Der einsame Nepomuk - Jurij Koch - E-Book

Der einsame Nepomuk E-Book

Jurij Koch

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Beschreibung

Es ist Heiligabend, Schreckenstag der Einsamen, und Nepomuk möchte nicht allein sein. Da sucht er, jung noch, geschieden, aus dem Telefonbuch wahllos die Namen von Frauen und Mädchen heraus. Nacheinander ruft er die Auserwählten an, eine Ehefrau, die an keiner Zweisamkeit mit ihm interessiert ist, eine Krankenschwester, eine Uhrmacherin ... Nepomuk bleibt nicht allein - und bleibt doch einsam. Jurij Koch schreibt über das merkwürdige Mädchen Helena, das nachts auf der Straße steht und einen Autofahrer bittet, sie mitzunehmen. Aber warum hat sie Angst vor der Stadt, in die sie fahren? Er schreibt über den Pechvogel Wesely und den Glückspilz Margareta, über den Maler Heinrich und die Glückseligkeit auf Inseln. Erzählt wird über die Bewohner einer abgelegenen Heidekate, die Landvermesser beherbergen und erfahren, dass sie zum letzten Mal Gastfreundschaft gewähren, weil die Kate der neuen Industrie weichen muss. Und da ist Triglaw, der ein Blutsbund dreier Jungen sein soll. Es sind erregende, nachdenklich stimmende Erzählungen, die aber auch den feinen, hintergründigen Humor nicht vermissen lassen.

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Impressum

Jurij Koch

Der einsame Nepomuk

Erzählungen

ISBN 978-3-68912-016-0 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1980 im Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta unter Verwendung eines von der KI erzeugten Bildes. Foto: Thomas Kläber

© 2024 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Landvermesser

Sie hatten sich nicht angemeldet. Ihr plötzliches Dasein war der Punkt nach einem langen, schrecklich langen Satz, an dem viele Jahre geschrieben worden war, ein Wort nach dem anderen, lustige, oder besser: belustigende Worte, über die standfeste Gemüter lachten, ernste Worte, beunruhigende Worte, dann drohende, über die sogar die Standfesten nicht mehr lächelten. Nun also der Punkt. Einmal ist jeder Satz zu Ende.

Zunächst die Frau. Sie kam als erste. In einer grünen Montur: über die Gummistiefel hängende Hosen, wie sie dickbäuchige Männer tragen, weiter oben die Jacke, ebenfalls grün, mit einem breiten Gürtel zusammengehalten (stand auf der silbernen Schnalle nicht: Gott mit uns?). Und weiter oben die Brüste, die nicht zu übersehen waren. Sie spannten den derben Stoff und zerrten ihn aus dem Gürtel, und Franz Kotjatko, der dies alles sah, dachte: Nein, so was, wenn die platzen. Und er spürte, dass er rot dabei wurde, denn die Frau lächelte, als wüsste sie, was Männer in ihrer Nähe dachten. Aber Kotjatko wurde rot, weil er sich für die eigenen Gedanken schämte: Nein so was. Ich habe sie noch nicht einmal gefragt, was sie wollen.

Ja, kommen Sie herein! sagte er. Ich kann nicht aufstehen von meinem Stuhl, denn dann bleibt mein Stuhl stehen.

Sein Stuhl, der nicht stehenbleiben sollte, war ein Webstuhl, ein märchenhaft altes Gestell, dessen Holz süßsauer roch, dieses Krosno, was die beste Bezeichnung war. Krosno war alles: Historie, Flachs, Holzwurm, Farben, Tradition, Schweiß, getrocknete Spucke, bunte Eier und die eigene Sprache, die mit den vielen Zischlauten, in der man alles sagen konnte.

Die beiden Männer schauten sich im Raum um, mit großen Augen, als hätte ihnen die Einrichtung die Sprache verschlagen. Die grüne Frau, die an ihrer Jacke spielte, an den Zipfeln unter dem Gürtel ziehend, antwortete mit einem Wort: Landvermesser.

Bitte? Kotjatko schob das Schiffchen auf die andere Seite und wusste, dass etwas Ungewöhnliches gesagt worden war. Ein Punkt wurde gesprochen. Seine Finger tasteten an den bunten Fäden des Teppichs, der in dem Gestell hing, halb fertig, vielversprechend, andeutend die Schönheit, die aus dem süßsauer riechenden Krosno kriechen konnte, auf halber Strecke stehengeblieben.

Landvermesser, wiederholte einer der Männer, nebenher, denn er befummelte die weichen wollenen Wände, als spürte er die Farben in seinen Fingern. Es waren reizvolle Mädchen und Frauen, die an den Wänden hingen, diese gewebten Röcke und Jacken und Umhänge und Schals, und wenn man mit der Hand darunterfuhr, stieg das Blut in die Adern. Aber er wollte nicht zeigen, was in ihm vor sich ging und fragte: Das sind Applikationen, nicht wahr?

Nein, antwortete Kotjatko. Das sind wohl keine. Ich weiß nicht so genau.

