Skandal um eine Lady - Louise Allen - E-Book

Skandal um eine Lady E-Book

Louise Allen

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Beschreibung

Ganz London tuschelt über die schamlose Lady Laura. Doch hinter der koketten Fassade verbirgt sich ein trauriges Schicksal - sie hat ihre Tochter verloren. Da erhält sie eine freudige Nachricht: Die Kleine lebt, in der Obhut des mächtigen Earl of Wykeham. Um sie zurückzugewinnen, muss Laura ihn verführen … zu einer Heirat!

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Seitenzahl: 305

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IMPRESSUM

Skandal um eine Lady erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2014 by Melanie Hilton Originaltitel: „Scandal’s Virgin“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL SAISONBand 29 - 2015 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Birgitt Grollier

Umschlagsmotive: GettyImages_Margaryta Basarab

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2020 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733717308

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

April 1816 – Im Park von Westerwood Manor, Hertfordshire

Still halten! Nicht wackeln! Der kreisrunde Bildausschnitt schwankte, glitt dann über einen makellosen Rasen, Beete mit Narzissen und Tulpen, bis plötzlich ein Motiv von hellblauer Baumwolle im Fokus auftauchte … Da!

Die Beobachterin stieß mit der Hand so hart gegen einen Ast, dass dessen raue Rinde die Haut über ihren Fingerknöcheln aufriss.

Ja. Glänzende, goldbraune Ringellöckchen, ein keckes kleines Kinn, dichte, fein gewölbte Brauen und die Augen waren sicherlich hellgrün. Wunderschön. Sie ist so wunderschön!

Das kleine Mädchen strahlte, wandte sich um und rannte lachend los. Das Fernrohr verfolgte diese Bewegung und heftete sich an das Gesicht eines Mannes mit kastanienbraunem Haar, ausgeprägtem Kinn, geschwungenen Brauen und einem sinnlichen Mund, auf dem sich ebenfalls ein vergnügtes Lachen zeigte.

„Papa! Papa!“ Die Stimme des Kindes klang durch die stille, laue Luft. Der Mann beugte sich herunter, hob es schwungvoll auf den Arm und trug es zum Herrenhaus. Das kleine Mädchen klammerte sich wie ein Äffchen an ihn und schmiegte das Gesicht an seine Schulter. Eine leichte Brise trug ihr glückliches Lachen bis an den Waldrand.

Dumpf fiel das Fernrohr auf die dicke Schicht rotbrauner Buchenblätter. Die Frau, die es gehalten hatte, glitt am Baumstamm herunter. Schluchzend kauerte sie auf dem Waldboden und ließ den Tränen, die sie seit mehr als sechs Jahren zurückgehalten hatte, freien Lauf.

„Sie haben sie also gesehen.“

„Wie kommst du darauf?“ Laura Campion ließ die Tür hinter sich zufallen.

„Schauen Sie sich nur an. Völlig verheult. Sie konnten Ihre Tränen noch nie gut verstecken, Myla …, Madam.“

Wie so oft zeigte Mab wenig Feingefühl. Der Flickkorb aus Weidengeflecht schnarrte über das Holz, als das Dienstmädchen ihn beiseiteschob. Ihre Absätze klapperten laut auf dem Steinfußboden und die Kette des Kessels rasselte, als sie ihn über der Feuerstelle absenkte. Geräusche, so durchdringend wie Fingernägel, die über eine Schiefertafel kratzen. Doch ihre Worte beruhigten Laura mehr als überschwängliches Mitgefühl, denn Mab kannte sie viel zu gut.

„Ja, ich habe sie gesehen. Sie ist vollkommen.“ Laura zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Sie streifte ihre schmutzigen Stiefel ab, die eine Spur von Laub und Erde auf dem Boden hinterlassen hatten, und warf sie achtlos beiseite. „Sie sieht aus wie Piers. Sie sieht aus wie er.“

„Das sagten Sie gerade.“ Mab goss etwas heißes Wasser in die Teekanne und schwenkte sie.

„Nein, ich meine, sie sieht aus wie der Earl of Wykeham, Piers’ Cousin Avery.“ Laura presste die Lippen zusammen, ihr Blick glitt durch die Küche des kleinen gemieteten Hauses, in dem sie erst zwei Tage wohnte, und rang nach Fassung. „Sie nennt ihn Papa.“

„Aye. Nun, das erzählt er ja überall.“ Mab Douglas tauchte einen Löffel in die Teedose. „Ich brauchte im Laden nur zu fragen, wer in dem Herrenhaus wohnt, und schon fingen alle an zu tratschen. Wie seine Lordschaft vor erst einem Monat aus der Fremde mit einem unehelichen Kind und ohne Frau herkam, und dass er sich nicht einmal dafür schämt.“

„Aus der Fremde!“ Laura zog an den Bändern ihrer Haube. Das ich nicht lache. „Er hat sie aus Derbyshire mitgenommen, obwohl dies für die Menschen hier sicherlich fremd genug ist.“

„Davon wird hier niemand wissen, schließlich ist das schon sechs Jahren her, und er muss sie sofort mit ins Ausland genommen haben. Wie erzählt wird, nahm er an diesem Kongress in Wien teil und blieb dort, um irgendwelchen politischen Unsinn über die Zukunft der Niederlande zu verhandeln. Außerdem ist Mr Piers gestorben und Lord Wykeham ist nun Familienoberhaupt. Im Dorf erzählt man, dass er für das Anwesen Geld aufwendet.“ Kochendes Wasser ergoss sich auf die Teeblätter. „Vielleicht fühlt er sich für Mr Piers’ Kind und sein Anwesen gleichermaßen verantwortlich.“ Mit ihrem unerträglichen gesunden Menschenverstand übernahm Mab geradezu die Rolle von Wykehams Anwalt.

