Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Phantastik wie sie sein soll! Mysteriös, geheimnisvoll, unheimlich, erschreckend, übersinnlich. Gerhard Leonhard Rothe versteht es meisterhaft, Sie in seinen Bann zu ziehen und dabei zeigt er eine gewaltige Bandbreite - von Vampiren, den zwölf Aposteln über Sherlock Holmes bis zu den Schrecken der Neuzeit und Abgründen der menschlichen Seele! Diese Geschichten entführen Sie in eine andere Welt - die Welt der Phantastik!
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 266
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Gerhard Leonhard Rothe
Der dritte Pfeil
Phantastische Geschichten
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Der dritte Pfeil
Die Statue
Blut
Das Koma
Die zwölf Apostel
Die Brillenschlange
Professor Cerebroso
Der Kelch
Die giftige Blume
Der Autor über sich selbst und seine Geschichten
Danksagung
Zwei Gedichte als Zugabe
Buchempfehlungen
Impressum neobooks
Dario, ein Reiterführer der germanischen Gepiden, sprengte durch den Wald, der im silbernen Mondlicht badete.
Königin Adas Befehl war erfüllt.
»Geht und erkämpft mir den Sieg«, hatte diese zu Arbo und ihm beim Abschied im Palast gesagt und mit scharfem Blick aus grünen Mandelaugen hinzugefügt: »Und solltet ihr euch gegenseitig umbringen wollen, dann bitte erst nach der Schlacht.«
Die Schlacht war geschlagen, der Sieg über die Hunnen, die seit Attilas Tod nicht mehr die gleichen waren, vollständig errungen, dank Arbos, des Oberbefehlshabers, Strategie, und seiner, Darios, Präzision, mit der er die Reiterei geführt hatte. Das Heer ihres Volkes hatte sich, nicht zuletzt dank der Erfahrung aus vergangenen Bündnissen mit dem byzantinischen Reich, als perfekte Kampfmaschine erwiesen.
Doch Arbo und Dario waren Feinde. Beide liebten sie Königin Ada, deshalb musste einer von ihnen verschwinden.
Am Versammlungshaus einer uralten, verlassenen, vom Buschwerk fast wieder verschlungenen Siedlung sprang Dario vom Pferd und ließ es grasen. Er betrat das halbwegs erhaltene Haus, durchquerte den riesigen, dämmrigen Raum und legte sich in der äußersten Ecke auf eine Bank.
Er musste ruhen, bis Arbo käme.
Bald hörte er zögernde Schritte, ein Schwirren, einen Schlag gegen die Wand über ihm. Dort sah er den vibrierenden Pfeil.
Er fuhr hoch, griff zum Schwert und sprang über den nächsten Tisch.
Am Eingang der Halle stand Arbo, der den Bogen erneut spannte. »Bist du bereit zum Kampf, Dario?«
»Ebenso wie du!«
Blitzschnell war Dario bei Arbo, dessen Pfeil ihn nur knapp verfehlte, und schon sausten und krachten die Schwertschläge.
Ungleichere Gegner konnte es nicht geben: Dario, hochgewachsen, blondlockig, von eher nachdenklicher Art, und Arbo, mittelgroß, schlank, schwarzhaarig, mit sehr beweglichem Naturell; aber jetzt beide wütend und hasserfüllt, beide verschlagen.
Wild sahen sie aus, staubig, verschwitzt, blutverkrustet, die Rüstungen aus Leder und Eisen teilweise zerfetzt.
Der Kampf war kurz und gnadenlos. Arbo brachte Dario zahlreiche leichte Wunden bei, dann brach er selber durchbohrt zusammen.
Ein irres Staunen trat auf sein Gesicht, er röchelte, aus seinen Mundwinkeln sickerte Blut. Mit letzter Kraft riss er sich ein Medaillon vom Hals, schob es Dario hin, der neben ihm kniete, und ächzte: »Gib es ihr. Sag ihr, dass ich sie liebte.«
Dario drückte dem Toten die Augen zu, stürzte hinaus, schwang sich aufs Pferd und jagte durch die silberdurchflutete Nacht. Er sprengte an müden, aber heiter singenden Heereskolonnen vorbei, die zu den Quartieren zurückkehrten. Er erreichte die Stadt, die in trunkener Siegesfreude brodelte. Am Palast sprang er vom Pferd und stürmte die Treppe empor, durcheilte das Portal, an reglosen Wachen vorbei, rannte durch Gänge und Hallen, die von Hunderten Fackeln in zuckendes Licht getaucht waren.
Im Thronsaal stand Ada, kriegerisch gekleidet, inmitten vertrauter Gefährtinnen, verbündeter Amazonen, mit denen sie über die Stadt gewacht hatte. Sie starrten ihn düster und feindselig an. Die Siegesbotschaft schien hier keine Rolle zu spielen.
Dario war beklommen zumute.
»Wo ist Arbo?«, fragte die Königin.
»Arbo ist tot. Ich habe ihn im Zweikampf erschlagen.«
Ada erstarrte und wurde bleich. Ihr ovales, kühnes Gesicht verzerrte sich. Ihre lang wallenden Haare schienen in Hassflammen zu glühen. Sie atmete heftig und wankte. Mit dem Schrei »Mörder!« stieß sie Dario zurück, der sie festhalten und stützen wollte. »Mörder!« Dann brach sie zusammen.
