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Der Duke of Aylsham hält es für einen Fehler, sie geküsst zu haben? Verity ist empört. Als ob sie darauf aus wäre, mit einem intoleranten Lord anzubandeln! Sie spürt genau: Eine unabhängige Frau wie sie passt einfach nicht in sein Weltbild. Aber warum zieht der smarte Aristokrat sie dann so leidenschaftlich in seine Arme?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
LOUISE ALLEN
DER DUKE UND DIE SCHÖNE REBELLIN
IMPRESSUM
HISTORICAL erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2019 by Melanie Hilton Originaltitel: „Least Likely to Marry a Duke“ erschienen bei: Harlequin Enterprises, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 81 – 2021 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Mira Bongard
Umschlagsmotive: Harlequin Book S.A.
Veröffentlicht im ePub Format in 06/2025 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751537759
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Jegliche nicht autorisierte Verwendung dieser Publikation zum Training generativer Technologien der künstlichen Intelligenz (KI) ist ausdrücklich verboten. Die Rechte des Autors und des Verlags bleiben davon unberührt. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Great Staning, Dorset, 1. Mai 1814
William Xavier Cosmo de Whitham Calthorpe, 4. Duke of Aylsham – von seinem vor Kurzem verstorbenen Großvater „William“ genannt, von seinen Freunden „Will“ und vom Rest der Welt „Euer Gnaden“ – ging den sanft ansteigenden Hügel hoch. Er schritt die nördliche Grenze seiner Ländereien ab und sah mit Genugtuung, dass alles in schönster Ordnung war.
Zwar beschäftigte ihn noch das Tohuwabohu im Haus, das er hinter sich gelassen hatte, doch darum würde er sich später kümmern, wenn er am Frühstückstisch saß. Man brauchte lediglich Geduld, um seinen sechs Halbgeschwistern ein Mindestmaß an Disziplin beizubringen. Allerdings war in der Tat eine Menge Geduld notwendig.
Nun war er mit dem beschäftigt, was er für die erste Amtshandlung jedes verantwortungsbewussten Landbesitzers am frühen Morgen hielt: Er begutachtete seinen Grund und Boden, um zu prüfen, ob es Probleme gab, um die er sich kümmern musste. Er war jetzt der Duke und kannte seine Pflichten, ganz gleich, ob es um die wilde Horde von Halbgeschwistern ging, die den häuslichen Frieden störte, oder um die zahllosen Ländereien und Pächter, für die er die Verantwortung trug.
Das zwanzig Meilen entfernte Oulton Castle war der eigentliche Familienstammsitz der Aylshams. Obwohl das Gebäude in tadellosem Zustand war und gut verwaltet wurde, hielt er es für eine derartig lebhafte Familie, wie er sie jetzt zu führen hatte, für gänzlich ungeeignet. Das nahe Landgut Stane Hall, das weder über einen tiefen Burggraben noch über eine Sammlung alter Waffen verfügte, dafür aber ein leer stehendes Witwenhaus vorweisen konnte, schien ihm fürs Erste besser und sicherer für die Schar undisziplinierter Geschwister.
Will schob die sorgenvollen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf sein Vorhaben. Er war bereits sieben Tage hier, doch dies war der erste Morgen, an dem er Zeit fand, das Land richtig in Augenschein zu nehmen. Oben auf der Anhöhe musste der nördlichste Teil seines hiesigen Besitzes liegen.
Er zog eine zusammengefaltete Karte aus seiner Tasche, klappte sie auseinander und warf einen prüfenden Blick darauf. Die sechs beulenartigen Erhebungen, die sich vor ihm auf dem Hügel ausbreiteten und wie die halb vergrabenen Perlen einer Kette für Riesinnen aussahen, waren dort schraffiert und mit der Bezeichnung „Historische Hügelgräber (druidisch)“ versehen. Demnach verlief die Grenze am oberen Ende der Gräberkette. Einen Zaun konnte er jedoch nicht erkennen.
Das war nicht gut. Zäune waren für ein ordentlich geführtes Landgut von größter Bedeutung. Da er wollte, dass Stane Hall in einem makellosen Zustand war, musste dieses Manko umgehend behoben werden. Ein Duke gab sich nur mit dem Allerbesten zufrieden und duldeten keine Nachlässigkeit – ganz gleich, ob es um die Bediensteten, die Umgebung oder um ihn selbst ging. Das war die erste Lektion gewesen, die sein Großvater, der 3. Duke of Aylsham, ihm erteilt hatte, nachdem er ihn damals zu sich genommen hatte. Will war dankbar gewesen, dass sein Großvater ihn von dem schrecklich chaotischen Leben erlöst hatte, das er bei seinem Vater, dem immer schon sprunghaften George, Marquess of Bromhill, nach dem Tod seiner Mutter geführt hatte. Der erste Versuch des alten Duke, einen perfekten Erben heranzuziehen, war gescheitert, nachdem sein Sohn George kurz nach dem Tod von Wills Mutter in Liebe zu der bezaubernden Miss Claudia Edwards, einer Schriftstellerin und leidenschaftlichen Erziehungstheoretikerin, entbrannte. Das exzentrische Leben des Paares hatte mit Georges’ tödlichem Sturz von einem Dach geendet. Der Marquess of Bromhill war auf das Dach gestiegen, um seine Theorie, nach der ein Gentleman in der Lage sein sollte, alle Aufgaben selbst auszuführen, die er von anderen verlangte – einschließlich handwerklicher Arbeiten –, in die Praxis umzusetzen.
Obwohl seitdem drei Monate verstrichen waren, ärgerte sich Will noch immer, dass sein Vater versucht hatte, die Dachziegel selbst auszutauschen, anstatt einen gelernten Dachdecker zu beauftragen. Als dem alten Duke daraufhin bewusst geworden war, dass er den Titel nun direkt an seinen Enkel weitergeben konnte, hatte er seinen Kampf gegen die jahrelangen Herzbeschwerden aufgegeben.
