Der dunkle Pfad Gottes - Richard Doetsch - E-Book
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Der dunkle Pfad Gottes E-Book

Richard Doetsch

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Beschreibung

Michael St. Pierre war einmal der beste Dieb aller Zeiten. Er wollte für immer aufhören. Doch als seine Frau erkrankt, kann nur eine kostspielige Operation ihr Leben retten: Michael muss innerhalb einer Woche 250.000 Dollar beschaffen.
Ein mysteriöser Auftraggeber verspricht ihm genau diese Summe, wenn Michael zwei antike Schlüssel stiehlt. Das Problem: Die Reliquien befinden sich im Vatikan. Michael macht sich bereit für den größten Raub der Geschichte. Er ahnt nicht, dass er etwas stehlen will, das nicht für menschliche Augen bestimmt ist ...

»Ein unvergessliches Leseabenteuer!« PUBLISHERS WEEKLY

Die spannende Mystery-Thriller-Reihe um Meisterdieb Michael St. Pierre für alle Fans von Dan Brown und James Twining:

Band 1: Der dunkle Pfad Gottes
Band 2: Die Quelle der Seelen
Band 3: Der Dieb der Finsternis
Band 4: Die Legende der Dunkelheit

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



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Seitenzahl: 540

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Inhalt

Cover

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Nachts in New York City

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Danksagungen

Über den Autor

Weitere Titel des Autors

Impressum

 

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Über dieses Buch

Michael St. Pierre war einmal der beste Dieb aller Zeiten. Er wollte für immer aufhören. Doch als seine Frau erkrankt, kann nur eine kostspielige Operation ihr Leben retten: Michael muss innerhalb einer Woche 250.000 Dollar beschaffen.

Ein mysteriöser Auftraggeber verspricht ihm genau diese Summe, wenn Michael zwei antike Schlüssel stiehlt. Das Problem: Die Reliquien befinden sich im Vatikan. Michael macht sich bereit für den größten Raub der Geschichte. Er ahnt nicht, dass er etwas stehlen will, das nicht für menschliche Augen bestimmt ist …

RICHARD DOETSCH

DERDUNKLE PFADGOTTES

Aus dem Englischen vonKarin Meddekis

Für Virginia,meine beste Freundin,die ich von Herzen liebe.

In der Liebe liegt Trost.Sie verleiht uns ein warmes, sicheres Gefühl,frei von Zorn und Eifersucht, undmacht uns immun gegen die Grausamkeit des Lebens.Sie ist voller Hoffnung und Selbstlosigkeit unddas seltenste aller Geschenke.

Nachts in New York City

Michael St. Pierre schob das Nachtsichtgerät vor sein linkes Auge, ließ das Sicherungsseil los und setzte seinen Abstieg aus dem fünfzehnten Stock fort. Die dunkle Gasse tief unter ihm, die er in gespenstischen Grüntönen sah, war sein Ziel. Er hütete sich davor, auf die Lichter in der Ferne zu blicken: Jetzt, während der gefährlichen Fassadenkletterei, durfte er auf keinen Fall geblendet werden.

Die Gasse unten war frei bis auf ein paar Müllsäcke und die Ratten, die auf ihren nächtlichen Beutezügen umherhuschten. War Michael erst dort unten, brauchte er nur noch die Straße zu überqueren und über die hohe Granitmauer zu klettern, dann war er im Schutz des nächtlichen Central Parks.

Er hatte nur noch fünfzehn Meter zu klettern, als er in einem Fenster im sechsten Stock eines Nachbargebäudes nackte Haut sah. Das dunkle, anonyme Stadthaus lag ganz in der Nähe der Fifth Avenue. Die Frau lag auf dem Rücken. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, ihr nackter Körper aber war sündhaft schön. Michael sah, wie die Frau sich vor Leidenschaft krümmte, als ein Mann im Blickfeld erschien.

Denk an deinen Job, ermahnte sich Michael.

Seufzend ließ er das Sicherungsseil los und setzte seinen Abstieg fort. Er hatte zu viele Stunden damit verbracht, diesen Coup zu planen, um jetzt ein Scheitern zu riskieren. Wenn er sich an seinen Plan hielt, war er bald in Sicherheit und konnte seine Frau in die Arme schließen.

Trotzdem riskierte Michael noch einen Blick.

Als hätte die Frau seine Gedanken erraten, drehte sie den Kopf plötzlich zum Fenster. Michael bekam einen furchtbaren Schreck, klammerte sich ans Sicherungsseil und hielt den Atem an. Hatte die Frau ihn gesehen? Nein, das war unmöglich. Er war ganz in Schwarz gekleidet, sodass die Dunkelheit ihn verschluckte.

Dann gefror Michael das Blut in den Adern.

Die Frau schaute ihn gar nicht an! Sie konnte es nicht, denn ihre Augen waren mit einem Tuch verbunden, und in ihrem Mund steckte ein Knebel. Und dass sie sich aufbäumte und sich hin und her warf, war keine Leidenschaft, sondern Todesangst.

Michael schaute genauer hin. Die Frau war mit ausgestreckten Armen und gespreizten Beinen an einen Tisch gefesselt, und sie litt offensichtlich Schmerzen.

Wut und Entsetzen erfassten Michael. Das Gesicht des Mannes, der neben der nackten Frau stand, lag im Dunkeln, doch die Waffe in seiner Hand war deutlich zu sehen.

Das war nicht irgendein Sexspielchen. Was immer in diesem Zimmer vor sich ging – es geschah gegen den Willen der Frau.

Michael schaute in die Tiefe, wobei der Rucksack auf seinem Rücken ein Stück zur Seite rutschte. Nur noch fünfzehn Meter bis zur Freiheit. Sechs Monate Planung für diesen Coup, der seine Zukunft sichern sollte. Nein, er würde nicht zulassen, dass in letzter Sekunde alles scheiterte. Jetzt war nicht die Zeit, den Helden zu spielen.

Die Frau lag noch immer da und wand sich. Das Nachtsichtgerät verlieh ihrer nackten Haut einen geisterhaften grünen Schimmer. Nach wie vor kämpfte sie gegen die Fesseln an, bäumte sich auf. Michael konnte kein Geräusch hören, wusste aber, dass die Frau zu schreien versuchte, doch der Knebel erstickte jeden Laut.

Sommer in der Upper East Side. Die meisten Leute hatten die Stadt verlassen und waren in die Hamptons, nach Greenwich oder in ihre schmucken Sommerhäuser gefahren, wo sie das Landleben genossen. Bis September blieben ihre Stadtwohnungen leer. Der Geldadel der Stadt reiste in seine Schlösser, um frische Luft zu atmen und die Ruhe zu genießen. Ihre Lehensgüter ließen sie in der Silicon Alley zurück, und ihre Imperien blieben in der Wall Street – eine Konzentration von Reichtum und Macht wie nirgendwo sonst auf der Welt, umschlossen von dreißig Blocks Hochhäusern mit Kalksteinfassaden und schwer bewachten Eingängen.

Zu diesen Hochhäusern zählte die Botschaft von Akbikestan, ursprünglich das Bürohaus von Johan Sebastian Vandervelde, einem Ölbaron, dessen Imperium dem von Rockefeller und Getty Konkurrenz machte. Die Regierung von Akbikestan hatte das Gebäude Anfang der Siebzigerjahre gekauft – nicht wegen der prachtvoll verzierten Fassaden, sondern wegen seiner Robustheit: ein Meter dicke Mauern, massive Türen, kugelsichere Fensterscheiben. Die Vanderveldes kannten ihre Feinde besser als ihre eigene Familie und hatten ihr Heim entsprechend stark gebaut. J. S. Vandervelde hatte diese Festung 1915 errichten lassen – acht Etagen Wohnbereich, sieben Etagen Büros – und war mit seiner Familie aus seiner Villa in Greenwich Village hierhergezogen.

Die akbikischen Botschaftsangestellten wussten, dass sie eher einen Bunker als ein Verwaltungsgebäude brauchten, denn ihr Heimatland galt nicht gerade als Hort der Menschenrechte. Sie hatten Vanderveldes einstiges Heim von Grund auf saniert: Wasserrohre, elektrische Leitungen, Heizungen, Alarmanlagen, Überwachungsmonitore – alles war nagelneu. Wollte man durch die Eingangstür ins Haus, musste man an Soldaten, Scannern und Observierungskameras vorbei.

Doch die Menschen neigen dazu, in zwei Dimensionen zu denken, und ein Angriff von oben wird in einem Gebäude selten als mögliche Bedrohung angesehen. Deshalb war das Dach der Botschaft die Schwachstelle. Es war bloß mit einfachen Alarmanlagen an den Oberlichtern gesichert.

Michael St. Pierre kannte sämtliche Winkel des Gebäudes besser als seine jetzigen Bewohner. Als den Mitarbeitern des Denkmalschutzamtes zu Ohren kam, dass der freundliche junge Mann im Ralph-Lauren-Anzug ein Buch über die Geschichte der bekanntesten Prachtstraße der Welt schrieb, taten sie, was sie nur konnten, um ihn zu unterstützen: Sie lieferten ihm detaillierte Baupläne des Vandervelde-Hochhauses und Informationen über die angrenzenden Gebäude. Und Mr. Forbes Carlton Smyth (Michael wählte diesen Decknamen, weil er auf eine altehrwürdige Familie schließen ließ) versprach jedem Mitarbeiter eine persönliche Danksagung.

