Die Henkerstochter - Margit Sandemo - E-Book + Hörbuch

Die Henkerstochter E-Book und Hörbuch

Margit Sandemo

5,0

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Beschreibung

Hilde ist die Tochter des Henkers und darum eine Ausgestoßene. Für sie und ihren Vater gibt es nur Beschimpfungen, und niemand will etwas mit ihnen zu tun haben – bis eines Tages in der Nähe ihrer schäbigen Hütte vier Frauenleichen gefunden werden. Ein grausiger Fund, der Hildes Leben völlig verändern soll – ist er doch der Grund dafür, dass sie Baron Mattias von Meiden und Andreas Lind vom Eisvolk trifft … 

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Zeit:7 Std. 27 min

Sprecher:Demet Fey

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Die Henkerstochter

Die Saga vom Eisvolk 8 - Die Henkerstochter

© Margit Sandemo 1982

© Deutsch: Jentas A/S 2021

Serie: Die Saga vom Eisvolk

Titel: Die Henkerstochter

Teil: 8

Originaltitel: Bøddelens datter

Übersetzer: Dagmar Lendt

© Übersetzung : Jentas A/S

ISBN: 978-87-428-2014-8

Die Saga vom Eisvolk

In einer längst vergangenen Zeit, vor vielen hundert Jahren, wanderte Tengel der Böse hinaus in die Einöde, um seine Seele dem Teufel zu verkaufen.

Er wurde der Stammvater des Eisvolks.

Tengel wurden große irdische Reichtümer versprochen um den Preis, dass mindestens ein Kind aus jeder Generation des Eisvolks in die Dienste Satans treten und böse Taten verüben sollte. Das Erkennungszeichen dieser Nachkommen sollten katzengelbe Augen sein, und sie sollten Zauberkräfte besitzen. Und eines Tages würde dem Eisvolk ein Kind mit größeren übernatürlichen Fähigkeiten geboren werden, als die Welt sie jemals gesehen hatte.

Dieser Fluch sollte auf der Sippe liegen bis zu dem Tag, an dem der vergrabene Kessel mit dem Hexensud gefunden würde, mit dem Tengel der Böse den Fürsten der Finsternis heraufbeschworen hatte.

So berichtet es die Sage.

Ob sie wahr ist, weiß niemand.

Aber eines Tages im 16. Jahrhundert wurde dem Eisvolk einer dieser Verfluchten geboren. Er versuchte jedoch, das Böse zum Guten zu wenden, und wurde deshalb Tengel der Gute genannt. Von seiner Familie berichtet diese Saga. Oder vielleicht berichtet sie vor allem von den Frauen seiner Familie.

1. Kapitel

Er hatte viele Namen, der Gehilfe des Henkers, Blutscherge, Henkersknecht, Schinderknecht, Folterknecht, Scharfrichters Büttel — und Nachtmann.

Gleichgültig, mit welchem Namen man ihn auch bedachte, er wurde von allen gleichermaßen verachtet und zutiefst verabscheut. Der Henker selbst genoss zumindest einen gewissen schaudernd-verächtlichen Respekt. Für seinen Gehilfen hatte man nichts dergleichen übrig. Er war die niedrigste Kreatur auf Gottes Erde.

Üblicherweise wählte man ihn aus der großen Schar verurteilter oder bestrafter Verbrecher aus. Deshalb fehlten ihm oftmals die Ohren oder die Zunge, jedoch nicht die Hände, denn die brauchte er für seine Arbeit. Er war zu einem lichtscheuen Dasein gezwungen, wagte sich nur in der Dunkelheit hinaus, denn sonst bewarfen ihn die Leute mit Steinen oder spuckten ihn an. Vermutlich kam daher der Name Nachtmann.

Der Henkersknecht im Kirchspiel Gråstensholm war da keine Ausnahme. Die Ausnahme bei diesem Mann war nur, dass er sowohl Zunge als auch Ohren hatte behalten dürfen, weil er, wie so viele seinesgleichen, darum gebeten hatte, Folterknecht werden zu dürfen, anstatt bestraft zu werden. Er war ein verhärmter, griesgrämiger Mann, der mit gebeugtem Nacken in seiner kleinen Kate am Waldrand herumschlich und seinen Hass auf die Menschen an seiner Tochter Hilde ausließ.

Irgendwann einmal in seiner Jugend war Joel Nachtmann nämlich verheiratet gewesen. Aber sein Charakter war zu schwach, er war auf die schiefe Bahn geraten, und im Angesicht der Strafe hatte er voller Entsetzen darum gefleht, Henkersknecht werden zu dürfen. Er wurde in den Kerker geworfen, wo er darauf wartete, dass ein solch zweifelhafter Posten frei würde. Als er nach einem Jahr herauskam, war die Frau gestorben, und das Einzige, was ihm geblieben war, waren eine elfjährige Tochter und eine ärmliche Kate am Waldrand. Da war er inzwischen so bitter und rachgierig gegen alle und jeden geworden, dass er dankbar und mit großer Schadenfreude den Posten als Folterknecht annahm — ohne darüber nachzudenken, was das eigentlich bedeutete. Mit den Jahren war seine Bitterkeit nur noch tiefer geworden, bis sie sich schließlich zu einem abgrundtiefen Hass ausgewachsen hatte. Und diejenige, die das alles mit anhören musste, war Tochter Hilde.

Sie war inzwischen erwachsen, schon seit einigen Jahren. Man konnte sie manchmal sehen, wie sie am Waldrand zwischen Wohnkate und Stall hin und her huschte, oder wenn sie mit frisch gesammelten Beeren aus dem Wald heimkehrte. Aber sie mied die Nähe der Menschen, und die wenigen Zechbrüder, die in früheren Jahren manchmal den Henkersknecht in seiner Waldkate besucht hatten, bekamen sie nie zu Gesicht.

Inzwischen kam niemand mehr — keiner hatte Lust, Joel Nachtmanns bittere Hasstiraden anzuhören. Nur seine Auftraggeber ließen sich hin und wieder sehen, wenn es notwendig war, und vor denen versteckte Hilde sich.

