machen konnte.

Knappe zwei Dutzend Kristalle hatte Lian bis zur Mittagsstunde noch in den Rahmen einzufügen. Diese Aufgabe war zu bewältigen, trotz der Sorgfalt, die dabei vonnöten war.

Stein um Stein setzte er in die mit Siegelwachs gefüllten Fassungen und befestigte sie dort, wobei das Wachs lediglich der Ausrichtung diente; gehalten wurden die Kristalle von feinen Metallklammern. Beim Einsetzen des zweiten tauchte Jorun auf, ein krummes, hageres Männchen etwa im Alter von Lians Vater, das immer gutgelaunt war, selbst wenn fünf Tage in Folge Nebel in den Straßen von Skargakar hing. Beim vierten erschien Klaefften in der Werkstatt. Er ließ die Ohren hängen und hatte einen Ausdruck auf dem Gesicht, als wäre ihm seine letzte Mahlzeit überhaupt nicht bekommen. »Verzeiht, Meister«, knurrte er mit tiefer Stimme. »Mein Bruder kam gestern Abend von der Jagd zurück, und ich war so töricht, mit ihm und seinen Kameraden ihren Sieg über einen Golddrachen zu feiern.«

»Einen Goldenen, hm?« Waunar blickte nicht einmal auf. Er lebte schon so lange am Rand des Hafenviertels, dass er, wie er gerne kundtat, jede Geschichte bereits gehört hatte, die ein heimkehrender Drachenjäger erzählen konnte. Dennoch entlockten Klaefftens Worte ihm eine Nachfrage. »Wie groß war die Perle, die sie gefunden haben?«

»Sie hatte die Größe einer Männerfaust«, antwortete der andere Nondurier und ballte zur Verdeutlichung die linke Hand zur Faust. »Ein prachtvoller Fund, eines Königs würdig. So wurde es mir berichtet.«

Anerkennend nickte Waunar. »Dann sind dein Bruder und seine Gefährten zu beglückwünschen.« Seine spitzen Ohren drehten sich nach hinten und legten sich an den roten Schädel. »Und du wirst heute Abend die Werkstatt aufräumen, während wir wohlverdient unser Werkzeug niederlegen und nach Hause gehen.«

Reumütig ließ Klaefften Kopf und Ohren hängen. »Wie Ihr wünscht, Meister Waunar.«

Er ließ sich an seiner Werkbank nieder, und bald darauf klapperte und surrte es hinter Lian, denn Klaefften trat mit dem Fuß auf das Holzpedal, das über einen Lederriemen die breite Schleifscheibe in Schwung versetzte. Dann fing er an, Rohkyrillian zu bearbeiten.

Einige Stunden später setzte Lian den letzten Kyrillian-Kristall in den Rahmen. Prüfend rüttelte er ein letztes Mal an den neueingesetzten Steinen. Alle saßen fest in ihren Halterungen. »Meister, der Rahmen ist fertig«, ließ er Waunar wissen.

Der Nondurier erhob sich von seinem Platz und trat neben Lian. Er rückte die Sehhilfe auf seiner Schnauze zurecht und beugte sich nach vorn. Mit geübten Handgriffen und strengem Blick unterzog er Lians Werk einer zweiten Prüfung. Nach jeder Kristallreihe brummte er leise.

»Sehr gut«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Nimm ein Poliertuch und wisch damit den Rahmen ab. Danach kannst du eine Pause einlegen.«

Lian nickte bestätigend. »Danke, Meister.«

Er war noch mit dem Tuch zugange, als die Tür zur Werkstatt aufgestoßen wurde und jemand mit polternden Schritten hereinkam. Als Lian sich umdrehte, erblickte er einen Riesen von einem Mann, bärtig und mit zotteligem, schulterlangem Haar. Der Krieger trug eine Rüstung, die aus den Schuppen eines grauen Drachen gefertigt zu sein schien. Ein grober Ledermantel hing schräg über seiner linken Schulter, eine Kette mit dolchspitzen Reißzähnen klapperte vor seiner Brust, und seinen Helm zierte die obere Hälfte eines blankpolierten Drachenschädels. Auf den Rücken hatte er eine langstielige Axt geschnallt, und an seinem breiten Gürtel baumelten mehrere Wurfäxte. Im rechten seiner fast kniehohen Stulpenstiefel steckte eine Klinge, die eher Kurzschwert als Messer war.

»Meister Waunar«, dröhnte der Neuankömmling, »ich komme, um den neuen Steuerrahmen für die Draconia abzuholen. Seid Ihr damit fertig?«

»Natürlich, Kapitän Koos.« Der Nondurier deutete in Lians Richtung. »Dort ist er.«

Der Hüne namens Koos trat näher und warf Lian einen prüfenden Blick zu, so als wolle er dessen handwerkliches Geschick einschätzen. Dann wandte er sich brummend der Werkbank zu. Lian machte einen Schritt beiseite, das Poliertuch noch immer in den Händen.

Der linke Arm des Drachenjägers tauchte unter dem Mantel auf, und als er sich mit der Hand auf den Tisch aufstützte, sah Lian, dass es gar keine Hand war, sondern ein schwarzer, mattglänzender Metallhaken, der in eine Stulpe überging, die an Koos’ verbliebenem Arm befestigt war. Mit der rechten, gesunden Hand öffnete er nacheinander die Lamellen und nahm Lians Arbeit in Augenschein.

»Noch nie einen Mann mit einer Hakenhand gesehen?«, knurrte der Drachenjäger, ohne Lian anzublicken, als er gerade die vierte Reihe Kyrilliane begutachtete.

Lian erschrak, weil er sein Gegenüber tatsächlich angestarrt hatte. »Doch, äh, verzeiht«, erwiderte er verlegen. »Nur noch keinen mit einer, die so schwarz war wie Eure.«

Koos drehte ihm den Kopf zu und hob den Haken. »Ich habe ihn brünieren lassen, damit er nicht glänzt. Alles Metall an Bord meines Schiffs ist brüniert. Drachen haben verdammt scharfe Augen. Ein Sonnenstrahl zur falschen Zeit auf einer blanken Klinge kann einen über weite Strecken verraten.«

Erst jetzt bemerkte Lian, dass auch die Axt auf dem Rücken des Kapitäns ein schwarzes Blatt hatte. »War das ein Drache?«, wagte er zu fragen und deutete auf den Armstumpf.