Der Einsame - Margit Sandemo - E-Book + Hörbuch
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Der Einsame E-Book und Hörbuch

Margit Sandemo

5,0

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Beschreibung

Mikael Lind vom Eisvolk war ein einsamer und tief unglücklicher junger Mann. Sein ganzes Leben lang hatte er sich nach anderen Menschen richten müssen. Als man ihn zwangsweise mit der katholischen und sehr tugendhaften Anette verheiratete und ihn anschließend in den von ihm gehaßten Krieg schickte, befand er sich am Rande des Abgrunds. Die Begegnung mit einer geheimnisvollen, schwarzgekleideten Dame in einem fremden Land versetzte ihm den letzten Schock ... 

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Seitenzahl: 331

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Zeit:8 Std. 11 min

Sprecher:Demet Fey

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Der Einsame

Die Saga vom Eisvolk 9 - Der Einsame

© Margit Sandemo 1983

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Die Saga vom Eisvolk

Titel: Der Einsame

Teil: 9

Originaltitel: Den ensomme

Übersetzer: Sigrid Sæther

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2016-2

Die Saga vom Eisvolk

Vor längst vergangener Zeit, vor vielen hundert Jahren, wanderte Tengel der Böse hinaus in die Wildnis, um seine Seele dem Satan zu verkaufen.

Er wurde zum Stammvater des Eisvolkes.

Tengel wurde irdischer Gewinn um den Preis versprochen, daß wenigstens einer seiner Nachkommen in jeder Generation bei dem Teufel in Dienst treten und böse Taten vollbringen sollte. Ihr Zeichen sollten die katzengelben Augen sein, und sie sollten Zauberkräfte besitzen. Und einmal sollte einer geboren werden, der größere übernatürliche Fähigkeiten besaß, als die Welt sie je gesehen hatte.

Dieser Fluch sollte auf der Sippe ruhen, bis der Ort gefunden wurde, an dem Tengel der Böse den Kessel mit Hexensud vergraben hatte, um den Fürsten der Finsternis heraufzubeschwören.

So berichtet die Legende.

Ob sie wahr ist, weiß niemand.

Aber im 16. Jahrhundert wurde einst ein vom Fluch befallener Nachkomme des Eisvolks geboren. Er versuchte, das Böse zum Guten zu wenden, und wurde aus diesem Grunde Tengel der Gute genannt. Von seiner Familie handelt diese Saga.

Oder vielleicht handelt sie hauptsächlich von den Frauen seiner Familie.

1. Kapitel

Das Schicksalsgewebe des Eisvolkes verschlang sich manchmal zu merkwürdigen Schleifen.

Eine solche Schleife begann weit entfernt vom Kirchspiel Gråstensholm im Bearn am Fuße der Pyrenäen.

In dem gewaltigen Dom dröhnten die Kirchenglocken und ertränkten die Stadt in ihrem Geläut. Eine vornehme Kutsche verließ den Kirchplatz und fuhr zu dem Schloß, das sich im goldenen Sonnenlicht über der Stadt erhob.

Zwei Frauen saßen im Inneren des Wagens nebeneinander, eine Mutter und ihre fünfzehnjährige Tochter. Beide wurden von den Menschen am Wegrand ergeben gegrüßt.

Ohne den Kopf zu bewegen, sagte die Mutter: „Blick’ nicht auf den Pöbel, Anette. Denk daran, was beim letzten Mal passiert ist, als du den Leuten zugewunken hast!“

„Ja, Mama.“

Anette konnte auf ihrer Wange noch immer die Hand der Mutter fühlen, auch wenn seit der Ohrfeige mehrere Tage vergangen waren.

„Sie sind schließlich unsere Untertanen“, fuhr die Mutter mit unbeweglichen Lippen fort. „Die Leute dieser Stadt sind nur zu unserem Wohle da, vergiß das nie. Ich habe wohl gesehen, daß du ihnen vorhin zugelächelt hast sogar einem Jungen! Habe ich dich nicht gelehrt . . .“

„Ja doch, Mama.“

Ihre Hoffnung, der langen Tirade ein Ende gemacht zu haben, wurde schnell zunichte gemacht. Die beharrliche, ausdruckslose Stimme der Mutter fuhr fort:

„Du bist bald erwachsen und mußt selbstverständlich verheiratet werden. Etwas anderes wäre vollkommen unpassend. Aber du weißt ja, was wir Frauen in der Ehe erdulden müssen. Nicht umsonst habe dir erzählt, was ich zu Lebzeiten meines seligen Mannes zu ertragen hatte. Solange die Männer uns Kinder verschaffen können, müssen wir uns mit ihren tierischen Gelüsten abfinden. Aber länger nicht, denk daran! Du bist nicht verpflichtet, sie auf deine Kosten Orgien der Wollust feiern zu lassen. Schließlich gibt es Möglichkeiten, das zu vermeiden. Du kannst Kopfschmerzen vortäuschen, oder noch besser: Migräne. Und bete vor allem zur Mutter Gottes, daß dein Mann seine schweinische Manneskraft verliert, wenn er dir zu der gewünschten Anzahl von Kindern verholfen hat.“

„Aber Mama!“ Anette war schockiert.

„Warte nur ab! Denn genau das wirst du dir wünschen. Männer sind Schweine und Böcke und bringen nur Elend über dich. Können sie ihre Gelüste nicht zu Hause stillen, gehen sie zu Dirnen, und hinterher mußt du dann alles vertuschen. Das zehrt an den Kräften!“

„Aber Papa war doch so lieb.“

Die Mutter verzog das Gesicht zu einer nachsichtigen, tapferen Leidensmiene. „Ach, du kennst die Männer nicht! Denen fallen die schrecklichsten Liederlichkeiten ein. Sorge dafür, daß du vor deiner Heirat niemals mit einem jungen Mann alleine bist, Anette! Laß dich nicht mit schönen Worten verführen. Bitte die Mutter Gottes um Widerstandskraft, denn sonst werden sie dich mit ihren lasterhaften Händen befühlen, dich umgarnen und verfuhren. Gott schaut auf dich herab, vergiß das nicht! Die Jungfrau Maria sieht euch, denk daran! Bleib kalt und bete, bete! Und niemals, hörst du, niemals darfst du dich unpassenden und schamlosen Gefühlen hingeben! Sei immerGott zu Gefallen! Nur Dirnen und gefallene Frauenzimmer lassen sich von der Nähe eines Mannes berauschen. Solch ein Frauenzimmer willst du doch wohl nicht sein?“

Anette senkte den Kopf. „Nein Mama, das will ich nicht.“

Hoffentlich war die Lektion für dieses Mal zu Ende. Jedesmal lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken und rief in ihrem Körper ein unerklärliches, ekelerhaftes Gefühl hervor, fast wie ein Kribbeln. Ihr wurde ganz übel davon.