Insgeheim machte Will daher seinen Vater für den Verlust seines Großvaters verantwortlich. Nur fünf Wochen hatte Will den Titel des Marquess of Bromhill getragen, bevor er der neue Duke of Aylsham wurde. Und seine Trauer um den Großvater, bei dem er vierzehn Jahre lang gelebt hatte, war noch längst nicht abgeklungen. Ein Duke hatte zwar auf alle gebotenen äußerlichen Anzeichen von Trauer zu achten, sprach aber nicht über seine Einsamkeit und schon gar nicht über die Angst, seiner Rolle nicht gewachsen zu sein. Will fragte sich, ob der alte Duke sich ähnlich gefühlt hatte, als er den Titel geerbt hatte. Selbstverständlich hätte Großvater das niemals zugegeben, dachte er traurig lächelnd.
Will hatte alle Unterweisungen seines Großvaters verinnerlicht und war fest entschlossen, ein ebenso vollkommener Aristokrat zu sein wie der 3. Duke. Mit der richtigen Frau an seiner Seite würde das leichter gelingen, das wusste er. Sein Großvater hatte ihm eingeschärft, auf gar keinen Fall eine ungeeignete Dame zu heiraten. Für Will hatte dieser Grundsatz oberste Priorität, denn das Beispiel seines Vaters war Warnung genug.
Geeignet hieß, dass sie aus den besten Kreisen stammen, hübsch, gebärfreudig und wohlerzogen sein sollte. Eine angenehme Gemütsart, ein angemessenes Bildungsniveau und eine annehmbare Intelligenz waren natürlich ebenfalls wünschenswert. Unkonventionelle Vorstellungen und exzentrisches Verhalten ziemten sich nicht für die Gattin eines Dukes. Da brauchte er nur an seine Stiefmutter zu denken, die ihren Kummer über den Verlust ihres Gatten zwar deutlich zur Schau trug, sich jedoch hartnäckig weigerte, die Trauerbräuche einzuhalten, die ihrem Geschlecht und ihrem Stand angemessen waren.
Will verbot sich, länger über die schwierige Stiefmutter oder seine Erwartungen an seine künftige Gemahlin nachzudenken. Zu seinem Bedauern konnte er in der Trauerzeit, die noch die nächsten vierzig Wochen andauern würde, ohnehin nicht auf Brautschau gehen. Besser er wandte sich wieder dem Thema Grenzzaun zu. Selbstverständlich hätte er seinen Verwalter auf den Rundgang mitnehmen können, doch er wollte sich erst einmal ein eigenes Urteil bilden. Niemand sollte etwas Unzulängliches beschönigen oder versuchen, ihn von Schwachstellen abzulenken.
Während er in diese Gedanken versunken gewesen war, war er am Fuße des größten Hügelgrabs angekommen. Selbstverständlich war er für die Wanderung durch die ländliche Umgebung passend gekleidet. Er trug bequeme feste Stiefel und seine zweitältesten Breeches.
Als er den Kamm des Hügels fast erreicht hatte, drehte er sich um, um in die Richtung zu schauen, aus der er gekommen war. Dabei wäre er beinahe auf der noch vom Tau feuchten Wiese ausgerutscht, fing sich jedoch rechtzeitig. Von hier aus bot sein Anwesen einen schönen Anblick mit dem fernen Glitzern des Sees, einer Gruppe grasender Dammhirsche und dem malerischen Buschwald. Der Duft von Heckenrosen erfüllte die warme Luft und von einem nahen Feld wehte der Geruch eines Dunghaufens zu ihm herüber.
War das Herrenhaus von hier aus zu sehen? Um den Blickwinkel zu verändern, trat er einen Schritt zurück. Der Boden unter seinen Füßen verschwand, Will kippte nach hinten und fiel in einem Schauer aus Erde und Steinen hinab.
Er kam schmerzhaft mit dem Po auf. Dreck und Kieselsteine regneten ihm auf den Kopf, sein Hut rollte über frisch aufgegrabene Erde und landete vor den Knien einer jungen Frau. Sie trug ihr karamellfarbenes Haar zu einem losen Zopf geflochten, starrte ihn aus großen braunen Augen an und umklammerte mit ihren Händen einen menschlichen Schädel. In diesem Moment verspürte er ein reichlich unangenehmes Stechen an der linken Gesäßbacke.
Es gab kaum eine Vorwarnung. Sie bemerkte nur den langen Schatten eines Körpers, der plötzlich auf ihre Ausgrabungsstätte fiel. Verity hastete nach vorn, ergriff den Schädel und wich zurück. Gleich darauf stürzte der Mann in die Grube und blieb ächzend vor ihr liegen. Ein kurzes angelsächsisches Kraftwort war zu vernehmen.
Einen Moment lang verschlug es ihr die Sprache. Der Staub legte sich, und sie sah einen blonden Mann, der mit blauen Augen gegen die Sonne blinzelte. Seine gequälte Miene verriet Schmerz oder Zorn. Wahrscheinlich beides. Er trug teure, aber praktische Kleidung, die reichlich verdreckt war.
Ich weiß, wer er ist. Oh nein!
Seine attraktiven Gesichtszüge waren schmerzverzerrt, und sie erkannte, was der Grund dafür war. Auf der Skala gesellschaftlicher Katastrophen war diese Situation ohne Frage ganz weit oben anzusiedeln.
„Sir, ich fürchte, Sie sitzen auf einem Zahn.“
Nicht gerade die korrekte Form der Anrede, aber da man uns einander nicht vorgestellt hat …
Er kniff die blauen Augen noch etwas mehr zusammen, dann verlagerte er sein Gewicht auf die rechte Seite, griff unter seinen linken Rockschoß und zog einen menschlichen Kieferknochen hervor. „Ein Zahn. Bemerkenswert“, murmelte er. Als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf das, was sie noch immer gegen ihre Brust drückte. „Madam, Sie scheinen einen Schädel in Händen zu halten. Einen menschlichen Schädel?“
„Ja“, bestätigte Verity.