Am Boden liegend, das Gesicht in die Armbeuge gewühlt, fast ganz von ihren Haarfluten bedeckt, weinte und wehklagte sie, laut schreiend und schluchzend. Ihr feingliedriger und dennoch muskulöser Körper wurde von Krämpfen geschüttelt.
Die Amazonen standen bewegungslos in bedrohlichem Schweigen.
»Arbo! Arbo!«, schrie Ada immer wieder. »Warum konntest du nicht besser auf dich achten!?«
Schließlich hob sie den Kopf und rief: »Geht alle hinaus!«
Während sich die Amazonen zurückzogen, kniete Dario neben Ada nieder, ergriff ihre Hand und legte das Medaillon Arbos hinein.
»Fass mich nicht an!«, schrie die Königin. »Fort! Fort von mir!«
»Er liebte dich. Es tut mir leid, dass es so kommen musste.«
Ada sprang hoch und trat Dario mit dem Fuß gegen die Brust. »Verschwinde! Du bist jetzt nur noch mein Waffenknecht. Wachen! Werft ihn hinaus!«
»Du weißt, Ada, wie sehr ich dich liebe«, rief Dario, indem er die Wachleute einen nach dem anderen zu Boden warf.
Ada lachte bitter und höhnisch, vermischt mit Schluchzen. »Du hast mein Leben zerstört! Du hast meine Liebe vernichtet. Geh mir aus den Augen!«
Dario erkannte, dass er nichts ausrichten konnte, und zog sich zurück.
Die Totenfeier für Arbo wurde mit heroischem Pomp begangen. Ada selbst setzte den Scheiterhaufen in Brand, auf dem der Getötete ruhte.
Das Volk klagte, Soldaten schlugen Waffen und Schilde zusammen, aber die Amazonen blieben unbeteiligt und rührten sich nicht.
Dario fühlte nichts als innere Leere und manchmal ein eigenartiges Schweben oder ein unerträgliches Gewicht, das seinen Körper zuweilen bedrängte.
In den nächsten Wochen war er rastlos mit seinen Aufgaben beschäftigt, wenn die Zeit ihrem normalen Fluss folgte und nicht plötzlich abriss, so dass Lücken entstanden, über deren Verlauf er dann keine Erinnerung hatte.
Er trainierte das Heer, organisierte es neu, überprüfte Ausrüstung und Proviant, erteilte Befehle, belohnte und strafte. Sich selbst folterte er mit den härtesten Leibesübungen, um seinen Unmut und seine Leidenschaft zu ersticken.
Obwohl stets unter Menschen, erkannte er niemanden. Unschärfe, Unberechenbarkeit und Fremdartigkeit traten ein, die Gegenstände zerflossen; denn ohnehin sah er überall nur Adas hassverzerrtes Gesicht, und er wünschte sich oft, dass steinerne Gefühllosigkeit in sein Inneres einzöge.
Bei allem, was er tat und erlebte, spürte Dario einen seltsamen, aufdringlichen Hauch von Unwirklichkeit. Auch das Zähflüssige und Traumähnliche aller Ereignisse und Vorgänge irritierte ihn fortwährend.
Vor allem Königin Adas Ablehnung, die sie ihm, Dario, gegenüber so vehement an den Tag legte, obwohl sie früher in seiner Gesellschaft stets die Liebenswürdigkeit in Person gewesen war, konnte er nur äußerst mühsam verkraften.
Er begriff Adas Schmerz über Arbos Tod nicht, weil er, Dario, für ihre unbegreifliche Liebe zu dem toten Feldherren niemals auch nur das geringste Anzeichen, die winzigste Spur bemerkt hatte.
Allerdings war es natürlich auch möglich, dass sie, wenn sie wirklich etwas für Arbo empfand, es geheim gehalten und sich perfekt verstellt hatte, um ihre Würde als Königin zu bewahren und keine unnötigen Angriffsflächen zu bieten. Dazu passte auch, dass sie jetzt, im Schmerz über Arbos Tod, nach so langer Selbstbeherrschung ihren Gefühlen, die sie so machtvoll überwältigten, freien Lauf ließ.
Dennoch war all das für Dario absolut rätselhaft, es überraschte und bestürzte ihn in zunehmendem Maße, so dass für ihn die Welt immer unbegreiflichere Züge annahm.
Bald entglitt ihm sein Ich, die Umwelt versank im Nebel.
Er betrank sich zunehmend mit immer größeren Mengen an Wein, ließ seinen Geist zerfließen, aber Adas Schrei »Mörder!« war überall.
Dann kam die Nachricht, ein neues Hunnenheer rücke heran.
Die Königin ließ Dario zu sich rufen. Steif und bleich saß sie auf dem Thron, flankiert von den finsteren Amazonen.
»Kannst du mir jemals verzeihen?«, fragte Dario heiser.
Ada überhörte die Frage. In ihren Augen flammte eisige Glut. »Vernichte unsere Feinde!«, befahl sie mit Eiseskälte.
»Ich werde sie vernichten, verlass dich darauf.« Dario atmete schwer. »Ich liebe dich, Ada. Ich werde alles tun, um dich glücklich zu sehen.«
»Bring mir Arbo zurück!«, schrie Ada höhnisch. »Dann bin ich glücklich. Geh jetzt und tu deine Pflicht. Die Schlacht soll dich für alle Zeiten verschlingen!« Aus ihren Augen glühte unermesslicher Hass.