„Das würde zutreffen, wenn das Kind keine Mutter hätte.“ Laura spielte mit den Bändern ihrer Haube. „Aber sie hat eine.“ Mich.

„Aye, und genau da ist der Haken.“ Mab goss zwei Tassen Tee ein und trug sie zum Tisch. „Sie trinken das aus, sofort.“ Dann setzte sich die schmächtige, aber sehr resolute Frau zu Laura und sah sie kopfschüttelnd an. Das konnte sie sich erlaubten, denn sie umsorgte Laura schon, seit diese zehn Jahre alt war. „Er weiß, dass Sie die Mutter des Kindes sind, aber er glaubt, Sie wollen es nicht haben. Er weiß nicht, dass Sie es für tot hielten. Die Frage ist, was wollen Sie tun, nun, da Sie die Kleine gefunden haben?“

„Er hat mich nie kennengelernt.“ Sie hatte den ersten Schrecken überwunden und es war Zeit, alles in Ruhe zu überdenken. Laura strich mit den Händen über den schlichten Stoff ihrer Röcke. Sie war die schwarzen Kleider so leid, die sie trug, seit ihre Eltern vor fünfzehn Monaten an der Grippe gestorben waren. Gerade hatte sie die Trauerzeit beenden und ihr gesellschaftliches Leben wieder aufnehmen wollen, als diese unerwartete Neuigkeit ihre Welt ins Wanken brachte. Jetzt dienten ihr die Trauergewänder als Tarnung.

„Es gibt keinen Grund, warum er daran zweifeln sollte, dass ich die Person bin, für die ich mich ausgebe – die verwitwete Mrs Caroline Jordan, die sich aufs Land zurückgezogen hat, um neuen Lebensmut zu finden.“

„Und wie werden Sie es anstellen, die Bekanntschaft eines adligen Junggesellen zu machen, der in einem prächtigen Herrenhaus lebt?“ Mab war immer so vernünftig. Laura hingegen wollte nicht vernünftig denken. Sie wollte ein Wunder oder, wenn das nicht möglich wäre, einfach weinen und ihrem Kummer freien Lauf lassen und …

„Was werden Sie tun, wenn es Ihnen tatsächlich gelingt, dort hineinzukommen? Das Kind einfach entführen?“

„Ich weiß es nicht!“ Laura schloss die Augen und holte tief Luft, um sich zu beruhigen. „Es tut mir leid, Mab, ich wollte dich nicht kränken. Dass ich meine Tochter finden musste, war das Einzige, worüber ich mir sofort im Klaren war, als ich diese Briefe fand. Ich wagte gar nicht, weitere Pläne zu schmieden. Und jetzt, da ich sie gefunden habe, weiß ich nicht, wie es weitergehen soll.“

„Er hat sie Alice genannt“, sagte Mab und legte eine Hand auf Lauras eiskalte Finger. „Das haben mir die Leute im Dorf erzählt. Miss Alice Falconer. Das wäre auch ihr Name gewesen, wenn Sie Mr Piers geheiratet hätten, nicht wahr?“

Lauras Kehle war wie zugeschnürt, sie brachte kein Wort hervor. Dann sprudelten die Sätze plötzlich aus ihr heraus.

„Sie ist sechs Jahre alt. Ich hörte sie weinen, ein einziges Mal, ehe man sie mir wegnahm. Gleich darauf sagten sie mir, sie sei tot. Heute hörte ich sie sprechen und du nennst mir ihren Namen, den Namen, den du von Fremden erfuhrst. Ich sollte glücklich sein, denn sie lebt und ist gesund, und doch ist mir, als hätte ich sie noch einmal verloren. Wie konnten sie das tun?“

Wie konnten ihre Eltern – die angesehenen Lord und Lady Hartland – ihr sagen, das Baby wäre gestorben? Wie konnten sie das Kind – ihren Enkel – heimlich weggeben? Zwar waren die Brownes, die das Baby aufnahmen, ehrbare Leute, Pachtbauern auf einem entfernteren Anwesen der Hartlands, dennoch …

„Sie glaubten, es sei das Richtige für Sie“, besänftigte Mab. „Sie waren erst achtzehn Jahre alt. Ihre Eltern wollten, dass Sie zwei Monate später Ihr Debüt geben, ohne dass jemand etwas von dem Kind erfährt.“

„Tatsächlich? Was hätte ich dem netten jungen Mann, auf dessen Heiratsantrag sie hofften, denn sagen sollen? Es tut mir leid, Mylord, aber ich bin keine Jungfrau mehr. Ich habe schon ein Kind zur Welt gebracht. Ich hätte so tun können, als wäre ich noch unberührt – soviel ich weiß, gibt es schäbige Tricks direkt aus dem Freudenhaus – aber glaubten meine Eltern wirklich, ich würde einen Ahnungslosen finden, der die Wahrheit nicht erkennen würde?“ Sie klang zornig und verbittert, das wusste sie, doch es war ihr gleichgültig. Zorn und Verbitterung hatten ihr geholfen, die letzten fünf Jahre der Londoner Ballsaison als die berüchtigtste aller jungen Damen durchzustehen.

Skandalöse Jungfrau, so nannte man sie ironischerweise. Lady Laura Campion, Tochter des Earl of Hartland, hatte den Ruf, überaus kokett und schamlos zu sein. Zur großen Enttäuschung der Herren, die ihr nachstellten, und zum Leidwesen der Matronen, die sich über ihr Verhalten empörten, konnte jedoch niemand behaupten, dass sie jenen verhängnisvollen Schritt in den Ruin getan hatte.