Michael fand schnell heraus, welches Sicherheitssystem in dem Gebäude installiert war. Der Zugangscode wurde ihm vom amerikanischen Hersteller gegen eine Schutzgebühr verkauft, denn die Amerikaner hatten für Akbikestan nicht allzu viel übrig.

Wie jeder erfolgreiche Unternehmer überließ Michael nichts dem Zufall. Er war Profi durch und durch. Bei der Planung ließ er nichts unberücksichtigt, und bei seinen Recherchen war er peinlich genau. Doch Michaels Unternehmen war ein Ein-Mann-Betrieb. Es gab keine Entwicklungsabteilung, keine Personalabteilung, nicht einmal Sekretärinnen. Michael arbeitete allein. In seiner Branche konnte er nur sich selbst vertrauen, und er stahl immer nur Dinge, von denen die Öffentlichkeit und die Behörden nichts wussten. Seine Opfer waren Regierungen, Kriminelle und Versicherungsbetrüger. Und er ließ keine Spuren zurück. In kürzester Zeit rein und wieder raus, lautete sein Motto. Noch nie hatte er einen Fehler gemacht, noch nie eine Spur oder einen Hinweis hinterlassen. Deshalb war er nie erwischt worden.

Die Botschaft von Akbikestan war zurzeit mit weniger Personal besetzt als üblich. Zwei Wachleute pro Schicht, eine Sekretärin im Tagesdienst – das war alles. Alle anderen waren in der Heimat, dem gebirgigen Wüstenstaat, den sie hier vertraten.

Der Botschafter, Anwar Sri Ruskot, war ein geachteter General und angesehener Diplomat, doch seine größte Fähigkeit lag auf einem anderen Gebiet: Ruskot war auf den Schwarzmärkten der Welt als Händler und Hehler eine große Nummer. Er hatte sich auf den Handel mit Antiquitäten, Juwelen und Gemälden spezialisiert und nutzte dabei geschickt seinen Diplomatenstatus. Soweit es den General betraf, war das Diplomatengepäck eine bessere Erfindung als das Rad. Bei den Polizeibehörden kursierten eine Menge Gerüchte über seine Aktivitäten, doch FBI und Interpol waren machtlos. Wenn sie zu viel Staub aufwirbelten, hatte das Außenministerium eine Krise am Hals, die rasch eskalieren und zu Spannungen zwischen den beiden Staaten führen könnte, die ohnehin nicht die freundschaftlichsten Beziehungen pflegten.

Wenn General Ruskot in der Stadt weilte, leitete er sein Unternehmen vom fünfzehnten Stock der Botschaft aus, fernab von Wachleuten, Beratern, Sekretärinnen und Wichtigtuern. Sein Büro befand sich in der obersten Etage, zu der nur er allein Zugang hatte. Ruskot behauptete, dort die diplomatischen Geschäfte Akbikestans abzuwickeln; wenn etwas davon vorzeitig an die Öffentlichkeit käme, könne es in der Welt der Diplomatie katastrophale Auswirkungen haben. Deshalb durfte die fünfzehnte Etage nur von Ruskot betreten werden.

Was sich hinter den »diplomatischen Geschäften« des Botschafters verbarg, bekam Michael zu sehen, als er an einem Seil aus Kevlar mitten im Raum hing, anderthalb Meter über dem Boden, während er sich im Licht einer kleinen Stablampe umschaute. Es war ein großes Arbeitszimmer, eine Mischung aus Privatbibliothek und Opiumhöhle. An der Rückwand, von roten Ledersesseln mit hohen Lehnen umstanden, war ein wuchtiger Schreibtisch zu sehen. Auf der gegenüberliegenden Seite war rings um eine Wasserpfeife, deren schaler Opiumgeruch noch in der Luft hing, eine Art Nomadenlager mit großen Kissen errichtet. Neben fernöstlichen Antiquitäten und kostbaren Gemälden, türkischen Läufern und Wandteppichen standen hier Akten und Computer, in denen jede zwielichtige Transaktion, jede illegale Zahlung, jedes heimliche Geschäft verzeichnet waren. Während die meisten Kriminellen größte Vorsicht bei ihrer »Buchführung« walten ließen, machte Ruskot sich keine Sorgen darüber. Der General hielt sich schließlich nicht auf amerikanischem Boden auf, sondern auf dem Hoheitsgebiet Akbikestans, geschützt durch die Wiener Konvention.

Michael hatte die Gasse kurz nach Mitternacht betreten, um seinen Aufstieg zu beginnen. Die vierstöckige Boutique befand sich unweit der Madison Avenue. Die Fassade aus Granit war der Traum eines jeden Kletterers. Auf Michaels Rücken waren Rollen dünner Kernmantelseile von unterschiedlicher Länge festgeschnallt; an seinem Gürtel hingen Karabiner, Haken und Werkzeuge, alle mit Isolierband umwickelt, damit nichts klirrte. In einer dunklen Gasse neben dem Gebäude begann er seinen Aufstieg und krallte seine Finger in die schmalen Ritzen und Fugen zwischen den Granitblöcken. Binnen Sekunden kletterte er die Fassade der Boutique hinauf, huschte übers Dach und stieg auf das angrenzende achtstöckige Wohnhaus. Mit der Geschicklichkeit eines geübten Bergsteigers bezwang Michael ein Gebäude nach dem anderen, wobei er sich in Richtung Fifth Avenue bewegte und immer höher stieg. Michael kletterte lieber auf Gebäude als auf Berge. Hausfassaden stellten für ihn eine größere Herausforderung dar und gaben ihm mehr als jede Felswand das Gefühl, eine außergewöhnliche Leistung vollbracht zu haben. Bereits zu College-Zeiten hatte er Hausfassaden erklommen. Eines der Hochhäuser, in dem sich das Studentenwohnheim befand, war sein erster Gipfel gewesen. Er war bis in den zweiundzwanzigsten Stock des Towers geklettert, war geräuschlos durch ein Fenster in das Zimmer eines Dozenten eingestiegen und hatte es genauso lautlos wieder verlassen. Und das alles nur, um Prüfungsunterlagen zu stehlen. Doch das Abenteuer zahlte sich nicht aus: Die Studentin, deren Prüfungsunterlagen Michael gestohlen hatte, fiel trotzdem durchs Examen.

Michael stieg nun von einem achtzehnstöckigen Wohnhaus hinunter auf das Dach der Botschaft. Das Oberlicht war mit einer primitiven Alarmanlage versehen, die Michael mühelos entschärfen konnte, indem er ein paar Drähte durchknipste. Er entfernte die Glasscheibe, spähte durchs Nachtsichtgerät in den dunklen Raum und ließ sich dann hinunter. Er gelangte in ein Zimmer, das eine unglaubliche Kunstsammlung enthielt.

Michael hatte sich die Baupläne eingeprägt und kannte deshalb jeden Quadratzentimeter der Räumlichkeiten. Dank seiner Informanten wusste er von den ungeschliffenen Diamanten, die in diesem Raum aufbewahrt wurden. Nachdem er den zwei Meter hohen Wells-Fargo-Safe, Baujahr 1908, mit geschickten Fingern geöffnet hatte, sah er, dass die Information stimmte: Michael rollte die schwarze Samtschmuckrolle aus – und da lagen sie, die Diamanten, und funkelten wie Sterne am Nachthimmel. Dreißig Millionen unauffindbare Schwarzmarktdollar. Und das Schönste war, dass niemand diese Diamanten als vermisst melden würde. Sie waren gestohlen, also wussten mit Sicherheit nur ein paar Auserwählte von ihrer Existenz. Der Botschafter selbst würde niemals Alarm schlagen, sonst würde man zu viele Fragen nach der Herkunft der Edelsteine stellen.

Keine Polizei, keine Ermittlungen, keine Probleme.

In dem Augenblick, als die Safetür aufschwang, wurde Unteroffizier Javier Samaha auf seinem Posten an der Eingangstür unruhig. Die Wachleute hatten unter sich ausgelost, wer nach Hause fahren durfte, und Samaha hatte den Kürzeren gezogen. Die Monotonie der Zwölf-Stunden-Schicht führte dazu, dass er vor sich hin döste. Es war Donnerstagnacht, und wie jedes Mal passierte rein gar nichts. Außer essen, lesen und Karten spielen gab es nichts zu tun.

Samaha hielt die Befürchtungen des Botschafters für unbegründet und die Vorsichtsmaßnahmen für übertrieben. Immerhin lebten sie im einundzwanzigsten Jahrhundert, nicht mehr im finsteren Mittelalter, und die akbikische Botschaft befand sich in einer der liberalsten Städte der Welt, in der zahlreiche Kulturen aufeinandertrafen. Außerdem war es mitten im Sommer, und auch Extremisten brauchten mal Urlaub. Mindestens bis Ende September waren keine Proteste zu erwarten.

Samaha wandte sich an seinen Kollegen am Empfang und sagte ihm, er werde früher mit seinem Rundgang beginnen, um sich die Beine zu vertreten und den Kopf freizubekommen. Normalerweise begann er im ersten Stock und arbeitete sich von dort nach oben vor. Heute jedoch beschloss Samaha, den kleinen Entscheidungsspielraum zu nutzen, den er besaß, und oben zu beginnen.