Der Zusammenstoß der Gepiden mit den Hunnen war so mörderisch, dass beide Seiten ins Wanken gerieten, aber letztlich behauptete sich Darios Phalanx, die bald zu wuchtigen Schlägen ausholte, als sei sie mit der Wut ihres Feldherrn aufgeladen. Indessen zerfetzten Formationen der Reiterei die vernachlässigten Flanken des Gegners. Ein allgemeiner Vernichtungstaumel begann. Die Heere wälzten sich wie in zuckender, kosmischer Epilepsie. Der Geruch des spritzenden Blutes war ein böses Narkotikum, das alle wahnsinnig zu machen schien. Allmählich wurden die hunnischen Reiterhorden zerrieben. Ihre Attacken verliefen sich wie die Wellen eines versickernden Flusses.
Nachdem die Reste des fliehenden Feindes niedergemacht waren, verließ Dario das Schlachtfeld. Sein Blick glitzerte irre, sein schrilles, bitteres Lachen war weithin zu hören. Sein Inneres raste und tobte, er krümmte sich unter den zerstörenden Blicken Adas, deren Gesicht ihn überallhin verfolgte.
Erst im Wald bei der alten Siedlung wurde er ruhiger.
Er sprang vom Pferd, betrat das Versammlungshaus, durchquerte den riesigen, dämmrigen Raum und legte sich auf eine Bank in der äußersten Ecke.
Es war eine Szene, die er schon einmal erlebt hatte, wie er sich vage erinnerte.
Dann löschte willkommener Schlaf die Qualen seines Bewusstseins.
Zögernde Schritte weckten ihn. Er glaubte etwas schwirren und gegen die Wand schlagen zu hören, doch als er empor spähte, konnte er keinen Pfeil entdecken. Verwirrt schlief er wieder ein.
Schließlich, von stärkeren Geräuschen beunruhigt, fuhr er hoch, griff zum Schwert und sprang über den nächsten Tisch.
Etwa zehn Schritte von ihm entfernt stand – Arbo, der den gespannten Bogen auf ihn angelegt hatte.
Arbos silberglänzender Helm umrahmte ein scheußliches, höhnisch verzerrtes, von Schadenfreude belebtes Gesicht.
Der Pfeil schnellte von der Sehne, aber als er durch Darios Kehle fuhr, spürte dieser seltsamerweise keinerlei Schmerz, nur grenzenlose Verwunderung.
Er konnte noch einmal lächeln, und sein letzter Gedanke war, dass es nichts gab, weswegen ihm Ada weiterhin zürnen musste, und dass sie vielleicht erst jetzt einen Anlass erhielt, wirklich zu trauern.
Das hat doch sonst – hat doch sonst immer – sonst immer geklappt!« rief der alte Bernhard Uhlig, wobei sein zerfurchtes, äffchenhaftes Gesicht vor Anstrengung glühte.
Umringt von einer lachenden, spottenden Menge aus Jugendlichen und Kindern versuchte er, seinen vollgepackten Rollator, der an einem Fahrradständer festhing, wegzubewegen, was ihm trotz intensiven Schiebens und Stoßens misslang.
In der Gruppe der übermütigen Zuschauer explodierten die Lachsalven. »Was ist denn, Opa?«, fragte ein schmächtiger Blondschopf, und ein stämmiger Bursche mit langen, schwarzen Haaren fügte grinsend hinzu: »Motor anwerfen, Gang einlegen und Gas geben ist das ganze Geheimnis, dann fährt der Wagen!« Dabei zwinkerte er in die Runde.
»Motor? Gang? Gas?«, fistelte Uhlig. »Wie das? Ich selbst – selbst bin der Motor!«
»Na dann spring an!«, rief eines der Mädchen, und alles brüllte.
»Klar doch! Klar doch!«, fauchte der Alte und zerrte und rüttelte mit solch emsiger Greisenenergie an seinem Rollator, dass der Fahrradständer ins Wanken geriet und die Fahrräder zur Seite zu kippen drohten; dann gab er dem widerspenstigen Objekt einen Tritt, rannte erregt um dasselbe herum, kam aber nicht auf die Idee, nach der Ursache für das Versagen zu forschen. Schließlich blieb er vollkommen irritiert und erschöpft stehen, breitete hilflos die Arme aus und stieß keuchend hervor: »Warum fährt denn das Ding nicht? Das – das – ist doch – ist doch sonst immer – sonst immer gefahren! Schei – Scheiße!«
Gelächter hallte über den Platz, Jungs grölten, Mädchen kicherten, Kinder sprangen herum, schrien gellend und schnitten Grimassen. Es war ein unbeschreiblicher Lärm.
Der Platz, auf dem sich die Szene abspielte, lag zwischen der Hauptstraße und einem Supermarktkomplex mit modernen Fassaden aus Glas und Beton, den die Gebäude der Bank und der Post flankierten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erhoben sich zwischen schüchtern heranwachsendem Grün mehrere neuerrichtete Wohnblocks. Dahinter, weit in der Ferne und überzogen von einer leicht pulsierenden Haut aus bläulichem Dunst, reckte die Großstadt ihre Türme und Wolkenkratzer der goldenen Mittagssonne entgegen.
Ich ließ mir an einem der Stehtische der Imbissbude ganz in der Nähe Kaffee und Currywurst schmecken und beobachtete mit klinischem Interesse den Vorgang.