Es stimmte, dass sie bei Bällen Champagner auf der Terrasse trank. Auch ließ sie im Gebüsch versteckt Küsse und Zärtlichkeiten zu, die eine unschuldige Dame nie erlauben sollte. Und es stimmte, dass sie Kleider trug, die eher zu einer lebenslustigen jungen Witwe passten. Sie ritt viel zu waghalsig und tanzte an einem Abend zu oft mit demselben Mann, wenn sie Lust dazu hatte. Trotz aller Wetten auf ihre Jungfräulichkeit, die in den Büchern der Herrenclubs von St. James’s verzeichnet waren, konnte aber kein Gentleman damit prahlen, dass sie sich ihm hingegeben hätte. Nie war sie bei mehr ertappt worden als beim Küssen hinter Rosenhecken.

Jede andere junge Dame, die nach fünf Saisons noch nicht verheiratet war, würde als Mauerblümchen, das seine beste Zeit hinter sich hatte, bemitleidet werden. Aber für Laura galt dies nicht. Niemand konnte bestreiten, dass sie wunderschön war, amüsant und geistreich und ihren Freunden treu zur Seite stand. Außerdem war sie die Tochter eines der wohlhabendsten und einflussreichsten Peers des Landes. So setzte sie als Skandalöse Jungfrau scheinbar rücksichtslos ihren Weg durch den Trubel der Londoner Gesellschaft fort, ohne ihrem Spottnamen oder den missbilligenden Blicken Beachtung zu schenken. Niemand ahnte, dass ihr Herz am Tod des Geliebten und dem Verlust ihres Kindes zerbrochen war.

„Wenn ein Mann Sie wirklich liebt, ist es ihm vermutlich egal“, bemerkte Mab vorsichtig.

Laura schnaubte verächtlich. Das hatte sie auch einmal gehofft, dann aber schnell erkannt, wie heuchlerisch die Herren waren. Keinem Verehrer wäre dies egal – selbst wenn er sie scheinbar innig liebte.

Im Januar 1815, gerade als sie sich wieder einmal in die Vorbereitungen für eine neue Ballsaison stürzte, um ihre innere Leere zu vergessen, erlagen ihre Eltern der Grippe. Völlig unerwartet kam die Krankheit über sie und schon zehn Tage nach den ersten Fieberanzeichen waren beide nicht mehr am Leben. In schwarze Schleier gehüllt zog sich Laura auf den Familiensitz Hartland Castle zurück. Nur die gelegentlichen Besuche des Anwalts und die Briefe ihres Cousins James, des neuen Earls, unterbrachen ihre Einsamkeit.

James berichtete ihr von seinen Bemühungen, sich aus der Armee freizukaufen und heimzukehren. Er sei dankbar, so schrieb er, dass Cousine Laura sich um die Belange des Schlosses kümmerte, und ermutigte sie, über alle Mittel des Anwesens zu verfügen, die sie zur Gestaltung ihres neuen Heims in Dower House für geeignet hielt.

Schließlich zwang Laura sich dazu, die nötigen Arbeiten in Dower House in Auftrag zu geben, damit sie dort einziehen konnte, wenn James Hartland Castle für sich beanspruchte. Sie schrieb die Stelle einer Gesellschafterin aus, fand keine, die sie mochte, und beschloss, zunächst ohne auszukommen. Mab war die einzige Gesellschaft, die sie brauchte. Ein Jahr nach dem Tod ihrer Eltern machte sie sich schweren Herzens daran, deren persönliche Habe durchzusehen, all die Dinge, die nicht an Hartland Castle gebunden waren.

Während Laura sich in ihren Erinnerungen verloren hatte, war Mab verstummt. Erst jetzt wurde ihr vage bewusst, dass das Dienstmädchen den Tisch abräumte und das Feuer schürte.

„Was denkst du, warum Mama sie behalten hat?“, fragte sie unvermittelt.

„Die Briefe?“ Mab zuckte mit den Schultern. „Niemand rechnet damit, dass er plötzlich sterben und jemand anders seine persönlichen Sachen durchsehen wird. Und letztlich ging es ja um ihr Enkelkind.“

Der Kasten hatte in einer verschlossenen Truhe unter einem Stapel alter Geschäftsbücher, zerknickter Rezepthefte und alter Kleiderrechnungen gelegen. Fast hätte Laura die Anweisung gegeben, alles unsortiert zu verbrennen, als sie ein paar Notenblätter entdeckte und beiseitelegte.

Ihr Vater hatte einmal einem Altertumsforscher erlaubt, einen alten Erdwall auf dem Anwesen auszugraben. An ihn musste Laura denken, während sie die geschichtsträchtigen Papierschichten durchsah, die Notenblätter herausfischte und über ein Rezept lächelte, mit dem man graues Haar färben konnte. Schließlich stieß sie auf den harten, mit Eisen eingefassten Deckel eines kleinen Kastens.

Der Kasten war verschlossen, aber Laura fand den Schlüssel am Gürtelgehänge, das ihre Mutter immer bei sich getragen hatte. Als sich der Deckel ächzend öffnete, offenbarte er ein sorgfältig verschnürtes Bündel Briefe. In der Annahme, dass es sich um alte Liebesbriefe handelte und da sie die Geister einer fremden Romanze abschreckten – sie hatte genug mit den eigenen zu tun – legte sie sie ungelesen zur Seite. Dann fiel ihr die Handschrift ins Auge.

Schmutzigbraune Tinte, eine Schrift, die krakelig und ungeübt aussah, und billiges Papier. Dies konnten keine Briefe der Familie sein. Neugierig nahm Laura sie zur Hand und begann zu lesen. Selbst jetzt, da sie die Wahrheit kannte, lag ihr der Inhalt dieser Seiten schwer auf der Seele. Laura stand auf, ging aus der Küche in den Salon und schritt dort auf dem türkischen Teppich auf und ab, bis ihr Magen sich beruhigte.