Die Lektion war zu Ende. Ihrer Mutter war eine kleine Frau aufgefallen, die mit einem Korb voller Gemüse vor dem Schloßtor saß. Die feine Dame befahl zu halten, lehnte sich aus dem Wagenfenster und ergriff die seitlich an der Kutsche befestigte Peitsche. Mit einem kräftigen Schlag vertrieb sie die Frau vom Tor.

Sie lehnte sich zufrieden im Polster zurück. „Und gerade jetzt, wo unser Verwandter Jacob de la Gardie dich für ein halbes Jahr mit in seine neue Heimat nehmen will, möchte ich, daß du an meine Worte denkst. Jacob ist ja Reichsmarschall; du wirst also in den besten Kreisen verkehren. Sonst hätte ich es auch nicht gewagt, dich in dieses ketzerische Land reisen zu lassen. Er wird dafür sorgen, daß du keinen Gefahren ausgesetzt wirst. Außerdem bist du von mir richtig erzogen worden, meine ich.“

„Aber ja doch, Mama“, versicherte Anette. „Nach dem, was ich über Männer gehört habe, wird keiner mir zu nahe kommen dürfen.“

„Es freut mich, das zu hören.“ Die Mutter nickte beruhigt. „Ich möchte dich gerne eine Zeitlang aus dem Wege haben, denn einige Glücksjäger haben in Erfahrung gebracht, daß es auf unserem schönen Schloß Loupiac eine heiratsfähige Erbin gibt. Mit Glücksjägern wollen wir doch nichts zu tun haben, nicht wahr Anette?“

„Nein Mama.“

Doch auf die Wege des Schicksals hat der Mensch keinen Einfluß. Nur zwei Monate nach ihrer Abreise erhielt Anette die Nachricht, daß ihre Mutter gestorben war. Das Mädchen blieb also bei ihrem Verwandten im ketzerischen Land, denn es war noch viel zu jung, um sein Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können.

Die Worte der willensstarken Mutter waren bei Anette indes auf fruchtbaren Boden gefallen. Sie hatte gründlich gelernt, wie eine vornehme Dame sich zu verhalten hat.

Für Are Lind vom Eisvolk vergingen die Jahre auf Lindenallee immer schneller. Aber auf mich wartet noch eine Aufgabe, dachte er.

Mikael, Tarjeis Sohn, war wieder in dem unergründlichen Nebel verschwunden, aus dem er damals am Ufer der Elbe bei seiner Begegnung mit Tancred aufgetaucht war.

Are hatte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nach dem verschwundenen Enkel gesucht, auch wenn das nicht viele waren, denn der Krieg zwischen Dänemarknorwegen und Schweden legte ihm reichlich Hindernisse in den Weg.

Aber im Jahre 1658 hörte er eines Tages von einem Gutsbesitzer bei Christiania, dessen Schwester in Schweden verheiratet war. Sie wohne in der Nähe von Stockholm, hieß es.

Are reiste umgehend zu dem Gutsherrn. Zweiundsiebzig Jahre alt war das Oberhaupt des Eisvolkes jetzt, ein wirklicher Patriarch mit weißem Bart, geradem Rücken und von unerschütterlichem Wesen.

Der Gutsbesitzer empfing den respekteinflößenden alten Mann sehr freundlich, konnte aber nicht viel für ihn tun. Von seiner Schwester hatte er schon lange nichts mehr gehört — war doch der Postverkehr zwischen Schweden und Dänemark aufgrund der bitteren Feindseligkeiten zum Erliegen gekommen.

„Aber laßt mich Euer Anliegen hören“, sagte der Gutsherr. „Meine Schwester hat immer viel von ihrem Leben in Stockholmerzählt. Und ich bin früher auch mehrmals bei ihr zu Besuch gewesen.“

Ohne große Hoffnungen berichtete Are das wenige, was er über Mikael wußte. Tancreds .Brief hatte er aufbewahrt, ak sei er aus Gold. Jetzt las er daraus die vier Anhaltspunkte vor, die er über Tarjeis Sohn hatte.

„Der erste Punkt, daß der Junge Kornett war und 1654 auf dem Weg von Bremen nach Ingermanland war, bedeutet nicht viel“, meinte Are. „Aber Punkt zwei sagt uns schon mehr. Als seine Pflegeschwester Marca Christiana den Sohn ihres uns unbekannten Vormunds heiratete, ging er mit ihr nach Schweden. Wir wissen, daß der Vormund ein Schwager Johan Banérs war, aber mehr auch nicht. Wir wissen außerdem, daß Mikael auch nach ihrer Eheschließung bei ihr gewohnt hat.“

Der Gutsherr hob den Kopf, „Marca Christiana? Ein ungewöhnlicher Name, aber ich habe ihn schon einmal gehört. Nur ist mir entfallen, in welchem Zusammenhang das war! Jedenfalls muß sie eine prominente Dame sein.“

Are nickte. „Das glaube ich auch. Denn unter Punkt drei steht folgendes: Ihr Mann ist eine sehr bedeutende Persönlichkeit, sowohl als Offizier wie auch als Hofbeamter. Und Punkt vier: Sein Vorname ist Gabriel Und hier berichtet Tancred, daß in der Familie dieses Gabriel alle erstgeborenen Söhne diesen Namen tragen, weil die zwölf Kinder seiner Ururgroßmutter väterlicherseits als Neugeborene gestorben waren. Da träumte sie, daß ein Engel ihr befahl, das nächste Kind auf den Namen Gabriel zu taufen. Und das Kind blieb am Leben.“

Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Gutsherren. „Ja, die Geschichte über den Namen Gabriel ist mir bekannt! Meine Schwester hat sie mir erzählt. Es handelt sich um das Geschlecht Oxenstierna. Laßt mich nachdenken . . . Nicht in der Linie von Axel Oxenstierna. Nein, es ist die Sippe der Grafen Oxenstierna von Korsholm und Wasa. Bei den Oxenstiernas gibt es nämlich mehrere Linien.“

Das trostlose Dunkel beginnt sich zu lichten, dachte Are. Jetzt hatte er wenigstens einen konkreten Anhaltspunkt, den er weiterverfolgen konnte.