Dieser hatte damit begonnen, dass Uhlig aus der Kaufhalle herauskam und eine ihm offensichtlich bekannte Passantin entdeckte, die gerade ihr Fahrrad in den Fahrradständer schob und an diesen anschloss. Uhlig hatte sich dem Fahrradständer genähert, seinen Rollator unmittelbar daneben abgestellt und sich der Frau zugewandt, um sie zu begrüßen und in ein Gespräch zu verwickeln. Diesen Moment hatte ein besonders flinker, gewitzter Junge genutzt, um in spontaner Eingebung dem Alten einen lustigen Streich zu spielen. Er hatte von seinem eigenen Fahrrad das Schloss gelöst und damit Uhligs Rollator, dessen günstige Position neben dem Fahrradständer geradezu danach schrie, blitzschnell an diesem befestigt.
»Weißt du was, Opa?«, sagte ein Jugendlicher. »Du musst das Schloss aufschließen!«
»Schloss? Schloss? Welch – welches Schloss? Ich habe kein Schloss!«
»Und was ist das dort?« Er deutete auf die Stelle, wo der Rollator am Fahrradständer festgemacht war. »Siehst du? Dort hast du es angeschlossen!«
»Habe ich? Habe ich das?« Uhlig war ganz konfus. »Ich – ich – erinnere mich nicht!«
Der Junge wandte sich an die Gruppe. »Er hat es doch angeschlossen?«
»Ja, ja, hat er, hat er!«, rief es von allen Seiten. »Wir haben es alle gesehen!«
»Du hörst es«, sagte der Junge, »hol' den Schlüssel heraus und schließ auf!«
Hektisch durchsuchte Uhlig alle Taschen seiner Kleidung und schüttelte unablässig den Kopf. »Wo ist denn der Schlüs – Schlüssel? Ich erinnere mich nicht!«
Wieder brandete Lachen auf. »Such! Such! Du findest ihn schon!«, rief jemand, und ein anderer fügte hinzu: »Du musst deine Gedanken besser zusammenhalten!«
»Weiß ich, weiß ich«, antwortete der ratlose alte Mann, dessen Stimme einer heiser spuckenden Flöte glich, und suchte jetzt in seinen Einkaufsbeuteln weiter, wobei er in zittriger Hast die Dinge, die er in der Kaufhalle erworben hatte, ringsum auf dem Boden verteilte.
An dieser Stelle beschloss ich einzugreifen. Ich verließ die Imbissbude, drängte mich an der Meute vorbei und sagte zu dem Gefoppten: »Ich helfe Ihnen, Herr Uhlig, Ihre Sachen nach Hause zu bringen. Den Rollator holen wir später.«
»Aber der – der – der Schlüssel! Aber der Schlüssel!«
»Sie haben keinen Schlüssel und brauchen auch keinen. Wir besorgen Werkzeug.«
»Das ist aber unfair«, rief einer der Halbwüchsigen, »wir wollen unseren Spaß!«
»Ihr hattet euren Spaß, jetzt ist es genug.«
Da begriff Uhlig und schnellte mit unvermuteter Kraft hoch. »Aha! Aha, so ist das also, ihr Lausewänster! Ihr Taugenichtse! Ihr habt mir einen boshaften Streich gespielt!«, schrie er. »Das ist ja zum Läuse melken! Ha! Oh, wisst ihr was? Eigentlich verstehe ich Spaß, aber nur, wenn ich selbst mitlachen kann! Jetzt kann ich aber nicht lachen! Macht meinen Wagen los, aber marsch!« Als sie zögerten, stampfte er mit dem Fuß auf und schrie: »Wird's bald?«
Ich rechnete mit Protesten, die jedoch ausblieben. Bernhard Uhlig hatte sich unversehens aus einer Karikatur in eine Autorität verwandelt. Er war sehr zornig, wirkte auf seltsame Weise gestrafft, stand so hochgereckt da, wie seine kleine Gestalt, sein altersschwacher Körper es zuließ. Sein Gesicht glühte, die Augen blitzten, der Haarflaum wölbte sich wie elektrisiert über seinen Kopf. Er hatte sich selbst mitgerissen und flüssig und ohne zu stocken gesprochen; es funktionierte, es machte seine halbwüchsigen Gegner verlegen. Der Junge, der das Ganze verursacht hatte, entfernte verstohlen und kleinlaut das Schloss von Uhligs Rollator.
»Und jetzt verschwindet«, rief der Empörte, »und lasst alte, gebrechliche Leute in Ruhe! Seid froh, dass ihr noch jung seid und Energie und ein gutes Gedächtnis habt!«
Beschämt zerstreuten sich die Gemaßregelten, erst zögernd, dann immer geschwinder; sie waren sichtlich frustriert, aber nur wenige murrten und stöhnten oder drückten ihren Verdruss durch Schulterzucken oder andere Gesten des Unmuts aus. Lediglich einige Kinder tollten noch in der Nähe herum und schnitten Fratzen oder trieben ähnlichen Ulk, bis auch sie nach und nach gelangweilt verschwanden.
Ich hockte mich auf den Boden und packte Uhligs verstreute Dosen, Tüten und Packungen wieder in die Plastikbeutel zurück.