Michael schloss den Safe, verstaute die Diamanten im Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Im Vertrauen darauf, dass niemand diesen Raum betreten würde, zu dem nur Ruskot Zutritt hatte, ließ er sich einen Augenblick Zeit, um die Kunstwerke zu bewundern. Dabei entdeckte er in einer Zimmerecke ein prachtvolles Kreuz, mit Saphiren, Rubinen und Smaragden besetzt. Michael war wegen der Diamanten gekommen, doch das Kreuz zog seinen Blick magisch an.

Kurz entschlossen schob er es in den Rucksack und war Sekunden später verschwunden.

Die Aufzugtür öffnete sich im fünfzehnten Stock. Unteroffizier Samaha kannte das Verbot, diese Etage zu betreten, doch heute Nacht siegte seine Neugier, die Geheimnisse von Etage fünfzehn zu lüften. Es war niemand hier, der ihn hätte erwischen können. Warum sollte er sich nicht mal umsehen …?

Samaha überprüfte die einzige Tür auf der Etage; es war zugleich die einzige Tür, für die er und die anderen Wachleute keinen Schlüssel besaßen. Abgeschlossen. Samaha seufzte enttäuscht. Er fand sich damit ab, niemals die Wahrheit über dieses Stockwerk zu erfahren.

Samaha trat den Rückzug an. Er hatte gerade die Feuertür geöffnet und das Treppenhaus betreten, als er ein lautes Klicken in der Stille vernahm. Er blieb stehen, lauschte angestrengt. Das Geräusch kam aus der Wohnung. Wieder das Klicken. Diesmal nicht so laut, aber nicht zu überhören. Ein seltsames Geräusch.

Samaha kehrte um, drückte ein Ohr auf die Mahagonitür, lauschte. Wieder das Geräusch.

Samaha schlug alle Bedenken in den Wind und trat die Tür ein. In dem Raum war es schummrig. Nur das Licht vom Gang und ein schwacher Schimmer, der durchs Oberlicht fiel, sorgten für ein wenig Helligkeit. Samaha sah, dass das geräumige Zimmer prachtvoll eingerichtet war – viel luxuriöser als jeder andere Raum in der Botschaft. Ein Palast im Himmel. Samaha schaute sich um. Alles schien in Ordnung zu sein. Eingehend betrachtete er den großen Safe. Was wohl darin war? Zögernd überprüfte Samaha das Schloss. Verschlossen.

Nach einem letzten Blick in die Runde wandte Samaha sich zum Gehen. Das Klicken, das er gehört hatte, war vermutlich aus dem Luftschacht gekommen. Kein Grund zur Besorgnis.

Dann fiel sein Blick auf einen Fleck an der Wand. Er sah aus wie ein Wasserfleck mit dunklem Rand.

Samaha stieg über die Kissen am Boden hinweg und warf einen verächtlichen Blick auf die Wasserpfeife, als er sich der Wand näherte, um sich den Fleck genauer anzuschauen. Obwohl es im Zimmer schummrig war, reichte das Licht, um den Fleck gut erkennen zu können. Der Unteroffizier strich mit dem Finger darüber und zeichnete die Umrisse nach. Die Sonne hatte die Tapete ausgebleicht. Nur an einer Stelle war das ursprüngliche leuchtende Grün noch erhalten.

Die Stelle besaß die Form eines Kreuzes.

Samaha berichtete seinem Kollegen am Empfang, dass er im fünfzehnten Stock ein seltsames Geräusch gehört habe. Trotz der strikten Anweisung, diese Etage nicht zu betreten, habe er es als seine Pflicht betrachtet, der Sache auf den Grund zu gehen. Samaha schlug vor, die New Yorker Polizei anzurufen, damit sie einen Streifenwagen vorbeischickten und die Cops nach Verdächtigen Ausschau hielten. Die Zeitungen hätten gute Schlagzeilen, wenn die Polizei das Viertel durchkämmte. Und wenn der Dieb noch in der Nähe war, würden die Cops ihn vielleicht schnappen – dank Samahas schneller Reaktion. Vielleicht würde er sogar eine Belobigung erhalten.

Aber was, wenn die Polizei niemanden schnappte? In zwei Wochen wurde General Ruskot zurückerwartet, und der Mann war aufbrausend und unberechenbar.

Vielleicht war es keine schlechte Idee, überlegte Samaha, einfach abzuhauen und in New York unterzutauchen.

Die Garantie für eine gesicherte Zukunft im Rucksack, hing Michael fünfzehn Meter über dem Boden am Seil. Noch fünf Etagen bis zur Freiheit.

Wäre da nicht die Frau gewesen.

Das flaue Gefühl im Magen, das Michael normalerweise riet, sich aus dem Staub zu machen, war überwältigend. Dann aber siegten seine Angst um die Frau und seine Wut auf ihren unbekannten Peiniger. Die Körpersprache der Frau war eindeutig gewesen: Sie hatte so schreckliche Angst gehabt, als hätte sie dem Tod ins Auge geschaut.

In Windeseile ließ Michael sich am Seil hinunter, huschte durch die Gasse zu dem sechsstöckigen Stadthaus und begann den Aufstieg an der Steinfassade. Unbehelligt gelangte er aufs Dach und stieg durch ein Oberlicht ins Gebäude ein, ein Messer in der Hand. Michael brauchte normalerweise keine Waffen; diesmal aber war es beruhigend für ihn, das Messer in der Hand zu spüren. Es hatte einen glatten Griff, und auf der Klinge funkelte das Licht. Michael sprach ein stummes Gebet, dass er das Messer nicht benutzen musste.

Er schob sich das Nachtsichtgerät vors Auge, als er die Etage erreichte, in der er die nackte Frau gesehen hatte. Binnen Sekunden hatte er das Schloss der Wohnungstür geknackt und betrat leise den Korridor. Das im hinteren Teil der Wohnung gelegene Gästezimmer wurde vom Nachtsichtgerät in gespenstisches grünes Licht getaucht. Geräusche verschwitzter, klebriger nackter Haut, die sich an irgendeiner Oberfläche rieb, waren zu vernehmen, begleitet von einem leisen Wimmern. Am Ende des Korridors lag ein Hund vor der Tür, regungslos in einer Blutlache.

Michael ging langsam weiter und spähte in das Zimmer, in dem er von draußen die nackte Frau gesehen hatte. Das Zimmer erwies sich als eine Art Töpferwerkstatt: zum Trocknen aufgestellte Tongefäße auf einem Holzregal; Farben, Verdünner und Glasuren auf einem Tisch; ein Brennofen in einer Ecke. Er hörte das leise Surren der Lüftung, die die Hitze aus dem Inneren ableitete. Es war ein feuchter, erdiger Geruch, vermischt mit einem Hauch von Jasmin. Michael sah kleine getrocknete Tonstücke auf dem Fußboden. Überall lagen Holzwerkzeuge. Es sah aus, als wäre ein Wirbelsturm durch das Zimmer gefegt. Michael entdeckte den Arbeitstisch, an dem der Ton geknetet, zerschnitten und geformt wurde.

Doch heute Nacht wurde hier kein Ton bearbeitet.

Die nackte Frau war Ende dreißig und hatte blondes Haar. Ein Schweißfilm bedeckte ihren Körper, und sie atmete schwer vor Angst. Ihr Körper war schlank und durchtrainiert wie der einer Sportlerin, und ein Schönheitschirurg in der Park Avenue hatte ihr Gesicht perfekt modelliert, was darauf hindeutete, dass sie wohlhabend war. Ihre Beine waren am Tisch festgebunden; ein pedikürter Fuß hing über dem Tischrand. Die Arme waren über dem Kopf gefesselt, ihre Augen mit einem schwarzen Schal verbunden. Ihr Jammern, das der Knebel nahezu erstickte, jagte Michael einen Schauer über den Rücken.

Auf der Fensterbank lagen Gegenstände, die aussahen wie ärztliche Instrumente aus dem neunzehnten Jahrhundert – die furchteinflößenden chirurgischen Werkzeuge eines Quacksalbers: Messer, Skalpelle, Knochensägen. Seltsamerweise war vom Angreifer der Frau nichts zu sehen.

Michael nahm das Nachtsichtgerät ab, schaltete das Licht ein und huschte zu der Nackten. Er atmete auf, als er sah, dass sie unverletzt zu sein schien. Der Unbekannte, der sie gefesselt und geknebelt hatte, schien noch nicht mit seiner »Arbeit« angefangen zu haben. In Windeseile schnitt Michael die Fesseln durch. Die Frau trat mit den Füßen und stieß einen erstickten Schrei aus.

In diesem Augenblick wurde Michael von einem wuchtigen Hieb an der Schläfe getroffen. Benommen taumelte er nach hinten und kämpfte gegen die drohende Bewusstlosigkeit. Er sah eine schattenhafte Gestalt, deren Gesicht von einem Schal verhüllt war. In der einen Hand hielt der Unbekannte einen Hammer, in der anderen eine Pistole. Der Mann kam langsam näher. Michaels Kopf pochte vor Schmerz. Noch immer kämpfte er gegen die Ohnmacht an.

Der Mann sagte kein Wort, als er die kalte Mündung der Waffe auf Michaels Stirn drückte. Er lud durch und verharrte, schien es zu genießen, die Todesangst seines Opfers zu verlängern.

