Die dreizehnte Stunde - Richard Doetsch - E-Book
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Die dreizehnte Stunde E-Book

Richard Doetsch

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Beschreibung

Nicholas Quinn sitzt im Verhörraum der Polizei. Seine Frau wurde ermordet, und man hält ihn für den Täter. Doch er ist unschuldig. Ihr Tod ist mit dem Schicksal von 212 Menschen verbunden, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind ? denn eigentlich sollte Nicholas? Frau an Bord dieser Maschine sein. Doch aus irgendeinem Grund hat sie die Maschine in letzter Minute verlassen. Dieser Grund ist für den Absturz verantwortlich. Und für ihren Tod. Ein Fremder betritt das Verhörzimmer. Er überreicht Nicholas eine goldene Uhr. "Ihre Frau ist nicht tot", sagt er. "Sie lebt noch. Und mit dieser Uhr können Sie sie retten. Sie haben 13 Stunden." Der Countdown hat begonnen ...

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Seitenzahl: 497

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitate

Anmerkung des Autors

12.

11.

10.

9.

8.

7.

6.

5.

4.

3.

2.

1.

13.

Epilog

RICHARD DOETSCH

Die13. Stunde

THRILLER

Aus dem Englischen vonDietmar Schmidt

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch bei Lübbe Audio lieferbar

Titel der Originalausgabe:

»The Thirteenth Hour«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2009 by Richard Doetsch

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with the original publisher, Atria Books, a division of Simon & Schuster, Inc., New York

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2010 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Wolfgang Neuhaus

Lektorat: Jan F. Wielpütz

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm

E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-8387-0138-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

»Man kann keine Zeit totschlagen, ohne die Ewigkeit zu verletzen.«

HENRY DAVID THOREAU

»Für einen einzigen Augenblick Zeit, der mir gehört, gäbe ich alle meine Reichtümer.«

QUEEN ELISABETH I.

»Hätte ich die Folgen geahnt, wäre ich Uhrmacher geworden.«

ALBERT EINSTEIN

ANMERKUNGDES AUTORS

Wundern Sie sich nicht, wenn auf der nächsten Seite das Buch mit dem Kapitel 12 beginnt.

Die Kapitel und Seitenzahlen dieses Romans sind in umgekehrter Reihenfolge angeordnet und sollen auch so gelesen werden..

Den Grund dafür werden Sie beim Lesen rasch erkennen, denn die Geschichte verläuft rückwärts …

Der dunkelhaarige Mann schob die exotische Sonderanfertigung des Colt Peacemaker über den Tisch. Mit seinem Rahmen aus polierter, goldverzierter Bronze und den edelsteinbesetzten Griffschalen aus Elfenbein hatte der Revolver nichts mit den anderen Waffen gemein, die im neunzehnten Jahrhundert produziert worden waren: ein Sechsschüsser aus dem Jahr 1876, in der Zeit verloren, von der Geschichte vergessen, eine Legende nicht nur in Sammlerkreisen.

Wie bei den edelsten Waffen jener Zeit üblich, bedeckten verschlungene Gravuren den Rahmen und den siebeneinhalbzölligen Lauf. Die Gravuren auf dieser Waffe waren allerdings einzigartig: Zitate aus der Bibel, dem Koran und der Thora, fachmännisch in eleganter Kalligraphie ausgeführt:

Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt … Dass ihr versammelt werdet als Gefangene in der Grube … Und ihr machtet des Zorns noch mehr … Dann wird kommen eine Finsternis über Ägypten … Und kämpft mit denen auf dem Wege Allahs, die mit euch kämpfen …

Sprüche auf Englisch, Latein und Arabisch, als wäre der Revolver eine Waffe Gottes, eigens dazu gebaut, die Sünder niederzustrecken.

Angefertigt worden war der Colt für Murad V., den siebenunddreißigsten Sultan des Ottomanischen Reiches. Im August 1876, als Murad nach einer Regierungszeit von nur dreiundneunzig Tagen wegen Geisteskrankheit abgesetzt wurde, war die Waffe verschwunden.

»Extrem selten«, sagte Ethan Dance und nahm die Waffe mit der Hand auf, über die er einen Latexhandschuh gestreift hatte. »Ich würde sogar sagen, bei ihrem Alter ist sie ein Einzelstück.«

Er handhabte die Waffe so behutsam, als wäre sie ein Neugeborenes. Mit müden, blutunterlaufenen Augen betrachtete er die komplizierten Verzierungen und fuhr mit dem latexbedeckten Finger sanft über die Bronze und das Gold, voll ehrfürchtiger Bewunderung für die Kunstfertigkeit, mit der dieser Colt-Revolver gefertigt worden war. Schließlich legte er ihn wieder auf den Tisch und griff in die Tasche seines zerknitterten blauen Blazers.

»Wie es scheint, wurde die Munition mit dem gleichen religiösen Eifer verziert.« Dance legte eine Patrone auf den Tisch, in der ein silbernes Geschoss vom Kaliber .45 steckte, das ebenfalls mit Gravuren versehen war: Über die Hülse lief arabische Schrift. »Es waren noch fünf Patronen in der Trommel. Die Kugeln sind aus Silber. Warum, weiß ich nicht; schließlich sind im Istanbul des Jahres 1876 keine Werwölfe herumgelaufen. Auf der anderen Seite muss man berücksichtigen, dass diese Waffe für einen Verrückten angefertigt wurde.«

Nicholas Quinn saß Dance am Tisch gegenüber und betrachtete schweigend den Revolver. Er roch das frische Öl des Mechanismus und einen Hauch von schwefligen Rückständen im Lauf.

»Was kostet so etwas? Fünfzigtausend Dollar? Hunderttausend?« Dance nahm den Revolver wieder auf und drehte die Trommel. »Diese Waffe ist eine Art Legende. Hundertdreißig Jahre lang wusste niemand, in wessen Besitz sie sich befand. Wo kauft man so etwas? Im Antiquitätenhandel? Auf dem Schwarzmarkt? Unter der Hand?«

Nick saß schweigend da. Ihm schwirrte der Kopf.

Die Tür öffnete sich, und ein grauhaariger Mann in blauem Anzug steckte den Kopf ins Zimmer. »Ich brauche Sie mal kurz, Dance.«

Dance hob die Hand und winkte ab. »Ich habe zu tun.«

»Tut mir leid, aber wegen des Flugzeugabsturzes stehen hier nur vier Leute zur Verfügung – wir beide sowie Shannon und Manz. Wenn Sie nicht wieder auf den Todesacker wollen, um Kinder- und Frauenleichen nach Ausweisen zu durchsuchen, dann bewegen Sie Ihren Hintern zu mir.«

Dance seufzte, ließ ein letztes Mal die Trommel rotieren, hob den Revolver und visierte über den Lauf ein imaginäres Ziel an. Dann legte er die Waffe vor Nick hin und musterte ihn kurz, ehe er die einzelne Silberkugel aufnahm.

»Bleiben Sie schön hier«, sagte Dance, ging hinaus und schloss hinter sich die Stahltür.

Nicholas Quinn atmete tief durch. Er hatte versucht, sich nichts anmerken zu lassen und die Gewissheit, dass die schrecklichen Ereignisse an diesem Tag tatsächlich geschehen waren, in den hintersten Winkel seines Verstandes zu verbannen – er wusste, sie würde ihn innerlich zerfressen, wenn er ihr freien Lauf ließ.

Er trug das blaue Sportsakko, das Julia ihm vor zwei Wochen zum zweiunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, dazu ein hellgrünes Polohemd und Jeans – seine Alltagskleidung für den legeren Freitag. Nicks dunkelblondes Haar war ein wenig zu lang und hätte den Haarschnitt gebraucht, den er Julia seit drei Wochen versprach. Er sah gut aus, und sein markantes Gesicht verbarg, was hinter seiner Stirn vorging – eine Eigenschaft, die sich im Geschäftsleben und beim Pokern als unschätzbar wertvoll erwiesen hatte. Niemand vermochte durch Nicks Augen in sein Inneres zu blicken, mit Ausnahme von Julia, die ihm alles, was er verheimlichen wollte, schon an der Nasenspitze ansah.

Nick schaute sich in dem kleinen, beengten Raum um, der offensichtlich – und erfolgreich – dazu dienen sollte, Beklemmung zu wecken. In dem Raum standen ein einzelner Metalltisch, auf dessen hellgrüner Resopalplatte der Revolver lag, und dazu vier unbequeme Stühle aus dickem Stahlrohr. Schon nach fünfzehn Minuten Sitzen fühlte sich Nicks Hintern taub an. Über der Tür hing eine weiße, von einem Drahtkäfig umschlossene Uhr, die kurz vor halb zehn abends zeigte. Die Wände waren kahl bis auf eine große Weißwandtafel, an deren Ecken an ausgefransten Schnürsenkeln drei farbige Stifte hingen. Gegenüber der Tafel befand sich ein Zweiwegespiegel, der es Personen im Nebenzimmer gestatten sollte, das Innere des Raumes zu beobachten; zugleich sollte er Beklemmungen bei dem hervorrufen, der sich in dem Raum aufhielt, weil der Betreffende sich unablässig fragte, wie viele Leute ihn gerade beobachteten und taxierten, ehe auch nur Anklage erhoben worden war.