Vermutlich war das Wort „scheinen“ sarkastisch gemeint gewesen. Schließlich konnte man den Schädel schwerlich für etwas anderes halten.
„Ja, in der Tat halte ich einen Schädel in Händen. Ist der Kieferknochen unbeschädigt? Ich meine, haben Sie sich verletzt?“ Es gab einfach keine damenhafte Art, einen Duke zu fragen, ob eine seiner Pobacken durch den spitzen Vorderzahn eines vorzeitlichen Bewohners Britanniens verwundet worden war. Außerdem kam es nicht infrage, ihm den Kieferknochen aus den Händen zu reißen, um nachzusehen, ob daran alles heil geblieben war.
„Ich bin mir sicher, mich nicht ernsthaft verletzt zu haben, Madam. Verzeihen Sie meine Ausdrucksweise von vorhin.“
Es wäre ihr leichter gefallen, mit der Situation umzugehen, wenn er sich seine Wut hätte anmerken oder über seine Schmerzen gestöhnt hätte. So wie er sich verhielt, hätte die Unterhaltung auch ebenso gut im Almack’s, dem berühmten Londoner Club, stattfinden können. Der Duke winkelte seine langen Beine an und machte Anstalten, aufzustehen.
„Nein!“ Sie holte Luft und sprach leise weiter. „Bitte bleiben Sie genau da, wo Sie sind, sonst beschädigen Sie die Ausgrabungen. Lassen Sie mich erst alles sichern.“ Verity legte den Schädel vorsichtig in die mit Heu gepolsterte Kiste, die sie dafür vorbereitet hatte, und streckte ihre rechte Hand aus, um den Kieferknochen in Empfang zu nehmen. Als auch dieser Teil des Fundes in Sicherheit war, hob sie leicht die Röcke an und kletterte aus der Grube.
Der Duke, ganz Gentleman, bemühte sich, den Blick von ihr abzuwenden. Verity wartete, bis er sich mit einer fließenden Bewegung aufgerichtet hatte.
Er ist der jüngste Duke Englands, nicht einmal dreißig Jahre alt. Angeblich soll er keine Laster haben, die diese athletische Figur ruinieren könnten.
Ihr Cousin Roderick hatte ihr über den untadeligen Lord Calthorpe berichtet, der nun der Duke of Aylsham war.
Sie nennen ihn den Lord ohne Fehl und Tadel.
Das hatte Roddy vor etwa achtzehn Monaten in einem seiner seitenlangen Briefe geschrieben, in denen es meist um den neuesten Klatsch und Tratsch ging.
Bekanntermaßen ist sein Vater, der Marquess of Bromhill, ein Exzentriker – um es freundlich auszudrücken – und seine Stiefmutter ein berüchtigter Blaustrumpf. Daher war er vermutlich erleichtert, als sein Großvater ihn vor den beiden rettete und ihn zu sich nahm. Calthorpe war damals noch ein Junge.
Der alte Duke ist der größte Pedant, den man sich vorstellen kann, wenn es um Steifheit, Würde und Strenge geht. Calthorpe scheint diese Haltung in jeder Hinsicht übernommen zu haben. Eines Tages wird er bestimmt der pflichtversessenste Duke im ganzen Königreich! Es ist ihm sogar gelungen, ein Duell auszutragen, ohne dass seine Tadellosigkeit darunter gelitten hat. Eine Dame war beleidigt worden und Calthorpe forderte Genugtuung. Er verzichtete jedoch auf seinen ersten Schuss, um den Konflikt auf diese Weise beizulegen, und schüttelte seinem Gegner die Hand, obgleich dieser auf ihn schoss und ihn nur nicht getroffen hatte. Anschließend schwieg Calthorpe über die ganze Angelegenheit, sodass darüber noch nicht einmal Gerüchte in Umlauf kamen. Das ist schon fast unmenschlich tugendhaft, würde ich sagen.
Verdreckt, aber dennoch mehr als ansehnlich, stand der Duke in voller Größe vor ihr. Offensichtlich hatte er sich nichts gebrochen.
„Sie fragen sich wahrscheinlich, was ich hier mache“, sagte Verity. Die Art, wie er an ihrem einfachen Rock, den alten Schnürstiefeln und der staubigen Tweedweste vorbeiblickte, verriet ihr, dass er erschüttert war, eine Aristokratin in einer solchen Aufmachung zu sehen. Gott allein wusste, wohin ihr Strohhut verschwunden war.
„Ich war überrascht, dass mein druidisches Hügelgrab halbiert wurde, muss ich gestehen“, antwortete er mit der vollkommensten Höflichkeit, doch ohne jedes Lächeln. „Noch mehr überraschte mich, dass es von einer Dame filetiert wurde.“
Verity öffnete den Mund und schloss ihn wieder, selbst überrascht, wie gern sie diesen Mann geschüttelt hätte. Er war, mit Verlaub, ein außergewöhnlich dekoratives Exemplar seines Geschlechts. Trotzdem hätte sie am liebsten einen weiteren Fluch, ein Lächeln oder wenigstens ein Wimpernzucken, mit dem er zugab, beim Herausklettern aus der Grube ihre Figur begutachtet zu haben, aus ihm herausgeschüttelt. Obgleich er sich ihr gegenüber makellos benahm, spürte sie seine tiefe Missbilligung. Gewiss hielt er ihre Betätigung für exzentrisch und ungehörig.
Oh, welch ein Schreck! Ein weibliches Wesen, das einer Tätigkeit nachgeht, bei der Verstand gefragt ist und die Hände dreckig werden! Das, was er unter Zivilisation versteht, neigt sich dadurch wahrscheinlich dem Untergang entgegen.