Wenn nur dieser ewige Krieg ein Ende nehmen wollte, bevor es zu spät ist! Eine innere Unruhe ergriff ihn. Machtlos saß er hier. Dabei hatte er seinem Enkel so viel zu sagen.

Mikael Lind vom Eisvolk ging es eigentlich recht gut.

Endlich war Ruhe in sein Leben eingekehrt, nachdem er die so verwirrenden Familienverhältnisse seiner Kindheit hinter sich gelassen hatte.

Während all der Jahre war Marca Christiana sein fester Haltepunkt gewesen.

Um einen Begriff von seinem entwurzelten Dasein zu bekommen, muß man schon eine Liste anlegen.

1. Seine Eltern sterben im Jahr seiner Geburt.

2. Die Tante seiner Mutter, Juliana, zieht ihn mit ihrer Tochter Marca Christiana groß, der Cousine seiner Mutter.

3. Julianas Mann stirbt, und sie heiratet in zweiter Ehe Johan Banér.

4. Auch Juliana stirbt. Johan Banér, der aus seiner ersten Ehe drei Kinder hatte, heiratet eine vornehme Dame aus Deutschland.

5. Johan Banér stirbt und gibt auf dem Totenbett seine und Julianas Kinder, darunter auch Mikael, in die Obhut seiner Schwester Anna Banér, die mit dem schwedischen Reichsmarschall Gabriel Oxenstierna von Korsholm und Wasa verheiratet ist.

6. Im Jahre 1624 heiratet Marca Christiana den Sohn des Hauses, eine ausgezeichnete Partie: Gabriel, Graf von Korsholm und Wasa, Freiherr von Mörby und Lindholmen, Herr über Rosersberg, Edsberg und Korporie — ein Mann mit einer unglaublichen Karriere. Mit fünfundzwanzigJahren wurde er 1644 Amtsrichter in Lappvesi in Finnland, ein Jahr später Oberst im Regiment von Upp landund im gleichen Jahr Hofmarschall. Seine Karriere verlief auch weiterhin erfolgreich.

Um Mikael kümmerte er sich aufs beste. Er hatte für den Jungen eine Offizierskarriere geplant, ohne zu wissen, daß ein solcher Beruf für die Mitglieder des Eisvolks ganz unpassend war. Nur Trond hatte sich danach gesehnt, soviel Feinde wie möglich zu erschlagen und so auf dem Schlachtfeld zu Ehren zu kommen — aber schließlich hatte er auch das böse Erbe in sich gehabt. Bei Mikael war von dem Fluch des Eisvolks nichts zu spüren, er war eines der sanftesten Mitglieder der Sippe. Marca Christiana verstand ihn gut und dämpfte ihren Mann, wenn er seinen Pflegesohn für hohe Offizierstitel erwärmen wollte.

Mikael war begabt und bescheiden, ein ernster Junge voller Träume, von denen niemand etwas ahnte. Niemand wußte etwas von der Unruhe, die ihn oft überfiel und von der Gemeinschaft mit anderen ausschloß. Marca Christiana hatte nie begriffen, wie sehr seine wurzellose Kindheit ihn geformt hatte. Sie selbst war ein lebhaftes, weltoffenes Wesen, dem die ständigen Wohnwechsel und verschiedenen Pflegeeltern nichts ausgemacht hatten.

Da ihr Mann Hofmarschall war, stand ihr immer eine kleine Wohnung im Stockholmer Schloß zur Verfügung. Mikael streifte oft in den leeren Sälen umher, was er gefahrlos tun konnte, denn Königin Christine war ununterbrochen auf Reisen und somit selten zu Hause.

Weilte die Königin aber auf dem Schloß, so war auch ihr Vetter, Herzog Gustav von der Pfalz, den sie zu ihrem Thronfolger ernannt hatte, anwesend. Nicht alle waren froh darüber, denn einen Pfalzgrafen auf dem schwedischen Thron sah man nicht gerne.

Bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr verlief Mikaels Leben sehr ruhig, fast wie im Traum. Dann geschahen Dinge, die sein Leben sehr verändern sollten.

Mit den großen Feldmarschällen Pontus und Jacob de la Gar die wareein paar ihrer französischen Verwandten nach Schweden gekommen, einige waren ursprünglich nur zu Besuch gewesen und dann dageblieben, andere weilten nur vorübergehend in Stockholm. Unter ihnen befand sich auch Mademoiselle Anette de Saint-Colombe, die nach dem Tode Jacob de la Gardies im Jahre 1652 ganz allein am Hofe war. Ihre Eltern waren verstorben, und ihr jetziger Vormund, ein entfernter Verwandter in Südfrankreich, verlangte ihre Rückkehr nach Hause. Er plante, das junge Mädchen zu heiraten, um so in den Besitz des Schlosses Loupiac und ihres großen Vermögens zu gelangen — und vielleicht einen Erben zu bekommen, den er noch nicht hatte. Aber Anette wollte nicht. In Marca Christianas Armen vergoß sie eine Flut von Tränen. Die zwar waren viel zusammen, da sie beide an dem steifen schwedischen Hof Ausländerinnen waren.

„Was können wir nur tun, Gabriel?“ Marca Christiana sah ihren Mann fragend an. „Der Vormund soll ein widerwärtiger, alter Trunkenbold sein, mit einem von Geschlechtskrankheiten entstellten Gesicht. Wir können Anette doch nicht einem solchen Schicksal überlassen?“

„Es wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben“, antwortete Graf Oxenstierna trocken. „Ein Vormund hat alle Rechte auf seiner Seite. Er kann über das Mädchen voll und ganz bestimmen. Sofern sie nicht verheiratet ist natürlich. Dann hat er keine Gewalt mehr über sie.“

„Dann verheiraten wir sie eben“, sagte die lebhafte Marca Christiana. „Wir brauchen ja nicht zu erzählen, daß wir seinen Brief mit dem Befehl zur Heimkehr nach Frankreich bekommen haben.“ .

Gabriel Oxenstierna schüttelte den Kopf über seine impulsive Ehefrau. „Und mit wem willst du sie verheiraten?“

„Nun, das . . . weiß ich nicht.“

Sie schwieg, während sie die jungen Männer des Hofes im Geiste Revue passieren ließ. Der Gedanke, den rettenden Engel spielen zu können, versetzte sie in Hochstimmung.