Quälender Schmerz wühlte in Nicks Innerem. Alles, was seine Welt ausmachte, alles, was sie in Bewegung gehalten hatte, war zum Stillstand gekommen. Seine Empfindungen waren in den zwei Stunden, ehe er hierhergekommen war, völlig abgestumpft, und seine Gedanken wurden von einem Wirbel aus Fragen beherrscht, vermischt mit Fassungslosigkeit und Angst.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er Julias Geruch wahrzunehmen, als hätte er sich in seiner Seele festgesetzt …

Nach einer viertägigen anstrengenden Geschäftreise durch den Südwesten der USA war Nick gegen drei Uhr früh nach Hause gekommen. Er wusste nicht mehr, wie er ins Bett gefunden hatte, doch an das Aufwachen erinnerte er sich gut.

Er hatte in Julias Gesicht geblickt, in ihre blauen Augen, die von so viel Gefühl erfüllt gewesen waren, so viel Liebe. Sie hatte ihn geküsst, ihn aus dem Traum gezogen, der ihn umschlungen hielt, und in die Welt zurückgelockt.

Das Eric-Clapton-T-Shirt, das Julia als einziges Kleidungsstück trug, flog nach wenigen Sekunden auf den Fußboden und enthüllte ihren makellosen Körper. Sie war mit einunddreißig noch so schlank wie mit sechzehn, als Nick sie zum ersten Mal gesehen hatte. Ihre Brüste waren fest, ihr Bauch flach, die Haut straff, und ihre endlos langen Beine waren gebräunt und schlank. Ihr Gesicht war von klassischer Schönheit, geprägt von spanischen, irischen und schottischen Ahnen, mit hohen Jochbeinen und vollen Lippen, und ihre großen blauen Augen wirkten jeden Sommer noch verlockender, wenn ihre Haut sich zu einem hellen Gold bräunte und ein Hauch von Sommersprossen ihre Nase sprenkelte.

Julia setzte sich breitbeinig auf Nick, beugte sich vor und küsste ihn, bis er vollends wach war. Als er sich in ihrem langen blonden Haar verlor, während ihn der Geruch nach Lavendel und Julias natürlicher Duft umfingen, wurde der Traum, den er vor wenigen Augenblicken genossen hatte, zur Wirklichkeit.

Sie liebten sich mit der Hitze und Erregung der ersten Liebe. Küsse und warmer Atem strichen über ihre Haut, und sie verloren sich in den Armen des anderen. In acht Jahren Ehe hatte ihre Leidenschaft kein bisschen nachgelassen. Und so wild ihr Verlangen auf den anderen auch war – nur selten gab es wilden, ungezügelten Sex zwischen ihnen, eine bloße Befriedigung der Triebe, sondern stets ein Geben und Nehmen, bei dem beide die eigene Erfüllung um des Partners willen hinauszögerten und die Lust des anderen über die eigene stellten.

Als sie später nebeneinanderlagen, die zerknüllte Bettdecke zu ihren Füßen, verloren beide das Gefühl für Zeit und Ort. Erst als das Sonnenlicht auf den weißen Kissen tanzte, stand Nick auf, reckte seinen durchtrainierten Körper und entdeckte den kleinen Tisch auf dem Balkon.

Trotz Überstunden im Büro war Julia früh aufgestanden, hatte Frühstück gemacht und den schmiedeeisernen Tisch auf dem Balkon des Obergeschosses vor dem Wohnzimmer gedeckt. Es gab Pfannkuchen mit gebratenem Speck und Rührei, dazu frisch gepressten Orangensaft. Julia hatte alles aus der Küche geholt, während Nick geschlafen hatte.

Nur in Unterwäsche und T-Shirts frühstückten sie, während die Sonne in den Sommermorgenhimmel stieg.

»Gibt es einen besonderen Grund dafür?«, fragte Nick und zeigte auf den gedeckten Tisch.

»Ein kleiner Willkommensgruß.«

Nick lächelte. »Nach dem ersten Gang im Bett hätte ein trockenes Brötchen vollkommen gereicht.«

Julia erwiderte sein Lächeln. Es war warm und voller Zärtlichkeit, doch es lag noch etwas anderes darin. In ihren Augen bemerkte er ein Zögern.

»Was ist?«, fragte Nick.

»Wieso? Nichts«, erwiderte Julia, doch ihre Stimme verriet etwas anderes.

»Julia …«

»Wir sind heute mit den Millers zum Abendessen im Valhalla verabredet«, sagte sie. »Oder weißt du das nicht mehr?«

Nick hielt beim Kauen inne. »Wir hatten doch abgesprochen, dass wir heute zu Hause bleiben!«

»Ach, komm schon, so schlimm sind die Millers gar nicht.« Julia lächelte entwaffnend. »Ich mag Fran. Und Tom ist kein schlechter Kerl.«

»Vielleicht, wenn er endlich damit aufhören würde, immer nur über sich selbst zu reden. Wenn ich noch ein Wort darüber höre, wie viel er verdient oder welchen Wagen er sich gerade gekauft hat, ziehe ich ihm dem Stuhl unterm Hintern weg.«

»Tom ist nur unsicher. Betrachte es als Kompliment, dass er sich dir anvertraut.«

»Ich soll die Angeberei dieses Blödmanns als Kompliment auffassen? Wie stellst du dir das vor?«

»Er versucht doch nur, dir zu imponieren. Deine Meinung ist ihm wichtig.«

»Nur er selbst ist ihm wichtig.« Nick leerte seinen Teller und stellte ihn aufs Serviertablett. »Ich dachte, wenn wir Pläne machen, dann nur für uns beide, nicht für Fremde.«

»Du bist heute Morgen unausstehlich, Nick.« Julia verzog das Gesicht, nahm das Tablett auf und ging zur Tür.

Nick starrte ihr wütend hinterher, folgte ihr dann ins Haus, verschwand im Bad, schloss hinter sich die Tür und drehte die Dusche auf. Er hoffte, das kalte Wasser würde seine schlechte Laune vertreiben, doch seine Hoffnung erfüllte sich nicht.

Fünfzehn Minuten später kam er in seiner Lieblings-Levi’s und einem Polohemd wieder ins Wohnzimmer, wo er Julia vorfand, die sich ebenfalls angezogen hatte. Sie hatte sich von einer verführerischen Ehefrau in eine nüchterne Geschäftsfrau in schwarzem Rock und weißer Seidenbluse verwandelt. Sie nahm ihre Handtasche, schlang sie über die Schulter und schaute Nick erwartungsvoll an.

»Ich finde wirklich, wir sollten das Abendessen absagen«, sagte Nick. Er hasste es, Zeit mit flüchtigen Bekanntschaften zu verbringen, mit denen ihn außer der Speisekarte nichts verband. »Ich möchte den Abend lieber in Ruhe zu Hause verbringen.«

»Aber du bist den ganzen Tag zu Hause.«

»Ja, in der Bibliothek, wo ich mir den Hintern abschufte, um den Bericht fertig zu bekommen«, entgegnete Nick.

»Ach, komm schon, Nick, ich möchte heute Abend so gerne ausgehen! Es ist doch nur für zwei Stunden. Wir können das Dessert ja auslassen.«

»Dadurch würde es auch nicht erträglicher.« Sein Tonfall war abweisend.

»Tu es für mich«, sagte Julia und ging zu Tür. »Wer weiß, vielleicht lohnt es sich für dich ja auch.«

Nick seufzte.

»Neun Uhr«, sagte sie.

»Ich will nicht.«

»Du musst aber. Neun Uhr.« In ihrer Stimme lag Verärgerung, als sie aus dem Haus ging. »Ich muss los, sonst komme ich zu spät zur Arbeit.«

»Na und?«, rief Nick wütend. Seine Stimme hallte durchs Zimmer bis in den Flur.

Julias Antwort kam Sekunden später: Sie knallte die Hintertür so fest zu, dass es sich wie ein Kanonenschuss anhörte.

Zum ersten Mal seit Monaten endete ein Morgen im Streit.

Kaum war Julia verschwunden, bereute Nick seinen Wutausbruch. Dass sie sich wegen etwas so Banalem wie einer Verabredung zum Abendessen in die Haare kriegten, war lächerlich.

Die Leuchtstoffröhren unter der Decke des Verhörraums flackerten und erloschen, flammten wieder auf und erloschen noch einmal, und der fensterlose Raum versank in undurchdringlicher Finsternis. Dann begann das Flackern erneut. Sekunden später strahlten die Röhren wieder ihren blassen, trüben Schein ab.

»Tut mir leid, Quinn«, sagte Dance. »Das Notstromaggregat läuft jetzt seit über neun Stunden. Außerdem hat es schon bessere Zeiten gesehen.«

Der dritte Mann im Raum, Detektive Robert Shannon, hüllte sich bis jetzt in Schweigen. Er hatte seinen Stuhl gegen die Wand gekippt und wischte sich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Seinen muskelbepackten Körper hatte er in ein schwarzes Hemd mit kurzen Ärmeln gezwängt, das zwei Nummern zu klein war, um für seine dicken Arme und seinen mächtigen Brustkasten ausreichend Platz zu bieten. Das von Gel schimmernde schwarze Haar trug er zurückgekämmt, und auf dem Kinn war eine kleine Narbe. In seinen schiefergrauen Augen spiegelte sich Zorn, während er in der rechten Hand einen altmodischen Polizeiknüppel hielt, den er vor- und zurückschwang wie einen Baseballschläger im Miniaturformat.

Nick war überzeugt, dass seine Schuld für Detective Shannon bereits feststand.

Dance zog ein kleines Diktafon aus der Tasche und drückte die Abspieltaste.

»Notrufzentrale?«, fragte eine Frauenstimme.

»Mein Name ist Julia Quinn«, erklang Julias Stimme. »Townsend Court Nummer fünf, Byram Hills. Bitte beeilen Sie sich, mein Mann und …«

Ein Klicken unterbrach sie. »Hallo?«, fragte die Telefonistin. »Hallo, Ma’am?«

Dance stellte den Rekorder ab.