Dann kam das Jahr 1654 und mit ihm ein nasskalter Frühsommertag.

Andreas Lind vom Eisvolk rodete einen neuen Ackerstreifen am Wald oberhalb der Ländereien von Lindenallee. Seit vielen Jahren schon hatte er die kleine Waldschneise im Auge gehabt und immer gedacht, dass man daraus eigentlich ein schönes Stück Ackerland machen könnte. Wie es aussah, lagen nicht viele Steine im Boden, und das Gestrüpp war noch so niedrig, dass man es leicht umpflügen könnte.

Dieses Jahr nun hatte er seine Idee endlich in die Tat umgesetzt. Er war jetzt siebenundzwanzig, der Andreas, und eine Frau hatte er immer noch nicht. Er hatte sich irgendwie nie dazu entschließen können. Sicher hatte er sich die Mädchen der Gemeinde angeschaut, aber keine Einzige von ihnen hatte sein Herz höher schlagen lassen.

Nein, da gefiel es ihm schon mehr, hinter dem Pferd und dem Pflug zu gehen und zuzusehen, wie die schwarze, gute Erde aufbrach und sich ihm darbot. Das hier würde ein schönes Stück fruchtbares Land werden, das war jetzt schon deutlich zu sehen. Wäre wohl am besten, erstmal mit Roggen anzufangen...

Die Pflugschar knirschte hässlich auf Stein, und er ließ das Pferd anhalten. Es war kein besonders großer Felsbrocken, und er trug ihn mit Leichtigkeit an den Ackerrain. Andreas war ein sehr starker junger Mann.

Er kletterte auf ein paar Felsblöcke, von wo aus er die Siedlung überblicken konnte. Unten vom Acker aus konnte man nichts sehen.

Er ließ sich auf einem großen Steinblock nieder und faltete die Hände um die angezogenen Knie.

Lindenallee sah gut aus von hier oben. Alle Gebäude tipptopp gepflegt. Vater und Mutter und Großvater arbeiteten immer noch auf dem Hof mit und setzten ihren ganzen Ehrgeiz daran, ihn aufs Beste in Ordnung zu halten. Obwohl Lindenallee nicht zu den größten Gehöften in der Gemeinde gehörte, galt es trotzdem als Großbauernhof.

Gråstensholm nahm sich nicht weniger gut aus. Der Gutshof war viel größer, deshalb machte er selbstverständlich mehr Eindruck. Aber das lag auch daran, dass Tarald und Yrja und Liv ihn bewirtschafteten. Was einmal aus dem Gut werden würde, wenn der junge Mattias von Meiden es übernahm, war schwer abzuschätzen. Mattias war mit Leib und Seele Arzt und sonst gar nichts. Aber das war natürlich völlig in Ordnung... Wenn er nur einen guten Verwalter fände!

Mattias war auch noch nicht verheiratet. Und das, obwohl er schon dreißig Jahre alt war. Andreas lächelte in sich hinein. Was für ein fantastischer Mensch, der Mattias, es wurde einem schon fröhlich zumute, wenn man nur an ihn dachte. Mattias war einfach dazu geschaffen, für die Menschen da zu sein, das fanden alle.

Eine Ehe könnte ihn so binden, dass er keine Zeit mehr für andere hätte.

Aber das war ein sehr egoistischer Gedanke. Auch Mattias hatte natürlich ein Recht darauf, die aufrichtige, innige Liebe zwischen zwei Menschen zu erleben.

Obwohl es bisher nicht so aussah, als ob er das vermisste.

Am Waldrand, ganz in der Nähe der Stelle, wo er saß, entdeckte Andreas eine kleine armselige Kate. Ihm schauderte. Dort wohnte der Nachtmann, das wusste er. Der Nachtmann mit seiner Tochter. Gerade in diesem Augenblick konnte er die Gestalt einer Frau ausmachen, die zum Stall hinübereilte. Und schon war sie fort. Das musste Hilde sein. Andreas hatte sie nie aus der Nähe gesehen. Sie war immer da gewesen, aber niemand zählte sie mit.

Aber er erinnerte sich an sie, auf den Festen der jungen Leute in den hellen Mittsommernächten draußen auf dem Tanzplatz im Wald. Obwohl es schon einige Jahre her war. Eine stumme Gestalt oben zwischen den Bäumen — weit entfernt von der fröhlichen, lärmenden Schar. Nur eine Silhouette konnte man erkennen von ihr, der Tochter des Nachtmanns. Kam ihr jemand zu nahe, um sie zu necken oder zu verspotten, verschwand sie sofort in den Schatten des Waldes und kam in dieser Nacht nicht mehr wieder.

Damals hatte er wie die anderen über dieses merkwürdige Mädchen gelacht.

Jetzt gab es ihm einen kleinen Strich ins Gewissen. Er war inzwischen älter und hatte mehr Verstand.

Die ganze Siedlung lag an diesem grauen Tag ruhig und still zu seinen Füßen. Die Kirche sah ziemlich mitgenommen aus. Der Pastor hatte davon gesprochen, dass der Turm in diesem Jahr ausgebessert werden müsste, aber er war nur auf taube Ohren gestoßen. Derartige Ausgaben konnten die Bauern sich nicht leisten, meinten sie.

Aber sie mussten wohl bald in den sauren Apfel beißen, wenn der Kirchturm nicht einstürzen sollte.

Er konnte von hier aus das Dach des Hofes von Gabriella und Kaleb ausmachen. Sie führten dort jetzt ein Kinderheim, die beiden und Eli. Weitere Kinder nach der totgeborenen Tochter hatten sie nicht bekommen. Aber keine Eltern konnten ihre leiblichen Kinder mehr liebhaben als die beiden ihre Eli — und kaum jemand dachte noch daran, dass sie nicht ihr leibliches Kind war. Die drei waren eine glückliche kleine Familie. Andreas musste lächeln. Dem Alter nach trennten sie alle auf dem Hof genau zehn Jahre. Kaleb war jetzt sechsunddreißig, Gabriella sechsundzwanzig und Eli sechzehn. Hätte Gabriellas Neugeborenes gelebt, wäre es jetzt sechs. Aber es war schon besser so, dass es tot geboren worden war — es wäre Kaleb und Gabriella sicher nicht leicht geworden, eine der unglückseligen Verdammten des Eisvolks großzuziehen.