Aber der Graf, inzwischen Reichsjägermeister geworden, hatte auch nachgedacht. „Wie wäre es mit Mikael? Das Mädchen ist eine gute Partie und in gewisser Weise ganz niedlich.“

„Er ist doch viel zu jung“, protestierte Marca Christiana indigniert. „Er wird in der nächsten Woche erst siebzehn. Nein, das geht nicht!“

„Warum nicht? Mikael ist ein gewissenhafter und solider junger Mann, und er sitzt sozusagen zwischen allen Stühlen. Er ist weder von Adel, noch ist er nichtadelig. Wir können ihm die kleine Jagdhütte auf Mörby geben, die steht sowieso meistens leer. Und ich habe den Gedanken noch nicht aufgegeben, aus ihm einen Soldaten zu machen. Ich kann ihn überall unterbringen, groß und stattlich wie er ist . . .“

Die „kleine Jagdhütte“ war ein sehr geräumiges Gebäude, sehr komfortabel und von Kunsthandwerkern reich verziert.

Marca Christiana hatte gar nicht zugehört, sondern ließ sich den Vorschlag ihres Mannes durch den Kopf gehen. Anette de Saint-Colombe war zweifellos eine gute Partie. Sicher, sie war ein sehr überzeugte Katholikin und wirkte auch ein bißchen zu tugendhaft, aber das könnte sich im Laufe der Zeit ja ändern. In Schweden konnte Mikael sich keine adlige Braut erwarten. Und die Töchter der Kaufleute waren in der Regel recht langweilig erzogen. Aber ein französischen Fräulein in Not war natürlich etwas ganz anderes . . .

„Aber ist sie denn nicht älter als Mikael?“ fragte sie.

„Bestimmt nicht sehr viel. Vielleicht ein Jahr.“

Marca Christiana gab langsam nach. „Ihr Vormund wird vor Wut toben“, sagte sie vorsichtig. „Das können wir Mikael nicht antun.“

„Nein, aber genau da kommt seine Soldatenlaufbahn ins Bild, verstehst du das nicht? Sie heiraten auf die Schnelle, und dann schicken wir ihn in eine der schwedischen Besitzungen. Dort hat man immer Bedarf an jungen, starken Soldaten und ganz besonders an Unteroffizieren. Für seine Karriere werde ich schon sorgen.“

„Braucht sie zur Heirat denn nicht die Zustimmung ihres Vormunds?“

„Meine liebe Marca, das versuche ich dir ja gerade zu erklären! Er muß hinaus ins Feld der Ehre, da bleibt keine Zeit zum Einholen der Genehmigung. Not kennt kein Gebot, wie du wohl weißt.“

„Das sieht sehr nach einer abgekarteten Sache aus, Gabriel. Aber ich glaube, du hast für das Mädchen die beste Lösung gefunden. Aber sollten wir nicht wenigstens Mikael erst fragen?“

„Natürlich. Und das Mädchen auch.“

Mikael ging in den Sälen des Schlosses umher. Er war Königin Christines Page, wenn sie daheim im Schloß weilte. Eigentlich studierte er an der Universität von Uppsala, aber die war jetzt während des Sommers geschlossen, und er hatte nichts zu tun. Die Zeit kam ihm unendlich lang vor. In seinem Inneren brodelte die unbändige Lust der Jugend nach Aktivität, nach der Beschäftigung für Gehirn und Körper, auch wenn er eigentlich ein Träumer war.

Er blieb an einem der Fenster stehen und sah hinaus auf den Strömmen, wo die Fischer mit ihren großen Netzen in kleinen Booten unterwegs waren. In seinem Gesicht war die Traurigkeit seiner Sinne zu lesen, eine Traurigkeit, deren Ursprung er selbst nicht kannte. Mikael Lind vom Eisvolk fühlte sich ganz allein und wie ein Verirrter. Er hatte nicht immer solch traurige Gedanken, denn eigentlich ging es ihm bei Marca Christiana und ihrem Mann ganz ausgezeichnet. Nur wenn er allein war, kamen ihm diese düsteren Gedanken.

Wo bin ich eigentlich zu Hause? fragte er sich in Gedanken. Marca Christiana, die Cousine meiner Mutter, ist meine einzige Verwandte. Sie ist von Hochadel, ich nicht. Meine Mutter war auch von sehr vornehmer Herkunft. Sie starb bei meiner Geburt, hat man mir erzählt. Aber mein Vater war kein Adliger. Ein ungewöhnlich intelligenter Mann, heißt es. Hätte ich nur einen Bruchteil seiner Intelligenz geerbt, wäre ich dankbar und zufrieden.

Jetzt war Mikael aber zu bescheiden. Ihm fehlte es durchaus nicht an Intelligenz, auch wenn sie mit der Tarjeis nicht zu vergleichen war.

Lind vom Eisvolk . . .? Ein merkwürdiger Name, den wohl auf der ganzen Welt nur er alleine führte. Und genau darum fühlte er sich so entwurzelt. Aber irgendwie mochte er den Namen und war stolz darauf. Er erinnerte sich noch schwach an einen hochgewachsenen Edelmann, der ihn während seiner Kindheit besucht hatte und Are vom Eisvolk hieß — sein Großvater. Oder war das gar keine Erinnerung, sondern nur etwas, was Marca Christiana ihm erzählt hatte? Dieser Mann, der Vater seines Vaters, hatte gesagt, daß er stolz sein könne auf diesen Namen, und hatte merkwürdige Dinge vom Eisvolk erzählt. Nur konnte Mikael sich an die Worte nicht mehr erinnern. Trotzdem hatten sie bei Mikael eine Flamme entfacht, denn er kam immer wieder auf diese verschwommene Erinnerung zurück, peinigte sein Gehirn, um sich der Worte des Großvaters zu erinnern.

Der Großvater mußte schon tot sein, und Mikael war wohl wieder ganz allein.

Er fühlte eine unendliche Leere in sich, wie von allen verlassen.

Sein Pflegevater, Gabriel Oxenstierna, kam mit raschen Schritten den Gang hinunter.

„Da bist du ja, Mikael. Ich möchte mit dir sprechen.“

Mikael nickte. „Natürlich. Wohin wollen wir . . .“

„Nein, laß uns hier bleiben. Mikael, du kennst doch Anette de Saint-Colombe, nicht wahr?“

Mikael sah vor sich ein kleines bleiches Gesicht unter glatten, schwarzen Haaren und schwere, gewölbte Augenlider über dunklen Augen. Dazu gehörten unablässige Kreuzzeichen und eine ängstlich konventionelle Langeweile.