»Ihr Frau hat um achtzehn Uhr zweiundvierzig angerufen«, sagte er zu Nick. »Darf ich fragen, wo Sie zu diesem Zeitpunkt gewesen sind?«

Nick schwieg. Nicht weil er etwas zu verbergen hatte, sondern weil er fürchtete, dass er schlappmachte, sobald er etwas sagte. Julias Stimme zu hören macht seinen Schmerz nur schlimmer.

Er wusste genau, wo er um 18.42 Uhr gewesen war: Er hatte noch in der Bibliothek gearbeitet. Nick war fast den ganzen Tag dort gewesen und hatte den Raum nur verlassen, um sich eine Cola oder Kekse aus der Küche zu holen – bis der Schuss ihn aus der Konzentration gerissen hatte. Nick war aufgesprungen und durch die Küche in den hinteren Flur gestürmt, wo er die Tür zur Garage weit offen vorfand.

Dann sah er Julias Handtasche unter den Mantelhaken liegen, an dem sie gewöhnlich hing. Ihr Inhalt war über den Boden verstreut. Als er sich bückte, um die Sachen aufzuheben, entdeckte er die Blutspur, sah das Blut auf dem weißen Täfelholz, sah Julias schwarzen Rock, ihre langen Beine und ihren Fuß in dem gelben Schuh, während ihr Gesicht von den untersten Stufen der Treppe verdeckt wurde.

Nick schrie auf, fiel auf die Knie. Unkontrolliert zitternd ergriff er Julias Hand, flüsterte ihren Namen und wusste die ganze Zeit, dass sie ihm nie mehr antworten würde.

Nach einer Minute, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, hob er den Blick und sah seinen besten Freund Marcus, der sichtlich erschüttert neben ihm stand. Nick erhob sich mühsam. Marcus legte ihm die Hände auf die Schultern, hinderte ihn daran, sich Julias Kopf zu nähern, hielt ihn mit der ganzen Kraft seines zweihundertzwanzig Pfund schweren Körpers von einem Anblick fern, der ihn bis an das Ende seiner Tage verfolgt hätte, und zog ihn von der Leiche fort.

Sie warteten bei Marcus, dem das Nachbarhaus gehörte, auf die Polizei. Über eine Stunde lang saßen sie schweigend auf den Stufen zur Haustür; dann endlich hörten sie die Sirenen, die der Nachbarschaft mitteilten, dass etwas Schlimmes geschehen war. Nick würde dieses Geräusch niemals vergessen, war es doch die Untermalung seines schrecklichen Verlusts und das Vorspiel zu dem wahnwitzigen Albtraum aus Vorwürfen und Anschuldigungen gewesen, der begonnen hatte, kaum dass die Detectives aus dem Wagen gestiegen waren …

Nun steckte der Grauhaarige den Kopf ins Verhörzimmer und verkündete: »Sein Anwalt ist da.«

»Das ging ja schnell«, bemerkte Dance.

»Die Reichen warten nun mal nicht gern.« Shannon sagte zum ersten Mal etwas im Verhörraum, und sein Blick bohrte sich in Nicks Augen.

»Kommt, Leute. Gehen wir.« Der Grauhaarige winkte die beiden Detectives hinaus.

Mit lautem Knall schloss sich die Tür hinter den Männern, doch es dauerte keine dreißig Sekunden, bis sie sich wieder öffnete.

Ein Fremder kam herein, als gehöre ihm der Raum. Der Mann war groß und gepflegt und verbreitete eine Aura der Gelassenheit und Ruhe, die einen Teil des Schreckens verdrängte, der Nick in den letzten Stunden erfüllt hatte. Das dunkle Haar des Fremden war graumeliert, die Schläfen schimmerten silbern, und seine Augen blickten scharf und konzentriert. Das Leben hatte sein Gesicht gezeichnet und tiefe Furchen in die gebräunte Haut gegraben. Der Mann trug einen blauen Blazer, eine Leinenhose mit scharfer Bügelfalte und eine gelbe Seidenkrawatte auf einem blassblauen Oberhemd – eine Kleidung, die Kultur, Geschmack und Wohlstand verriet. Er roch sogar reich.

»Man hat Ihnen bereits die meisten Dinge abgenommen, habe ich recht?«, fragte der Mann mit tiefer, europäisch gefärbter Stimme. Er zog sich einen Metallstuhl heran und setzte sich Nick gegenüber an den Tisch.

Nick musterte den Fremden verwirrt.

»Ihre Brieftasche, Ihre Schlüssel, Ihr Handy, sogar Ihre Uhr«, sagte der Mann mit einem Blick auf den blassen Streifen an Nicks bloßem Handgelenk. »Man beraubt Sie nach und nach Ihrer Identität. Irgendwann nimmt man Ihnen Ihr Herz, zum Schluss die Seele, wenn Sie nicht genau das sagen, was man von Ihnen hören will.«

»Wer sind Sie?«, fragte Nick. Es waren die ersten Worte, die er innerhalb dieser Wände sprach. »Hat Mitch Sie geschickt?«

»Nein«, sagte der Mann, schaute sich um und richtete den Blick dann wieder auf Nick. »Angesichts der Beweise, die gegen Sie sprechen – was wollen Sie da mit einem Anwalt? Er verlangt sechshundert Dollar die Stunde, stellt Ihnen eine unverschämte Rechnung aus und gibt Ihnen sogar noch das Gefühl, Sie wären ihm etwas schuldig, wenn Sie in Ihrer Zelle fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich absitzen, weil der Kerl den Prozess verloren hat.«

Nick blickte den Mann verwirrt an. »Mitch ist unterwegs. Mit Ihnen habe ich nichts zu bereden.«

Der Mann nickte. Er blieb völlig gelassen, als er die Arme auf den Tisch legte und sich vorbeugte.

»Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen. Es ist schändlich, dass man Ihnen nicht mal einen Augenblick der Trauer erlaubt hat.« Der Mann hielt inne. »Sagen Sie, seit wann geht es bei der Gerechtigkeit um Gewinnen und Verlieren? Seit wann herrscht diese Wir-gegen-die-Mentalität, wo man doch eigentlich bemüht sein sollte, die Wahrheit aufzudecken?«

Nick musterte den Mann fragend.

»Haben Sie die Akte gesehen, die man über Sie angelegt hat, Mr. Quinn? Sie ist sehr detailliert. Ich bezweifle, dass man Ihnen für ein Geständnis auch nur einen Tag Strafnachlass anbieten wird.«

»Ich habe meine Frau nicht ermordet!«, stieß Nick hervor.

»Ich weiß das, aber die Polizei sieht es anders. Sie sieht nur das Motiv und die Tatwaffe.« Der Mann warf einen Blick auf den Revolver, der auf dem Tisch lag. »Die Detectives hoffen auf Ihr Geständnis, weil es ihnen eine Menge Papierkram ersparen würde.«

»Woher wollen Sie das alles wissen?«

»Man wird Sie zwölf Stunden lang bearbeiten, wird Sie zermürben, bis Sie gestehen. Warum? Weil man sich damit wochenlange Besprechungen mit dem Staatsanwalt und monatelange Prozessvorbereitungen erspart. Man wird Sie verurteilen, und Sie verbringen den Rest Ihres Lebens hinter Gittern, betrauern den Tod Ihrer Frau und werden sich bis ans Ende aller Tage fragen, was denn nun wirklich passiert ist.«

»Wenn Sie kein Anwalt sind, weshalb sind Sie dann hier?«

Der Blick aus den freundlichen, warmen Augen des Mannes blieb auf Nick gerichtet, als er nun tief Luft holte und entgegnete: »Noch können Sie sie retten.«

Nick starrte den Mann an. »Was meinen Sie damit?«

»Wenn Sie hier raus könnten, würden Sie gehen, nicht wahr?«

»Natürlich.«

»Und wenn Sie Ihre Frau retten könnten, würden Sie es tun?«

»Was soll die dumme Frage? Meine Frau ist tot«, erwiderte Nick.

»Sind Sie sicher?« Der Mann blickte ihm fest in die Augen. »Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.«

»Wollen Sie damit sagen, mein Frau lebt noch? Das kann nicht sein! Ich habe gesehen, wie sie …« Nick versagte die Stimme.

Der Mann griff in die Innentasche seines Blazers und zog einen verschlossenen Briefumschlag hervor, den er Nick über den Tisch zuschob.

Nick blickte zum Zweiwegespiegel.

»Keine Sorge«, sagte der Mann lächelnd, »niemand schaut uns zu.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Die Polizei hat mit dem Flugzeugabsturz mehr als genug zu tun. Zweihundertzwölf Tote. Diese Stadt wurde völlig auf den Kopf gestellt – so wie Ihr Leben.«

Die ganze Welt wirbelte um Nick herum, als befände er sich in jenem Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen, wenn der Verstand mit Gedankenfetzen bombardiert wird und der Geist verzweifelt versucht, diese Fragmente zu einem erkennbaren Bild zusammenzufügen.

Nick blickte auf den Umschlag und schob den Finger unter die zugeklebte Lasche.

»Öffnen Sie ihn jetzt noch nicht.« Der Mann legte seine Rechte auf Nicks Hand.