Michael drückte die Hand auf den Griff seines Messers, ohne dass der Angreifer es sehen konnte. Blitzschnell riss er die Hand hoch und rammte die Klinge bis zum Griff ins Handgelenk des Mannes, sodass die blutige Spitze aus dem Unterarm ragte. Der Mann stieß einen dumpfen Laut aus, taumelte zurück, prallte gegen den Brennofen und landete mit der Schulter auf dem mehr als tausendzweihundert Grad heißen Metall. Er kreischte vor Schmerz. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Der Geruch von verbranntem Fleisch breitete sich aus.

Michael stemmte sich hoch und versuchte, sich zu orientieren. Sein Kopf dröhnte von dem brutalen Schlag, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Als er sich an den Tisch klammerte, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen, konnte er einen erneuten Blick auf seinen Angreifer werfen. Die Augen des Mannes waren kalt und leer. Von seiner verbrannten Schulter stieg Rauch auf; aus seinem Arm strömte Blut und rann über den Griff von Michaels Messer. Ohne auf den Schmerz zu achten, riss der Fremde das Messer aus seinem Handgelenk und stieß es Michael in die Schulter, sodass er halb bewusstlos zu Boden stürzte. Der Mann packte Michael, zerrte ihn durchs Zimmer und ließ ihn neben dem Brennofen liegen. Dann trat er mit einem wütenden Knurren gegen die Messerklinge.

Höllische Schmerzen durchrasten Michael. Wie durch Watte hörte er statisches Rauschen und Knistern. Ein Polizeifunkgerät! Doch es gehörte seinem Angreifer. Michael konnte die Worte kaum verstehen: »Verdacht auf Einbruchdiebstahl in der akbikischen Botschaft. Streife ist unterwegs.«

Verwirrt und von Schmerzen geplagt, lag Michael regungslos auf dem Boden, während die geknebelte Nackte auf dem Tisch erstickte Schreie ausstieß. Jetzt gab es niemanden mehr, der dem Verrückten Einhalt gebieten konnte.

Michael dachte an Mary und stellte sich vor, wie die Polizei ihr mitteilte, dass ihr Mann ermordet worden sei, in ein und demselben Zimmer mit einer splitternackten Frau, und dass man gestohlene Diamanten in seinem Rucksack gefunden habe …

Das durfte nicht geschehen.

Mit einem Ruck riss Michael das Messer aus seiner Schulter. Der Schmerz war so heftig, dass ihm schwarz vor Augen wurde. Dann wurde er jäh in die Realität zurückgeholt. Der beißende Geruch eines Lösungsmittels stieg ihm in die Nase. Es brannte wie Feuer, als das Mittel in die offene Wunde floss. Dann sah er den Fremden in der Tür stehen, einen Molotowcocktail mit brennender Lunte in der Hand.

Michael mobilisierte die letzten Kräfte, als der Mann die mit Farbverdünner gefüllte Flasche in seine Richtung warf. Sie schien eine Ewigkeit durch die Luft zu fliegen, bis sie auf dem rot glühenden Brennofen aufschlug und explodierte. Das Feuer breitete sich blitzschnell aus. Noch ehe die Tür in Flammen stand, war der Fremde verschwunden.

Michael lief taumelnd durch die Flammen und den dichten Rauch. Er zerrte eine Decke von einem Regal und warf sie über die vor Schock erstarrte Frau. Dann riss er ihr den Schal von den Augen und zog ihr den Knebel aus dem Mund. Voller Panik starrte die Frau auf die Flammen und schrie ihr Entsetzen heraus. Michael band sein Seil um ein Tischbein, warf einen Stuhl durchs Fenster und schleuderte das Seil hinterher. Er hakte es an seinem Klettergurt fest und hob die Frau auf die Arme. Sie klammerte sich verzweifelt an ihn.

Kaum war Michael mit seiner Last aus dem Fenster gesprungen, explodierte das Zimmer hinter ihm. Gemeinsam stürzten er und die Frau durch die Sommerluft, während der Tisch über den Boden schlitterte. Als er gegen das Fenster krachte, wurde ihr Sturz ein paar Stockwerke über der Gasse ruckartig beendet. Wenige Meter über den Köpfen Michaels und der Frau schossen Flammen aus dem Gebäude.

Als die Fenster des Stadthauses zerbarsten, setzte Michael mit seiner Last auf dem Bürgersteig auf. Schwarze Rauchwolken stiegen zum Himmel. Das Innere des Stadthauses leuchtete in orangerotem Licht, als der gesamte sechste Stock in Flammen stand. Michael legte die Frau behutsam auf den Bürgersteig. Sie fröstelte und zog jammernd die Decke um ihren nackten Körper.

Michael riss seinen Gürtel ab, warf sein Werkzeug in die Sträucher und tastete nach dem Rucksack mit den Diamanten. Er hing noch auf seinem Rücken. Blut rann aus seiner Schulterwunde; sein dunkles Hemd hatte sich rot gefärbt. Er blutete so heftig, dass ihm der entsetzliche Gedanke kam, er könne verbluten. Doch er verdrängte seine Furcht und beugte sich über die Frau, die allmählich aus der Benommenheit erwachte.

Sirenen heulten. Sekunden später hielten drei Streifenwagen auf der anderen Straßenseite. Michaels Blick glitt über die Fifth Avenue zu der Mauer, hinter der sich der Central Park befand. Noch einmal tastete er nach dem Rucksack, der seine Zukunft verkörperte.

Die Freiheit war nur zwanzig Meter entfernt.

Noch konnte er es schaffen.

Kapitel 1

Das Kirchenfenster war ein Meisterwerk aus leuchtendem Purpurrot, dunklem Rosa und mattem Gold – alles miteinander verschmolzen, um die Himmelspforte darzustellen. Die Morgensonne fiel ins Innere des Gotteshauses und warf bunte Schatten auf die Gemeindemitglieder. Die Frauen trugen elegante Kleider, die Männer Jacketts und Krawatten.

Auf der Kanzel stand Pater Patrick Shaunessy. Sein kurz geschnittenes Haar war schneeweiß, seine Augenbrauen dicht und schwarz. Seine Arme, die in den Falten der weiten, grünen Soutane versanken, bewegten sich im Rhythmus seiner klangvollen, irisch gefärbten Stimme. Seit Jahren predigte er vor seiner Gemeinde, doch er fragte sich immer wieder, ob er mit seinen Worten jemals auch nur eines seiner Schäfchen erreicht hatte. Heutzutage gab es eine Art Massenflucht vor der Religion. Es schien, als glaubten die Menschen nicht mehr an das Spirituelle, nur noch an das Materielle.

Shaunessy war ein kleiner, schwächlich wirkender Mann. In jungen Jahren hatte er davon geträumt, Jockey zu werden, doch seine wahren Gaben waren sein Glaube und seine klangvolle Stimme – so kräftig, wie sein Körper schwächlich war. Und nun erfüllte diese Stimme die Kirche.

»Ihr könnt das Seelenheil nicht wie ein Dieb in der Nacht stehlen. Denn es ist nicht das vollkommene Leben auf dieser Erde, wonach wir streben sollen, sondern der vollkommene Glaube. Nur der Glaube wird uns ewiges Leben bescheren.«

Der Priester nahm seine Blätter auf. »Schlagen Sie das Messbuch bitte auf Seite einhundertdrei auf«, sagte er. »Morning has broken.«

Die Gemeinde stimmte in den Gesang ein. Obwohl es sich nicht nach Cat Stevens anhörte, klang es passabel. Der Gesang erfüllte das Gotteshaus und hallte von der hohen Decke wider.

In den hinteren Reihen saß Pater Shaunessys größter Fan, eine hübsche Frau. Hätte sie versucht, sich zu verstecken, wäre es vergebliche Mühe gewesen: Die kastanienbraunen Locken, die wie flüssiges Feuer über ihren Rücken fielen, machten sie unübersehbar. Mit andächtiger Miene, das Messbuch in der Hand, sang sie leise für sich allein. Diese Demut passte gar nicht zu ihr und zu ihrem Leben. Schon als Teenager war sie kaum zu bändigen gewesen. Zwar war sie mit den Jahren ruhiger geworden und besaß mehr Verantwortungsgefühl; ihr wildes Naturell aber würde sie nie ganz ablegen. Doch sie saß fast jeden Sonntag um elf Uhr vormittags in der Kirche und dankte Gott für alles, was gut war in ihrer Welt. Von dem Kirchenbesuch ließ sie sich weder durch schlechtes Wetter noch durch Krankheit abhalten. Obwohl ihr Verhalten nicht immer dazu angetan war, als Vorbild für ein mustergültiges christliches Leben herzuhalten, war Mary St. Pierres Glaube ehrlich und aufrichtig.

Neben Mary saß schweigend ihr Mann. Er hatte die Lippen zusammengekniffen, während er den Blick über die Gemeinde schweifen lief. Sein Gesicht war ernst, sein langes braunes Haar zerzaust. Er sah gut aus, wirkte aber älter als achtunddreißig. Er war unruhig. In seinen dunklen Augen war zu sehen, dass er mit den Gedanken woanders war.

Nach der Messe verließen sie die Kirche inmitten der anderen Gläubigen, von denen einige zu Pater Shaunessy drängten, um ihm die Hand zu schütteln oder ein paar Worte mit ihm zu wechseln in der Hoffnung, dass dabei ein bisschen von der Gottgefälligkeit des Priesters auf sie und ihre Seelen abfärbte.

Wie nach jedem Gottesdienst drückte Shaunessy seinen Schäfchen mit einem freundlichen Nicken die Hand und dankte jedem, der lobende Worte für seine Predigt fand. Doch hinter Shaunessys verhaltenem Lächeln verbarg sich die Frage, ob auch nur einer von ihnen den Inhalt der Predigt wiederholen könnte, würde man ihn danach fragen.