„Ja?“

Gabriel Oxenstierna beschloß, an Mikaels Ritterlichkeit zu appellieren. „Sie befindet sich in einer schwierigen Lage. Ihre Eltern sind tot, und Jacob de la Gardie, der sich hier in Schweden um sie gekümmert hat, ist auch verstorben. Ihr Vormund in Frankreich, ein unangenehmer und liederlicher alter Mann, hat jetzt damit gedroht, sie zu heiraten. Offensichtlich um in den Besitz ihres Vermögens zu kommen und sich Erben zu verschaffen.“

„Das hört sich nicht sehr lustig an.“

„Nein.“

Der Graf zögerte einen Augenblick. „Wie findest du Anette eigentlich?“

„Anette? Tja . . .“ Mikael zuckte die Schultern. „Ich hab’ nicht gerade viel über sie nachgedacht. Bißchen nichtssagend. Prüde. Aber sicher ganz nett.“

Klingt nicht sehr aufmunternd, dachte der Graf, beschloß aber, den Stier bei den Hörnern zu packen.

„Mikael, du weißt daß . . . es nicht so einfach ist, eine passende Partie für dich zu finden. Könntest du dir Anette als deine Frau vorstellen?“

Mikael zog verwundert seine kühn geschwungenen Augenbrauen in die Höhe. „Heiraten? Es hat doch noch mindestens fünf Jahre Zeit, auch nur daran zu denken!“

„Gegen den Willen ihres Vormunds“, fügte Gabriel Oxenstierna hinzu und sah ihn durchbohrend an.

In Mikaels Augen glitzerte ein Fünkchen Humor. „Eine Herausforderung also? Aber Eure Frage ist natürlich nicht ernst gemeint“, lächelte er.

„Doch, das ist sie. Marca Christiana und ich haben darüber gesprochen. Wie du weißt, hält meine Frau sehr viel von Anette. Und das Mädchen hat viele gute Seiten.“

Mikaels Inneres geriet in Aufruhr. Erst jetzt erfaßte er den Ernst in den Worten seines Onkels.

„Aber ich bin noch nicht einmal siebzehn Jahre alt! Und was sagt sie eigentlich dazu?“

„Wir haben sie noch nicht gefragt.“

Dann berichtete er von ihrem Plan, daß Mikael ins Feld ziehen und die Hochzeit daher in aller Eile stattfinden müsse. Man wollte den Vormund in einem Brief formell um die Hand des Mädchens bitten, gleichzeitig aber darauf hinweisen, daß ein Aufschub nicht in Frage komme. Sollte die Antwort nicht rechtzeitig vorliegen, müßten die jungen Leute eben ohne Zustimmung heiraten. Das Reich befinde sich in einer schwierigen Situation, und Mikael müsse sofort in den Krieg ziehen.

Aber ich will nicht in den Krieg, dachte Mikael verzweifelt. Ich will einfach kein Soldat sein und Offizier schon gar nicht. Ich will . . . Ja, was wollte er eigentlich? Er hatte keine Ahnung, und das war sein großes Problem. Er wollte in seinem Leben etwas erreichen, das wußte er. Nur was, darüber war er sich noch nicht im klaren. Seine Studien an der Universität von Uppsala hatte er mit großem Eifer und Enthusiasmus begonnen, denn sein Vater Tarjei war ja Naturwissenschaftler, Mathematiker und Arzt gewesen, und in Mikael lebte der Gedanke, daß er den Namen des Vaters ehren und da weitermachen müsse, wo dieser bei seinem Tod hatte aufgeben müssen. Aber vorläufig hatte der Sohn sich nur mit dem Religionsstudium befassen können, denn jede Universitätsausbildung basierte in erster Linie auf der Theologie. Alles andere, ob Naturwissenschaften, Philosophie oder Medizin, mußte auf einer christlichen Grundlage aufgebaut werden. Darum hatte Mikael auch das Gefühl, daß er nicht vorwärts kam.

Er fühlte sich entwurzelt, heimatlos, ohne Identität.

Anette de Saint-Colombe?

Nein, nein, er wollte nicht heiraten, und sie konnte er sich schon gar nicht als seine Ehefrau vorstellen. Diese kleine gottesfürchtige und tugendhafte Mamsell! Auf alle Fälle war es zu früh, alles war viel zu früh.

Doch er wußte natürlich, daß viele Ehen von Eltern und Vormündern vereinbart wurden, und oft waren die Auserwählten noch sehr jung, manchmal sogar eben erst geboren. Auch war nicht von der Hand zu weisen, daß er sich in einer schwierigen Lage befand, und Anette de Saint-Colombe eine Partie war, von der zu träumen er nie gewagt hatte.

Ein brennender Schmerz durchzog ihn. Hatte er denn nicht von heißer Liebe und Hingabe geträumt?

„Wir sollten sie erst einmal fragen“, sagte er vorsichtig.

Der Graf atmete erleichtert auf. „Du sagst jedenfalls nicht gleich nein.“

Ein wehmütiges Lächeln glitt über Mikaels Gesicht. „Ihr wißt doch, daß ich mich Euren Anordnungen beuge. Und Ihr habt immer mein bestes gewollt. Außerdem . . .“

„Ja?“

„Außerdem könnte es vielleicht ein Vergnügen sein, einem alten Lebemann den Konfekt unter der Nase wegzustehlen.“

„Kein schlechter Gedanke, Mikael“, bemerkte der Graf und legte den Arm um dessen Schulter. „Komm, wir wollen Anette suchen.“

Als der Hofmarschall mit seiner Ehefrau und dem Pflegesohn ihre Räume betrat, hatte die kleine Anette de Saint-Colombe sich gerade von ihrem Gebet vor dem Bilde der Heiligen Madonna erhoben und ihre Tränen sorgfältig getrocknet. Mit großer Bestürzung vernahm sie den Vorschlag der drei.

Mikael Lind vom Eisvolk? War es denn möglich, daß er, einer der flottesten Männer am Hof, sie heiraten wollte? Sie von dem Albtraum befreien wollte? Für sie waren zwar alle, die Hosen trugen, die reinsten Ungeheuer; aber wenn sie sich schon ihren erschreckenden Gelüsten unterwerfen mußte, wäre dieses junge Ungeheuer allen anderen vorzuziehen. Sie vernahm die harten Schläge ihres Herzens und wagte kaum ihn anzusehen. Aber gegen ihren Willen jagte ihr Blick zu ihm hinüber und glitt an seiner Gestalt hinab. Sie erschauerte heftig bei dem Gedanken an das, was sich unter seinen schönen Kleidern verbarg . . . Schuldbewußt wandte sie ihren Blick ab und starrte Marca Christiana so fest an, daß es vor ihren Augen zu flimmern begann.