»Warum nicht?«

»Warten Sie, bis Sie hier raus sind.« Der Mann zog die Hand weg und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Ich? Hier raus?«

»Ihnen bleiben zwölf Stunden.«

Nick blickte auf die Wanduhr. Sie zeigte 21.51 Uhr. »Zwölf Stunden wozu?«

Der Mann zog eine goldene Taschenuhr aus der Jacke und klappte den Deckel auf, sodass ein altmodisches Zifferblatt sichtbar wurde. »Zeit ist zu kostbar, als dass man sie verschwenden sollte. In Ihrem Fall gilt das ganz besonders.« Der Mann klappte den Deckel der Uhr wieder zu und reichte sie Nick. »Da Ihnen ein Zeitmesser fehlt, wie ich sehe, und da Sie unter gewaltigem Druck stehen, sollten Sie diese Uhr nehmen und den Minutenzeiger im Auge behalten.«

»Wer sind Sie?«

»Alles, was Sie wissen müssen, steht in dem Brief. Aber wie gesagt – öffnen Sie ihn auf keinen Fall, ehe Sie hier raus sind.«

Nick blickte auf den Zweiwegespiegel und auf die schrottreife Stahltür. »Und wie soll ich von hier wegkommen?«

»Nun, solange Sie hier drin sind, können Sie ihrer Frau nicht das Leben retten.«

Nick wurde wütend. »Was reden Sie da? Wo soll sie denn sein?«

Der Mann blickte auf die Wanduhr und erhob sich. »Sie sollten sich überlegen, wie Sie hier rauskommen. Ihnen bleiben nur noch neun Minuten.«

»Warten Sie …«

»Viel Glück.« Der Mann klopfte zweimal gegen die Tür. »Passen Sie gut auf die Uhr auf. Sie haben zwölf Stunden. In der dreizehnten Stunde ist alles verloren. Dann ist Ihr Schicksal und das Ihrer Frau besiegelt. Dann wird Ihre Frau einen viel schlimmeren Tod gestorben sein, als Sie jetzt vielleicht glauben.«

Die Tür wurde geöffnet, und der Mann verließ das Verhörzimmer. Nick saß allein am Tisch und starrte auf den Umschlag. Er war versucht, ihn zu öffnen, schob ihn dann aber zusammen mit der goldenen Uhr in die Innentasche seines Jacketts, denn er wusste, dass er niemals erfahren würde, wovon der Unbekannte gesprochen hatte, wenn man die Uhr bei ihm fand.

Der Fremde hatte ihm keine weiteren Informationen gegeben, keine Namen genannt und auch nicht erklärt, wie Julia noch leben konnte. Nick hatte doch ihre Leiche gesehen! Allerdings hatte er ihr nicht ins Gesicht geschaut, weil Marcus ihn davon abgehalten hatte. Doch er hatte die Kleidung gesehen, die Julia getragen hatte, als sie am Morgen zur Arbeit gegangen war …

Ohne Zweifel – es war Julia gewesen. Sie hatte zu ihm hochgerufen, als sie nach Hause kam, war aber nicht zu ihm in die Bibliothek gekommen, weil sie ihn nicht hatte stören wollen. Nick hörte in Gedanken ihre Stimme. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie seinen Namen gerufen hatte …

Nick griff in die Tasche und zog den Brief halb heraus, doch sofort kam die Warnung des Mannes ihm wieder in den Sinn, und er schob das Schreiben zurück. Er musste an die Augen des Fremden denken, in denen eine solche Überzeugungskraft gelegen hatte, dass Nick geneigt war, ihm zu glauben.

Der seltsame Fremde hatte Nicks bereits erloschene Hoffnung neu entfacht. Nick hatte keinen blassen Schimmer, wie Julia noch am Leben sein könnte, doch wenn es nur einen Funken Hoffnung gab, wenn auch nur die geringste Chance bestand, sie zu retten …

… musste er aus diesem Verhörraum verschwinden.

Nick dachte fieberhaft nach. Es war ein aberwitziges Vorhaben, aber es war nicht unmöglich. Er blickte auf die Tür. Sie war zwei Zoll dick mit einem schweren Sperrriegel. Fenster oder andere Türen gab es nicht. Nick schaute auf die Weißwandtafel und die Wanduhr, auf der sich der große Zeiger der zweiundzwanzigsten Stunde näherte.

Dann fiel sein Blick auf den Zweiwegespiegel. Er starrte sein Spiegelbild an, wie er mutterseelenallein in dem kahlen Raum auf dem unbequemen Metallstuhl saß, während der Colt Peacemaker mitten auf dem Tisch lag.

Nick lächelte.

Der Spiegel war aus Glas.

Detective Ethan Dance kam in den Verhörraum zurück. Der Blick aus den ständig verschlafenen Augen des achtunddreißigjährigen Kriminalbeamten blieb unbeirrt auf Nick gerichtet, als er eine Akte auf den Tisch warf. Sein schlecht sitzendes, weißes Hemd hing ihm halb aus der Hose, und seine Dienstwaffe wölbte erkennbar die Linie seines billigen Jacketts.

»Ehe Shannon wiederkommt, sollten Sie mir sagen, was wirklich passiert ist, Nick.« Dance öffnete die Akte, schaute hinein und starrte auf ein Foto, das er vor Nicks Blick abschirmte. »Was treibt jemanden dazu, so etwas zu tun? Geld?«

»Geld?«, fragte Nick ehrlich erstaunt. »Wie können Sie es wagen!«

»Schön, dass Sie Ihre Stimme wiedergefunden haben.«

Nick funkelte Dance wütend an. Sein Blick fiel auf die Auswölbung der Jacke, wo er den Griff von Dance’ Pistole erkennen konnte.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte Dance. »Sie war eine schöne Frau. Darf ich fragen, wann Sie zum letzten Mal miteinander gesprochen haben?«

»Heute Morgen. Wir hatten einen Streit«, sagte Nick mit einem kurzen Blick auf die Wanduhr.

»Sie haben sich gestritten? Weshalb?«

»Es ging um ein Abendessen mit Freunden meiner Frau.«

»Verstehe. Ich weiß, wie solche Abende laufen. Man sitzt da, während die eigene Frau mit ihrer Freundin im Gespräch vertieft ist, während man selbst sich mit dem Langweiler von Ehemann herumplagen muss, mit dem einen nichts verbindet. Meine Ex hat mich mal zu einem Wochenende bei ihrer Freundin an die Küste von Jersey mitgeschleift. Es regnete die ganze Zeit, und ich saß mit einem ausgewachsenen Arschloch im Haus fest, das mich mit Einzelheiten aus seinem jämmerlichen Leben plagte, während die Damen shoppen waren. Ich hätte den Blödmann am liebsten verhaftet. Seitdem verabscheue ich die Küste von Jersey.«

Dance war geschickt. Er versuchte Nick durch einen gemeinsamen Nenner für sich einzunehmen. Doch Nick war nicht so dumm, auf diesen Trick hereinzufallen.

»Haben Sie und Ihre Frau danach noch einmal miteinander gesprochen?«, fuhr Dance fort.

»Nein, ich war den ganzen Tag beschäftigt. Telefonkonferenzen, Papierkram, was weiß ich. Und ich wusste, dass auch Julia bis zu den Ohren in Arbeit steckte.«

»Ihre Frau war Anwältin, nicht wahr?«

»Warum fragen Sie, wenn Sie die Antwort schon kennen?«

»Tut mir leid. Die Macht der Gewohnheit.« Dance klappte die Aktenmappe zu und legte sie bedrohlich nahe neben den Colt Peacemaker auf den Tisch. »War Ihre Frau den ganzen Tag im Büro?«

»Weiß ich nicht«, sagte Nick kurz angebunden.

»Sie haben nicht telefoniert?«

»Sie hat ein paar Mal angerufen, aber ich bin nicht rangegangen.«

Dance schaute Nick fragend an.

»Kindisch, ich weiß«, sagte Nick, »aber wieso reden wir überhaupt darüber? Jemand hat meine Frau ermordet, verdammt noch mal, und ich war es nicht!«

»Wir werden sehen«, sagte Dance und klopfte auf den Umschlag mit der Akte. »Hier steht, dass Sie einen Waffenschein für eine SIG Sauer Kaliber neun Millimeter haben.«

»Stimmt.«

»Wo ist die Waffe?«

»In meinem Safe, wo sie bereits das letzte halbe Jahr gelegen hat. Julia hasst Waffen.« Und Nick hasste die Ironie.

»Demnach können Sie mit einer Waffe umgehen?«

»Man kauft sich normalerweise kein Auto, wenn man keinen Führerschein hat.«

»Sie brauchen hier nicht den Klugscheißer zu spielen.«

»Und Sie brauchen mich nicht wie einen Idioten zu behandeln. Oder wie einen Mörder, der die eigene Frau getötet hat!«

»Ich versuche Ihnen zu helfen«, erklärte Dance.

»Wenn Sie versuchen würden, mir zu helfen, wären Sie auf der Suche nach dem wirklichen Mörder.«

»Wenn Sie es nicht waren, müssen Sie mit mir reden, falls Ihnen daran gelegen ist, dass der wirkliche Täter gefasst wird.«

»Sie glauben mir also, dass ich es nicht gewesen bin?«, fragte Nick mit einem Hauch von Hoffnung.

»Nun, die Sache ist die …« Dance zog den gold und bronzebeschichteten Colt Peacemaker zu sich heran. »Auf diesem Revolver sind eine Menge Fingerabdrücke.«

»Mir hat noch nie jemand die Fingerabdrücke abgenommen«, entgegnete Nick mit aufkeimender Wut.