Der alte Mann war immer noch aufgewühlt, allerdings war an die Stelle der Wut hilflose Erregung getreten. »So vergesslich und so – so – äh – begriffsstutzig war ich nicht immer. O nein! Nein, nein, nein! Ich war nicht immer so gebrechlich und schwach und so anders, äh, so – als ob es nichts Vertrautes mehr für mich gibt.« Er hob die Arme in der Geste der Resignation und schüttelte ratlos den Kopf. »Ich hatte ganz und gar den Überblick verloren, war vollkommen irritiert, konnte die Lage nicht einschätzen. Es ist schlimm, wenn man alt und kraftlos und ohnmächtig ist und Situationen nicht – nicht mehr begreift.« Er wirkte auf bemitleidenswerte Weise verletzlich und ausgelaugt, sein Gesicht zuckte, sein Mund bewegte sich mümmelnd und schmatzend.
»Jetzt haben die mich auch noch ins Heim gesteckt, die von den Behörden.« Darauf deutete, wie mir schien, seine ordentliche und saubere Kleidung hin, die sich aus einem braunen Pullover, einer Jeans und einer grauen Latzschürze zusammensetzte.
»Die sagen, ich wäre eine Gefahr für mich und die – und die Allgemeinheit. Nun, kann ja sein, geb' ich ja zu – äh – aber«, er lächelte spitzbübisch, »für heute bin ich denen entwischt, denen vom Heim. Ich habe die Wärter geschmiert. Geld habe ich nämlich wie Heu und noch soviel Grips, dass ich weiß, was man mit Geld anfangen kann, so schlau bin – bin ich schon noch, haha!«
Dann wurde er wieder ernst. »Trotzdem, ich weiß – weiß manchmal nicht mehr, was ich – was ich von der ganzen Welt halten soll.« Er zeigte ringsum auf den Supermarkt, die Häuser, die Stadt. »Ich traue den Menschen – den Menschen nicht mehr«, zischelte er und setzte ein schlaues und zugleich kindliches Lächeln auf. »Man kann leider nicht alle schmieren. Nein, ich traue den Menschen nicht. Sie zu schmieren würde – würde nicht helfen. Und mir selbst – mir selbst traue ich auch nicht – mir selbst auch nicht. Es würde auch nichts helfen, wenn ich – wenn ich mich selbst – mich selbst schmieren würde, ich könnte nicht reicher werden, wenn ich mir mein eigenes Geld schenkte, haha! Aber so seltsam es ist: Ihnen traue ich – irgendwie – Ihnen ja – Sie sind anders. Kommen Sie, ich will Ihnen was zeigen!«
Bevor ich antworten konnte, griff er nach seinem Rollator und zuckelte weiter.
»Sind Sie wirklich sicher, was mich betrifft?«, fragte ich, während ich ihn begleitete. »Ich meine, sind Sie sicher, dass Sie mir trauen können?«
»Lassen Sie – ähm - lassen Sie das getrost meine Sorge sein!«
Sonderbare Gedanken wandelten mich im Hinblick auf Uhlig an. Je winziger er mir nämlich erschien, je deutlicher ihn sein körperlicher und geistiger Verfall von dem blühenden Leben, das ihn vielfältig umgab, abhob, desto stärker spürte ich das Monströse und Rätselhafte, das dennoch auf unerfindliche Weise mit seiner Person verbunden war.
Uhlig galt nicht nur einfach als Witzfigur, er hatte längst den Status einer unfreiwilligen Kultikone des Lächerlichen erreicht. Als er noch nicht im Heim gelebt hatte und überall frei herumlief (was noch gar nicht so lange zurücklag), konnte man ihm auf Schritt und Tritt überall in der Stadt begegnen. Sein bloßes Erscheinen rief schnell diejenigen auf den Plan, die stets bereit sind, sich auf Kosten anderer zu belustigen.
Es war aber auch wirklich urkomisch, ihn trippelnd und wackelnd dahin tappen zu sehen, extrem vorgebeugt, mit schlenkernden, weit nach hinten ausschwingenden Armen, den Kopf, auf dem der Flaum wie eine erlöschende Flamme schwelte, eifrig und emsig einem imaginären Ziel entgegengestreckt. Dabei strahlten die bohrenden Blicke seiner wässerigen Augen, die aus dem teils babyhaft rosigen, teils von Altersflecken übersäten Gesicht funkelten, eine bizarre, wesenlose Besessenheit aus.
Nicht selten sprach er bei derartigen Stadtgängen spontan beliebige Passanten an und schwärmte von seiner stürmischen Jugend, seinen unvergesslichen Erlebnissen mit den schönsten, begehrenswertesten Frauen, oder er brüstete sich seiner grandiosen wissenschaftlichen Leistungen. Dabei konnte es vorkommen, dass er den Faden verlor und sich ausweglos in seinen eigenen Schilderungen verfing. Manchmal fragte er dann die jeweiligen Zuhörer, wovon er denn gerade eben gesprochen habe. Wenn er tatsächlich die erbetene Auskunft erhielt, führte ihn dies in seine bizarren Gedankenlabyrinthe zurück, bis ihm wiederum alles, was er mitteilen wollte, entglitt und er nur noch hilflos zu stammeln vermochte.
Aber nicht nur seine Person und sein extravagantes, grimassierendes Auftreten, nicht nur seine lächerlichen, von unfreiwilligen Verwirrungen durchkreuzten Angebereien waren spektakulär; seine krassen Fehlhandlungen waren es in noch viel größerem Maße.