Zuerst die freudige Überraschung, dass ihr Kind noch lebte. Dann die monatlichen Briefe, drei an der Zahl, die die Brownes von Derbyshire Dales an Lady Hartland geschickt hatten. Das Kleine gedieh prächtig und das Geld kam an. Die Brownes, die gerade ein Neugeborenes verloren hatten, waren glücklich, ein gesundes Baby als ihr eigenes Kind aufziehen zu dürfen, und dankten seiner Lordschaft für die finanzielle Großzügigkeit. Schließlich, am 15. Mai 1810 kam die Nachricht, dass die Kleine an einem Fieber erkrankt sei, das sich rasch verschlimmerte. Das winzige Wesen schlief in den frühen Morgenstunden friedlich ein, schrieb Mrs Browne. Wir werden ihr ein anständiges Begräbnis auf dem Kirchhof geben.

Erst nach einem Tag und einer schlaflosen Nacht hatte sich Laura davon erholt, dass ihr der kleine Hoffnungsschimmer schon wenige Minuten später wieder genommen worden war. Am folgenden Morgen, noch immer seltsam benommen, gab sie die Anweisung, ihre Koffer zu packen und eine Kutsche bereitzustellen. Wenigstens würde sie ein Grab besuchen können, wenigstens hatte man ihr Kind nicht heimlich in der Familiengruft vergraben, namenlos und dem Vergessen anheimgegeben. Als Mab und sie an dem kleinen Bauernhaus aus grauem Kalkstein eintrafen, stürmte sie direkt hinein und vergaß dabei all die Worte, die sie sich sorgfältig zurechtgelegt hatte.

„Ich bin Lady Laura Campion und kenne die Wahrheit. Wo ist sie?“, hatte sie die magere, verängstigte Frau gefragt, die vor ihr zurückwich, bis sie schließlich auf einem Stuhl zusammenbrach und das Gesicht in ihrer Schürze verbarg.

Ihr Mann trat zwischen Laura und die schluchzende Frau. „Er sagte, niemand würde es je erfahren. Er sagte, er sei ihr Cousin, und es sei richtig, dass er sie zu sich nähme.“

„Was?“ Das ergab keinen Sinn. Sie hatten geschrieben, das Kind sei tot …

„Er sagte, dass es niemand herausfinden würde, wenn wir behaupteten, die Kleine sei gestorben, und dann den Mund hielten.“ Verstört und beschämt schüttelte Browne den Kopf. „Ich wusste, wir hätten es nie tun sollen, aber er bot so viel Geld …“

„Sie ist nicht tot.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Laura starrte den Bauern an und versuchte zu verstehen. Er? Cousin?

„Erzählen Sie mir alles“, brachte sie endlich hervor.

Ein Gentleman, der sich als Lord Wykeham vorstellte, war unangemeldet auf dem Hof erschienen. Er hatte alles gewusst – wer die Mutter des Kindes war, wer dafür bezahlte, dass die Brownes es aufzogen. Er hatte ihnen seine Visitenkarte gezeigt, und das Wappen auf seiner Kutsche überzeugte sie, dass er der Earl war, für den er sich ausgab. In der Kutsche saß eine ehrbare Dame, und er bot ihnen Geld an, mehr, als sie sich je erträumt hatten. Alles, was sie tun mussten, war, Lord Hartland zu schreiben, dass das Kind verstorben sei.

„Babys sterben ständig“, flüsterte Mrs Browne, als sie langsam die Schürze von ihrem Gesicht nahm. „Unsere starben alle. Es brach mir das Herz …“ Sie wischte sich über die Augen. „Ich hatte noch Milch, wissen Sie. Ihre Ladyschaft, Ihre Mutter, vergewisserte sich, dass ich die Kleine ernähren konnte.“

Die Brownes lebten zurückgezogen in dem abgeschiedenen Tal. Niemand wusste, dass sie ein anderes Kind aufgenommen hatten. Alles war so einfach gewesen und Wykeham so gebieterisch, hatte sie so bedrängt. „Sie werden sicher das Geld wollen“, sagte Browne, und sein wettergegerbtes Gesicht war ausdruckslos vor Kummer. „Es war falsch, das weiß ich, aber die Milchkuh war gestorben und die Ernte so schlecht, und selbst mit dem Geld Ihres Vaters …“

Laura sah sich in der sauber gescheuerten Küche um, bemerkte die leere Wiege vor dem Kamin, die grauen Haare auf Mrs Brownes Kopf. All ihre Babys waren gestorben. „Nein, behalten Sie das Geld. Vergessen Sie, dass es je ein Kind oder einen Earl in einer Kutsche gegeben hat, und mich. Geben Sie mir nur seine Karte.“

Nun zog Laura das verknickte Rechteck aus ihrem Retikül und betrachtete es, so wie sie es seit acht Wochen jeden Tag tat, seit sie Wykeham aufgestöbert, ihre Tarnung aufgebaut und ihren Dienern und Nachbarn eine überzeugende Geschichte aufgetischt hatte.

Sie hatte den Mann gefunden, der ihr ihr Kind genommen hatte, ihr jeden Tag, den es heranwuchs, gestohlen hatte, den ersten Zahn, die ersten Schritte, das erste Wort. Avery Falconer, Earl of Wykeham, Piers’ Vetter, der reiche Diplomat. Nun brauchte sie das Stückchen Pappe nicht länger: Sie hatte ihn gesehen, diesen gut aussehenden, unbeschwerten und skrupellosen Mann, den ihre Tochter Papa nannte. Laura zerknüllte die Visitenkarte, während sie eine Möglichkeit suchte, ihn zu überlisten, diesen verlogenen, arroganten Dieb.

„Papa?“

„Mmm?“ Ja zu sagen war gefährlich, es konnte sein, dass ihm eine geflüsterte Fangfrage entgangen war. Auf diese Art waren schon Kätzchen ins Haus gelangt.

„Papa, wann darf ich reiten?“

Avery las den Brief zu Ende und kritzelte seine Unterschrift an den unteren Rand.

Sanders, sein Sekretär, nahm ihn an sich, streute Sand über die feuchte Tinte und legte das nächste Dokument vor.