»Das mag ja stimmen, aber wir haben Ihre Fingerabdrücke von Ihrer Brieftasche und Ihrem Handy. Ich selbst habe sie abgenommen. Und sie passen zueinander. Deshalb müssen Sie sich dazu äußern, weshalb Ihre Fingerabdrücke – und nur Ihre – auf dieser Waffe sind.«

Nick wurde für einen Moment schwindelig. Er hatte den Revolver nie gesehen, geschweige denn berührt. Selbst seine eigene Pistole war seit sechs Monaten nicht mehr abgefeuert worden; beim letzten Mal hatte er Marcus Bennett auf den Schießstand eines Geschäftsfreundes begleitet. Nick hasste Schusswaffen, weil sie einem Mann die Macht über Leben und Tod gaben – eine Macht, die der größte Trottel sich nehmen konnte, wenn er es nur über sich brachte, den Abzug zu betätigen.

»Noch etwas«, fuhr Dance fort. »Die ballistische Abteilung ist zwar noch nicht wieder da – es wird wahrscheinlich ein paar Tage dauern, weil zurzeit alle mit dem Flugzeugabsturz beschäftigt sind –, aber an Ihrer Armbanduhr haben wir Schmauchspuren gefunden, die offensichtlich von Schießpulver stammen. Tja, Sie müssen sich schon etwas sehr Originelles einfallen lassen, wenn Sie aus dieser Nummer herauskommen wollen.«

Detective Shannon kam in den Verhörraum und verriegelte die Tür hinter sich. »Das sehe ich auch so«, sagte er, was zeigte, dass er das Gespräch durch den Zweiwegespiegel verfolgt hatte. »Schauen Sie schön in die Spiegelmitte, genau in die Kamera. Mit so etwas kommen Sie bei den Geschworenen besonders gut an.«

Erneut wusste Nick nicht, was er tun sollte. Bei Shannons Eintreten war das zarte Pflänzchen seiner Hoffnung wieder verdorrt. Er schaute zur Wanduhr hinauf:

21.56 Uhr.

Shannon knallte seinen Schlagstock auf den Tisch. Das Geräusch erschreckte nicht nur Nick, sondern auch Dance.

»Kaltblütiger Mord«, sagte Shannon. »Sie brauchen uns also gar nichts vorzumachen. Es steht alles in der Akte, was wir für eine schnelle und problemlose Verurteilung brauchen.«

»Ich schlag vor, wir machen erst mal eine Pause«, sagte Dance, der Shannons Wut spürte, und schaukelte auf den Stuhlbeinen.

»Nein, verdammt! Eine Frau ist tot!«, brüllte Shannon. »Und ich will Antworten! Hat sie herumgevögelt, und Sie haben es herausgefunden? Ober haben Sie herumgevögelt, und Ihre Frau hat es erfahren?«

Nick ballte vor Zorn die Fäuste.

»Ah, wie ich sehe, macht Sie das wütend. Na los, lassen Sie Ihrer Wut freien Lauf«, reizte ihn Shannon. »So wie bei Ihrer Frau, als Sie sie erschossen haben! All das Gelackte an Ihnen, die italienischen Klamotten, die ausländischen Autos … damit kaschieren Sie doch nur, dass Sie nichts anderes sind als ein dreckiger Mörder. Sie unterscheiden sich in nichts von einem Penner, der in einer dunklen Gasse eine Nutte aufschlitzt!«

Nick hatte alle Mühe, sich zu zügeln. Seine Muskeln waren angespannt, sein Blut kochte.

»Ihre Frau hat mit einem anderen gefickt. Deshalb haben Sie sie umgebracht!« Unerwartet knallte Shannon seinen Schlagstock erneut auf den Tisch. Diesmal erschreckte Dance sich so sehr, dass er auf den beiden Stuhlbeinen das Gleichgewicht verlor und nach hinten kippte, wobei er vergeblich versuchte, sich an der Tischkante festzuhalten.

Bei Nick brachte Shannons neuerlicher Ausbruch das Fass zum Überlaufen. Seine Frau war tot, und man warf ihm vor, sie ermordet zu haben. Und jetzt stellte Shannon, dieser Hurensohn, auch noch seine und Julias eheliche Treue infrage.

Dance’ Sportsakko schwang auf, sodass die Pistole im Schulterhalfter zum Vorschein kam. Ihr Griff zeigte nach außen. Nick beugte sich blitzschnell vor und riss Dance die Waffe aus dem offenen Holster.

Ehe jemand reagieren konnte, entsicherte er die Pistole mit dem Daumen, während er den Zeigefinger an den Abzug legte. Nur weil Nick keine Waffen mochte, bedeutete das noch lange nicht, dass er nicht wusste, wie man damit umging. Er legte Dance, der sich soeben vom Boden aufrappelte, den Arm um den Hals und hielt ihm die Pistolenmündung an den Kopf. Dance riss in Panik die Hände hoch und packte Nicks Unterarm.

Dann geriet die Situation außer Kontrolle.

»Fallen lassen!«, brüllte Shannon, wobei er die Waffe zog, auf ein Knie ging und auf Nicks Kopf zielte.

»Ihr versteht nicht! Keiner von euch! Sie lebt noch!«, rief Nick. Er hörte sich an wie ein Irrer, und sein Blick huschte zwischen Shannon und der Wanduhr hin und her. »Meine Frau lebt!«

Shannon und Dance tauschten einen Blick.

»Hören Sie«, sagte Dance mit ruhiger Stimme, trotz der Pistole an seinem Kopf. »Legen Sie die Waffe weg. Ich weiß, wie Sie sich fühlen …«

»Blödsinn!«, unterbrach ihn Nick. »Sie machen sich keine Vorstellung, wie es mir geht!«

»… nachdem Sie Ihre Frau verloren haben. Erzählen Sie uns Ihre Geschichte. Wenn jemand anders Julia getötet hat, werden wir ihn fassen, ich verspreche es Ihnen. Und jetzt nehmen Sie die Waffe weg. Für den Mord an Ihrer Frau würden Sie hinter Gitter wandern, aber wenn Sie einen Polizisten ermorden, bekommen Sie die Todesstrafe.«

»Verstehen Sie denn nicht?«, rief Nick verzweifelt. »Meine Frau lebt! Man hat mich reingelegt! Ich muss hier weg.« Nick zerrte Dance rückwärts zum Zweiwegespiegel; dann fuhr er Shannon an: »Lassen Sie die Waffe fallen!«

»Einen Dreck werde ich tun«, erwiderte Shannon.

Nick schaute auf die Uhr. 21.58 Uhr. Er spannte den Hahn der Pistole. Das Knacken erschreckte Dance.

»Bob!«, rief Dance. »Tu, was er sagt.«

»Niemals.«

»Mach schon!«, kreischte Dance. »Der Kerl knallt mich ab!«

Nick richtete die Waffe sofort auf das Glas hinter sich und drückte ab. In dem kleinen Raum dröhnte der Knall wie ein Kanonenschuss. Der Zweiwegespiegel zersprang in tausend Stücke. Ein kleiner dunkler Raum wurde sichtbar; in der Mitte stand eine Videokamera, die auf sie gerichtet war.

Nick drückte die Pistole gegen Dance’ Kinn und versengte ihm die Haut mit der heißen Mündung.

Shannon hockte wieder auf einem Knie, hatte die Waffe aufgenommen und zielte auf Nick.

»Sehen Sie mich an.« Shannons Stimme war gespenstisch ruhig. Seine Waffe blieb auf Nick gerichtet, während er den Umschlag nahm und acht oder zehn Fotos auf die Resopalplatte schüttete. »Sehen Sie diese Bilder?«, fragte Shannon mit zusammengebissenen Zähnen, nahm eines nach dem anderen auf und schob sie zu Nick hinüber.

Insgesamt waren es zwanzig Fotos, in Farbe und aus verschiedenen Winkeln aufgenommen. Das Blut sah dick aus, ganz anders, als Nick erwartet hätte. Es war nicht wie im Fernsehen oder im Kino, wo das Blut einen zwar abstößt, wobei man aber weiß, dass es nur ein Hollywoodtrick ist. Diese Fotos aber gaben die Wirklichkeit wieder, eine brutale, grausame Wirklichkeit, die Nick dennoch in ihren Bann zog. Sosehr er es vermeiden wollte – er schaute sich jedes Bild genau an: den Fußboden, Julias Kleidung, den schwarzen Rock, den sie getragen hatte, als er sie zum letzten Mal sah, ihren Ringfinger mit dem Ehering, den er ihr in St. Patrick’s angesteckt hatte, und schließlich ihr Gesicht – oder was davon noch übrig war.

Die linke Hälfte war verschwunden, das Auge fehlte, Schläfe und Stirn waren zerschmettert. Aber die rechte Hälfte … Nick brauchte nur ihr gebrochenes blaues Auge mit den haselnussbraunen tanzenden Flecken unter der blonden Braue zu sehen, und er wusste es: Die Tote, die ihn blicklos anstarrte, war tatsächlich seine Frau.

In diesem Moment überfiel ihn die Verwirrung aufs Neue. Ein Schrei gellte in seinem Kopf, und die düstere Wirklichkeit manifestierte sich in einem einzigen Gedanken.

Julia ist tot.

»Ich zähle bis drei«, sagte Shannon. »Mir ist es scheißegal, ob Sie Dance erschießen, aber ich knalle Sie hier vor laufender Kamera ab! Ich habe jeden Grund dazu!«

Nick drückte die Waffe fester gegen Dance’ Kinn. Der Griff des Detectives um seinen Unterarm verkrampfte sich. Nick bemerkte erst jetzt, dass Dance’ rechter Ringfinger fehlte, sodass der leere Finger des Latexhandschuhs schlaff herabhing.