„Ich widerspreche Ihnen nur ungern, Sir, aber es ist nicht Ihr, sondern unser Hügelgrab. Ich habe meine Ausgrabungen nur auf dieser Seite und mit großer Vorsicht vorgenommen. Auf meiner Seite. Ich glaube auch nicht, dass die Grabstätte das Geringste mit Druiden zu tun hat. Und ganz sicher ‚filetiere‘ ich sie nicht. Dies ist eine wissenschaftliche Ausgrabung, die nach den neuesten Regeln der Altertumsforschung durchgeführt wird. Ich kann Ihnen gern entsprechende Fachbücher zu diesem Thema zur Verfügung stellen, wenn Sie Interesse haben.“ Sie lächelte auf jene gezierte Weise, die sie vor dem Ruhestand ihres Vaters für die Empfänge im bischöflichen Palast einstudiert hatte. Der Duke war ein intelligenter Mann. Da war sie sich sicher. Er würde ein leicht kaschiertes Zähnefletschen bemerken, wenn er eines vor sich hatte.
Der Kontrast zwischen ihren Worten und ihrem Lächeln brachte ihn dazu, die Augen leicht zusammenzukneifen. „Ihre Seite? Dieses Land gehört Ihnen?“
Verity wies auf den schiefen Pfahl auf der Spitze des Hügelgrabs, vier sorgfältig abgemessene Meter vom Rand ihrer Grabungen entfernt. „Das ist alles, was von Ihrem alten Zaun übrig ist.“
Er presste die Lippen aufeinander. Fühlte er sich etwa wegen seines verrotteten Grenzzauns zurechtgewiesen? „Ich fürchte, ich hätte mich Ihnen längst vorstellen müssen.“ Er zog die verdreckten Handschuhe aus, rieb sich mit einem blütenweißen Leinentaschentuch über die Finger und streckte ihr seine rechte Hand entgegen. „Ich bin Aylsham.“
„Das hatte ich mir bereits gedacht, Euer Gnaden.“ Verity wischte sich die Hände an ihrem Rock ab und ergriff seine Hand. „Ich bin Miss Wingate.“ Rasch zog sie die Finger wieder zurück. „Mein Vater ist der Bishop of Elmham – genau genommen, der Bischof im Ruhestand. Der Sitz des derzeitigen Amtsinhabers befindet sich am Rand der Diözese, aber der Old Palace gehört tatsächlich Papa. Er hat ihn der Kirche abgekauft, nachdem er sich von seinem Schlaganfall erholt hatte. Die Kirchenbevollmächtigten hielten das Gebäude für zu altmodisch, doch uns gefällt es.“
Sie redete zu viel. Sich bewusst zu machen, weshalb sie das tat, half ihr auch nicht weiter. Er war ein attraktiver Mann – selbst wenn er ein selbstgerechter Aristokrat war – und sie war im Nachteil. Sie fühlte sich zumindest teilweise verantwortlich für seinen Unfall und war überdies schrecklich gekleidet. Unter diesen misslichen Umständen wusste sie nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte.
„Miss Wingate. Ich hatte vor, mir die Freude zu erlauben, Ihrem Vater morgen einen Besuch abzustatten. Selbstverständlich nur, wenn seine Gesundheit es zulässt.“
Warum bin ich so verärgert? fragte sich Verity, während sie dem Duke erklärte, dass nachmittags die beste Zeit für einen Besuch bei ihrem Vater wäre, und dass ihr Vater natürlich hocherfreut wäre, seine Bekanntschaft zu machen. Weil mir seine Meinung über mich nicht gleichgültig ist. Und das macht mich wütend! Nur weil er breite Schultern, ein markantes Kinn und strahlend blaue Augen hatte und aussah, als ob sein Lächeln umwerfend sein würde – falls er jemals lächelte –, musste sie ihn nicht mit Freundlichkeit überhäufen. Schließlich hatte sie sich vorgenommen, sich nie wieder von einem Mann erniedrigen zu lassen. Es genügte ihr vollkommen, diese Erfahrung einmal gemacht zu haben.
Der Duke blickte sich um. Eine schmale Falte bildete sich zwischen seinen geraden Augenbrauen, die zwei Töne dunkler waren als seine Haare. „Sie sind allein hier, Miss Wingate? Ich sehe nirgends eine Zofe …“
„Der Reitknecht holt mich um acht Uhr ab.“ Sie blickte gen Osten und prüfte den Stand der Sonne. „Es dürfte gleich so weit sein. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden. Ich muss meine Ausgrabung sichern.“ Natürlich war der Schädel das Wichtigste, trotzdem wollte sie nachsehen, ob durch den Sturz des Duke irgendetwas anderes beschädigt worden war.
„Darf ich Ihnen behilflich sein?“
„Nein“, erwiderte sie in scharfem Tonfall. „Ich meine, nein, vielen Dank, Euer Gnaden. Könnten Sie sich bitte einfach nur da drüben hinstellen, an den Rand der Grube? Ja, dort. Perfekt.“
Hör auf! wies sie sich zurecht, während sie eine kleine Schaufel ergriff und die hinuntergerollten Steine und die Erde entfernte. Er ist nur ein gutaussehender Gentleman!
Der Duke war wirklich außergewöhnlich groß und gut gebaut. Irgendetwas musste doch unvollkommen an ihm sein. Abgesehen von seinem Verhalten, natürlich. Wer benötigte schon ein Eishaus, wenn man den Duke of Aylsham zur Hand hatte, der eine ausreichend frostige Unterkühltheit ausstrahlte?