Shaunessys Gesicht hellte sich auf, als er Mary erblickte.

»Eine schöne Predigt, Pater«, sagte Mary und schaute auf den Priester hinunter. Der Größenunterschied war so ausgeprägt, dass es aussah, als spräche die eins fünfundsiebzig große Frau mit einem Kind.

»Danke, Mary«, sagte der Priester und drückte ihre Hand. »Wenigstens auf Ihr Lächeln kann ich mich verlassen, wenn ich am Altar stehe.« Shaunessy nahm Michael gar nicht zur Kenntnis. Mary, die das Unbehagen ihres Mannes spürte, zog ihn näher zu sich heran. Der Priester wollte Mary nicht vor den Kopf stoßen und nickte Michael zu, als hätte er ihn jetzt erst bemerkt.

»Guten Morgen, Michael«, sagte er.

»Hallo, Patrick«, erwiderte Michael lustlos.

Hinter Mary hatte sich eine Schlange von Kirchenbesuchern gebildet, die darauf warteten, Shaunessy die Hand zu drücken. Zögernd ließ der Priester Marys Finger los. »Friede sei mit dir, mein Kind.«

»Und mit Ihnen, Pater.«

Die St. Pierres gingen die Allee zum Parkplatz hinunter, während Shaunessy sich seinen anderen Schäfchen zuwandte.

Michael fuhr mit dem 89er Ford Taurus vom Parkplatz vor der Kirche. Der Wagen war alt, aber bezahlt. Michael saß schweigend am Steuer und schaute gedankenverloren auf die Straße. Sein Verhalten verletzte Mary: Er zog sich in seine eigene Welt zurück, aus der er jeden ausschloss, um seine Probleme alleine zu lösen. Immer wieder versuchte Mary, die Mauer einzureißen, die Michael um sich herum errichtet hatte, was jedes Mal eine neue Strategie erforderte. Diesmal zwinkerte sie ihm lächelnd zu, streckte die Hand aus und zerzauste sein Haar.

»Was ist?«, fragte Michael.

»Ich habe sie gesehen.«

»Wen?«

»Die Laus, die dir über die Leber gelaufen ist.«

Michael verzog das Gesicht. Offenbar war ihm nicht nach Scherzen zumute.

»Sieh endlich ein, dass Patrick kein schlechter Kerl ist«, sagte Mary.

»Er schaut auf mich herab, als würde ich seine Gemeinde mit einem Virus anstecken. Ich dachte immer, Priester sollen jedes ihrer Schäfchen gleich behandeln.«

»Es ist jede Woche dasselbe mit dir. Muss das sein?« Mary legte ihm versöhnlich eine Hand aufs Bein.

Unangenehme Stille breitete sich im Wagen aus, als Michael sich wieder in Schweigen hüllte.

Dutzende Autos standen am Straßenrand, als sie ihr Ziel erreichten. Laute Musik klang bis auf die Straße. Eine Brise trug den Geruch des Meeres herüber. Mary ging über den mit Schieferplatten ausgelegten Pfad zu einem verwitterten, grauen Einfamilienhaus. Michael folgte ihr.

»Ich weiß nicht, ob ich in Feierlaune bin«, sagte er mürrisch.

»Wir bleiben nur auf einen Drink«, erwiderte Mary versöhnlich. »In einer halben Stunde verschwinden wir. Dann sind wir noch vor zwei Uhr zu Hause.«

Sie nahm Michaels Hand und führte ihn ins Haus. Die Räume waren dunkel und leer. Mary und Michael durchquerten ein schmucklos eingerichtetes Wohnzimmer zur Rückseite des Hauses. Nun konnten sie gedämpfte Geräusche hören, die mit jedem ihrer Schritte lauter wurden. Kurz darauf gelangten sie an eine Glasschiebetür mit einem großen Vorhang.

»Vergiss nicht zu lächeln«, flüsterte Mary.

Sie zog den Vorhang zurück und sah, dass die Party bereits in vollem Gange war. Auf der Terrasse hinter dem Haus standen die Gäste bis hinunter zum Strand. Auf drei Grills brutzelten Würstchen und Fleisch. Aus großen Lautsprechern dröhnte »Candy’s Room«, doch Bruce Springsteen konnte sich gegen den Lärm der Gäste nur mit Mühe durchsetzen.

Mary ergriff Michaels Hand. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die angetrunkene Menge. Als sie ans Ende der Terrasse gelangten, wo die Gäste nicht mehr ganz so dicht standen, erblickte Mary einen Bär von einem Mann, der sie und Michael nun ebenfalls sah und auf sie zukam. Die Leute machten ihm Platz und klopften ihm kumpelhaft auf den breiten Rücken. Er war ein schwerer Mann, groß und stämmig, mit blondem Haar. Mit seiner Größe von fast eins fünfundneunzig überragte er alle anderen. Als er Mary an sich zog, verschwand sie fast völlig in seiner Umarmung.

»Jetzt kann die Party richtig losgehen«, sagte der große Mann mit tiefer Stimme, ließ Mary los und drehte sich zu Michael um, dem es peinlich war, als Paul Busch nun auch ihn so fest umarmte, dass er das Gefühl bekam, zerquetscht zu werden.

»Ihr kommt zu spät, wie immer«, dröhnte der Riese.

»Die Kirche«, erwiderte Mary.

Der hünenhafte Mann schaute Michael an und fragte: »Du warst in der Kirche?«

»Ja. Ich habe für deine whiskygetränkte Seele gebetet.«

Der Hüne musterte ihn mit ernstem Blick. »Das sind doch nur faule Ausreden.« Er packte Michael mit seinen riesigen Pranken, zog ihn zu sich heran, drückte ihm einen feuchten Kuss auf die Stirn und ließ ihn wieder los. »Schön, dass ihr gekommen seid.«

Paul Busch trank nicht übermäßig, rauchte nicht und hasste Drogen aus tiefster Seele. Abgesehen von seiner Schwäche für Fastfood war er einer der solidesten Männer, die es gab. Nur einmal im Jahr, am Memorial Day, haute er mächtig auf die Pauke. Alle Bekannten und Verwandte wurden eingeladen, mit ihm gemeinsam den bevorstehenden Sommer zu begrüßen. Und da Paul die Party schmiss, langte er ordentlich zu, auch beim Alkohol. Und er hatte bereits tüchtig getrunken, wie sein schiefes Grinsen erkennen ließ.

Das ausgelassene Kreischen von Kindern übertönte die Musik. Einen Augenblick später erschienen sie wie aus dem Nichts, ein Junge und ein Mädchen, nicht älter als sechs oder sieben, beide mit flachsblondem Haar und einem Lächeln, das auch das kälteste Herz erwärmen konnte. Robbie Busch war nur elf Monate älter als seine Schwester Chrissie. Die Kinder warfen sich in Michaels ausgestreckte Arme.

»Lasst den Mann in Ruhe! Komm, Michael, trink erst mal was.« Paul versuchte, seine Kinder wegzuziehen.

»Aber Daddy! Michael ist der Einzige hier, der mit uns spielt«, bettelte Robbie.

Paul blickte seinem Sohn in die Augen. »Weißt du, warum? Weil er hier der Einzige ist, der dein gehobenes geistiges Niveau besitzt.«

»Ist schon okay«, sagte Michael, hockte sich hin und raufte den Kindern das Haar.

Paul seufzte. So stark er sonst war – wenn es um seine Sprösslinge ging, wurde er schwach. Er warf die Hände in die Luft. »Wie du willst, Michael. Aber wenn sie dich umbringen, komm nachher nicht zu mir und beklag dich.«

Das Fußballspiel war in vollem Gange. Die Spieler rannten barfuß über den heißen Sand. Die beschwipsten Möchtegern-Sportler hatten ihre beste Zeit hinter sich, gaben sich aber alle Mühe. Für Michael sah es so aus, als würden die nach Luft schnappenden, dickbäuchigen Typen mit den knallroten Gesichtern jeden Moment zusammenbrechen. Aber sie wollten ganze Kerle sein; deshalb waren Schmerzen kein Thema, jedenfalls nicht vor ihren Freunden.

Michael erkämpfte sich den Ball und spielte einen langen Pass zu Paul. Der war zwar ein großer, kräftiger Mann, doch seine Größe hinderte ihn nicht daran, leichtfüßig über den Sand auf das Tor zuzusprinten und seine Verfolger hinter sich zu lassen. Der Ball beschrieb einen Bogen – ein Schuss wie aus dem Lehrbuch – und landete genau hinter der Torlinie. Paul tänzelte vor Freude und schlug sich mit beiden Fäusten auf die Brust, ehe er zurück zu den Mannschaftskameraden joggte. Sie klatschten sich ab, als hätte das Tor sie zu Weltmeistern gemacht.

Beim Anstoß erkämpfte Michael sich erneut den Ball und spielte ihn wieder Paul zu.

»Noch ein Tor, Peaches!«, rief er.