„Wenn ich befinde, dass dein neues Pony ruhig genug ist.“ Er wandte sich wieder dem Papier zu und tippte mit dem Ende der Schreibfeder auf eine Schriftstelle. „Sanders, dies hier muss schärfer sein. Ich möchte, dass kein Zweifel über meinen Einspruch gegen diesen Vorschlag aufkommt.“

„Ich werde es neu formulieren, Mylord. Das war alles.“ John Sanders sammelte die Dokumente ein, legte sie in eine Aktenmappe und ging hinaus. Der dritte Sohn des Landpfarrers war tüchtig, loyal, diskret und intelligent. Er besaß alle Qualitäten, auf die Avery bei seinem Personal Wert legte.

„Aber, Papa …“

„Miss Alice.“ Die sanfte Stimme gehörte einer Bediensteten, die all diese Vorzüge und noch weitere in sich vereinte. „Seine Lordschaft arbeitet. Kommen Sie, es ist Zeit für ein Glas Milch.“

„Ich komme zu dir, ehe du schlafen gehst, mein Liebes.“ Avery legte die Feder beiseite und wartete, bis Alices blaue Röcke durch Tür verschwunden waren. „Miss Blackstock, auf ein Wort, bitte.“

„Mylord.“ Die Kinderfrau verschränkte die Hände vor ihrer Schürze und neigte den Kopf leicht zur Seite. Sie war die Tochter seines eigenen Kindermädchens und die einzige Bedienstete, die die ganze Wahrheit über Alices Herkunft kannte. Blackie, wie Alice sie nannte, hatte ihn zu dem abgelegenen Bauernhof begleitet, als er die Kleine endlich ausfindig gemacht hatte.

„Bitte setzen Sie sich. Ich denke, es ist Zeit, eine Gouvernante für Alice einzustellen, was meinen Sie? Keinesfalls um Sie zu ersetzen, aber Alice sollte mit den ersten Unterrichtsstunden beginnen. Sie ist ein sehr gescheites Kind.“ Und sehr ungestüm, wie ihr Vater.

„Allerdings, Mylord.“ Miss Blackstock saß vollkommen ruhig da, doch in ihren Augen spiegelten sich viele Fragen. „Sie werden die Stelle also bald ausschreiben? Ich werde Mrs Spence bitten, das Unterrichtszimmer herzurichten und zwei Wohnräume für die Gouvernante zu finden.“

„Wenn Sie das tun könnten.“ Er schaute über den Rasen bis zu dem Graben, wo der Park begann. Dieses Anwesen, das er von seinem Vetter Piers geerbt hatte, war klein, aber wunderschön. Er hatte es mit allen dazugehörigen Einnahmen an Alice überschrieben, denn er würde alles tun, um ihr zu größtmöglichem gesellschaftlichen Ansehen zu verhelfen. Westerwood Manor war Teil ihrer Mitgift, und er würde es wieder zu Wohlstand zu führen. Zusammen mit der Ausbildung durch eine ausgezeichnete Gouvernante würde dies der Grundstein für Alices Platz in der gehobenen Gesellschaft sein.

„Es besteht keine Eile, die Unterbringung hier zu arrangieren. Aber würden Sie bitte unverzüglich die gleichen Vorkehrungen für das Haus am Berkeley Square veranlassen?“

Miss Blackstock starrte ihn an. „Sie nehmen Miss Alice mit nach London, Mylord?“

„Das tue ich. Ich beabsichtige, dort die restliche Ballsaison zu verbringen.“

Er war ihr keinerlei Erklärung schuldig, doch es wäre hilfreich, wenn sie Bescheid wüsste. „Ich habe vor zu heiraten.“

„Aber, Mylord …“ Miss Blackstock zögerte, sprach dann aber offen weiter. „Wäre es möglich, dass Miss Alice … eventuell einige Damen abschrecken könnte?“

„Ihre Herkunft, meinen Sie?“ Avery zuckte mit den Schultern. „Ich würde keine Frau heiraten, die mir wegen des Kindes weniger zugetan ist. Jemand, der Alice nicht akzeptiert, ist auch für mich inakzeptabel.“

„Das wird sicherlich die Spreu vom Weizen trennen“, murmelte das Kindermädchen. „Wann werden Sie in die Stadt reisen, Mylord?“

„In zwei Wochen. Ende April.“ Die Spreu vom Weizen trennen, allerdings. Averys Lippen zuckten, als das Kindermädchen die Tür hinter sich schloss. Seit Langem war er nicht mehr zur Ballsaison in London gewesen und war gespannt, welche Vorzüge die diesjährigen Debütantinnen aufweisen würden.

2. KAPITEL

April in England. Einfach unübertrefflich!“ Der Spaniel blieb stehen und sah Avery fragend an. „Du stimmst mir zu, Bet, das kann ich sehen. Lauf los und jag ein paar Hasen.“

Die gesicherte Schrotflinte lag in seiner Armbeuge, nur für den Fall, dass ihm eine der pelzigen Plagen auf ihrem Weg in den Gemüsegarten vor den Lauf flitzen sollte. Eigentlich aber war sie nur ein Vorwand für einen Spaziergang, solange die Sonne schien und die Brise sanft war.

Ich komme langsam in die Jahre, dachte er mit selbstironischem Lächeln. Mit dreißig liebe ich die Ruhe und den Frieden auf dem Land. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich zum Landedelmann mit einer braven Gattin und einer ganzen Schar Kinder. Der einzige gesellschaftliche Höhepunkt wäre dann die jährliche Schafschur.