Das Geräusch von Rädern auf dem Kiesweg kündigte die Ankunft von Tom, dem Reitknecht, an. Er hielt mit dem Pferdewagen in sicherer Entfernung zur Ausgrabung, wie es ihm beigebracht worden war, und näherte sich ihnen mit dem Hut in der Hand. „Guten Morgen, Sir. Miss Wingate, sind Sie bereit?“
„Dies ist der Duke of Aylsham, Tom, und, ja, ich bin fertig. Bitte laden Sie die Werkzeuge in den Wagen und dann diese Kiste. Damit müssen Sie besonders vorsichtig umgehen.“
Will beobachtete, wie sich Miss Wingate auf dem Wagen entfernte, hob seinen Hut auf und wischte mit seinem Taschentuch den gröbsten Dreck ab. Sowohl der Hut als auch das Taschentuch schienen ruiniert, aber Notley, sein Kammerdiener, würde gewiss wieder Wunder bewirken – ebenso wie bei den verschrammten Stiefeln, den arg in Mitleidenschaft gezogenen Handschuhen und dem gänzlich verschmutzten Gehrock.
Will umrundete eilig die Ausgrabungsstätte und erreichte das nächste Hügelgrab, das schon zur Gänze auf seiner Seite lag. Aus unerfindlichen Gründen wollte er wieder eigenen Boden unter den Füßen spüren, bevor er über den kleinen Zwischenfall nachdachte.
Was für ein unmöglicher Blaustrumpf diese Miss Wingate war – ganz und gar nicht so, wie man sich die Tochter eines hohen Geistlichen vorstellte! Mit raschem Schritten näherte er sich dem Pfad hinter der Hecke, der auf direktem Wege zum Herrenhaus führte. Wie eine Arbeiterin gekleidet, ohne Hut und Handschuhe! Das Haar halb gelöst, grub sie auf Händen und Knien in der Erde herum und hielt einen menschlichen Schädel in Händen, als ob es sich um eine Puddingschüssel handelte. Ungeheuerlich. Und insgeheim hatte sie über ihn gelacht, weil er mit einer Pobacke auf diesem vermaledeiten Kieferknochen mit dem spitz vorstehenden Zahn gelandet war. Dessen war er sich sicher, auch wenn sie keine Miene verzogen hatte. Das hämische Funkeln ihrer Augen war ihm nicht entgangen. Ziemlich schöne braune Augen …
Der arme Bischof muss in der Tat sehr krank sein, wenn er seiner Tochter ein solches Treiben erlaubt, mutmaßte Will, während er dem Pfad folgte. Eine solche Beschäftigung ziemte sich einfach nicht für eine adlige Dame. Selbst seine Stiefmutter ging nicht so weit, in der Erde nach alten Knochen zu buddeln. Bedauerlicherweise konnte er seine Halbgeschwister nicht davor bewahren, die Bekanntschaft von Miss Wingate zu machen, obwohl dies sicher nicht zur Verbesserung ihrer Manieren beitrug. Trotzdem ließ es sich nicht vermeiden, denn schließlich waren sie jetzt Nachbarn, und einen Bischof durfte er auf gar keinen Fall brüskieren.
Wie alt war sie? Vielleicht dreiundzwanzig oder vierundzwanzig. Diese dunklen Augen, dieses Haar, das die Farbe von goldenem Karamell hatte, diese anmutigen Kurven … Letzteres war nicht zu übersehen gewesen, als sie aus der Grube geklettert war … Ihr Schuhwerk hätte eher zu einem Gärtnergehilfen gepasst, doch die Knöchel, auf die er einen kurzen Blick erhascht hatte, waren schlank und wohlgeformt.
Hör auf, Will! ermahnte ihn sein Gewissen, als er über einen Zauntritt stieg. Sie zur Nachbarin zu haben wird sicherlich nur Peinlichkeiten verursachen, Du solltest im Moment ohnehin nicht über Frauen nachdenken. Weitere vierzig Wochen lang nicht.
Diese Trauerzeit erschien ihm verflucht lästig. Aber selbstverständlich gehörte es sich so. Und der Verlust seines Großvaters bereitete ihm wahrhaftig einen tiefen Schmerz. Nichtsdestotrotz benötigte er dringend Hilfe mit seiner Horde von Halbgeschwistern und eine Gemahlin wäre dafür optimal. Eine Frau mit unerschütterlichem Pflichtbewusstsein und Nerven aus Stahl, ergänzte er im Geiste die Liste der erforderlichen Eigenschaften. Allerdings würde sich keine Lady, die sich als Gattin eines Duke eignete, über die Konventionen hinwegsetzen und sich umwerben und heiraten lassen, bevor die Trauerzeit von einem Jahr vorbei war.
Nun hatte er schon die halbe Strecke zum Herrenhaus zurückgelegt und wegen der Begegnung mit Miss Wingate ganz vergessen, sich die notwendigen Verbesserungsmaßnahmen zu notieren, die ihm bei der Begutachtung des Landes aufgefallen waren. Will stieg über den nächsten Zauntritt, setzte sich auf der anderen Seite auf die Stufe und zog sein Notizbuch heraus.
Verstopfter Wassergraben am Fluss zur Westseite des Sees, Grenzzaun bei den Hügelgräbern …
Ein warmer spöttischer Blick aus braunen Augen … Dieses verfluchte Mädchen hatte den ganzen Vorfall amüsant gefunden.
„Guten Morgen, Papa. Guten Morgen, Mr. Hoskins, Larling.“ Verity warf einen kurzen, doch zufriedenen Blick in den langen Spiegel, als sie um Punkt halb zehn das Schlafzimmer ihres Vaters betrat. Sie hatte gebadet, sich umgezogen, gefrühstückt und die Ereignisse des frühen Morgens im Kopf zu einer stimmigen Erzählung zusammengefasst. Jetzt sah sie wie der Inbegriff der Tochter eines ranghohen Kirchenmannes aus, bereit, ihrem Vater Gesellschaft zu leisten, während er sein Frühstück einnahm.