Jason, ein Spieler der gegnerischen Mannschaft, stürmte auf Paul zu. Sein kahler Schädel war knallrot. Es bildeten sich bereits Brandblasen, doch der hohe Bierkonsum schien den Schmerz zu dämpfen. Als Jason Pauls Spitznamen hörte, warf er dem Riesen einen verwirrten Blick zu. »Peaches? Was soll das denn heißen?«

Paul schnaubte. Wenn er eines nicht ausstehen konnte, dann war es sein Spitzname. Wie ein gereizter Bulle rannte er Jason um, vergrub ihn halb im Sand, beugte sich über seinen benommenen Gegner und sagte schadenfroh: »Oh, Verzeihung.«

Die Sonne war vor zwei Stunden untergegangen, und nach dem warmen Spätfrühlingstag war es kühl geworden. Die Party neigte sich dem Ende zu. Überall lagen leere Bierflaschen; Rauchfahnen stiegen von den Grills auf. Die meisten Gäste waren wieder zu Hause, doch die Kinder steckten noch voller Energie und tobten in der Wohnung herum.

Michael legte seine blaue Sportjacke über Marys Schultern. Sie zog sie eng um den Körper, um die abendliche Kälte fernzuhalten. Dann sammelten sie ihre Sachen ein und gingen zur Haustür, wo Jeannie stand und die letzten Gäste verabschiedete.

»Ich muss noch etwas aus dem Laden holen«, sagte Michael.

»Um diese Zeit?« Mary wollte so schnell wie möglich ins Bett.

Ehe Michael etwas erwidern konnte, beugte Jeannie sich vor und küsste Mary auf die Wange. »Schön, dass ihr gekommen seid.«

»Danke für die Einladung«, erwiderte Mary.

»Hier, ein paar Leckerbissen. Es ist allerhand übrig geblieben.« Jeannie reichte Mary zwei Plastiktüten. »Tut mir den Gefallen und nehmt es, damit ich mich im Sommer nicht neu einkleiden muss, weil mir nichts mehr passt.«

»Michael?«, erklang Pauls lallende Stimme aus einem anderen Zimmer. Michael ging in die Küche. Paul, der ziemlich betrunken war, beugte sich über den Küchentisch und zog ein paar Papiere aus seiner Jacke. »Ich brauche noch dein Autogramm.«

Michael nahm den Stift entgegen. »Danke für alles. Das bedeutet mir sehr viel.«

»Du würdest für mich dasselbe tun.« Paul nippte an seinem Scotch.

»Die Kinder wissen doch nichts davon?« Für Michael wäre eine Welt zusammengebrochen, hätten ausgerechnet Pauls Kinder die Wahrheit erfahren.

»Nein. Und sie werden es auch nie erfahren.«

Michael blätterte die offiziell aussehenden Papiere durch und unterschrieb sie alle, ohne sie durchzulesen. Er wusste, um was es ging. Als er alles unterzeichnet hatte, legte er die Blätter ordentlich aufeinander und schob sie Paul hin. »Darf ich dich was fragen?«

»Klar.« Paul schenkte sich noch einen Drink ein.

»Waren heute Abend noch andere hier?«

»Ich hab dir doch schon gesagt, Mike, ich hab dich deinetwegen eingeladen, nicht wegen dieser Sache.« Paul zeigte auf die Papiere. »Unsere Freundschaft ist kein Trick. Normalerweise bedeutet es den Todesstoß, aber was ist das Leben ohne Risiko? Pat Garrett war mit Billy the Kid befreundet. Und wer will sonst dein Freund sein?« Paul trank das Glas in einem Zug leer. »Ich will trotzdem ehrlich zu dir sein, Mike. Du siehst passabel aus, aber ich finde, Mary hat einen viel hübscheren Hintern.« Paul grinste und rülpste. Er erhob sich mühsam, schlang seinen dicken Arm um Michael und wankte mit ihm zur Tür.

Wie schon in den vergangenen zwei Jahren würde Paul morgen eines der Formulare, die Michael gerade unterschrieben hatte, zu seinen Akten nehmen. Eine Kopie war für das Gericht, eine andere für seinen Vorgesetzten. Es waren Dokumente mit dem Wappen der Vereinigten Staaten. Darunter stand in großen, fett gedruckten Buchstaben:

BEWÄHRUNGSAUSSCHUSS DES STAATESNEW YORK

Kapitel 2

In Michaels Laden für Sicherheitstechnik herrschte peinliche Ordnung. Elektronische Bauteile hingen an der Hartfaserplatte. Überwachungsmonitore, Kameras und Schaltpulte standen in den Regalen. Ein paar Schreibtische säumten die Rückwand – eine Vorkehrung für die hoffentlich erfolgreiche Zukunft des Unternehmens. Im Augenblick führte er das Geschäft allein. Es verfügte über einen hochmodernen Verkaufsraum, in dem Minikameras, Abhörgeräte, optische Spezialgeräte und Alarmanlagen aller Art angeboten wurden. Am besten verkauften sich die Sicherheitssysteme. Auf diesem Gebiet fühlte Michael sich am ehesten zu Hause. Das Geschäft war nicht groß, doch er hatte es selbst aufgebaut. Auch wenn sie im Augenblick noch auf Marys wöchentliches Gehalt angewiesen waren – Michael wollte dafür sorgen, dass Mary ihren Job eines Tages an den Nagel hängen konnte.

Ohne dass Michael es bemerkte, betrat ein Fremder das Geschäft, ein gut aussehender Mann Mitte sechzig mit braunen Augen und dunklen Brauen. Sein langes weißes Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er trug einen dunklen Regenmantel über einem teuren, europäischen Anzug und roch nach Geld.

Als Michael sich umdrehte und unerwartet den Mann sah, schrak er zusammen.

Der Mann lachte. Seine Stimme hatte einen leichten deutschen Akzent. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Das Lächeln des Fremden war einnehmend.

»Bedaure, Sir, aber wir haben geschlossen«, sagte Michael, wühlte in der obersten Schublade des Schreibtisches und zog ein paar Entwürfe heraus. »Tut mir leid, aber ich bin in Eile.«

»Ich fasse mich kurz.« Der Fremde reichte Michael eine Visitenkarte. »Ich glaube, wir könnten einander von Nutzen sein.« Er ging durchs Büro und schaute sich um. »Ich könnte Ihnen helfen, Ihre Probleme zu lösen, und Sie könnten mir helfen, meine zu lösen.«

»Probleme? Tut mir leid, Mister …«, Michael spähte auf die Visitenkarte, »Finster.« Er steckte die Karte ein, nahm aus einem Schrank einen Briefumschlag, auf dem »Angebot« stand, und warf ihn zusammen mit den Entwürfen in seine Aktentasche. Dann hakte er den Schlüsselbund an seinen Gürtel und blickte den Mann an. »Außerdem habe ich keine Probleme, Mister. Kommen Sie jetzt bitte, ich muss zumachen.« Gefolgt von dem Fremden, ging Michael zur Tür, schaltete die Alarmanlage ein, zog das Eisengitter herunter, schloss ab und ging über den Parkplatz des kleinen Einkaufszentrums zu seinem Wagen.

Finster ging neben ihm her. »Ihnen wäre eine großzügige Vergütung sicher«, versuchte er es noch einmal.

Michael hob die Hände und blieb stehen. Er wusste genau, in welche Richtung das Gespräch ging. »Ich habe den Job gewechselt.«

»Die Umstände ändern sich«, sagte Finster.

»Meine nicht«, erwiderte Michael und ging weiter.

»Rufen Sie mich an, falls Sie es sich anders überlegen!« Finster schaute Michael nach, als dieser zu seinem Wagen ging. »Und verlieren Sie meine Karte nicht.«

»Warten Sie lieber nicht auf meinen Anruf«, gab Michael zurück, ohne sich umzudrehen.

Es war eine hübsche, bescheiden eingerichtete Zweizimmerwohnung, die Mary in ein gemütliches Heim verwandelt hatte. Sie lag im dritten Stock eines gepflegten Wohnhauses, in dem sie sich wohl fühlten. Als Michael und Mary eintraten, trottete ein riesiger, sabbernder Berner Sennenhund auf Michael zu.

Michael setzte sich auf den Boden und tollte kurz mit dem schwarz-braun-weißen Hund herum. »Ich gehe mit Hawk um den Block, okay?«, sagte er dann zu Mary, nahm die Leine vom Tisch in der Diele und ging zur Tür.

»Aber komm nicht so spät«, sagte Mary, obwohl sie wusste, dass ihre Worte auf taube Ohren stießen.

Nach fünfzehn Minuten kehrte Michael zurück. Der Spaziergang hatte ihm gutgetan.

»Michael?«, rief Mary aus dem Schlafzimmer.

»Ja?«

Keine Antwort.

»Mary? Was ist?«

Michael betrat das Zimmer, in dem es so düster war, dass er die Hand vor Augen nicht sehen konnte. »Mary?« Er drückte auf den Lichtschalter, doch die Lampe blieb dunkel. Wahrscheinlich war die Birne kaputt. »Hör auf mit dem Unsinn, Mary.«

Er schaute im Badezimmer nach. Niemand zu sehen. Noch einmal drückte er auf den Lichtschalter. Wieder blieb es dunkel. »Ich finde das gar nicht komisch, Mary.«

Die Schlafzimmertür fiel zu.

Michael ging reflexartig in die Hocke. Binnen eines Sekundenbruchteils war seine Wachsamkeit geweckt, und seine Instinkte übernahmen die Kontrolle. Es war mehr als fünf Jahre her, doch seine Muskeln erinnerten sich noch an jede Bewegung, und seine Sinne waren so geschärft wie eh und je. Er wich einen Schritt zurück. Im selben Augenblick stürzte sich jemand auf ihn. Michael stockte das Herz. Er wollte schon zum Schlag ausholen, hielt sich aber instinktiv zurück. Die Gestalt wirbelte ihn herum, stieß ihn aufs Bett, sprang auf ihn und riss sein Hemd so ungestüm auf, dass die Knöpfe in alle Richtungen flogen.