Nachdem er einige Jahre in europäischen Hauptstädten inmitten der Spannungsfelder internationaler Diplomatie verbracht hatte, hatte er befürchtet, dass das Landleben ihn langweilen oder unangenehme Kindheitserinnerungen wecken würde. Doch bis jetzt fühlte er sich vor allem entspannt. Bei seinen regelmäßigen Ausritten hatte er festgestellt, dass der Park des Herrenhauses gepflegt war. Der Bauernhof, der zum Anwesen gehörte, warf reichlich Ertrag ab und die Höfe der Pächter florierten. Piers wäre erfreut gewesen, obwohl Landwirtschaft ihn kaum interessiert hatte. Seit seiner Kindheit war er schon auf die Armee versessen gewesen.

Avery fühlte sich zwar entspannt, aber liebeshungrig, wie er vor sich selbst zugeben musste. Es war leicht, sich in der Stadt eine Mätresse zu halten und das häusliche Leben separat zu führen, doch ein abgelegenes Haus auf dem Land und ein kleines Kind führten zwangsläufig zu Enthaltsamkeit. Eine Mätresse in London würde sich nach seinem Ehrgefühl jedoch nicht mit der gleichzeitigen Suche nach einer Gemahlin vereinbaren lassen.

Während er diesen sinnlichen Gedanken nachhing, umrundete er eine Baumgruppe und blieb abrupt stehen. Ein trockener Ast knackte unter seinen Stiefeln.

„Oh!“ Die schwarz gekleidete Dame, die auf dem umgestürzten Baumstamm gesessen hatte, sprang auf, drehte sich um und fuhr bei seinem Anblick erschreckt zusammen. In ihrem blassen Gesicht glaubte er einen Anflug von Verletzlichkeit zu sehen, gleichzeitig ließen ihre Augen einen wachen Geist erkennen. Ihre Figur war sehr weiblich, obwohl sie schlank war, vielleicht zu schlank. Ihr Blick wanderte hinunter zur Schrotflinte und zurück zu seinem Gesicht. Sie trug keine Handschuhe und ihre auf Taillenhöhe verschränkten Hände wirkten sehr weiß auf dem dunklen Tageskleid.

„Bitte verzeihen Sie, Madam. Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu erschrecken.“

„Ich vermute, ich befinde mich unerlaubt auf Ihrem Anwesen.“ Sie hatte eine reizvolle Stimme, in der etwas Raues lag, das ihn an Tränen erinnerte. Er bemerkte, dass sie in Trauer war und einen Ehering trug. Eine Witwe. „Im Dorf sagte man mir, es gäbe einen öffentlichen Feldweg über das Anwesen, aber als ich einen Hirsch sah, folgte ich ihm und kam vom Weg ab … Wenn Sie mir die Richtung zeigen würden, werde ich zurückgehen und Ihren Grund wieder verlassen, Mylord.“ Jetzt, wo sie sich von dem Schrecken erholt hatte, war ihr Ton kühl und selbstbewusst.

„Sie wissen, wer ich bin?“

Der Spaniel kam mit gespitzten Ohren angelaufen und setzte sich ihr zu Füßen. Sie beugte sich hinunter und streichelte seinen Kopf, als sei sie an Hunde gewöhnt. Dabei ließen ihre dunklen Augen nicht von Avery ab. „Im Dorf hat man Sie beschrieben, Lord Wykeham.“ Ihr Blick war weder kühn noch aufreizend, trotzdem fühlte er, wie eine heiße Woge seinen Körper durchfuhr und ein seltsam misstrauisches Gefühl hinterließ. Dieses Gefühl schien ihm eine Warnung zu sein.

„Sie sind mir einen Schritt voraus, Madam“, sagte er und setzte seine gewohnte Diplomatenmiene auf.

„Caroline Jordan. Mrs Jordan. Ich haben das Croft Cottage für einige Monate gemietet.“ Sie schien ziemlich beherrscht, allerdings sie war auch kein junges Mädchen mehr, das bei der Begegnung mit einem Fremden verlegen wurde. Sie musste um die vierundzwanzig Jahre alt sein, so schätzte er. Ihrer gewählten Sprache, der Haltung und dem teuren Schnitt des schwarzen Kleides nach zu urteilen, war sie zudem eine Dame von Stand.

„Dann begrüße ich Sie in Westerwood, Mrs Jordan. Sie sind tatsächlich vom Weg abgekommen, aber ich denke, ich brauche nicht zu befürchten, dass Sie mein Wild jagen oder meine Zäune niederreißen. Sie können gern hier spazieren gehen.“ Was war bloß in mich gefahren, ihr dies anzubieten?

„Vielen Dank, Lord Wykeham. Vielleicht wären Sie so freundlich, mir zu zeigen, in welche Richtung ich gehen muss, um zum Cottage zurückzukehren.“ Ihre anmutigen Bewegungen versetzten seinem Empfinden wieder einen Stich, und dieses Mal waren seine Gefühle ganz eindeutig lustvoller Natur, obwohl sie sich nicht aufreizend verhalten hatte. Eine beunruhigende Frau, die sich ihrer weiblichen Anziehungskraft so sehr bewusst war, dass sie es nicht für nötig befand, diese auszuspielen, vermutete er. In ihren Augen stand jedoch eine Kälte, die mehr als nur Distanziertheit war. Vielleicht ahnte sie nicht einmal, welche Ausstrahlung sie auf ihn hatte.

„Das liegt auf meinem Weg, wenn ich Sie begleiten darf.“ Er ließ seine Stimme so höflich und reserviert klingen wie die ihre. Dann pfiff er nach dem Hund und ging auf den Weg zu, den sein Pferd ausgetreten hatte. Den Arm bot er ihr nicht.

„Springen Sie tatsächlich darüber?“, fragte sie und zeigte auf die Hufabdrücke in dem weichen Boden vor dem Baumstamm, auf dem sie gesessen hatte. „Kein leichtes Hindernis, würde ich meinen.“

„Mein Jagdpferd nimmt diese Hürde problemlos. Reiten Sie, Madam?“ Sie schloss mit großen Schritten zu ihm auf, die ahnen ließen, dass sie zu Pferde sehr sportlich war. Und woanders auch, flüsterte seine zügellose Fantasie.