„Hat dein Vormund eigentlich schon offiziell um deine Hand angehalten?“ fragte der Graf.

„Ja. Das heißt, angehalten . . . Er hat lediglich erklärt, daß er in ein paar Wochen kommt, um mich als seine Braut heimzufuhren. Hier ist der Brief.“

„Dieser Brief ist bei dir noch nicht angekommen“, bestimmte Marca Christiana resolut. „Von seinen Plänen wissen wir noch nichts. Gabriel und ich werden jetzt einen ausgeklügelten Brief verfassen und ihn vor vollendete Tatsachen stellen. Innerhalb einer Woche seid ihr verheiratet und Gabriel sorgt dafür, daß Mikael unmittelbar danach ins Feld kommt. Wenn dein Vormund dann hier erscheint, kann er nichts mehr machen. Falls er überhaupt erscheint. Der Brief wird ihn sicher noch vor der Abreise erreichen.“

„Kann er die Ehe nicht für ungültig erklären lassen? Schließlich hat er mir seinen Segen dazu nicht gegeben.“ Bei dem Gedanken daran begann Anettes Kinn zu zittern.

Gabriel Oxenstierna biß sich auf die Lippen.

„Für das Problem gibt es eine Lösung“, sagte Marca Christiana. „Zwar ist es nicht richtig einem Toten gegenüber, aber ich weiß, daß Jacob de la Gardie, den man wohl als deinen Vormund ansehen konnte, solange du bei ihm gewohnt hast, Mikael sehr gut leiden konnte. Wir sagen einfach, er hätte sein Einverständnis schon vor langer Zeit gegeben.“

„Hoho“, warnte Gabriel. „Du bist wohl verrückt. So etwas tut man nicht. Aber kannst du nicht seine Witwe fragen?“

„Nein“, antwortete Marca Christiana schnell. „Die ist so mit den Heldentaten ihres Sohnes beschäftigt, daß sie gar nichts anderes mehr sieht. Außerdem hatte Anette kein gutes Verhältnis zu ihr.“

Ebba Brahe, die Witwe Jacob de la Gardies, war die Jugendliebe von Gustav II. Adolf gewesen. Mit ihrem Jacob hatte sie vierzehn Kinder, von denen Magnus Gabriel, ein hochmütiger, arroganter Adliger, der bei Königin Christine in hohem Ansehen stand, ihr Lieblingskind war. Aber seine Eitelkeit und sein beleidigendes Wesen waren so abscheulich, daß fast der ganze Hof ihn unausstehlich fand. Auch wenn Ebba ihren Sohn vergötterte, wußte sie wohl, daß er Feinde hatte, und all ihre Gedanken kreisten ununterbrochen um den Lieblingssohn.

Dazu kam, daß Gräfin Ebba auf ihre alten Tage sehr überlegen und standesbewußt geworden war. Mikaels niedrige Herkunft würde sie kaum akzeptieren.

„Aber wir können einem Toten keine Lüge anhängen“, sagte Gabriel.

„Nun, es ist ja nur eine halbe“, gab Marca Christina leichtsinnig zu bedenken.

„Nein, das verbiete ich dir, Marca.“ Ihr Mann wurde energisch. „Deine Moral ist manchmal . . .“

Die diskutieren das ganze über unsere Köpfe hinweg, dachte Mikael. Ich will nicht, ich will nicht! Und was meint das Mädchen eigentlich? Im Augenblick macht sie ein Gesicht, als wollte ich sie fressen!

Er warf ihr einen hastigen Blick zu. Dort saß sie mit niedergeschlagenen, verweinten Augen, glänzender Nase und einem völlig durchnäßten Taschentuch in der Hand. Steif und blutleer wirkte sie, mit jungfräulich verkniffenem Mund, geradem Rücken und . . . feindselig. Nein, wahrhaftig kein Mädchen, das er sich selbst ausgesucht hätte.

Ein ganzes Leben mit dieser da?

Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Mikael hat noch nie jemandem weh tun können. Für das Mädchen wäre es peinlich, und er wollte ja auch den Pflegeeltern gehorchen.

Anettes Gedanken gingen ähnliche Wege. Was will er? Das hat er noch nicht gesagt. Besonders eifrig wirkt er nicht. Aber wenn sie zu wählen hätte, wäre die Wahl einfach. Der Gedanke an den Vormund in Frankreich ließ sie heftig zusammenzucken. Der Bavch, der ihm bis zu den Knien hing, mehrere Doppelkinne, die Glatze unter der Perücke, sein Atem. Das schlimmste aber war sein unsympathisches Wesen. Allen jungen Mädchen sah er mit kugelrunden Augen nach, grapschte diskret nach allen Kleidern, schmatzte und rülpste am Mittagstisch, prahlte mit seinen Reichtümern und seiner Herkunft.

Aber groß war sein Reichtum wohl nicht mehr. Sie hatte gehört, daß er das Familienvermögen verpraßt habe. Und jetzt wollte er ihres . . .

Mikael . . .? Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, alles zu vergessen, was sich unter seinen Kleidern verbarg. Natürlich war er nicht so gut situiert wie sie, und von Hochadel war er auch nicht. Seine Mutter, Gräfin Breuberg, war zwar aus bester Familie, aber sein Vater war nicht adlig gewesen.

Für Anette bedeutete diese Heirat einen großen Schritt nach unten.

Was würde ihre liebe Mama dazu gesagt haben? Für sie war es eine Todsünde gewesen, nicht von Adel zu sein.

Trotzdem kam in ihr eine vorsichtige, zitternde Hoffnung auf. Mikael war gut, das wußte sie. Etwas zerstreut und eigentlich ganz uninteressiert an ihrer Person. Jedenfalls bis jetzt. Gefährlich war er für sie nie gewesen.

Aber jetzt stand er plötzlich da und hielt um ihre Hand an.

Anette war völlig verwirrt.