Andreas selbst konnte ganz sicher sein, nur gesunde Kinder zu bekommen, also war es wohl an der Zeit, dass er auch welche in die Welt setzte...

Aber dazu musste er erst einmal eine geeignete Frau finden.

Na ja, so eilig war das nun auch wieder nicht.

Andreas atmete tief durch und erhob sich so energisch, dass es in seinen Gelenken knackte. Höchste Zeit, dass er weitermachte, wenn er vor der Abenddämmerung fertig sein wollte.

Und er war zäh. Eine Furche ziehe ich noch, dachte er. Und noch eine. Und noch eine...

Die regenschweren Wolken, die die Tannenspitzen umhüllten, zeigten schon die dunkelgraue Farbe der heraufdämmernden Nacht, als er das letzte Stück Boden voller großer Steine unter den Pflug nahm. Er wollte dieses Stück noch schaffen, es sah nicht besonders schwierig aus, war auch nicht sehr von Gras überwuchert.

Der Pflug stieß gegen ein nachgiebiges Hindernis.

Er setzte erneut an.

Nein, etwas war im Wege. Das war kein Felsbrocken, auch keine Baumwurzel. Das hier war weicher.

Andreas bückte sich und entfernte einen großen Erdklumpen. Der ließ sich leicht bewegen, so als wäre er erst kürzlich dort hingelegt worden.

Darunter entdeckte er etwas, das entfernt wie Stoff aussah. Wie dunkler, dicker Filz.

Er schob noch eine Grassode fort, und ein halb verwester Schädel grinste ihn an.

Andreas fuhr zurück, als hätte ihn eine Hand fortgerissen; ihm war, als sammele sich all sein Blut in den Füßen. In wilder Hast riss er den Pflug aus der Erde, hob ihn über den makabren Fund hinweg und trieb das Pferd zur Eile an. Als sie zum Rand des kleinen neu gerodeten Landstücks gekommen waren, spannte er den Pflug aus, warf sich rittlings auf das ungesattelte Pferd und jagte davon.

Eines hatte er sofort begriffen: Was er da auch immer gefunden haben mochte, ein geweihtes Grab war das nicht. Und auch kein ungeweihtes. Es kam ja hin und wieder vor, dass Sünder außerhalb der Friedhofsmauern begraben wurden. Das hier waren auch nicht die Überreste eines Verunglückten, und die Pest war schon lange nicht mehr ausgebrochen. Dass dieses Loch im Geheimen gegraben worden war, das begriff auch der letzte Dummkopf.

Weiter wollte er nicht darüber nachdenken, bevor er seine Entdeckung nicht jemand anderem gezeigt hatte. Zu schade, dass Amtsrichter Dag von Meiden nicht mehr lebte! Jetzt musste er wohl damit zum Vogt gehen, und der war keine besonders angenehme Person.

Aber Kaleb kannte sich gut aus mit Recht und Gesetz! Ja, er würde auch Kaleb bitten, sich das hier anzusehen.

Dieser Gedanke erleichterte ihn ein wenig.

Auf dem Hof sahen sie, dass Andreas geritten kam wie der Teufel, und sie liefen hinaus, um ihn in Empfang zu nehmen. Großvater Are, mit seinen jetzt achtundsechzig Jahren immer noch schlank und beweglich wie ein junger Bursche, Vater Brand, zuverlässig und breitschultrig und mit einem Anflug von grauen Haaren, und die herzensgute Mutter Matilda mit der schon immer stämmigen Figur, die im Laufe der Jahre nicht gerade schlanker geworden war... Sie alle standen da und blickten ihn fragend an, als er vom Pferd sprang.

»Nanu, Andreas«, sagte Brand. »Du bist ja ganz grau im Gesicht. Was ist passiert?«

»Ich habe in dem gerodeten Landstück dort oben die Überreste eines Menschen gefunden. Am besten lassen wir sofort den Vogt holen, damit er uns nicht vorwerfen kann, wir hätten etwas verschwiegen.«

»Was sagst du da, Junge? Ich werde sofort den Jungknecht zu ihm schicken.«

Der Vogt wohnte in der Nachbargemeinde, aber der Weg war nicht weit. Nur über den Bergrücken.

»Und Kaleb auch«, sagte Andreas.

»Gut, wird gemacht.«

Wenig später wusste der ganze Hof davon, und die Leute liefen in kleinen Gruppen den Pfad zum Wald hinauf, einige waren neugierig, andere wollten ganz bestimmt nicht hinsehen — aber dabei sein wollten sie doch. Andreas und seine Familie mussten sich beeilen, damit das Gesinde ihnen nicht zuvorkam und vielleicht alles zertrampelte.

Oben am Waldrand stellte Andreas sich dem heranstürmenden Haufen in den Weg.

»Geht nicht auf den Acker, ihr könntet alles zertreten, und dann kriegt ihr es mit dem Vogt zu tun!«, rief er. »Wenn ihr unbedingt etwas sehen wollt, dann stellt euch dort auf die Felsblöcke!«

Brand und Are betrachteten die Leichenreste.

»Schauderhaft«, sagte Brand. »Ich kann gut verstehen, dass du einen Schock gekriegt hast, Andreas.«

Are sagte nachdenklich: »Schau dir die Grassoden an, wie sorgsam sie wieder an ihren Platz gelegt wurden! Das ist erst in diesem Frühjahr gemacht worden.«

Das Gesinde war inzwischen vollzählig versammelt und betrachtete den Fund mit wohligem Schaudern. Einige entfernten sich schnell wieder, grünlich im Gesicht.

»Wer das wohl sein mag?«, fragte der Stallknecht.

»Sieht aus wie eine Frau«, meinte Andreas. »Wird jemand in unserem Kirchspiel vermisst?«

Nein, davon war niemandem etwas zu Ohren gekommen.

Are untersuchte immer noch den Grasbewuchs. Er stieg vorsichtig über die Grassoden hinweg.