„Vor meiner Trauerzeit, ja.“ Sie schaute ihn nicht an, während sie sprach. Avery sah nur ihr Profil unter dem Rand ihrer Haube und ertappte sich dabei, wie er sich wünschte, den Ausdruck in ihren Augen zu sehen, die Bewegung ihres Mundes, wenn sie sprach. Ihre Nase, so fand er, war etwas zu lang, aber ihr Kinn und die Wangenknochen waren zart geformt. Die vor Anstrengung leicht geröteten Wangen bildeten zusammen mit den fein geschwungenen dunklen Brauen und Wimpern einen aufregenden Kontrast zu ihrem blassen Teint.

„Ist Ihr Verlust lange her?“, fragte er vorsichtig.

„Einige Zeit, ja.“ Ihr bestimmter Tonfall ließ keine weiteren Fragen zu.

Nun, Madam, wenn Sie die Unnahbare spielen wollen, werde ich Sie nicht länger belästigen! Er war es nicht gewohnt, von Damen abgewiesen zu werden. Vielleicht lag ihr Verhalten aber auch in ihrer Schüchternheit oder ihrer Trauer begründet. Die Umgangsformen der Londoner Gesellschaft waren ihm weit weniger vertraut als die der diplomatischen Kreise. Bei den Damen, denen er dort begegnet war, handelte es sich keinesfalls um schüchterne Mauerblümchen.

„Hier trennen sich unsere Wege.“ Der Feldweg stieß an dieser Stelle auf den Grenzgraben, hinter dem der Garten des Herrenhauses begann. Eine notdürftige Treppe aus Steinplatten führte durch den Graben hinauf auf den Rasen. Bet, der Spaniel, preschte bereits die Stufen hoch. „Wenn Sie diesen Weg hier nehmen ….“, er zeigte zum Waldrand, „… werden Sie direkt auf die Straße gelangen, die zur Kirche führt.“

„Danke, Mylord. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.“ Sie wandte sich zum Gehen, als Bet plötzlich freudig kläffte. Erschrocken zuckte Mrs Jordan zusammen und stolperte. Avery streckte rasch den Arm aus, um sie zu stützen.

„Papa! Da sind Sie! Sie werden zu spät zum Tee kommen! Wir nehmen ihn heute im Garten.“

Mrs Jordan drehte sich um und blickte Alice an. Da sie am Rand des Grabens stand, verlor sie das Gleichgewicht und wäre gestürzt, wenn Avery sie nicht aufgefangen hätte. Einen kurzen Moment lang hielt er sie umschlungen, dann löste er den Griff. Sie verharrte regungslos neben ihm, so nah, dass er zu bemerken glaubte, wie sie tief einatmete. So nah, dass ein Hauch von Zitronenverbene seine Nase kitzelte.

„Madam? Geht es Ihnen gut? Ich entschuldige mich für das ungestüme Verhalten meiner Tochter.“

Die Witwe schien den Atem angehalten zu haben, denn nun stieß sie die Luft leise keuchend aus. „Es ist … nichts. Ich habe mir nur gerade etwas den Knöchel verstaucht.“

„Kommt die Dame zum Tee, Papa?“

„Nein … ich …“

Verflucht, sie ist fremd hier, kennt niemanden und sie trauert; warum eigentlich nicht?

„Würden Sie sich gern zu uns gesellen, Mrs Jordan? Vielleicht sollten Sie Ihren Fuß etwas ausruhen.“ Als sie noch immer nichts sagte, fügte er hinzu: „Wir nehmen den Tee im Garten.“ Nur falls sie dachte, er würde Kinder als Tarnung benutzen, um fremde Damen ins Haus zu locken und dort zu verführen. Die Gepflogenheiten auf dem Land waren ihm noch weniger vertraut als die in London.

„Danke, Lord Wykeham, ich würde mich sehr freuen.“ Sie wandte sich um, sodass sie das Kind direkt ansehen konnte. „Guten Tag“, sagte sie so ernst, als würde sie eine Herzogin begrüßen.

„Guten Tag, Madam.“ Das Mädchen – meine Tochter, dachte Laura – machte einen anständigen Knicks. „Ich bin Alice.“ Sie hatte keinen Hut auf und trug ein grünes Baumwollkleid mit weißer Schürze.

„Erlauben Sie“, bat Lord Wykeham, ehe Laura etwas entgegnen konnte. „Diese Stufen sind sicherer, als sie aussehen. Wenn Sie meine Hand nehmen, kann Ihnen nichts passieren.“

„Danke.“ Sie reichte ihm eine Hand, und ihre Finger umschlossen das raue Leder seiner Handschuhe. Als sie auf die erste Stufe trat, hoffte sie, dass der vorgetäuschte verstauchte Knöchel und die Unbeholfenheit, die eine Dame an den Tag legen sollte, wenn sie solch ein Hindernis erklomm, ihre Unsicherheit erklären würden. Wykeham brauchte nicht zu merken, wie weich ihre Knie bei der Begegnung mit Alice geworden waren.

Als sie auf der anderen Seite des Grabens angekommen war, streckte Alice ihr die Hand entgegen, und ihre warmen kleinen Finger umfassten Lauras. „Lassen Sie mich helfen.“

Laura fühlte sich, als hätte ein Blitz sie direkt ins Herz getroffen. Sie strauchelte und fiel auf die Knie. „Oh!“ Tränen füllten ihre Augen. Rasch unterdrückte sie sie mit einem Blinzeln und kämpfte gegen das Verlangen an, ihre Tochter in die Arme zu reißen und mit ihr davonzulaufen.