Nick schaute zur Wanduhr. Der Minutenzeiger zuckte auf die volle Stunde zu.

»Eins …«, flüsterte Shannon.

»Das kann nicht sein«, sagte Nick verzweifelt und starrte wieder auf die Bilder. Er wünschte sich, es wäre alles nur ein Albtraum; er wünschte sich, er wäre jemand anders, damit er seinem toten, leeren Herzen entkommen konnte. Julias verunstaltetes Gesicht starrte ihn an und machte seinen Schmerz unerträglich. Er versuchte, den Blick abzuwenden …

»Zwei ….« Diesmal war Shannons Stimme lauter.

»Ich muss hier weg«, sagte Nick, und eine unnatürliche Ruhe überkam ihn. »Ich kann sie retten.«

Doch nichts ergab Sinn, nicht Julias Tod, nicht diese unmögliche Situation. Wie sollte er sie retten können, wenn sie bereits tot war? Doch ihm klang die Stimme des Unbekannten noch immer in den Ohren:

Sie haben zwölf Stunden.

»Drei.«

Shannon spannte langsam den Hahn seiner Pistole.

Doch ehe der Hammer auf die Messinghülse der Patrone schlug und die Kugel aus dem Lauf jagte, versank die Welt um Nick in Dunkelheit.

Den großen Flachbildfernseher füllte verbrannte Erde. Auf dem weiten Feld lagen weiße Fetzen verstreut, die sich bei genauerem Hinsehen als Bettlaken erwiesen, mit denen die verbrannten und zerfleischten Überreste von 212 Flugpassagieren bedeckt worden waren. Um 11.50 Uhr hatte der A 300 den Flughafen Westchester verlassen. Zwei Minuten später war die Maschine vom klaren blauen Himmel gefallen und auf den Sportplatz der Kleinstadt Byram Hills gestürzt.

Luftaufnahmen zeigten eine Spur der Verwüstung, die einen halben Kilometer lang war, als hätte der Teufel die Hand ausgestreckt und die Erde aufgerissen. Bis auf das intakte weiße Heck, das in die Luft ragte, erinnerte keines der Trümmerstücke mehr an das moderne Flugzeug, das nach Boston unterwegs gewesen war.

»Keine Überlebenden«, sagte die übermäßig blondierte Nachrichtensprecherin. In ihren schwarzen Augen zeigte sich aufrichtiges Bedauern, ein solch tragisches Ereignis in Kurzform bringen zu müssen. »Das Nationale Amt für Transportsicherheit untersucht seit mehreren Stunden den Schauplatz des Absturzes und konnte mittlerweile den schwer beschädigten Flugschreiber von Flug 502 der North East Air bergen. Eine Pressekonferenz wurde auf einundzwanzig Uhr angesetzt.«

Bilder vom Tage wurden gezeigt: Hunderte von Feuerwehrleuten im Kampf gegen die lodernden Flammen, die auf den Wrackteilen tanzten; Aufnahmen von den Bemühungen der Rettungskräfte und von Gepäckstücken, die am Boden verstreut lagen; Bilder von müden Feuerwehrleuten mit gesenkten Köpfen und rußverschmierten Gesichtern. Herzzerreißende Videos vermittelten einen persönlichen Eindruck der Tragödie: Laptops und MP3-Player, die im Schlamm lagen; eine völlig unversehrte Yankee-Kappe, die auf einem ebenso unversehrten Grasflecken lag; ein Kinderschuh; Rucksäcke und Aktenkoffer – allesamt Ermahnungen an die Zerbrechlichkeit des Lebens.

Der Flachbildfernseher stand in den Mahagoniregalen einer Bibliothek aus der Alten Welt. Romane und Bücher über alle erdenkliche Themen – von Shakespeare-Dramen bis hin zur Autoreparatur, von Dumas bis hin zu Antiquitäten – füllten die Regale. Über dem Kaminsims hing ein majestätisches Löwengemälde von Jean-Léon Gérôme. Die Wand über dem Sofa zierten zwei Norman Rockwells, die Soldaten bei der Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg zeigten, wie sie ihre Familien umarmten. Große lederne Klubsessel standen vor dem Kamin, in dem kein Feuer brannte, und der persische Teppich mit seinen blau gefleckten Erdfarben vervollständigte die Einrichtung eines Herrenzimmers aus den 1840er-Jahren.

Nick stand in der Mitte des Zimmers. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen und zitterte am ganzen Leib. Ein tiefes, dumpfes Wummern hallte ihm in den Ohren. Als er nach hinten kippte, packte er im letzten Moment eine Sofalehne und fiel auf die kastanienbraune Ledercouch mit den großen Polsternägeln.

Nick kam es vor, als wäre er aus einem Albtraum erwacht. Er hatte einen merkwürdigen Geschmack im Mund, bitter und metallisch, und seine Lippen waren trocken. Ihm war eiskalt; er war bis auf die Knochen durchgefroren. Dennoch schien der Augenblick einen goldenen Schimmer zu haben, als hätte sich das Nachbild eines Lichts in seine Augen eingebrannt, eine Erinnerung an längst vergessenen Sonnenschein. Als er sich im Zimmer umschaute und herauszufinden versuchte, wo er sich befand, spannte er unbewusst die Hände, als würde er einen unsichtbaren Blasebalg bedienen. Sein Verstand war von Sinneseindrücken überlastet, und er besaß keine Orientierung und kein Zeitgefühl mehr.

Erneut schaute er sich im Zimmer um, das ihm mit einem Mal immer vertrauter erschien, als würde es sich vom Rand seiner Wahrnehmung zusehends in die Mitte schieben. Im nächsten Moment wusste er, woher das Wummern stammte: vom Generator, der das Haus mit Elektrizität versorgte, nachdem in der ganzen Stadt das Stromnetz zusammengebrochen war.

Dann stand ihm ein Name vor Augen: Marcus Bennett. Sein bester Freund, sein Nachbar. Dies hier war sein Haus, seine Bibliothek. Nick war vor einer Stunde hier gewesen, und Marcus hatte ihm Trost gespendet …

Und dann traf ihn die Wirklichkeit wie ein tonnenschwerer Fels.

Julia war tot.

Als Nick die Augen schloss, sah er sie vor sich, ihre weichen Lippen, ihre makellose Haut, ihre natürliche Schönheit. Ihre Stimme klang klar und deutlich in seinen Ohren, als würde sie zu ihm sprechen, und er nahm den zarten Lavendelduft ihrer Haut wahr, den er noch deutlich in Erinnerung hatte. Schmerz und Trauer packten ihn, rissen ihn in eine Dunkelheit, von der er nie etwas geahnt hatte, umschlossen sein Herz und zerquetschten es in ihrem tödlichen Griff.

Schließlich sah Nick zum Fernseher hinauf, zu den Wrackteilen des Flugzeugs, den Überresten der Passagiere, die verstreut dalagen wie achtlos weggeworfene Gegenstände. Es war ein Bild von Tod und Schmerz. Das Leben war an diesem Tag für viele Menschen zur Hölle geworden. Doch so tragisch das Ereignis war, das Nick vor sich sah – er konnte in seiner Trauer nur an sich denken, war ganz auf das eigene Unglück konzentriert.

Nick nahm die Fernbedienung und ertastete den Ausschaltknopf. Er warf einen letzten Blick auf die brennenden Trümmer und schaute kurz auf die Laufschrift am unteren Ende, die mit ihren Schlagzeilen den Blick auf sich zog und am linken Bildschirmrand verschwand, um gleich darauf am rechten Rand wieder zu erscheinen.

Als Nick auf das Senderzeichen in der unteren Ecke starrte, entdeckte er etwas, was ihn erneut in Panik stürzte. Es war ein Detail, dem er sonst nie Beachtung schenkte. Angesichts der Berichterstattung über unvorstellbaren Tod und grausame Vernichtung hatte Nick es völlig übersehen. Es befand sich in der unteren rechten Ecke, in weißer Schrift – eine Information, bei der sich Nicks Gedanken überschlugen. Die Uhr hob sich hell vom Hintergrund ab, und er schaute zweimal hin, als würden seine Augen ihm einen Streich spielen. Er las noch einmal.

20.15 Uhr.

Nicks Blick zuckte zu seinem Handgelenk, doch dort, wo er normalerweise seine Armbanduhr trug, war nur blasse Haut. Dann erinnerte er sich …

Er griff in die Jacketttasche und zog den Brief heraus. Der Umschlag war cremefarben und glänzte seidenmatt. In der linken Ecke befand sich ein kunstvolles blaues Wappen, ein Löwenkopf über einem erschlagenen Drachen, dessen Kehle ein verziertes Schwert durchbohrte. Nick war sich nicht sicher, ob es das Zeichen eines Klubs oder einer Privatschule war oder ob es sich um das Wappen des seltsamen Fremden handelte, des Europäers, der ihm das Kuvert gereicht hatte.

Er griff noch einmal in die Tasche, zog die Uhr hervor, die der Europäer ihm gegeben hatte, und klappte sie auf. Die Innenseite des Deckels bestand aus spiegelblank poliertem Silber, in das mit Schreibschrift ein lateinischer Sinnspruch eingraviert war:

Fugit irreparabile tempus

Nick warf einen Blick auf das Zifferblatt. Die römischen Ziffern waren in altenglischem Stil gehalten; die Zeiger wiesen genau auf eine Viertelstunde nach acht Uhr, was bei Nick neuerliche Fassungslosigkeit hervorrief.