»Seht her«, sagte er leise, und alle lauschten gespannt. »Seht ihr, wie die Grasdecke in Rechtecke unterteilt ist? Jedes Rechteck muss eine an ihren Platz zurückgelegte Grassode sein, nicht wahr?«

Sie nickten. Das war leicht zu erkennen.

»Und dass es in diesem Jahr gemacht wurde, ist deutlich zu sehen. Und nun schaut euch das an!«

Alle Augen blickten zu der Stelle, auf die er deutete. Direkt neben der Leiche traten die Rechtecke noch deutlicher hervor.

»Traut sich jemand von euch zu, sie anzuheben?«, fragte Are.

Alles schwieg.

Ein Mann, der dichter am Wald stand, gestikulierte eifrig.

»Hier ist auch ein Muster aus Rechtecken, Herr!«

Are und Brand gingen zu ihm hinüber. Der Mann hatte recht, es waren hier und da noch die schwachen Spuren einer langen Reihe von aneinandergefügten Rechtecken zu erkennen.

»Ich glaube, wir sollten auf den Vogt warten«, entschied Are. »Könnte einer von euch Mattias holen?«

Jeder wusste, der Mattias, das war Doktor von Meiden. Zwei Mägde liefen eifrig los, ganz erleichtert, dass sie all das Schreckliche nicht länger mit ansehen mussten.

»Und holt auch gleich den Pastor«, rief Brand ihnen nach.

Das erschien den beiden Mädchen sicher weitaus weniger verlockend.

Den anderen sagte er zur Erklärung: »Wir müssen diesen Ort segnen lassen, bevor irgendein unseliger Geist Macht über uns gewinnt.«

Da fiel es inplötzlich mehreren Frauen ein, dass ihnen ja das Essen auf dem Feuer anbrannte, dass die Kühe gemolken werden mussten und Ähnliches mehr. Und auch einige Männer suchten das Weite.

Mattias traf als Erster ein. Sympathisch wie immer mit seinen freundlichen Augen, und sein Erscheinen wirkte auf alle beruhigend. Er wollte nichts berühren, bevor nicht der Vogt die Sache in Augenschein genommen hatte, aber was die Leiche anging, war er derselben Meinung wie Andreas: Eine Frau, nicht mehr ganz jung, denn man konnte noch einige graue Haarsträhnen erkennen, aber mit guter Kleidung aus feinstem Tuchfilz.

Doch er tat das, wovor die anderen sich gescheut hatten: Er nahm die Grassoden neben dem Kopf der Leiche auf.

Viele der Zuschauer verbargen dabei ihr Gesicht in den Händen, aber dann lugten sie doch vorsichtig zwischen den Fingern hervor.

Zum Vorschein kam, was viele vermutet hatten — noch eine Leiche. Eine Frau, erst vor kurzer Zeit ums Leben gekommen. Ameisen und anderes Getier huschten eilig fort von dem weitgehend unbeschädigten Gesicht, als das Erdstück weggenommen wurde.

Diese Frau war um einiges jünger. Sie war nicht hübsch gewesen und bei ihrem Tod wohl etwas über dreißig. Ihr Haar schmiegte sich immer noch in eleganten Wellen um den Schädel.

Niemand sagte ein Wort. Alle Blicke wandten sich langsam den beiden letzten Stellen zu, an denen sich ein Rechteckmuster im Gras zeigte.

»Nein«, sagte Brand. »Etwas soll der Vogt auch noch tun.«

Auch die Leute von Gråstensholm waren inzwischen hinzugekommen. Und dort oben am Waldrand konnten diejenigen, die ganz oben auf den Steinblöcken standen, in einer guten halben Meile Entfernung eine einsame Frauengestalt erkennen. Sie stand vollkommen unbeweglich da und starrte zu der Menschenansammlung herüber.

Vom Henkersknecht selbst war nichts zu sehen.

»Es wird langsam dunkel«, sagte Are und sah zum Himmel hinauf.

»Richtig dunkel wird es um diese Jahreszeit ja nicht mehr«, knurrte einer der Männer.

»Nein, aber wenn es so grau und trübe ist wie heute, dann schon.«

Und dann trafen der Vogt und der Pastor beinahe gleichzeitig ein. Ihnen folgten fast alle Einwohner der Gemeinde, verteilt auf mehrere kleine Gruppen.

»Was geht hier vor?«, fragte der Vogt säuerlich. Er war Deutscher, wie die meisten seiner Amtskollegen, und wie sie sprach er schlecht Norwegisch. Ein massiger Kerl, ebenso hoch wie breit, was man von seiner Intelligenz nicht behaupten konnte. Schon äußerlich war er einfach unsympathisch, mit kleinen Schweinsaugen und einem großen, schlaffen Mund. Er schien von allen Seiten Hass zu erwarten, und folglich gab er nichts als Hass zurück. Seine große Leidenschaft sei Geld, hieß es. Reichtum und Macht. Viele andere Interessen hatte er nicht.

Andreas erklärte die Sache. Der Vogt machte ein Gesicht, als habe er schon immer gewusst, dass man von diesen norwegischen Bauern ja nichts Gutes erwarten konnte. Der Pastor jammerte lauthals herum und fühlte sich offenbar ganz unbehaglich.

»Wollt Ihr ein Gebet für die armen Seelen sprechen und die verirrten Geister erlösen, Herr Pastor?«, fragte Brand.

»Wir wissen ja noch gar nicht, wer diese Frauen sind«, maulte der Pastor. »Und ich lese keine Seelenmesse für verkommene Weiber.«

»Ich denke doch, das sollte Euch umso mehr Grund sein, für das Seelenheil dieser Verlorenen zu bitten«, erwiderte Are scharf. »Jesus hat sich von keinem Sünder abgewandt.«

Man widersetzte sich in dieser Gemeinde keinem Sohn Tengels des Guten vom Eisvolk. Das hatte sogar dieser neue Pastor schon begriffen.

Also warf er Are nur einen giftigen Blick zu und sprach gehorsam ein Gebet, damit die ruhelosen Geister ihren Frieden finden sollten.

Danach atmeten alle erleichtert auf.