Sie drehte sich zu Marca Christiana um. Mit einer Stimme, die überlegen klingen sollte, vom vielen Weinen aber recht atemlos war, fragte sie: „Hat Herr Mikael eigentlich den richtigen Glauben?“

„Natürlich“, antwortete die Gräfin umgehend, denn „der richtige Glaube“ ist ja schließlich ein dehnbarer Begriff.

Eine beruhigende Antwort war das.

Bevor sie noch richtig nachgedacht hatte, platzte sie in einem Gemisch aus Französisch und Schwedisch auch schon heraus:

„Ich hoffe doch nicht, daß Ihr diesen Plan aus Mitleid und Barmherzigkeit gefaßt habt? Das könnte ich nicht ertragen!“

Die zwei Älteren verloren für einen Augenblick die Fassung und sahen Mikael hilfesuchend an.

Mikael zuckte zusammen, besann sich aber sofort. „Nein, nein, natürlich nicht. Es ist schon lange mein Wunsch gewesen.“

Du Lügner, wo hast du diese Worte so schnell her? jetzt war er gefangen. Unwiderruflich.

Nachdenklich sagte Gabriel Oxenstierna: „Nur, was machen wir mit dem Vormund? Das Problem haben wir noch nicht gelöst.“

„Er wird die Ehe sicherlich für ungültig erklären lassen.“ Marca Christina nickte. „Wir müssen alle zusammen ganz fest nachdenken.“

„Nun, unseren Segen habt ihr jedenfalls, Kinder. Anette, wenn du einverstanden bist, dann leg deine Hand in Mikaels. Und du Mikael nimmst ihre.“

Scheu wie ein erschrecktes Reh streckte Anette ihre kleine Hand vor und legte sie vorsichtig in Mikaels. Die männliche Wärme ließ sie erschauern, aber sie beherrschte sich. „Mit Gottes Willen“, flüsterte sie. Nach einem kaum spürbaren Zögern umschloß er ihre Hand. Der Pakt war besiegelt.

Marca Christiana küßte beide auf die Wange. „Seid gesegnet, Kinder! Und jetzt . . . Denkt nach, daß es nur so kracht! Wir müssen einen Ausweg finden.“

Der bot sich schneller als gedacht.

Am Abend des gleichen Tages ging Mikael durch die leeren Flure und Säle des Schlosses, um für Marca Christiana eine Flasche Wein zu holen. Die Königin und ihr Vetter Karl Gustav wurden am nächsten Tag zurückerwartet, und der Hofstab mit Reichsjägermeister Gabriel Oxenstierna an der Spitze war ihnen nach Bråviken entgegengeeilt. Die Dienerschaft hatte im Laufe des Tages das ganze Schloß zur Heimkehr hergerichtet und war jetzt schlafen gegangen.

Das Schloß war jetzt so ziemlich leer.

Er war an dem gespensterhaft leerem Rittersaal vorbeigekommen und ging auf leisen Sohlen hinunter in die Küchenräume. Seine Kerze war erloschen, aber Mikael kannte sich im Schloß gut aus. Mondschein fiel durch die kleinen Fenster.

Plötzlich hörte er murmelnde Stimmen und blieb stehen.

Woher kamen sie? Soviel er wußte, war niemand in diesem Teil des Schlosses.

Er stand an der Treppe, die von den Aufenthaltsräumen in den Keller hinabführte. Dort unten lagen Räume, die nur dann benutzt wurden, wenn sich im Schloß zu viele Gäste aufhielten, die irgendwo untergebracht werden mußten. Keine schönen Zimmer, nur als Reserve gedacht.

Unten wurde eine Tür geöffnet, so daß die Stimmen deutlicher zu hören waren. Mikael sprang lautlos hinauf in die Halle und versteckte sich zwischen einem Schrank und einer offenen Tür — eine reine Reflexbewegung, die er gar nicht richtig verstand. Er hatte doch nichts zu verbergen. Aber die vielleicht?

Natürlich, so mußte es sein! Die Stimmen waren leise und wirkten recht geheimnisvoll.

Ein paar Männer kamen die Treppe herauf. Sehen konnte Mikael sie nicht; aber er hörte, was gesprochen wurde. Und was er d hörte, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Hier wurden endgültige Befehle erteilt — für eine Verschwörung gegen Herzog Karl Gustav, den Vetter der Königin. Steif vor Schreck stand Mikael da und lauschte mit hochroten Ohren. Die Stimmen waren ihm unbekannt, gehörten aber eindeutig Aristokraten. Aber viel wichtiger: Sie verrieten Mikael Zeit und Ort des Überfalls auf den Herzog.

Die Verräter blieben stehen, wechselten noch ein paar geheimnisvolle Worte und trennten sich dann.

Drei Männer. Mikael hörte, wie sie verschwanden: einer ins Schloßinnere, zwei in Richtung Hauptportal.

Wer hielt sich jetzt im Schloß auf? Er hatte keine Ahnung. Am Hof war ein ewiges Kommen und Gehen, Adelsmänner blieben einige Tage und reisten dann wieder ab. Anette und ihr Kammermädchen waren im Schloß, aber die schliefen sicherlich zu dieser Tageszeit. Mikael selbst war im Schloß geblieben, da Reichsjägermeister Oxenstierna ihn gebeten hatte, Marca Christiana Gesellschaft zu leisten.

Alles war wieder still geworden. Schnell lief er nach unten, um in aller Eile seinen Auftrag auszuführen und rannte so leise wie möglich zurück zu seiner Pflegemutter.

Nun, Pflegemutter war eigentlich eine recht unpassende Bezeichnung für Marca Christiana, die erst siebenundzwanzig Jahre zählte und für ihn immer mehr eine Schwester als eine Mutter gewesen war. Auch der Reichsjägermeister war nicht mehr als dreiunddreißig Jahre alt, und Mikael hatte die beiden eigentlich nie als Eltern angesehen. Aber niemand hätte sich besser um ihn kümmern können als diese beiden. Niemals würde er sich gegen sie auflehnen, auch wenn die Verzweiflung über die geplante Ehe mit Anette de Saint-Colombe jetzt wie ein Feuer in ihm brannte.

„Du wirkst so maßlos erregt, mein Lieber“, wunderte sich Marca Christiana. „Ist etwas passiert?“

Mikael holte tief Luft und erzählte stammelnd und flüsternd, was er gehört hatte.

Nachdenklich sagte sie: „Ich wußte schon, daß Herzog Karl Gustav viele Feinde hat. Aber daß es so weit kommen würde . . .“

„Wir müssen ihn warnen“, antwortete Mikael.