Ich greife aus einer Reihe von derartigen Vorfällen drei charakteristische Episoden heraus, die sich alle im Supermarkt abspielten und vielfach zuverlässig bezeugt sind:
Einmal war Uhlig nahe daran gewesen, Essigessenz oder Spülmittel zu trinken, weil er, so erklärte er später, plötzlich höllischen Durst hatte, und die »leuchtenden Flaschen«, vor denen er stand, mit Flaschen voller Limonade verwechselte; buchstäblich im letzten Moment, als er gerade den ersten Schluck nehmen wollte, konnte man ihn davon abhalten.
Ein anderes Mal ertappte man ihn dabei, wie er sich das Gesicht mit Schuhcreme vollschmierte, um, wie er sagte, »diese neue Hautcreme« auszuprobieren.
Der spektakulärste Fall jedoch war, als Uhlig seinen Einkaufswagen mit Spielzeug vollgepackt hatte und sich anschickte, ihn an der Kasse vorbeizuschieben, ohne bezahlen zu wollen. Er hole sich nur sein Eigentum, das ihm bei einem Einbruch vor einigen Tagen gestohlen worden sei, zurück. Als man ihn dann mit sanfter, aber bestimmter Gewalt von dem Wagen mit den Spielsachen löste und aus der Kaufhalle drängte, schrie er, das Unternehmen könne mit einer Klage wegen Diebstahl und Hehlerei rechnen.
Natürlich war an der Sache nichts dran. Weder hatte er jemals Spielzeug besessen, zumindest nicht solch modernes, das erst kürzlich hergestellt worden war, noch hatte man zu irgendeiner Zeit bei ihm eingebrochen.
Einige Leute äußerten jedoch die Vermutung, dass Uhlig diese und viele weitere Anfälle seniler Verwirrtheit nur gespielt und sich dabei heimlich ins Fäustchen gelacht habe, denn für ähnliche und noch viel bizarrere Streiche, um die Leute zu foppen und seinen Sinn für Selbstironie zu zeigen, sei er in früheren Jahren bekannt gewesen. Aber wie dem auch sei – ob es die unbewusste und unfreiwillige Schöpferkraft eines zerbrechenden Geistes oder die bewusste, hämische Kreativität eines tückischen Greises war, der gelangweilt und hinterhältig mit seiner Umgebung spielte – die Folge derartiger Handlungen, nämlich die Einweisung ins Heim, blieb für ihn gleich.
Allerdings sagte man Uhlig auch Verfehlungen, wenn nicht Verbrechen nach. Es hieß, er habe früher wirklich wissenschaftlich experimentiert, natürlich erfolglos, und dabei seien einige Leute auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen. Auch hieß es, er habe in jungen Jahren mit einer bildschönen Frau zusammengelebt, die zum Leidwesen vieler Verehrer irgendwann spurlos verschwunden und nie wieder aufgetaucht sei, über deren möglichen Verbleib Uhlig auf die hartnäckigen Fragen interessierter Personen nur ausweichend reagiert hatte. Ob sie gestorben sei (und wenn ja, durch welche Ursache: Krankheit, Unfall oder Mord?) oder ob sie mit ihm gebrochen und ihn verlassen habe, konnte allerdings niemand sagen. Je weniger Informationen es gab, je weniger vor allem Uhlig selbst dazu sagte, um so mehr wurde in dieser Sache gerätselt. Man habe jedoch niemals ernsthafte Ermittlungen durchgeführt, weil es zu keiner Zeit genügend Verdachtsmomente für ein mögliches Verbrechen und damit einen stichhaltigen Grund für eine Anklageerhebung gegeben habe.
Solche und ähnliche Gerüchte kursierten, aber es gab auch eine rührende Legende, die den alten Mann, der sonst als pure Kuriosität galt, zum fühlenden, ja leidenden Menschen machte. Ernstzunehmende Leute wollten gehört haben, Uhlig habe so intensiv um seine Frau getrauert, dass sein Geist lange Jahre umnachtet gewesen und der Verfall seines Körpers rapide beschleunigt worden sei. Er besitze eine unvergleichliche Skulptur seiner Frau, angeblich von ihm selbst geschaffen in einem Anfall genialen Wahnsinns, aufgestellt im würdigsten Raum seines Hauses wie zu fortwährender Verehrung und Anbetung.
Als wir Uhligs hoch ummauertes Anwesen durch eine winzige Seitenpforte betraten, empfing uns als erstes die leuchtende Pracht eines wohl gepflegten Gartens, wo irgendwo im Hintergrund eine gebückte Gestalt arbeitete. Auf einem gewundenen Pfad, an rot und violett blühenden Rosenbüschen und Rhododendrensträuchern vorbei, führte mich Uhlig zu seiner Villa, die sich weiß und sehr mediterran inmitten einer Gruppe uralter Bäume erhob. Er ließ die Veranda mit dem Haupteingang links liegen, bog um die rechte Ecke der Villa und schloss einige Meter weiter eine unscheinbare Nebentür auf. Wir gelangten in einen dämmrigen Korridor, der zu verschiedenen, aufeinanderfolgenden Räumen führte, die ich durch offenstehende Türen hindurch als Wirtschaftsräume identifizierte. Der Alte schob sein Gefährt in einen dieser Räume hinein, wo er die Beutel und Packungen seines Einkaufs in einem Kühlschrank verstaute. Als dies erledigt war, kam er sogleich wieder heraus, winkte mir, ihm weiter zu folgen, öffnete am Ende des Flurs eine letzte Tür und stieg, immer mit mir im Schlepptau, über eine gewundene Treppe in den Keller hinab.