Aber nur für kurze Zeit, denn gleich darauf sagte der Vogt, als er den Kopf hob:

»Teufel auch! Das sind doch nicht etwa...«

Dann beruhigte er sich wieder ein wenig. »Nein, das kann ja gar nicht sein.«

Aber alle hatten seine Worte gehört. Kalebs vertrauenserweckende Gestalt tauchte auf, und nicht wenige suchten seine Nähe.

»Woran habt Ihr gedacht?«, fragte Brand den Vogt in scharfem Ton.

»Ach nichts, es kann ja nicht sein.«

»Heraus damit!«

»In der Einöde draußen, weit entfernt von hier, in den kleinen Talschluchten... da ging einige Jahre lang das Gerücht über einen Wolf in Menschengestalt. Wir nennen so etwas einen Werwolf. Eine Frau wurde vor gut einem Jahr zu Tode zerrissen, richtig zerfleischt. Und im Wald wurde ein dreibeiniger Wolf gesichtet...«

Ein junges Mädchen schlug die Hand vor den Mund und schrie erstickt auf: »Jesses!«

»Ein Werwolf?«, unterbrach ihn Are mit finsterem Blick. »Macht mir nicht die Leute verrückt!«

»Nein, ich sage ja, es war nur ein Gerücht.«

Ein Mann sagte bedächtig: »Aber wie es aussieht, haben wir hier vier ungeweihte Gräber vor uns. Vielleicht sind alle Toten Frauen? Vielleicht treibt er hier sein Unwesen? Reißt einsame Frauen. Bei Vollmond...«

Zwei der Mädchen schrien auf. Einige der Anwesenden blickten zum Himmel, um zu sehen, wie der Mond stünde, aber der war verborgen. Andere blickten hinter sich, in den Wald.

»Ein dreibeiniger Wolf?«, fragte einer der Männer. »Wieso dreibeinig?«

»Weißt du das nicht, Dummkopf?«, fuhr ihn der Vogt an. »Der Werwolf ist ein Mensch, der sich bei Vollmond in einen Wolf verwandelt. Und auch sonst manchmal. Und weil er ein Mensch ist, hat er keinen Schwanz. Das aber ist eine Schande für einen Wolf. Deshalb streckt er ein Bein nach hinten wie einen Schwanz — und somit bleiben ihm nur drei Beine zum Laufen.«

»Uhh«, kam es erschauernd aus der Menge.

Der Vogt bedachte die Versammlung mit einem strengen Blick. »Deshalb achtet auf euren Mann, ihr Frauen! Sollte es Anzeichen dafür geben, dass er des Nachts draußen war, dann gebt mir Nachricht! Seht euch seine Zähne genau an! Vielleicht sitzt noch ein Fädchen Stoff dazwischen — oder es finden sich Spuren von Blut in seinem Gesicht...«

Are stöhnte leise auf.

»Und Frauen, die in der Hoffnung sind, sollten abends daheimbleiben«, fuhr der Vogt fort. »Denn sie sind besonders verlockend für den Werwolf.«

»Jetzt haltet doch endlich den Schnabel mit diesem Gewäsch«, sagte Andreas unbedacht. »Was Ihr hier zum Besten gebt, das sind Märchen aus Eurem eigenen Land. In Norwegen gibt es keine Werwölfe.«

»Hah, und ob!«, erwiderte der Vogt, der jetzt in seinem Element war. »Ihr habt sogar Bären, die Frauen und Kinder fressen. Die gibt es bei uns nicht.«

»Ach, wisst Ihr was«, sagte Are gelassen, »schon die Wikinger hatten ihre Werwölfe. Ich denke, es ist vollkommen unnötig, das hier jetzt ins Spiel zu bringen, solange wir nicht mehr über die toten Frauen hier wissen. Und was ich gerne wissen würde, ist — wenn denn wirklich ein Werwolf sein Unwesen bei uns treiben sollte..., warum er unbekannte Frauen hierher verschleppt hat?

»Ja, sind sie es denn?«, fragte ein Mann. »Was war denn mit Gustavs Lisa? Die letzten Herbst fortgegangen ist, um Geld zu verdienen? Sie hatte fest versprochen zu schreiben. Und das hat sie nicht getan. Sie kam auch nicht zu Weihnachten heim, und dabei hatte sie es ganz fest zugesagt.«

»War es Abend, als sie von daheim fortging?«, wollte der Vogt wissen.

»Das weiß ich nicht. Da müsst Ihr den Gustav fragen.«

»Das werde ich, verlasst Euch drauf«, entgegnete der Vogt schroff.

Der Wald stand finster und schweigend in ihrem Rücken. Niemand hier wollte allein stehen, sie drängten sich zusammen, zu zweit oder in Gruppen. Die grauschwarzen Wolken hingen schwer in den Tannenwipfeln. Zwischen den Bäumen konnte sich leicht etwas verborgen halten.

Are ließ Fackeln anzünden, um den sterbenden Tag zu erhellen. Von Lindenallee und Gråstensholm kamen Männer mit Spaten, und dann begannen sie, vorsichtig zu graben.

Die Zuschauer verfolgten die Geschehnisse auf dem Ackerstück zwar mit gespannter Neugier, aber immer öfter wanderten vielsagende Blicke hinauf zu der einsamen Kate am Waldrand.

Doch den Vogt interessierte der weitere Umkreis.

»Wer wohnt hier in der Gegend? Welche Höfe gibt es?«, rief er barsch über die abendstille Wiese.

Mattias antwortete: »Lindenallee und Gut Gråstensholm. Und die Kate des Henkersknechts. Und oben im Wald noch den Häuslerhof von Klaus.«

»Klaus ist doch schon lange tot, soweit ich weiß«, sagte der Pastor. »Und seine Frau Rosa auch.«

»Ja, jetzt wohnt Jesper da wohl alleine, nachdem seine Schwester geheiratet hat«, sagte Mattias.

»Weitere Höfe?«

»Nein, nicht in dieser Gegend.«

»Hm.« Der Vogt ließ seinen Blick, den er wohl für streng und bohrend hielt, hin und her wandern zwischen Are, Brand und Andreas von Lindenallee sowie Mattias und Tarald von Gråstensholm. Auf Andreas blieb er haften.