„Ja, natürlich! Aber wie? Heute kam die Nachricht, daß er die Königin doch nicht hierher begleiten würde, sondern nach einem seiner Schlösser sehen wolle.“

„Soll ich zu ihm reiten?“

Marca Christiana legte ihre Hand auf seinen Arm. „Nein, du sollst doch heiraten, hast du das vergessen?“

Nein, das hatte er nicht. Seine Frage galt nur dem Versuch, der ganzen Angelegenheit zu entkommen.

Sie fuhr fort: „Nein, ich werde besser mit Graf Arvid Wittenberg sprechen. Er ist zwar ein harter Mann, aber er ist Karl Gustavs Vertrauter. Und er kommt hierher.“

Dabei blieb es. Am nächsten Tag hatte Marca Christiana ein ernstes Gespräch mit dem rauhbeinigen Feldherrn des Dreißigjährigen Krieges. Sofort wurde ein Eilbote zu Herzog Karl Gustav geschickt, dem es somit möglich war, sich auf die gegen ihn geplante Verschwörung vorzubereiten.

Zwei Tage später kam Karl Gustav selbst nach Stockholm. Als erstes besuchte er Gräfin Marca Christiana Oxenstierna, geborene von Löwenstein und Scharffeneck, um ihr und ihrem jungen Verwandten seinen Dank auszusprechen. Ob er etwas für sie tun könne?

In Marca Christianas Augen trat ein zielbewußtes Leuchten. Ja, danke, da wäre etwas — wenn er so freundlich wäre . . .

So ging denn ein Brief an Anettes Vormund in Südfrankreich mit folgender Botschaft auf den Weg: Euer Mündel heiratet am heutigen Tage unseren geliebten Verwandten Mikael Lind vom Eisvolk. Schwedens Thronfolger, Herzog Karl Gustav von der Pfalz, hat dieser Heirat persönlich seinen Segen erteilt.

Damit waren dem Vormund die Hände gebunden. Dem Erben von Schwedens Thron und Krone widersetzte man sich nicht.

2. Kapitel

Die Hochzeit zwischen Anette und Mikael wurde eine kümmerliche Angelegenheit.

Nicht der äußere Rahmen, der war recht schön. Auch wenn die eigentlichen Zeremonien so einfach wie möglich durchgefiihrt worden waren, da Mikael ja am nächsten Tag zum Militär einrücken sollte, hatte man Würde und Stil nicht unbeachtet gelassen. Da Anette so absolut nicht in der Schloßkirche, „diesem gottlosen Ort“, getraut werden wollte, hatte man einen katholischen Pater ins Schloß kommen lassen. Mikaél war es gleichgültig wer sie traute, denn er hatte wie die meisten Mitglieder des Eisvolks ein recht kühles Verhältnis zum Christentum. Wollte Anette, daß er Katholik war, so war er es eben. Kein Grund, Theater zu machen.

Die Kapelle war mit den Blumen der Jahreszeit herrlich geschmückt. Viele Mitglieder des Hofes waren anwesend und das folgende Festmahl war vorzüglich.

Nein, es war die Unsicherheit, das Gefühl, etwas verloren zu haben, das den beiden Hauptpersonen ein so beklemmendes Gefühl gab. Es war durchaus Sitte, daß Kinder sich bei der Wahl ihres Lebenspartner nach den Wünschen der Eltern richteten. Sie hatten ja auch gar nicht protestiert, nur . . . es war alles so schnell gegangen, ohne daß sie ihr Gegenüber und dessen Gefühle überhaupt kannten. Mikael, der wie betäubt umherlief, versuchte sich selbst einzureden, daß er an dieser Sache gar nicht beteiligt war, sondern ein anderer vor dem Altar stand und das Ehegelöbnis ablegte.

Im Grunde genommen war er doch nur ein zu Tode erschrockener Jüngling von siebzehn Jahren, aber daran dachte wohl niemand mehr.

Anette war natürlich tief unglücklich — und dafür gab es eine Menge verwirrender Gründe. Sie versuchte, selbst die Überlegene zu sein, und ertrug es gar nicht, daß er so mürrisch und abwesend wirkte. Aber vielleicht bedeutete das ja ein Plus für sie? Warum war sie dann nur so wütend? Wenn sie nur wüßte, was sie eigentlich für ihn empfand. Er war ein schöner junger Mann, aber seine Persönlichkeit, wie sah die aus? Freundlich, wohlerzogen — mehr wußte sie von ihm nicht.

Aber er war eben ein Mann! Ein Schwein, wie sie wohl wußte!

Wenn sie nur feststellen könnte, was er von ihr hielt!

Schon lange mein Wunsch gewesen, hatte er gesagt. Darüber war Anette sich gar nicht so sicher. Nahm er sie nur, um seinen wilden Gelüsten frönen zu können? Oder wegen ihrer hohen Herkunft und ihres Vermögens?

Oder hatte er das nur gesagt, weil ihm nicht anderes übrig geblieben war?

Welche Gründe es auch immer gewesen sein mögen, sie konnte dieses Gefühl von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit nicht abschütteln. War sie . . . enttäuscht?

Sie fragte sich, ob andere junge Brautpaare bei arrangierten Ehen genauso fühlten. Was dachten die am wichtigsten Tag ihres Lebens? Waren sie voller Erwartungen und bereit, den Ehepartner so glücklich wie nur möglich zu machen? Oder dachten sie an die zu erwartenden materiellen Vorteile? Oder dachten sie an . . . die Hochzeitsnacht? Mit einem Unbekannten?

Anette kannte ihre Verpflichtungen und war bereit, das Opfer zu bringen. Das hatte die Mutter ihr sorgsam eingeprägt. In der Hochzeitsnacht durfte man sich nicht widersetzen, da hatten die liederlichen Männer das Recht, ihre Ehefrauen zu mißbrauchen. Anette war bereit, schweigend zu leiden. Aber danach .. ., danach würde sie diejenige sein, die bestimmte.

Anette fühlte plötzlich, daß ihre Handflächen vor Schweiß klebten. Wenn sie an die vor ihr liegende Nacht dachte, wurde ihr vor Angst und Schrecken ganz schwindlig.

Aber sie wollte tapfer aushalten!

Mikael Lind vom Eisvolk saß neben ihr und ließ die Glückwünsche, die freundlichen, aufmunternden Blicke und all die „witzigen“ Andeutungen über die bevorstehende Nacht mit zusammengebissenen Zähnen über sich ergehen.