Der alte Bischof lächelte sein schiefes Lächeln, Reverend Hoskins sprang auf und murmelte eine Erwiderung auf ihre Begrüßung. Larling, der Diener, stellte das Tablett mit dem Frühstück auf dem Nachtschrank ab.
Als Folge eines schweren Schlaganfalls war ihr Vater wackelig auf den Beinen, ermüdete rasch und konnte nicht mehr verständlich sprechen. Glücklicherweise waren sein scharfer Verstand und sein beachtliches Gedächtnis nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. James Wingate war noch immer ein herausragender Gelehrter, der bedeutsame Werke über die frühe englische Kirchengeschichte verfasst hatte und seine Arbeit mit der Hilfe seines Hausgeistlichen und Sekretärs, Christopher Hoskins, fortsetzte.
Geduldiges Ausprobieren von unterschiedlichen Alltagsabläufen hatte dabei geholfen, im Haushalt eine strikte Routine zu etablieren. Verity stand im Morgengrauen auf, trank eine Tasse Kaffee, steckte einen Apfel ein und begab sich für zwei Stunden zu ihrer Ausgrabung. Dann kehrte sie zurück, um zu baden und zu frühstücken. Um neun Uhr dreißig nahm ihr Vater sein Frühstück im Bett ein, während sie ihn mit den neuesten Funden bei der Ausgrabung und den Plänen für den Tag unterhielt.
Sobald der Bischof aufgestanden und angekleidet war, zog er sich mit Hoskins in das Studierzimmer zurück, wo die beiden bis zum Lunch um zwölf Uhr dreißig arbeiteten. Dabei verständigten sie sich in ihrer eigenen Zeichensprache. Anschließend pflegte Veritys Vater sich für zwei Stunden hinzulegen und nahm danach entweder bis fünf Uhr seine Studien wieder auf oder empfing Besucher.
Dadurch standen Verity die Nachmittage zur freien Verfügung, vorausgesetzt, dass niemand zu Besuch kam und sie alle Erfordernisse des Haushalts bereits am Vormittag geregelt hatte. Dem drohenden morgigen Besuch des Duke sah sie mit größtmöglicher Gelassenheit entgegen.
Ihr Vater hatte seinen Brei aufgegessen und hob eine Braue – das Zeichen für sie, ihm von den Grabungsergebnissen zu berichten.
„Es ist mir gelungen, einen Schädel mit Kieferknochen zu bergen, Papa. Ich habe keine Anzeichen für Grabbeigaben gefunden. Der Rest des Skeletts befindet sich vermutlich in dem anderen Teil des Hügels. Ich werde den Fund reinigen, alles ordnungsgemäß vermessen und dokumentieren. Anschließend kann ich die Knochen wieder begraben und die Hügelhälfte auffüllen lassen. Du erinnerst dich sicher, dass ich bereits genaue Zeichnungen von allem angefertigt habe, was vom Inneren des Grabes zu erkennen war.“
Er nickte, lächelte zustimmend und ermutigte sie, mit ihrem Bericht fortzufahren.
Nur, dass es von der Ausgrabung leider nicht mehr zu erzählen gibt. „Der Duke ist da draußen spazieren gegangen und … äh … ist auf einen Sprung vorbeigekommen, um zu sehen, was ich mache.“
„Der Duke of Aylsham?“, fragte Mr. Hoskins, als ob es in der Nachbarschaft von Dukes nur so wimmelte.
„Ja. Er war sehr höflich und verlieh seinem Wunsch Ausdruck, dir morgen einen Besuch abzustatten, Papa. Ich habe ihm versichert, dass wir uns sehr freuen würden, ihn zu empfangen.“
Der Vater formte die Finger in der hektischen Abfolge zu Zeichen, die nur sein Sekretär in dieser Geschwindigkeit entziffern konnte. „Scheint er intellektuell veranlagt zu sein?“, übersetzte Mr. Hoskins die Frage.
„Ich fürchte, das kann ich dir nicht beantworten, Papa. Er wirkte auf mich durchaus klug, aber ob er intellektuelle Neigungen hat, ließ sich so schnell nicht ergründen. Auf jeden Fall scheint er keine Ahnung von Altertumsforschung zu haben.“ Und ganz sicher glaubt er, dass Frauen ihr Gehirn besser nicht benutzen sollten.
„Ich freue mich sehr darauf, ihn kennenzulernen. Sein Großvater war ein gewissenhafter und mächtiger Mann – ich habe große Erwartungen an unseren neuen Nachbarn“, fasste Mr. Hoskins die Handbewegungen ihres Vaters in Worte.
Verity unterdrückte ein Seufzen. Die Abwechslung, die der Besuch bedeutete, würde ihrem Vater guttun. Dass der Haushalt des Duke sich jetzt in Stane Hall niedergelassen hatte, war hervorragend für die örtliche Wirtschaft, und sie durfte nicht selbstsüchtig sein. Was spielte es für eine Rolle, dass der Duke sie für einen exzentrischen Blaustrumpf hielt und sie gewiss für die Zahnabdrücke an seinem Po verantwortlich machte? Seine Meinung über sie konnte ihr vollkommen gleichgültig sein. Sie hatte wichtigere Dinge im Kopf, als an frostige blaue Augen zu denken.
Das Treiben im Frühstückszimmer erinnerte an das Geflatter in einer Vogelvoliere, bei der man alle Türen auf einmal geöffnet hatte. Will schritt an das Kopfende des Tisches und nickte Peplow, dem Butler, zu, der den schweren, mit Schnitzereien verzierten Stuhl für ihn vorrückte und betont geräuschvoll auf dem Boden absetzte.
Das dumpfe Geräusch erregte die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden. Schweigen breitete sich aus. Sechs Köpfe drehten sich in Wills Richtung, während die vier Lakaien ungerührt auf die gegenüberliegende Wand starrten.