Sein Verhör hatte um 21.20 Uhr begonnen! Er erinnerte sich genau, wie die Wanduhr im Verhörraum langsam auf zehn Uhr zumarschiert war, während er die Fragen der Polizeibeamten über sich ergehen ließ, den verzierten Colt-Revolver betrachtete und die Spannung wuchs, bis sie ihren Höhepunkt fand, als er Dance die Pistole fortriss und für einen Augenblick alles am Abgrund des Todes schwebte …

Und dann fiel ihm wieder ein, wie er fast eine Stunde lang mit Marcus in diesem Zimmer hier gesessen und Scotch getrunken hatte, während der dumpfe Schmerz um Julias Verlust ihm beinahe das Herz zerriss. Voller Trauer waren sie beide gewesen, untröstlich. Nick erinnerte sich daran wie an einen Film in Zeitlupe. Marcus hatte vor ihm gesessen und ihm gesagt, alles würde in Ordnung kommen, als die Bibliothekstür sich plötzlich öffnete und die beiden Detectives mit grimmigen Mienen im Durchgang standen. Shannons Hand hatte auf dem Pistolengriff gelegen.

Jetzt befand sich Nick wieder in dem Zimmer, in dem er verhaftet worden war – aus dem man ihn um neun Uhr abends in Handschellen abgeführt hatte …

Sein Gedächtnis schien auf den Kopf gestellt worden zu sein. Ereignisse wirbelten umher und ordneten sich in der richtigen und falschen Reihenfolge neu. Das Letzte, woran Nick sich erinnerte, waren der Verhörraum und die Fotos von Julia, die Detective Shannon ihm hingeschoben hatte. Sie hatten ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben. Er wusste noch, wie er Dance die Pistole abgenommen und wie Shannon und er sich gegenseitig in Schach gehalten hatten.

Doch ihm wollte nicht einfallen, was passiert war, nachdem Shannon auf den Abzug gedrückt hatte.

Kopfschüttelnd klappte Nick die Uhr zu und steckte sie zurück in die Tasche.

Dann schaute er wieder auf den Umschlag und betete, sein Inhalt möge die vielen Fragen beantworten, die ihm durch den Kopf schossen. Er riss das Kuvert auf, zog zwei Blätter cremeweißes Papier heraus und begann zu lesen.

Lieber Nick,

ich hoffe, von Ihrem Geist lichtet sich der Nebel, und doch hege ich keinen Zweifel daran, dass nunmehr noch größere Unschlüssigkeit an dessen Stelle tritt, sodass Sie sich fragen, was eigentlich vorgeht …

Nick las den zweiseitigen Brief dreimal, faltete ihn dann zusammen und steckte ihn in die Brusttasche, ohne dass er hätte sagen können, was er davon halten sollte. Vielleicht hatte er doch noch eine Chance, Julia zu retten. War er verrückt, dass er diesem Gedanken noch nachhing? Dass er die unerfüllbare Hoffnung noch immer zuließ?

Sein Verstand musste ihm einen Streich spielen.

Die Bilder von Julias Leiche, die Detective Shannon ihm vorgelegt hatte, waren so echt gewesen, dass Nick glaubte, er hätte sich endgültig dem Wahnsinn ergeben, einer grotesken Ausgeburt seiner Wunschvorstellungen. Es kam ihm vor, als wäre er in einem Traum gefangen, und er mobilisierte seine ganze Willenskraft, um endlich aufzuwachen.

Er griff in die Tasche, holte erneut die Uhr hervor, von der im Brief die Rede war – die goldene Taschenuhr, die der Europäer ihm im Verhörraum gegeben hatte. Er ließ den Deckel aufklappen und starrte auf die römischen Ziffern.

Trotz seiner Zweifel und der grundsätzlichen Unmöglichkeit stand außer Frage, wo er in diesem Augenblick war und welche Uhrzeit das Zifferblatt anzeigte.

Nick hatte bereits in diesem Zimmer gesessen, mit Marcus Scotch getrunken und Julias Tod betrauert. Das war keine Fantasievorstellung, kein Tagtraum. Seine Tränen waren so echt wie der Schmerz in seinem Herzen, und Marcus’ tröstende Worte klangen ihm noch in den Ohren.

Und der Verhörraum im Polizeirevier von Byram Hills, wo er Dance’ Fragen über sich ergehen ließ und auf die Waffe starrte – er war dort gewesen! Um 21.58 Uhr hatte Detective Shannon ihn dann mit der grausamen Wirklichkeit konfrontiert, in Gestalt der Tatortfotos. Das alles war tatsächlich geschehen. Und auch an der Uhrzeit konnte kein Zweifel bestehen, denn die vom Drahtkorb geschützte Wanduhr war jener Punkt gewesen, auf den Nick sich in den neun Minuten vor zehn Uhr konzentriert hatte.

Doch hier stand er und starrte auf die kleinen schwarzen Zeiger der goldenen Uhr, eines Zeitmessers, der aussah, als wäre er über hundert Jahre alt, und der dennoch perfekt zu funktionieren schien.

Nur dass die Uhr Viertel nach acht zeigte.

Nick nahm die Fernbedienung vom antiken Schreibtisch und richtete sie auf den Fernseher, wo noch immer Bilder von Tod und Vernichtung abliefen wie in einem Horrorfilm.

Das Ausmaß der Tragödie stand außer Frage. Es war eine Katastrophe, die in den nächsten Tagen das ganze Land beschäftigen würde. Und während Nick bewusst war, dass die Welt um die Passagiere von Flug 502 der North East Air weinte, hatte er selbst nur Tränen für Julia.

In einem Augenblick sehnsüchtiger Hoffnung ließ er die Möglichkeit zu, dass in dem Brief doch die Wahrheit stand, und er fragte sich: Was, wenn es wirklich stimmt? Er hatte nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Wenn er den Brief als Wahrheit betrachtete, wenn er hinnahm, dass es wieder 20.15 Uhr war, dann, vielleicht …

Ganz gleich, wie unglaublich es klang und wie verrückt alles war, eines begriff Nick: Wenn im Brief die Wahrheit stand – die Wahrheit über die Uhr –, konnte er Julia vielleicht noch retten.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Marcus Bennetts massige Gestalt füllte den Eingang. In seiner grauen Nadelstreifenhose, der blauen Krawatte und den aufgerollten weißen Hemdsärmeln sah er aus wie ein Holzfäller in Designerklamotten. Je ein Kristallglas in beiden prankenartigen Händen, betrat er das Zimmer.

Seit sechs Jahren wohnten Nick und Marcus in benachbarten Häusern, und es verband sie mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft. Beide waren leidenschaftliche Eishockeyfans, die fast alle Heimspiele der Rangers besuchten. Beide hatten sie auf der Highschool selbst gespielt, aber nie die Beachtung gefunden, die sie verdient gehabt hätten – zumindest ihrem allzu ausgeprägten Selbstbewusstsein nach. Um ihren Traum zu verlängern und ihre Jugend zu bewahren, spielten sie jeden Mittwochabend in einer Altherrenmannschaft, Nick als Torwart, Marcus als sein stets gegenwärtiger Abwehrspieler.

Mit neununddreißig Jahren war Marcus sieben Jahre älter als Nick. Er hatte Jura studiert, hatte sich aber bald vom Gerichtssaal auf das Gebiet der Unternehmenszusammenschlüsse und Firmenübernahmen verlegt. Dank seines Erfolgs hatte er mit zweiunddreißig bereits ein beträchtliches Vermögen angehäuft, das allerdings durch mehrere Scheidungen und Alimentezahlungen ständig schrumpfte; dennoch war Marcus nach wie vor einer der reichsten Männer der Stadt.

Doch seinem Talent, verwundbare Firmen aufzuspüren, die sich übernehmen und ausnehmen ließen, konnte sein Geschick bei der Auswahl weiblicher Gesellschaft nicht annähernd das Wasser reichen. Nick hätte nicht zu sagen vermocht, ob Marcus sich von Lust oder von Schönheit blenden ließ, doch es gab keinen Zweifel, dass sein Gespür für Frauen bei Weitem nicht so ausgeprägt war wie sein Geschäftssinn: Innerhalb von sechs Jahren hatte er drei Ehen und drei Scheidungen hinter sich gebracht.

Nach jedem Fehlschlag, wenn Marcus’ vorübergehende Verachtung des weiblichen Geschlechts ihn blind machte für alle Vernunft, schwor er sämtlichen Frauen ab und vergrub sich in Arbeit, drohte im betrunkenen Zustand sogar damit, Mönch zu werden. Allerdings löste seine heftige Abneigung sich jedes Mal wieder in Luft auf und wich einer neuen blinden Liebe.

Als Ergebnis seines Versagens in Herzensangelegenheiten stand Marcus nicht nur Nick nahe, sondern auch Julia. Sie war die Stimme der Vernunft, die ihm Trost bot, die Schwester, die Marcus nie gehabt hatte und die ihm auf jeder emotionalen Querfeldeinfahrt beistand. Sie achtete auf ihn, wenn er die Achterbahn der Emotionen zwischen Betrübnis und Wut bis hin zu völliger Verwirrung bestieg. Bei Marcus erlosch die Liebe, die Nick für ewig hielt, schneller als der neueste Leasingvertrag für einen Bentley.

Im Moment sonnte sich Marcus in seiner jüngsten Eroberung. Sheila war ein ehemaliges Werbemodel, auch wenn niemand wusste, für wen sie warb oder ob sie jemals wirklich als Model gearbeitet hatte. Mit ihrem dichten schwarzen Haar und den tiefen haselnussbraunen Augen war sie bezaubernd und der körperliche Gegensatz zu Blythe, Marcus’ dritter Frau, einer blassen Schönheit, die sich ganze achtzehn Monate lang an ihr Lotterielos geklammert hatte und dann mit einem Gewinn von zehn Millionen Dollar abgerauscht war.