»Ihr habt dieses Wiesenstück ja offenbar gut gekannt«, sagte er inquisitorisch.

»Ja. Aber wenn Ihr mich für so töricht haltet, meine eigenen, gut versteckten Leichen auszugraben, dann weiß ich nicht, wer hier der Dumme ist«, antwortete Andreas ziemlich scharf.

Dem Vogt schien diese Logik einzuleuchten.

»Es gibt noch einen neuen Hof in Eurer Familie, ist es nicht so? Elistrand? Dieser Kaleb — woher kommt der eigentlich?«

»Ich glaube nicht, dass wir ihn da mit hineinziehen sollten«, sagte Andreas kühl. »Er ist ein anständiger Mensch, den wir alle respektieren. Aber fragt ihn doch selbst. Er steht hinter Euch.«

Der Vogt fuhr herum. Er kannte nicht alle Leute im Kirchspiel persönlich und war Kaleb nie zuvor begegnet. Jetzt wich er vor dem blonden Hünen leicht zurück.

Andreas fuhr mit leichter Genugtuung fort: »Kaleb kennt sich übrigens sehr gut mit den Gesetzen aus. Er wird Euch in dieser Sache sicher gern behilflich sein.«

Der Vogt nuschelte irgendwas von »Amateur«.

»Wohl kaum«, sagte Andreas. »Kaleb ist bei Amtsrichter Dag von Meiden in die Lehre gegangen und sitzt seit vielen Jahren im Gemeindegericht.«

Da verstummte der Vogt. Und sagte auch im weiteren Verlauf der Ausgrabung nicht mehr viel. Er war Fälle wie diesen nicht gewohnt und verließ sich im Großen und Ganzen auf Mattias und Kaleb und die Männer von Lindenallee. Seine herrische Stimme folgte ihren wie ein Echo und wiederholte das, was bereits gesagt worden war, als wären es seine eigenen Worte. Niemand war besonders angetan vom Vogt, den man für hochnäsig hielt und nur daran interessiert, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.

Ein leiser Ruf ertönte vom hintersten Ende der Wiese, drüben an den Felsblöcken.

»Hier ist auch was, seht mal!«

Vorsichtig wurden die Grassoden entfernt. Hier war es schwieriger zu erkennen, was sich darunter verbarg. Die Zeit hatte das Ihre getan, die Körper zerfielen schon zu Erde.

»Es ist zu dunkel«, klagte Mattias.

»Ja, jetzt ist es zu dunkel«, wiederholte der Vogt wie ein Echo. »Wir werden mit der Untersuchung der Getöteten morgen weitermachen müssen.«

»Ja«, nickte Kaleb zustimmend. »Aber wir können den Rest heute Abend noch umgraben — sicherheitshalber.«

Nach einer Stunde war das ganze kleine, dreieckige Stück Land umgegraben. Vier Frauenleichen lagen dort. Trotz tieferer Stichproben hier und dort wurden keine weiteren gefunden.

Vier Tote. Eine ganz frisch, eine vom Anfang des Frühjahrs, und die beiden anderen mussten schon den ganzen Winter über dort gelegen haben. Die eine wahrscheinlich seit Herbst, die andere seit Sommer.

Wer waren sie? Woher kamen sie? Wer hatte sie umgebracht, und auf welche Weise?

Mattias und Kaleb standen mit den Leuten von Lindenallee zusammen und diskutierten über die beiden letzten Funde, als der Vogt leise nach ihnen rief. Er stand über die Frau gebeugt, die offensichtlich als Letzte getötet worden war — vor ganz kurzer Zeit.

Sie gingen hin.

»Seht nur!«, murmelte er. »Was sagt Ihr dazu?«

Er hatte die eine Hand der Frau von Erde befreit und zog nun eine schmutzige Schnur hervor.

»Die war um ihre Hand gebunden«, sagte er.

Die Schnur war lang. Er hielt sie hoch in die Luft, und immer noch lag ein Ende auf der Erde.

Are nahm ein Stück in die Hand. »Knoten«, murmelte er.

»Zusammengeknotet aus verschiedenen Stücken«, sagte der Vogt verkniffen. »Neun verschiedene Schnüre. Also mit solchem Pack haben wir es hier zu tun!«

Die anderen beschlich ein unbehagliches Gefühl.

»Das behaltet Ihr besser für Euch«, sagte Are warnend. »Wenn das durchsickert, verbreitet sich die Hysterie in weitem Umkreis. Wir haben genug Hexenprozesse gehabt, wir brauchen nicht noch mehr! Euer Werwolf reicht uns völlig!«

»Aber hier haben wir doch den unwiderlegbaren Beweis«, protestierte der Vogt. »Und gestern haben wir in der Nachbargemeinde eine Hexe erwischt. Es ist wirklich Hexerei im Gange!«

»Nun, wir werden die Sache genau untersuchen — morgen! Heute Abend sollten wir nicht eine Stimmung anschüren, die die Leute womöglich dazu bringt, auf eigene Faust zu handeln. Stellt für heute Nacht eine Wache hier auf, und schickt alle anderen nach Hause!«

Der Vogt verzog unwillig den Mund, aber er tat, wie ihm geheißen.

Als die große Schar endlich über die Wiesen wieder hinunter zu den Höfen trottete, war es längst Nacht geworden.

Jesper befand sich nicht unter ihnen. Sein kleiner Häuslerhof lag so tief im Wald, dass er von der ganzen Aufregung nichts mitbekommen hatte.

Aber alle dachten daran, dass er ein unverbesserlicher Schürzenjäger war.

Auch der Nachtmann hatte sich nicht blicken lassen.

So gingen alle auseinander und kehrten heim, um sich am nächsten Tag wieder zu versammeln.

Das glaubte man jedenfalls. Aber es legten sich wohl nicht alle schlafen. Dunkle Schatten schlichen durch die Nacht. Sie wussten nichts von den Hexenknoten. Sie hatten etwas anderes im Sinn. Sie legten sich an den Wegkreuzungen auf die Lauer — bis sie ihr Opfer erblickten: den Nachtmann.