„Guten Morgen, Althea, Araminta, Alicia. Guten Morgen, Basil, Bertrand, Benjamin. Gentlemen, eure Schwestern warten darauf, dass ihr ihnen behilflich seid, am Tisch Platz zu nehmen.“ Er selbst blieb stehen, solang seine Halbbrüder die Stühle vorrückten und seine Halbschwestern sich mit unterschiedlich ausgeprägter Eleganz hinsetzten. Dann nahm auch Will Platz und nickte den Jungen zu, die sich daraufhin auf ihre Stühle drängten. „Basil, ich glaube, du bist an der Reihe, das Tischgebet zu sprechen.“
Basil, vierzehn Jahre alt und wahrscheinlich der ungläubigste Junge unter der Sonne, erhob sich ungelenk und blickte sich hilfesuchend um. „Äh … danke, Gott, dass es heute Fisch und Eier zum Frühstück gibt. Amen.“ Er setzte sich wieder hin und grinste erleichtert.
Will fragte sich, ob er dankbar sein sollte, dass sich der Dank an Gott und nicht an den Beelzebub gerichtet hatte. Mit einem Nicken wies er den Butler an, die Speisen zu servieren. Rasch hatte er erkannt, dass ein Frühstücksbuffet, an dem sich jeder selbst bediente, ein heilloses Chaos hervorrief.
„Jungen, Servietten! Benjamin, reich deiner Schwester die Butter. Sie sollte dich nicht zweimal darum bitten müssen. Althea, Araminta, Basil, morgen Nachmittag werdet ihr mich begleiten. Wir statten unserem Nachbarn, Bishop of Elmham, einen Besuch ab.“
„Ein Bischof?“ Althea runzelte ihre überaus hübsche Nase. „Das klingt langweilig.“
„Bischof Wingate befindet sich wegen seiner schlechten Gesundheit im Ruhestand. Doch er ist ein angesehener Gelehrter und, das muss ich wohl nicht eigens betonen, es würde auch keine Rolle spielen, wenn er sterbenslangweilig wäre. Auch dann wäre es unsere Pflicht, ihm als unserem Nachbarn einen Besuch abzustatten. Übrigens redet ihr den Bischof mit ‚Exzellenz‘ an.“
Der weitere Verlauf der Mahlzeit glich einem Hindernislauf über die Hürden der Etikette, begleitet von Wills Belehrungen über die zwingende Notwendigkeit, Dinge, die einem keine Freude bereiten, aus Pflicht zu tun. Er sparte ebenso nicht an Erläuterungen zu Privilegien und Verantwortlichkeiten, die sich aus dem gesellschaftlichen Rang ergeben. Den Höhepunkt bildete die Entdeckung, dass Basil eine Maus in der Hosentasche versteckt hatte.
Als die Maus wieder eingefangen und fortgebracht war und die Schreie und das Durcheinander langsam abklangen, überlegte Will, ob er noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr ein Magengeschwür bekommen würde. Schließlich rüstete er sich innerlich für die Schrecken, die das tägliche Gespräch mit dem Hauslehrer und der Gouvernante offenbaren würde.
Es war nicht zu erwarten, dass ein paar Wochen ausreichten, um den Schaden zu beheben, den die zügellose Kindheit bei seinen Halbgeschwistern angerichtet hatte. Die einzige Regel, die ihre vernarrten und verblendeten Eltern ihnen auferlegt hatten, war, genau das zu tun, was man gerade wollte – und zwar ohne innezuhalten und kurz darüber nachzudenken. Auf diese Weise, so die Überzeugung seiner Stiefmutter, würde sich der natürliche Genius jedes Kindes auf die schönste Weise entfalten wie die Blütenblätter einer Blume. Ohne jeden Zwang würden sie lernen, was sie brauchten, sobald sie selbst die Notwendigkeit dafür verspürten.
Wenigstens sind sie keine Analphabeten, tröstete sich Will, während er ein Spiegelei mit Schinken aß. Der Wunsch, für Kinder vollkommen ungeeignete Bücher zu lesen, hatte alle sechs dazu getrieben, die Buchstaben zu erlernen. Und dann, als sie eigene Geschichten erfinden und festhalten wollten, hatten sie auch das Schreiben gelernt. Mathematik hingegen war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Die grundlegenden Anstands- und Benimmregeln waren ihnen vollkommen fremd, und es war seine leidvolle Aufgabe, sie ihnen näherzubringen.
Ich brauche eine Gemahlin, dachte er erneut.
Den Jungen konnte er beibringen, sich wie Gentlemen zu verhalten, aber seine Schwestern benötigten mehr als eine Gouvernante. Natürlich hatten sie ihre Mutter. Lady Bromhill lebte im Witwenhaus, schrieb zweifelsfrei gerade ein weiteres Traktat über die natürliche Erziehung von Kindern und hielt jedem, der sich ihr näherte, ausführliche Vorträge über die Widerrechtlichkeit, Frauen vorzuschreiben, wie sie zu trauern hatten. Sie trauerte tief und aufrichtig, das stellte Will nicht in Abrede, doch die Art, wie sie ihrem Schmerz Ausdruck verlieh, war unmöglich. Er lebte täglich in der Furcht, sie würde in aller Öffentlichkeit ihre Kleidung zerreißen, mit den Fäusten gegen ihren nackten Busen trommeln und Wehklagen auf Altgriechisch ausstoßen.
Unglücklicherweise würden seine Geschwister morgen, wenn sie den Bischof besuchten, eine weitere Frau kennenlernen, die nichts von Konventionen hielt. Er straffte die Schultern. Sein Großvater hatte ihm mehr als deutlich gezeigt, dass es kein leichtes Unterfangen war, ein Duke zu sein, aber irgendwie hatte Will nicht damit gerechnet, dass die Erziehung einer zügellosen Kinderschar zu seinen Aufgaben gehören würde. Zum tausendsten Mal rief er sich in Erinnerung, dass sie erst kürzlich ihren Vater verloren hatten und dass ihr Leben ebenso wie seines auf den Kopf gestellt worden war. Er musste bei seinen Forderungen nach Disziplin mehr Nachsicht walten lassen.