Die Anspannung fiel von Michael ab, als Mary flüsterte: »Du hast vergessen, mir einen Kuss zu geben.«

Mary, die unter den zerwühlten Decken auf einem Berg Kissen lag, streichelte CJ, ihre Katze, während Michael sich Shorts anzog. Trotz der Spannungen in letzter Zeit liebten sie sich noch genauso wie vor sechseinhalb Jahren, als sie sich kennen gelernt hatten.

Mary war damals vierundzwanzig gewesen und hatte kurz zuvor ihr Lehramtsexamen abgelegt. Obwohl Michael acht Jahre älter war als Mary, hatte es bei ihrer ersten Begegnung sofort gefunkt. Dabei war sie wenig romantisch verlaufen: Mary hatte ihren Wagen zurückgesetzt und dabei Michaels Auto gerammt. Sofort lagen sie sich in den Haaren und stritten sich zwanzig Minuten lang darüber, wer Schuld hatte. Der Streit erreichte einen Höhepunkt, als Michael erklärte, dass er unter einer Bedingung nachgeben würde: wenn Mary sich zum Essen einladen ließe. Er wusste selbst nicht, weshalb er sie gefragt hatte. Es war eine spontane Idee gewesen. Und Mary wusste bis zum heutigen Tag nicht, warum sie Ja gesagt hatte. Niemand hatte ihr irisches Blut jemals so in Wallung gebracht wie dieser Mann.

Nachdem sie zwei Monate miteinander geflirtet hatten, flogen sie zu den Virgin Islands, wo sie sich am Strand trauen ließen. Sie brauchten keine Blumen, keine Freunde und keinen Brautmarsch. Für sie war es die perfekte Zeremonie, denn sie hatten ihren Traumpartner gefunden. Die Trauzeugen waren ein achtzig Jahre altes Ehepaar, das sie auf dem Flug zu den Inseln kennen gelernt hatten. Weder Bräutigam noch Braut hatten Verwandte, die sie zur Feier einladen konnten oder wollten.

Die Einzige, die eingeschnappt war, als sie von der Hochzeit erfuhr, war Jeannie Busch. Selbst ihr hatte Mary ihren Freund nicht vorgestellt. Jeannie lernte ihn erst kennen, als beide mit dem Ehering am Finger aus den Flitterwochen zurückkehrten. Zuerst spielte Jeannie die Beleidigte, erschien ein paar Tage später aber mit Hochzeitsgeschenken und schloss Michael in die Arme.

Sie zogen in Michaels Sommerhaus in Bedford, das Mary binnen kürzester Zeit in ein gemütliches Zuhause verwandelte. Michael, der es gewöhnt war, im Restaurant zu essen, fühlte sich anfangs ein wenig unbehaglich, was sich aber rasch änderte, denn Mary kochte hervorragend. Michael lernte ihr kulinarisches Talent bald zu schätzen und musste schließlich eine Meile an seinen täglichen Dauerlauf anhängen, um die zusätzlichen Kalorien zu verbrennen.

Mary wiederum entdeckte Michaels handwerkliches Geschick und spannte ihn in die Umgestaltung der Wohnung ein, die nach ihren Vorstellungen vorgenommen wurde. Sie wurden ein glückliches Paar, obwohl sie so unterschiedlich waren – oder gerade deshalb.

Sie konnten nicht ahnen, dass am Horizont bald düstere Wolken aufziehen würden.

Kapitel 3

Es ist still. Die Luft ist moderig und schal. Unvermittelt öffnet sich ein Gitter an der Decke, schwingt hin und her. Eine schwarz gekleidete Gestalt springt aus der Öffnung und landet geschmeidig wie ein Panther auf dem Fußboden eines altertümlichen Museums, dessen Gänge sich über Meilen hinzuziehen scheinen. Hohe Decken, Marmorböden und Säulen, so weit das Auge reicht. Ein Raum folgt auf den anderen. Gemälde, Skulpturen und antike Artefakte sind hier ausgestellt. Jede Epoche ist vertreten, von den Anfängen der Menschheit bis hin zu moderner Computerkunst. Es ist eine Zeitkapsel.

Bei Tageslicht wäre dieses Museum eine Art Tempel, in dem die kulturellen Leistungen des Menschen veranschaulicht wurden, doch das Tageslicht ist längst erloschen. Der schwache Schimmer, der durch die Fenster fällt, die in mittelalterlichem Stil gehalten sind, hat eine beinahe surreale Wirkung.

Der schwarz gekleidete Mann bewegt sich geschmeidig durch die Gänge, wobei das Messer in seiner Hand hin und her schwingt. Der geschnitzte Elfenbeingriff ist mit Leder umwickelt, und die Klinge wirft Lichtblitze in die Dunkelheit. Der Mann hält das Messer gepackt, als wäre es eine Art Talisman, der böse Geister vertreibt – oder neugierige Wachleute.

Der Mann schleicht durch einen großen Raum, in dem Rüstungen aus aller Welt und aus den verschiedensten Epochen gezeigt werden. Sämtliche Exponate sind in kriegerischer Pose ausgestellt, als würden die Seelen der Kämpfer sich noch darin befinden und als warteten sie noch immer auf den Befehl zum Angriff. Der Mann kommt an den Schaukästen der indianischen Anasazi-Kultur vorbei, in denen bleiche Knochen liegen, die aus Felsenwohnungen ausgegraben wurden. Kleine Schildchen informieren über den genauen Fundort eines Schienbeins oder Unterkieferknochens. An einer Wand stehen ägyptische Sarkophage. Mumien liegen in verschlossenen Glassärgen im Vakuum und warten auf ein Leben nach dem Tod, wie schon seit drei Jahrtausenden. Doch ihr goldener Schmuck – Geschenke, um die Götter milde zu stimmen – wurde niemals den Göttern übergeben.

Jedes Stück, ob Schmuck, Waffen oder Knochen, gehört zu einem Menschen, der seit langer Zeit tot ist, und verbreitet eine Aura, die gespenstisch die Säle und die langen, kalten Korridore durchdringt. Dies hier ist eine Feier des Todes, geschändeter Leben und gestörter Totenruhe. Dies hier sind Dinge, die niemals hätten angerührt werden dürfen, und doch wurden sie ausgegraben, geplündert und gestohlen, um die Gier nach Reichtum, Ruhm oder Eitelkeit zu befriedigen.

Und unwillkürlich stellt man sich die Frage, was zusammen mit diesen Schätzen ausgegraben und in dieses Museum gebracht wurde …

Der Eindringling beachtet die Reichtümer nicht. Er eilt eine große Treppe hinauf, durchquert eine Galerie und gelangt in einen runden Raum. In der Mitte steht eine große Glasvitrine. Ein Lichtstrahl scheint auf den Gegenstand, der im Innern der Vitrine ruht. Der Mann bewegt sich vorsichtig näher heran, umkreist die Vitrine beinahe ehrfürchtig, wobei er das Messer durch die Finger gleiten lässt. Dann schlägt er oberhalb der Vitrine mit der Hand durch die Luft, als wollte er den Widerstand testen. Als er zurücktritt, kann man einen Blick ins Innere des Glaskastens werfen: Auf mitternachtsblauem Samt liegen Brillanten von unschätzbarem Wert, für die Kriege geführt, Reiche zerstört und ewige Liebe versprochen wurden. Es ist der Schatz eines längst versunkenen Königreichs.

Der Mann nähert sich der Vitrine und verdeckt sie mit dem Körper. Regungslos steht er da, atmet kaum hörbar und wartet. Sekunden vergehen, werden zu Minuten. Kein Lüftchen regt sich. Stille erfüllt den Raum. Dann tritt der Mann zurück.

Die Vitrine ist leer.

Scheinbar mühelos klettert der Mann ein dünnes Nylonseil hinauf, zwängt sich durch das Gitter in den Luftschacht und kriecht durch das enge Blechrohr. Das schwache Licht, das durch die Gitter fällt, verleiht ihm einen unheimlichen Schimmer. Schon die Gänge unten waren lang, doch diese Luftschächte sind schier endlos. Der Mann tröstet sich mit dem Gedanken, dass der schwierigste Teil hinter ihm liegt. Er kann ein wenig aufatmen, denn die Beute ist nun in seinem Rucksack verstaut.

Plötzlich hört er ein Geräusch hinter sich. Noch ist es fern, doch es kommt näher. Im Schacht ist es so eng, dass der Mann sich nicht umdrehen kann, um zu sehen, was hinter ihm ist. Deshalb kriecht er weiter, bewegt sich nun schneller als zuvor. Vermutlich wird das Geräusch, das ihn erschreckt hat, durch das Ausdehnen und Zusammenziehen des Metalls verursacht, das durch Temperaturschwankungen entsteht. Kein Grund zur Sorge.

Der Mann beruhigt sich. Nicht mehr lange, und er ist in Sicherheit.

Dann hört er das Geräusch erneut. Diesmal ist es lauter und näher, und es ist nicht das Knacken von Blech. Es ist ein Geräusch, das man in keinem Luftschacht, in keinem leeren Museum erwarten würde. Es ist kein menschlicher Laut, sondern das boshafte Knurren eines Tieres. Und es kommt näher.