Dieser Keller war weitläufig und labyrinthisch, seine Gewölbe, Wände und Pfeiler, sorgfältig aus Backsteinen gemauert, erwiesen sich als ein Werk soliden Handwerks und inspirierter Architektur, seine Hallen und Säle waren wie eine exotische Industrieanlage mit absonderlicher Technologie angefüllt. Komplizierte Maschinen und Aggregate bildeten einen technischen Organismus, dessen Funktionen und Zwecke mir unbekannt waren. In Nebenräumen, die chemische Laboratorien zu sein schienen, gab es weitere Anlagen, zusammengesetzt aus Rohrleitungen, Kolben und Trichtern, Zylindern und Reagenzgläsern, Ballons und Retorten, aus Brennern, Zentrifugen und sonstigen Apparaturen aus Glas und Metall. Inmitten all dieser Geräte, an Schlüsselpositionen innerhalb der Gesamtmaschinerie, waren Computerterminals mit flimmernden Monitoren aufgestellt, die, wie ich annahm, den Zugang zu einem Großrechner ermöglichten, der die Anlage steuerte.
Wie eine seltsame Symphonie umbrauste uns die Geräuschkulisse dieses Maschinenparks. Ich vernahm vielstimmiges Brummen und Vibrieren, ein untergründiges Rumoren, in dem sich das Dröhnen von Kompressoren, das Zischen von Pumpen und das Fauchen von Gebläsen behauptete. Schwere Düfte, teils aufreizend, teils in diffuser Mischung zwischen bitter und süß changierend, teils widerwärtig betäubend, fluteten durch die Räume, von einer summenden Klimaanlage nicht ganz bewältigt.
Ich hatte Mühe, Uhlig zu folgen, der hurtig und unermüdlich, mit wackelndem, wippendem Gang den Dschungel aus Stahl, Plastik und Glas durchquerte.
Ich blieb stehen. »Das ist ja der helle Wahnsinn!«, rief ich. »Das ist atemberaubend!«
Uhlig, anscheinend erschrocken, machte eine heftige Kehrtwendung und kreischte, die Hand hinter das Ohr gedrückt: »Hä? Ich verstehe Sie nicht! Hä?«
»Ich sagte, das alles ist atemberaubend. Eine regelrechte Fabrik, einfach unglaublich!«
Uhlig zuckte die Schultern. »Fabrik? Hm, hm, Fabrik! Ja, doch, Fabrik! Erstaunlich?« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, das ist noch gar nichts. Allerdings will ich das heute alles abstellen, unter Ihren Augen. Aber vorher zeige – zeige ich Ihnen den Rest. Kommen Sie! Immer ko – kommen Sie!«
Unbeirrt nahm er seine Wanderung wieder auf. Wir durchmaßen weitere Räume, bis wir zu einer Treppe gelangten, die noch weiter in die Tiefe hinab führte. Uhlig ignorierte die Treppe, wandte sich einer seitlich gelegenen, mit Armaturen versehenen Tür zu und drückte auf einen Knopf. Die Tür glitt zur Seite, wir betraten einen chromblitzenden Fahrstuhl, und schon ging es hinab. Nach kurzer Fahrt geleitete mich der eifrige Hausherr erneut durch verwinkelte Flure und Korridore. Als er dann endlich eine letzte Tür aufstieß und mich hindurch winkte, wuchs mein Staunen über sich selbst hinaus.
Die Halle, die wir betraten, war rund, etwa so groß wie das Schiff einer gotischen Kathedrale und schwindelerregend hoch. Sie enthielt kreisförmig angeordnete Maschinen von gigantischen Ausmaßen wie eine Versammlung vorweltlicher Kolosse. Eine Rohrleitung, ganz nahe an der Wand installiert, deren Krümmung sie folgte, umkreiste den Saal mit all seiner Technologie ähnlich einer Spirale aus engen Windungen, die sich allmählich bis zur Decke empor schraubte. Letztere war mit langen, ebenfalls zu einem Kreis arrangierten Zylindern bestückt, die sämtlich wie Kanonenrohre auf den Boden der Halle zielten, wobei sie genau den Mittelpunkt des Kreises, den die Maschinen bildeten, anvisierten.
In diesem Mittelpunkt standen, von mehreren Scheinwerfern dezent beleuchtet, gewaltige, ringförmig angeordnete Käfige, deren verschiedene, großzügig bemessene Abteilungen Kaninchen, Katzen, Ratten und Affen beherbergten. Diese Tiere, ganz offensichtlich Versuchstiere, schienen körperlich wohlauf zu sein, aber sie machten den Eindruck, als seien sie unendlich traurig. Vor allem die Affen, denen ich mehr Vitalität zugetraut hätte, die aber jetzt völlig regungslos dasaßen, schauten mit ihren großen, unergründlichen Augen so melancholisch ins Leere, als wäre ihnen seit langer Zeit klar, dass sie von den Besuchen ihres Herrn, die ihnen dieser offenbar regelmäßig abstattete, nichts zu erwarten hatten; als wüssten sie von einer weit entfernten, besseren, von seinem Zugriff unabhängigen Welt, in der ihnen reichere, ausgelassenere Freuden zugänglich gewesen wären.