Jetzt hatten sie wirklich einen Grund, sich auf den verhassten Henkersknecht zu stürzen. Wer eignete sich besser zum Werwolf als er? Und außerdem... Wohnte er etwa nicht der Waldwiese am nächsten?

Die selbstgerechten Männer und Frauen der Gemeinde pressten ihre Hände auf den Mund des Nachtmannes — um seine Schreie zu ersticken.

Und niemand ahnte, was sich nun an der Wegkreuzung abspielte, wo sich die nächtlichen Nebelschwaden zum Elfenreigen sammelten.

Am nächsten Morgen, als Andreas mit seinem Pferd, das ein Hufeisen verloren hatte, unterwegs zum Schmied war, entdeckte er eine jämmerliche Gestalt im Graben am Wegesrand.

Er erkannte den Henkersknecht sofort, obwohl der Mann schrecklich zugerichtet war. Andreas beugte sich über ihn und versuchte, ihn hochzuheben.

»Lauf und hol den Wagen«, rief er dem Jungknecht zu, der ihn begleitete. »Es ist noch Leben in ihm. Anschließend bringst du das Pferd zum Schmied und gehst dann zu Doktor Mattias. Bitte ihn, zur Kate am Waldrand zu kommen. Ich bringe Joel Nachtmann heim.«

Während er darauf wartete, dass der Jungknecht mit dem Wagen kam, setzte er sich an den Wegesrand und betrachtete den böse zerschundenen Mann.

Seine Gedanken waren düster.

Der Fund in der Hand der getöteten Frau gestern Abend hatte alle in seiner Familie entsetzt. Sie wussten, wie empfindlich die Leute in dieser Beziehung waren. Vorläufig wusste nur der Vogt Bescheid. Aber wenn sich das Gerücht erst in der Gemeinde verbreitete ...

Andreas betrachtete Joel Nachtmann. Dass dieser Überfall heute Nacht passiert war, lag auf der Hand. Ebenso sicher war, dass er mit dem Fund auf dem Acker zusammenhing. Die Leute hatten einen Sündenbock gefunden, einen, an dem man sich rächen konnte. Aber die Stimmung der Leute änderte sich sehr leicht. Wenn sie einen anderen fanden, auf den sie einschlagen konnten, waren sie zu allen Schandtaten bereit.

Das ist erst der Anfang, dachte er. Das ist erst der Anfang...

2. Kapitel

Hilde Joelstochter betrat die kleine dunkle Kate, nachdem sie die morgendliche Arbeit im Viehstall erledigt hatte. Das war schnell getan, denn sie hatten nur eine Kuh und drei Hühner. Und eine Katze, die sich auf Katzenart nützlich machte.

Sie tauschte den Rock, den sie bei der Stallarbeit trug, gegen ihren Hausrock, und wusch sich Gesicht und Hände im Holzbottich. Ihre Bewegungen waren langsam, gedankenverloren, auch als sie den kleinen Raum in Ordnung brachte, der Wohnstube und Küche und ihr Schlafraum in einem war. Der Vater hatte die einzige Kammer für sich selbst.

Er war immer noch nicht heimgekehrt, wie sie sah. Am Tag zuvor hatte die Nachbargemeinde ihn bestellt; es gab ein paar Viehkadaver, die vergraben werden mussten. Auch das gehörte zu den Aufgaben des Nachtmanns. Er hatte damit gerechnet, dass er bis zum Abend wieder zu Hause sein würde, aber er hatte es wohl doch nicht geschafft.

Hilde tauschte die Waldveilchen in der Vase auf dem Tisch gegen ein paar einsame Himmelsschlüssel aus.

Heute ist doch mein Geburtstag, dachte sie. Vielleicht könnte ich zur Feier des Tages einen Kuchen backen.

Nein, lieber nicht.

Als sie jünger war, hatte sie das getan. Und der Vater hatte über die Verschwendung geschimpft. Also hatte sie damit aufgehört.

Siebenundzwanzig Jahre waren auch kein Grund zum Feiern. Besser, man zählte die Jahre nicht mehr.

Ihre Finger berührten sachte die zarten Blütenköpfe. Ihr Blick wurde träumerisch.

Sie wusste nicht, wo die Jahre geblieben waren. Sie waren spurlos verschwunden. Einmal vor langer Zeit hatte sie Träume gehabt. Sehnsüchte. Hatte in den einsamen Nächten geweint.

Inzwischen weinte sie nicht mehr. Und die Träume waren vergessen.

Wieder erinnerte sie sich an die Worte der Mutter auf dem Sterbebett: »Bleib bei Vater, Hilde! Er hat jetzt nur noch dich. Sei ihm eine gute Tochter!«

Und Hilde hatte es versprochen und es wirklich versucht. Es war nur manchmal so schwer, denn der Vater war nie zufrieden. Er sah nicht, wenn sie das Haus geschmückt hatte, so gut es sich machen ließ, und er bemerkte nicht die tägliche Arbeit und Fürsorge. Gingen jedoch das Bier oder der Branntwein aus, überschüttete er sie mit Schimpfworten und konnte nicht begreifen, wie er zu so einer faulen Tochter gekommen war.

Und all die Ungerechtigkeiten, über die er tagaus, tagein zeterte! Was dieser oder jener gesagt hatte. Wie sie auf ihn herabblickten. Aber er würde es ihnen zeigen, die würden sich noch wundern. Auf alten Kränkungen, die Jahre zurücklagen, kaute er herum wie auf alten, längst verdorrten Fleischknochen. Immer und immer wieder dasselbe, vermischt mit neuen Ungerechtigkeiten. Und Hilde musste sich alles anhören. Wenn sie an den falschen Stellen ja oder nein sagte, wurde er rasend vor Wut, keifte viele Tage lang und fand tausend Fehler an ihr.

Hilde stand in Gedanken versunken da. Das Versprechen, das sie der Mutter gegeben hatte, war ihr heilig. Niemals würde sie auf die Idee kommen, es zu brechen. Aber...