Dem Mann schlägt das Herz bis zum Hals. Schweiß bricht ihm aus. Immer schneller kriecht er durch den Schacht, doch das Geräusch nähert sich unerbittlich und klingt nun wie ein fernes Gewitter. Was immer hinter dem Mann her ist – es muss riesig sein.

Jetzt spürt er, wie sein Verfolger den Schacht in Schwingungen versetzt. Das Blech stöhnt und ächzt und verbiegt sich. Die schiere Masse der Kreatur muss gewaltig sein.

Der Mann hatte für sämtliche Zwischenfälle Vorkehrungen getroffen – Wachen, Alarmanlagen, das Licht – und für jeden vorhersehbaren Zwischenfall vorgebeugt. Sein Zeitplan war sekundengenau. Sogar für den Fall kleinerer Pannen hatte er Ausweichpläne erstellt.

Das Grollen wird lauter, bedrohlicher. Jetzt ist sie nicht mehr weit, die Kreatur. Wer oder was immer sie ist, sie bewegt sich nun schneller und atmet schwer. Das Metall vibriert unter der Last des Gewichts. Der Lärm wird ohrenbetäubend. Das ganze Gebäude scheint zu beben.

Für Michael ist es ein aussichtsloser Wettlauf inmitten des höllischen Getöses, doch er gibt nicht auf. Als er über ein weiteres Gitter kriecht, fällt Licht auf sein Gesicht. Sein Blick ist konzentriert. Schweiß rinnt ihm über die Stirn, während er durch den Schacht flieht. Ein Beobachter würde seine Flucht vielleicht komisch finden, doch es ist nichts Komisches daran, dem Tod ins Auge zu blicken. Das, was sich zusammen mit Michael in dem Luftschacht aufhält, dürfte gar nicht hier sein. Es dürfte nirgendwo sein. Es dürfte gar nicht existieren.

Michael gerät in Panik. Seine Muskeln schmerzen, als seine verschwitzten Hände über die glatte Oberfläche rutschen. Der Schmerz kriecht ihm in die Knochen. Vom lauten Gebrüll der sich nähernden Bestie drohen ihm die Trommelfelle zu platzen. Das Getöse lässt sein Inneres vibrieren.

Dann, unvermittelt, tritt absolute Stille ein.

Michael verharrt. Lauscht. Nichts ist zu hören. Tausend Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Er fragt sich, ob sein Verfolger auf den richtigen Augenblick für den tödlichen Angriff wartet.

Wieder lauscht er angestrengt. Der Höllenlärm war unerträglich gewesen, doch die plötzliche Stille ist fast noch schrecklicher. Was ist geschehen? Lauert die Bestie irgendwo, um urplötzlich zuzuschlagen?

Michael bekommt Platzangst. Vielleicht hat die Kreatur seine Spur oder die Orientierung verloren. Ein einziger Atemzug könnte ihn verraten. Was ist dieses Wesen? Wo ist es? Wie kann er sich in diesem engen Schacht verteidigen, falls überhaupt?

Michael löst sich aus seiner Erstarrung und kriecht eilig weiter. Nie hätte er geglaubt, sich so schnell bewegen zu können. Verzweifelt lenkt er seine ganze Kraft auf die Flucht, auf sein Überleben. Lieber an Erschöpfung sterben als in den Klauen seines unheimlichen Verfolgers. Michael achtet nicht auf seine blutigen Hände und auch nicht auf die Schrammen und blauen Flecken auf seinen Beinen. Er würde ein ganzes Jahr lang Schmerzen in Kauf nehmen, wenn er aus diesem Schacht, aus diesem Gebäude fliehen könnte …

Dann setzt das Geräusch mit voller Lautstärke wieder ein. Das Dröhnen lässt den Schacht erbeben. Knurrend und hämmernd schiebt die Masse des sich nähernden Körpers eine stinkende Woge feuchtheißer Luft vor sich her, die an Michael vorbeirauscht. Michael schaudert, als er die Bestie so plötzlich riechen kann. Es ist ein widerlicher Gestank nach verwesendem Fleisch, von dem Michael würgen muss.

Unvermittelt sieht er fünfzig Meter vor sich das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Er fasst neuen Mut: Es ist der Ausgang des Schachts. Noch einmal mobilisiert Michael alle Kräfte und schleppt sich auf das Licht zu.

Noch fünfundzwanzig Meter. Die Rettung ist zum Greifen nahe. Als würde die Bestie es spüren, verstummt ihr höllisches Knurren. Es wird drückend still. Die Geräusche, der Gestank – alles verschwindet. Zwanzig Meter von der Freiheit entfernt, verharrt Michael. Die Bestie ist verschwunden.

Es ist das Licht, schießt es Michael durch den Kopf. Die Bestie muss sich vom Licht abgewandt haben und zurück in ihre Schattenwelt geflohen sein. Das ist die einzige Erklärung. Doch ehe Michael einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen kann, verdunkelt sich das Licht vor ihm. Michaels Herzschlag setzt aus, als er begreift, dass es nicht nur eine Bestie ist. Vor ihm sind zwei glühende Raubtieraugen. Die wild funkelnden Augen einer teuflischen Kreatur.

Und dann hört er hinter sich erneut das Knurren seines Verfolgers und riecht dessen stinkenden Atem. Michael erstarrt. Er kann sich nicht umdrehen, sodass er nicht sehen kann, was hinter ihm ist, und vor ihm ist das andere Monster. Er sitzt in der Falle. Sekunden dehnen sich zu Minuten. Er ist wie benommen. Seine Angreifer warten. Sie sind unsichtbar, aber sie sind da. Ihr Atem geht schwer, als könnten sie es kaum erwarten, den Mann anzugreifen. Von dem fürchterlichen Gestank dreht sich Michael der Magen um.

Dann verstummt das Atmen. Könnte es sein, dass die Kreaturen ihre Absichten geändert und sich zurückgezogen haben? Doch der Geruch des Todes ist noch allgegenwärtig in der Dunkelheit. Das Warten wird Michael unerträglich.

Und dann ergreift das, was ihn verfolgt, blitzschnell seinen Fuß und zerrt ihn zurück in die Finsternis des Schachts. Michael ist vor Schock wie gelähmt. Ein Schrei bleibt ihm in der Kehle stecken. Den Bruchteil einer Sekunde später wird er in rasender Geschwindigkeit – schneller, als es einem Menschen möglich wäre – zurück in den Schacht und in die Düsternis gezogen.

Mary saß kerzengerade im Bett und rang nach Atem. Sie schaute sich nach Michael um, doch er war nicht da. Ihre schlimmsten Ängste schienen in der Dunkelheit zu lauern. Selbst CJ, die Katze, war verängstigt und zischte Mary an wie eine Fremde.

Mary stieg aus dem Bett und eilte aus dem Schlafzimmer, ohne sich einen Morgenmantel überzuziehen. Das Wohnzimmer war leer. Sie rannte in die Küche, wo ein angeknabbertes Sandwich auf dem Tisch lag, doch nirgends war eine Spur von Michael zu sehen. Ihr Blick fiel auf die geschlossene Tür des Arbeitszimmers. Durch die Ritze unter der Tür drang Licht. Mary stieß die Tür auf.

Michael saß am Schreibtisch und beschäftigte sich mit Papieren. Hawk lag zu seinen Füßen und schlief.

Mary warf sich erleichtert in seine Arme und ließ den Tränen freien Lauf.

Es war nur ein Traum gewesen.

»Versprichst du mir etwas, Michael?«, fragte sie.

Michael drückte sie an sich. »Alles.«

»Dass du es nie wieder tust. Dass das alles Vergangenheit ist.«

Michael blickte ihr in die Augen und gelobte: »Ich schwöre es.«

Kapitel 4

Auf der Hauptwache des Byram Hills Police Departments herrschte reger Betrieb. Das in den Zwanzigerjahren erbaute Polizeirevier hatte erlebt, wie die Bevölkerung der Stadt sich um ein Zwanzigfaches vergrößert hatte. Ursprünglich war das Revier mit fünf Beamten besetzt gewesen; im vergangenen Jahr waren es zum ersten Mal mehr als hundert gewesen. In alten Zeiten gab es die meisten Festnahmen wegen Trunkenheit und Unruhestiftung, vor allem an Zahltagen. Inzwischen waren Schwerverbrechen an der Tagesordnung.

Auch an diesem Morgen herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Verhaftete und Betrunkene wurden ins Revier geführt, erkennungsdienstlich erfasst und in die Zellen im Kellergeschoss gesperrt. Die jungen Streifenbeamten in ihren blauen Uniformen versammelten sich auf den ausgetretenen Marmorstufen vor dem Revier, tranken Kaffee und aßen Brötchen, ehe ihre Schicht begann.

Das Großraumbüro der Kriminalbeamten im ersten Stock war unzumutbar. Zehn Schreibtische standen in einem Raum, der nur für fünf Personen vorgesehen war. Paul Busch, in Jeans und zerknitterter Jacke, füllte Formulare aus. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Akten. Pauls erste Cola des Tages war bereits halb leer. Er war froh, dass er nicht nach Kaffee und Donuts süchtig war, doch sein täglicher Konsum an Cola und Keksen machte ihn auch nicht gerade zu einem Vorbild an Gesundheitsbewusstsein.