Uhlig, der angesichts des monumentalen Raumes, der mächtigen Maschinen und riesigen Käfige insektenhaft winzig wirkte, lief unruhig hin und her, seltsam verkrümmt und hinkend, als drücke ihn die Wucht der Größendimensionen um ihn herum zusammen.
»Was bedeutet das alles, die Tiere und all diese Maschinen?«, fragte ich. »Gehören sie zu einem wissenschaftlichen Experiment?«
Der Alte war jetzt bei den Käfigen angelangt; er stellte sich davor in Positur und begann eine Art Zwiesprache mit den Tieren, wobei er Fratzen schnitt, heftig gestikulierte und ununterbrochen unverständliche Worte flüsterte und zischte. Die Affen, überlegene Weisheit im Blick, schauten ihn an, als erlebten sie diese Art des Verhaltens öfter und hätten bereits seit langem ihre Schlüsse daraus gezogen.
»Bedeutet? Was das bedeutet?« Uhlig ließ von den Tieren ab, eilte zu den Maschinen hinüber und lief an ihnen entlang, blieb aber plötzlich stehen und begann zu zittern, als hätte er Schüttelfrost oder leide unter spastischen Krämpfen. Schließlich kam er zu mir zurück, schaute sich aber immer noch intensiv in der Halle um, voll innerer Erregung, das Gesicht gerötet, die gehetzt blickenden, tränenden Augen von irrem Glanz erfüllt und mit panischen Fragen beladen, als suchte er etwas, das sich dem Zugriff seines Geistes immer wieder entzog.
»Was das bedeutet? – Ha! Ha! – Wenn ich das wüsste! Aber – ich weiß nicht – ich weiß es nicht – ich versuche dahinterzukommen, weiß nicht, wie ich‘s herauskriegen soll – schwer zu verstehen, vielleicht eine Art Versuch?« Er schaute mich erwartungsvoll an, als könnte ich ihm, auf welche unerforschliche Weise auch immer, irgendwie weiterhelfen, »ja, zweifellos ein Versuch – wissenschaftlich – vielleicht sehr wissenschaftlich – ach so, ja«, jetzt nickte er heftig und schrie ganz laut: »Versuchstiere! – Maschinen! – sehr wissenschaftlich!«, ging aber sofort wieder zur normalen Lautstärke über, »Maschinen – meine – meine wichtigsten, größten Maschinen – ja, oh, jetzt hab ich’s: Dort, dort im Kreis, die großen Maschinen, das sind, äh Feldgeneratoren.« Er rannte hin und her und gestikulierte wild und erregt, »dazwischen, die kleineren, die – die erzeugen Schall – Ultra – Infra – Infraschall? – Vieles! – Infra? – Oh – vieles? – oder so ähnlich – dort oben, an der Decke – diese Zylinder – für Strahlung, meine ich jedenfalls …!«
»Und das alles wegen der Tiere dort?«
»Ich denke schon. Soweit ich mich entsinne, doch, doch, jetzt fällt mir noch etwas ein: Ich will heute die ganze Technik abstellen.«
Er zeigte mit kreisendem Arm in den Saal, »alles abstellen, die Sache beenden. Einfach abstellen, ja, ja, ja, alles – alles abstellen! Aber ich glaube, das sagte ich schon. Hatte ich Ihnen das schon gesagt? Oh, ich weiß es nicht mehr!«
»Doch, vor ein paar Minuten sagten Sie es. Es ist auch besser, diese Anlagen stillzulegen, sie verbrauchen bestimmt eine Unmenge an Energie.«
Der Alte kicherte und rieb sich den Kopf. »Die Energie ist umsonst«, versicherte er mir nachdrücklich mit der Miene eines Verschwörers, wobei er ganz nahe an mich herantrat, sich auf die Zehenspitzen stellte, mich an den Schultern packte, zu sich herunterzog und mir ins Ohr flüsterte, »sie stammt aus einer anderen – anderen Dimension – Antimaterie – wird herüber gesaugt – nanogrammweise – in meinem Reaktor zerstrahlt – hat mich reich gemacht – das Kraftwerk auf der anderen Stadtseite – gehört mir – mein Vater hat das alles gebaut.«
Er stieß mir heftig gegen die Brust und ließ die Arme in der Luft kreisen, »mit mir zusammen – bin reich, könnte die ganze Stadt kaufen …« Er lachte keckernd, sein Gesicht verzog sich zur Fratze maßloser Torheit. Dann rieb er sich das Gesicht und schaute grübelnd ins Leere.
»Und wer überwacht das Ganze?«, wollte ich wissen.
»Der Computer! Sehen Sie dort, die – die würfelförmigen Einheiten zwischen den großen Maschinen? Die gibt es hier überall, die waren – entsinnen Sie sich? – auch oben zu sehen. Das sind – das sind die Komponenten des Großrechners.«
»Aber wer kümmert sich um das Ganze, wenn Sie nicht hier sind?«, hakte ich nach. »Wer verwaltet das Grundstück? Wer füttert die Tiere? Wer überwacht den Computer?«
»Ach so, das! Ja, das – das – das macht Joachim, mein Angestellter, der kann das alles, dem vertraue ich blind. Mir bleibt auch gar nichts – gar nichts anderes übrig – ich – ich …«
»