Angesichts der Tatsache, dass sie einen pedantischen Duke als Gast erwarteten, begutachtete Verity das sonnendurchflutete Zimmer im hinteren Teil des Hauses mit verhaltener Zufriedenheit. Das chinesische Gesellschaftszimmer war der kleinere der beiden Empfangsräume, doch da es direkt neben der Bibliothek lag, war es für ihren Vater so am bequemsten. Man hatte ihm in den hohen, mit Leder bezogenen Lehnstuhl geholfen, und nun kommentierte er mit entschiedenen Gesten einen Artikel über das House of Lords, den Mr. Hoskins ihm gerade aus der Zeitung vorgelesen hatte. In diesem Moment betrat Bosham, der Butler, das Zimmer. „Ihre Gnaden der Duke of Aylsham, Lady Althea Calthorpe, Lady Araminta Calthorpe, Lord Basil Calthorpe, Exzellenz.“
Verity, die nur mit dem Duke und nicht mit den jüngeren Gästen gerechnet hatte, warf Bosham einen vielsagenden Blick zu. Der Butler nickte und verschwand – hoffentlich, um der Köchin zu sagen, dass mehr Tee und Kuchen benötigt wurde.
Mr. Hoskins übernahm stellvertretend für den Bischof das Vorstellen.
Der Duke blinzelte und starrte Verity – offenbar überrascht von ihrem veränderten Erscheinungsbild – kurz an, bevor er sich wieder fasste. Sie zwang sich zu lächeln und sah etwas wie Anerkennung in seinen blauen Augen aufblitzen.
Ich bin noch dieselbe Frau, von der Sie gestern so schockiert waren, dachte sie verärgert. Ich trage ein bescheidenes, aber hübsches Kleid. Mein Haar ist ordentlich frisiert, und die Spur von Sonnenbrand auf meiner Nase habe ich mit Puder übertüncht. So gefalle ich Ihnen also, nicht wahr? Aber ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten, Euer Gnaden!
Er gab ihr einen Handkuss und begrüßte ihren Vater.
Mr. Hoskins verbeugte sich. „Ihre Exzellenz heißt Sie herzlich im Old Palace willkommen, Euer Gnaden. Ich bin Christopher Hoskins, der Hausgeistliche und Sekretär des Bischofs.“
Verity gefiel es, dass der Duke nicht zu hochmütig war, um auch Hoskins die Hand zu geben. Der hohe Gast drehte sich um und winkte die Kinder heran. „Exzellenz, Miss Wingate, Reverend Hoskins, darf ich Ihnen einen meiner Brüder und zwei meiner Schwestern vorstellen? Meine drei jüngeren Geschwister sind zu Hause geblieben.“
Eine hübsche Familie, dachte Verity. Allerdings wirkte das Verhalten der Kinder seltsam geziert, als ob es erst kurz zuvor eingeübt worden wäre. Fürchteten sie sich vor ihrem ältesten Bruder? Sie hatte den unangenehmen Verdacht, dass genau dies der Fall war. Wahrscheinlich musste er sie noch nicht einmal körperlich züchtigen. Ein strenger Blick aus diesen kalten blauen Augen wird bei einem empfindsamen Kind schon genügen.
Der Duke nahm neben Veritys Vater Platz, und sie versammelte die jungen Calthorpes zu beiden Seiten neben sich um den Teetisch. Die Kinder blickten ebenso unsicher wie neugierig umher. „Gleich gibt es ein paar Erfrischungen und Kuchen“, sagte sie und lächelte. „Und jetzt erzählt mir etwas über euch. Ihr habt also noch weitere Geschwister?“
Althea, die Älteste, antwortete: „Oh ja, wir sind zu sechst. Ich bin sechzehn, Araminta und Basil hier sind Zwillinge und vierzehn Jahre alt. Und dann ist da Alicia, die dreizehn ist. Bertrand ist zehn und Benjamin ist erst neun Jahre alt.“
„Und ihr wohnt bei eurem ältesten Bruder und eurer Mama? Ich würde eure Mutter gern kennenlernen, doch ich nehme an, ihr ist derzeit nicht nach Besuchen zumute. Es hat mir so leid getan, von eurem armen Vater zu hören, und natürlich auch vom Tod eures Großvaters.“
„Den alten Duke haben wir nicht gekannt. Er und Mama und Papa sind nicht gut miteinander ausgekommen“, vertraute ihr Basil an. „Jetzt leben wir bei William. Mama wohnt im Witwenhaus, weil William unser Vormund ist und behauptet, wir wären kleine Wilde und müssten zivilisiert werden. Unsere Mama meint, die Zivilisation hemme unseren natürlichen Erfindungsreichtum. Wir vermissen Papa; und Mama ist sehr traurig, aber Will ist das gleichgültig. Er lässt uns die blödesten Dinge lernen wie Mathematik und Latein. Und wir müssen uns benehmen. Immer“, ergänzte er finster.
„Wir müssen lernen, uns gerade zu halten und zu nähen“, fügte Araminta seufzend hinzu. „Die Mädchen, meine ich. Die Jungen müssen nicht nähen oder Bücher auf dem Kopf balancieren.“
Übertrieben tyrannisch klang das nicht – es entsprach der üblichen aristokratischen Erziehung. „Mathematik ist sehr nützlich“, wandte Verity beschwichtigend ein. „Sie wird euch zum Beispiel dabei helfen, vernünftig mit eurem Geld umzugehen und bei Geschäften nicht betrogen zu werden.“