Mit seinem frühzeitig ergrauten Haar, das anschließend ins Nichts zurückgewichen war, und seiner schiefen, dreimal auf dem Eis gebrochenen Nase erfüllte Marcus schwerlich die Idealvorstellung eines gut aussehenden Mannes. Für sein Äußeres war er nie berühmt gewesen; er hatte eines jener Gesichter, mit denen man in jeder Menschenmenge anonym blieb und das die meisten Leuten nach einer Minute wieder vergessen hatten. Doch seine Attacken auf dem Schlachtfeld der Liebe ritt er stets mit prall gefüllter Brieftasche und warmherzigem Lächeln; beides zog viele Frauen an und half Marcus, jede Unsicherheit zu überwinden, die als Folge seiner ehelichen Katastrophen entstanden sein mochte.

Marcus reichte Nick schweigend ein Glas. Es bedurfte keiner Worte: Über ihnen hing die Trauer, schwarz und drückend wie eine Gewitterwolke.

In Marcus’ braunen Augen spiegelte sich Schmerz, während Nick still auf das Glas starrte. Seine Gedanken verloren sich in der gelbbraunen Farbe und dem Geruch des Scotchs.

»Ich weiß, dass du nichts trinkst«, sagte Marcus schließlich mit seiner tiefen Stimme. »Aber Regeln gelten jetzt nicht mehr.«

Nick hob das Glas und nahm einen tiefen Schluck.

Marcus hielt ihm die Hand hin, öffnete sie und zeigte ihm zwei Xanax.

»Die sind von Sheila. Wenn dir Valium lieber ist, das hat sie auch.«

Nick schüttelte den Kopf und wischte den Gedanken beiseite, Schlaftabletten zu nehmen, um dem Albtraum ein vorübergehendes Ende zu setzen.

»Der Leichenbeschauer ist mit zwei Kriminalbeamten da. Sie sehen sich alles an. Sie sagen, das ganze Haus muss auf Fingerabdrücke untersucht und fotografiert werden, ehe sie …« Marcus fiel das Weitersprechen schwer. »Ehe sie sie wegbringen.«

Nick wusste das alles. Er wusste genau, wie die Stunde ablaufen würde. Er wusste, dass der schwarze Leichensack in fünf Minuten auf einer Bahre hinausgerollt würde, der weißhaarige Coroner vorneweg. Er kannte auch die Namen der Detectives, die bald durch die Tür kommen würden: Shannon und Dance. Und er wusste alles über Mitch Shuloff.

»Erinnerst du dich noch an Mitch?«, fragte Marcus, als könnte er Nicks Gedanken lesen. »Er ist letztes Jahr mal mit zum Eishockey gekommen.«

Nick erinnerte sich. Mitch Shuloff war ein aufdringlicher Kerl, der nie den Mund hielt und besessen davon war, immer recht zu haben – was zu allem Überfluss meist zutraf.

»Er ist der Beste. Außerdem wollte ich ihn sowieso anrufen – er hat beim Wetten einen Tausender an mich verloren. Nimm es ihm nicht übel, aber er ist ein Fan der Boston Red Sox.«

Genau das hatte Marcus schon einmal gesagt. Genau das hatte Nick in Erinnerung.

»Trotz allem ist er der beste Strafverteidiger von ganz New York«, fuhr Marcus fort. »Man braucht jemanden wie ihn, der den ganzen Mist durchschaut und an den Haaren herbeigezogene Anschuldigungen abschmettert.«

Nick erinnerte sich auch, dass Mitch nicht auf dem Polizeirevier erschienen war.

»Sein Problem ist allerdings, dass er nicht der Pünktlichste ist. Ich sollte ihn dir rüberschicken. Nicht dass es irgendein Problem geben wird, aber man sollte nie ohne Anwalt mit Bullen reden, die gerade ihren Privatschulabschluss geschafft haben und deren Horizont nicht über einen Bierabend bei American Idol hinausgeht.«

Marcus ging zu seinem großen Schreibtisch mit ledernem Bezug und nahm das Telefon ab.

Während Nick beobachtete, wie Marcus wählte, fragte er sich, ob er dem Freund von seinem kleinen Nervenzusammenbruch erzählen sollte.

»Ehe du diesen Anruf machst …«, begann Nick.

Marcus hielt inne.

»Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.« Wieder stockte Nick. »Ich … Ich muss herausfinden, wer es getan hat.«

Marcus legte den Hörer auf, kam um den Schreibtisch herum und lehnte sich dagegen. »Die Polizei macht das schon. Und dann wird der Dreckskerl zur Verantwortung gezogen.«

»Nein. Ich muss ihn daran hindern.«

»Woran hindern?«, fragte Marcus verwirrt.

»Ich muss ihn finden.«

Marcus starrte ihn an, suchte nach Worten. »Das sollen die Bullen tun. Wer immer es getan hat, ist verdammt gefährlich.«

»Julia ist nicht tot«, stieß Nick hervor.

Marcus räusperte sich. »Ich kann mit Worten nicht ausdrücken, wie leid es mir tut, Nick. Julia war … perfekt. Wirklich, wenn dieses Wort jemals eine Bedeutung hatte, dann bei ihr.«

Nick stellte das Scotchglas auf den Beistelltisch und fuhr sich mit den Händen langsam übers Gesicht. Er versuchte sich zu konzentrieren und fragte sich dabei, ob er am Rande eines psychotischen Abgrunds stand und zum nächsten Schritt ansetzte.

»Ich kann Julia retten«, sagte er schließlich.

Marcus saß geduldig da und beobachtete hilflos den geistigen Zusammenbruch seines besten Freundes.

»Ich kann es nicht erklären, Marcus. Ich weiß nicht wie, aber ich kann sie retten.«

Marcus’ Blick blieb auf Nick gerichtet. In seinen Augen stand Schmerz, doch sosehr er es auch versuchte – er konnte sich die Tiefe der Liebe, die Nick und Julia füreinander empfunden hatten, nicht einmal vorstellen. Bei einer solchen Liebe musste der Schmerz des Verlusts so groß sein, dass man den Blick für die Realität verlor.

»Was, wenn ich sagen würde, dass ich die Zukunft vorhersagen kann?«, fragte Nick.

»Ob die Yankees dieses Jahr den Titel holen? So was in der Art?« Marcus wusste nicht, worauf Nick hinauswollte.

Nick blickte in den Kamin und überlegte, wie er fortfahren sollte.

»Tut mir leid«, sagte Marcus. »Ich wollte nicht …«

»Schon gut.« Nick wandte sich dem Freund zu und schaute ihn ernst an. »Es klingt verrückt, aber hör mich an. Nicht mehr lange, und sie werden mich verhaften, aufs Revier schaffen und mich bearbeiten, damit ich etwas gestehe, was ich nicht getan habe. Und sie werden mir einen Revolver zeigen, den ich nie zuvor gesehen hatte.«

In Marcus’ Gesicht zuckte es nervös.

»Ich habe Julia nicht erschossen, Marcus. Ich liebe sie mehr als mein Leben. Ich brauche sie wie die Luft zum Atmen. Ich würde alles geben, um jetzt mit ihr tauschen zu können. Ich würde mein Leben für sie geben.«

»Ich weiß«, erwiderte Marcus. »Aber du bist durcheinander … das ist nur zu verständlich.« Er wandte sich um und nahm den Hörer ab. »Ich rufe jetzt Mitch an. Du solltest mit ihm reden.«

»Er wird nicht rechtzeitig hier sein.«

»Rechtzeitig wofür?«

»Sie werden mich verhaften, und zwar in …« Nick holte die goldene Uhr aus der Tasche und klappte den Deckel auf. »In dreizehn Minuten.« Nick schloss die Taschenuhr und steckte sie wieder weg.

»Das ist doch Unsinn!« Marcus schüttelte den Kopf.

»Shannon und Dance.«

»Wie bitte?«

»So heißen die beiden Detectives, die zurzeit in meinem Haus sind. Sie werden die Verhaftung vornehmen.«

Marcus hatte die beiden Männer begrüßt, als sie vor dem Haus vorgefahren waren, hatte sich vorgestellt und sie zu Julias Leiche geführt. Die Detectives hatten ihm gesagt, dass es das Beste wäre, wenn er bei sich zu Hause bliebe, bis sie fertig wären. Dann hatten sie nach Nick gefragt und erklärt, sie müssten ihn sprechen, nachdem sie sich den Tatort angeschaut hätten. Dabei hatten sie Marcus ihre Namen genannt: Shannon und Dance.

»Du kennst sie?«, fragte Marcus verdutzt.

»Ich habe sie nie gesehen … besser gesagt, ich werde sie nie gesehen haben, bis sie hierherkommen und mir Handschellen anlegen.«

Marcus starrte ihn an. »Willst du mir sagen, du weißt, was passieren wird?«

»Ja«, antwortete Nick.

»Okay.« Marcus legte das Telefon weg und setzte sich in den Ledersessel neben Nick. Das Mitgefühl in seinen Augen war zehnmal stärker geworden. »Aber du wirst mir bestimmt nicht sagen können, wie die Männer angezogen sind, oder?«

»Dance trägt einen billigen blauen Blazer«, sagte Nick wie aus der Pistole geschossen. »Weißes Hemd, gelbbraune, zerknitterte Hose. Shannon ist ein Arschloch mit Anabolikaarmen, die beinahe sein schwarzes Hemd in Damengröße sprengen. Dazu trägt er eine ausgeblichene Jeans.«