Ihre Gedanken wanderten die Jahre zurück, die vergangen waren. Grau waren sie gewesen, eines wie das andere.

Unbewusst verzog sie den Mund zu einem bitteren Lächeln. Einmal hatte der Vater Besuch gehabt von einem Arbeitskollegen aus Christiania. Ein Henkersknecht auch er. Schmutzig, ältlich, widerlich anzusehen.

Hatte sie in ihrer Einsamkeit nicht eine Zeitlang abends an ihn gedacht? Denn er war ein lebendiges Wesen, ein Mann, der einzige, den sie seit vielen Jahren zu Gesicht bekommen hatte.

Wie tief konnte ein Mensch eigentlich sinken?

Hilde hatte keinen Spiegel, nicht einmal ein Stück Fensterglas, in dem sie sich betrachten konnte. Alles, was sie hatte, war der Teich unten im Tal. Deshalb wusste sie nicht genau, wie sie aussah. Nicht gar so übel, hatte sie gedacht, als sie achtzehn war. Inzwischen schaute sie nicht mehr in den Teich.

Aber ihr Haar war schön, das konnte sie natürlich sehen. Goldbraun und niemals geschnitten, daher reichte es ihr bis zu den Kniekehlen, wenn sie es bürstete. Es war dick und kräuselte sich ein wenig an Stirn und Schläfen, und zu den Spitzen hin lockte und wellte es sich.

Ihre Gedanken flossen in trägem Strom dahin...

Ein anderes Mal — ach, wie viele Jahre das jetzt her war — hatte sie zugeschaut, wie andere junge Leute auf der Lichtung im Wald tanzten, und es hatte ihr in der Brust so weh getan. Auf dem Heimweg hatte ein Bursche sie eingeholt. Er bat sie, sich mit ihm in das taufeuchte Gras zu setzen, um zu plaudern. Hilde hatte ihren Ohren nicht getraut. Einer, der freundlich zu ihr sprach — oder überhaupt mit ihr sprach — mit ihr! Er sah nicht besonders anziehend aus, und voller Pickel war er auch, mit ekligen weißen Bartfusseln zwischen den Eiterpusteln.

Aber sie hatte getan, worum er sie bat — sich hingesetzt, um zu plaudern. Obwohl sie keine Worte fand, denn die waren schon vor langer Zeit versiegt. Da hatte sein Arm sich um ihre Taille gelegt, und sein Gesicht war ganz dicht an ihrem gewesen. »Du redest doch nicht über das hier, oder?«, hatte er geflüstert. »Sonst lachen sie mich bloß aus, und ich werde in der ganzen Gemeinde zum Gespött.«

Hilde hatte die Augen geschlossen und tief Luft geholt. So einsam bin ich nun doch nicht!, hatte sie gedacht.

Dann war sie aufgesprungen und davongelaufen, und Tränen der Demütigung und Trostlosigkeit hatten ihren Blick verschleiert.

Ihre Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Gestern Abend war drüben am Waldrand oberhalb von Lindenallee etwas vorgefallen. So viele Leute waren angelaufen gekommen! Wie es aussah, hatten sie etwas gefunden. Und die ganze Nacht hindurch hatten Feuer gebrannt.

Aber es zog sie nicht dorthin. Das ging sie nichts an.

Sie war ausgeschlossen.

Früher einmal — als die Mutter noch gelebt hatte — hatte sie unter Menschen gehen können. Hatte sogar mit ihnen sprechen können.

Das konnte sie nun nicht mehr. Es war, als hätte sie den Gebrauch der Wörter verlernt.

Nicht einmal mit dem Vater sprach sie noch. Sie zweifelte niemals an ihrer Pflicht, sich um ihn zu kümmern. Aber sie unterhielt sich nicht mit ihm. War er zornig oder beleidigt — und eins von beidem war er meist —, schwieg sie nur.

Sie wusste selbst, dass sie als Mensch abstumpfte, dass sie auf diese Weise ihre Persönlichkeit zerstörte, aber was konnte sie tun, um das zu verhindern? Nur die Katze und die anderen Tiere bekamen ihre Stimme noch zu hören. Sie hörten, wie viel Liebe in dieser Stimme lag, trotz der mitschwingenden Verdrießlichkeit, die auf mangelnde Übung zurückzuführen war und auf einen Widerwillen, sich an jemanden zu binden.

Andreas wusste nicht, welches Ausmaß an Verletzungen der Henkersknecht davongetragen hatte, aber es steckte noch Leben in ihm. Hin und wieder kam ein jämmerliches Stöhnen vom Wagen.

Als Andreas auf den kleinen Hofplatz der Waldkate fuhr, war er überrascht, wie sauber und ordentlich alles aussah. Armselig, das schon, aber alles war in einem gepflegten Zustand. Kein zerbrochener Zaunpfahl, kein herabgefallenes Brett zu sehen, Blumen waren in einem beinahe rührend kleinen eingezäunten Gartenstück gepflanzt, und eine Katze lag auf der Türschwelle und sah aus, als ginge es ihr richtig gut in diesem Haus.

Er klopfte an die Tür.

Niemand antwortete. Drinnen blieb es totenstill.

Andreas wartete eine Weile, dann rief er:

»Ich bin Andreas Lind vom Eisvolk. Von Lindenallee. Ich bringe Joel Nachtmann heim. Er ist böse verletzt.«

Nach einer kleinen Weile waren leichte, geschwinde Schritte zu hören, und mit einem Ruck wurde die Tür einen Spalt geöffnet. Dann entfernten sich die leichten Schritte wieder.

Andreas hob den Verletzten, der sofort zu stöhnen begann, vorsichtig an und hievte ihn vom Wagen. Er trug ihn in die dunkle kleine Stube und legte ihn aufs Bett.

Er konnte hören, wie jemand drinnen in der Kammer ängstlich atmete.

Andreas sah sich in dem Raum um. Alles war blitzsauber und blankgescheuert. An einem Haken hingen Frauenkleider, und er begriff, dass dies eigentlich das Bett einer Frau war.

»Hilde Joelstochter«, sagte er. »Möchtet Ihr, dass ich Euren Vater in die Kammer bringe?«