„Ihr Knöchel muss mehr als nur verstaucht sein.“ Lord Wykeham beugte sich einfach über sie. Laura zog die Schulter hoch, als könne sie ihn dadurch von diesem kostbaren Moment ausschließen, in dem sie endlich die Hand ihrer Tochter halten durfte. „Lass los, Alice, und lauf schnell zu Peters. Bitte ihn, einen Stuhl und eine Fußbank für Mrs Jordan herauszubringen.“

Laura hätte ihn am liebsten angefaucht, als Alice nun ihren Griff löste und loslief, doch irgendwie gelang es ihr, sich zu beherrschen und ein schmerzliches Schluchzen hervorzubringen.

„Bitte erlauben Sie.“ Ehe sie widersprechen konnte, hatte er sie auf die Arme gehoben und folgte dem Kind. „Ich lasse nach Dr. Pearce schicken.“

„Das ist wirklich nicht nötig“, brachte Laura recht gefasst hervor. Sie versuchte, so entspannt zu erscheinen, wie es einer Dame eben möglich war, die sich in den Armen eines völlig fremden Mannes befand. Dabei hätte sie ihn am liebsten geohrfeigt oder ihm die Worte ins Gesicht geschleudert, die wie wütende Hornissen in ihrem Kopf umherschwirrten. Doch diesem Drang durfte sie nicht nachgeben. „Ich bin sicher, dass es mir nach einer kurzen Pause besser geht.“

„Trotzdem. Ich lasse nach ihm schicken.“

Dieser Mann ließ keine Einwände zu, allerdings war sie ja bereits über seine Arroganz und Rücksichtslosigkeit im Bilde.

„Danke, aber das ist nicht nötig.“

„Wie Sie wünschen.“

Das tue ich. Weist man Sie nie zurück?

Irgendwie gelang es Laura, sich zu fassen und eine kleine Stichelei zu wagen. „Lady Alice ist ein entzückendes Kind.“

Hätte sie seine Reaktionen nicht so aufmerksam beobachtet, wäre ihr vermutlich entgangen, dass er kurz zögerte. Dennoch antwortete er gelassen und ohne aus dem Schritt zu geraten: „Sie ist nicht Lady Alice, sondern Miss Falconer.“

„Oh, bitte verzeihen Sie. Im Dorf sagte man, Sie seien ein Earl. Ich muss es missverstanden haben.“

„Ich bin Earl. Trotzdem war ich nie verheiratet, schon gar nicht mit Alices Mutter“. Er musste ihr überraschtes Aufatmen entweder als Empörung oder Verlegenheit über seine freimütige Antwort gedeutet haben. „Ich sehe keinen Grund, warum das Kind unter den Sünden seines Vaters leiden sollte. Ich werde nicht zulassen, dass man ihre Existenz verleugnet, als müsste ich mich für sie schämen.“

„Natürlich nicht.“ Laura heftete den Blick auf das Revers seiner Weste und fügte bissig hinzu: „Sie sieht ihrem Vater sehr ähnlich.“

Sie hatte ins Schwarze getroffen, denn sie spürte, wie sich die Muskeln seiner Arme kurz anspannten. Er blieb jedoch ruhig. „Sehr ähnlich“, stimmte Lord Wykeham zu. Er schien ihren bitteren Unterton nicht bemerkt zu haben.

Sie fand es höchst eigenartig, diesen höflichen Schlagabtausch in den Armen des Gegners auszutragen. Wäre der Mann nicht so beherrscht und in so ausgezeichneter Form gewesen, hätte er wahrscheinlich durch seine Körperhaltung Gefühle verraten, selbst wenn er es schaffte, seinen Gesichtsausdruck und seine Stimme zu kontrollieren. Da er unmöglich ahnen konnte, wer sie war, zählte diese Selbstbeherrschung vermutlich zu seinen Charaktereigenschaften. Er war warm und roch angenehm männlich nach sauberem Leinen und Leder. Diesen vertrauten und doch geheimnisvollen Geruch männlicher Haut hatte sie vermisst. Nun spürte sie die Muskeln unter seiner Kleidung und die verführerische Stärke, die von ihnen ausging. Es war diese männliche Kraft, die Frauen stets glauben ließ, ein solcher Mann würde zu ihnen stehen und ihnen treu sein.

Sie hatten die Kuppe des Hanges erreicht. Laura blickte auf und sah, dass auf der weitläufigen Rasenfläche unter einem Baum Tisch und Stühle aufgestellt waren. Ein Dienstmädchen verteilte Geschirr, und Alice sprach mit einem Diener, der in Lauras Richtung schaute. Dahinter erkannte Laura das Herrenhaus, dessen französische Fenster weit offen standen, um die milde Frühlingsluft hineinzulassen.

„Was für ein entzückendes Haus“, bemerkte Laura. Sie war nie hier gewesen, aber Piers hatte es oft beschrieben. Es hätte ihrer beider Liebesnest sein sollen, weitab von dem gesellschaftlichen Treiben Londons. Sie hatte sich oft vorgestellt, diesen Ort in ein Heim zu verwandeln, in dem Piers nach seiner Rückkehr aus dem Krieg Liebe und Frieden finden sollte. Ein Heim, in dem ihre kleine Familie hätte glücklich werden sollen. Nun betrat sie es als Fremde, und nur die Vorfreude auf das heimliche, einseitige Duell, das sie bereits begonnen hatte, linderte ihren Schmerz.

„Ja, es ist angenehm und gut aufgeteilt. Etwas klein, verglichen mit Wykeham Hall, und die Ländereien sind nicht so weitläufig, aber es ist fruchtbares Land.“

„Dies ist also nicht der Hauptsitz Ihrer Familie?“, fragte Laura, als sie beim Tisch ankamen.

„Nein, ich habe es von einem Cousin geerbt.“ Er wartete, bis der Diener einen robusten Lehnstuhl abstellte und Alice eine Fußbank davorschob. „Bitte nehmen Sie Platz.“