Der andere Mann, der mitgekommen war, stand in der Tür und rührte sich nicht. Ein Rausschmeißer, dachte Kotjatko, so was gibt’s. Dieser andere Mann langweilte sich im Türrahmen. Er hatte einen Grashalm im Mund und schob ihn von einem Winkel in den anderen. Kotjatko sah, dass es Johanniskraut war. Der Mann musste es aus der Heide haben, gleich hinter dem Garten stand es. Dort begann die Heide, und dort haben sie es gepflückt.

Hypericum humifusum oder, wie wir sagen, janske zelo, sagte er zu dem Rausschmeißer hin, nur so, als wollte er nichts anderes sagen, als dass es eben Johanniskraut war. Aber da begannen sie alle zu lachen, alle drei, zunächst leise für sich kichernd, dann hinausplatzend. Der Mann in der Tür ließ seinen Halm fallen und trat mit dem Fuß darauf, unbeabsichtigt freilich, denn irgendwann musste das Standbein gewechselt werden. Der andere lachte in den Webstuhl hinein, durch die Fäden hindurch zu ihm hinüber. Und die Frau. Die Frau hatte ein kleines Fläschchen aus der Bluse gezogen, ein flaches Taschenfläschchen mit grüner Flüssigkeit. Sie trank und lachte, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und gab das Getränk weiter. Sie waren also betrunken. Nun war es zu sehen.

Kotjatko stand auf, ruckartig, als wollte er ihnen zeigen, wer hier der Herr im Hause war: Hier wird nicht gesoffen und gelacht, über Johanniskraut nicht und über meine Stoffe nicht.

Was wollt ihr?

Das Gelächter hörte auf, ruckartig, als wäre es vor Schreck erstarrt, denn Kotjatko und sein Webstuhl waren in diesem Augenblick etwas, was auf die Fremden Eindruck machen musste. Kotjatko stand, ein wenig nach vorn gebeugt, die Hand am halb fertigen Teppich und schaute mit teils bittenden, teils auffordernden Blicken von einem zum anderen.

Nun, bitte, was wollen Sie?

Sein Oberkörper streckte sich. Langsam wuchs der Mann neben seiner hölzernen Maschine mit den bunten Wollfäden, die über- und unter- und ineinander, zwischenhindurch und zwischenhinein gezogen wurden, auf eine faszinierend umständliche Weise, dass dies vielleicht den Respekt zeugte, der jetzt zwischen ihm und den Fremden stand. Oder war es das Sie, das er nun verwendet hatte. Es war hart und steif und kühl, aber angemessener, denn es wurde nicht mehr gelacht.

Wir sind Landvermesser, sagte die Frau erklärend, und es war kein Zeichen von Trunkenheit mehr an ihr. Sie wissen doch, das sind Menschen, die …

Ja, ja, unterbrach sie Kotjatko. Ich weiß.

Wir haben hier zu tun. Der Mann im Türrahmen wechselte das Standbein, drückte mit der Handfläche gegen die obere Kante.

Ein Eingeklemmter, dachte Kotjatko. Unsere Türen sind ihnen zu klein.

Was werden Sie denn so tun? fragte er.

Messen, antwortete der andere. Er kam aus einem Winkel des Zimmers, in dem ihn keiner vermutet hatte. Auf seinen Schultern lag ein Tuch mit langen Fransen. Es machte ihn weibisch, wollig und geil. Und er kam tänzelnd in die Mitte der Werkstatt, verbeugte sich in alle Richtungen und begann zu spielen: Liebe Einwohner von Lutscho oder Wutscho, auf einen Buchstaben kommt es nicht an. Wir sind die Landvermesserbrigade und sind gekommen, wie ihr sehen könnt, um unsere Stäbe und Latten in eure Gärten zu rammen, um unsere Bandmaße an eure Häuserfronten zu legen, damit wir unsere Tabellen vollkriegen mit kleinen Zahlen, winzigen kleinen Zahlen, aus denen sich große zusammenstellen lassen, so groß, dass sie euch auffressen können, mit Haut und Haar, mit Scheune und Misthaufen, mit Kind und Kegel, mit Heide und Johanniskraut …

Hör auf! sagte die Frau. Mir gefällt das nicht.

Nur der Mann in der Tür lachte weiter, ununterbrochen, als sprudelte mit jedem Luftstoß eine befreiende Last aus ihm.

Was gefällt dir nicht?

Das Theater.

Es ist keins.

Er nahm das Tuch von der Schulter und trug es in die Ecke, aus der er gekommen war. Dann drehte er sich zu Kotjatko, berührte seinen Oberarm, als wollte er sich entschuldigen und sagte: Also, wir suchen eine Bleibe, für paar Tage. Bis in die Stadt jeden Tag, Sie wissen …

Ja, es ist weit, jeden Tag, antwortete Kotjatko.

Eine Weile zögerte er, betrachtete sie einzeln, und als die Frau an der Reihe war, sagte er: Es wird sich was finden. Es hat sich immer etwas gefunden. Das gehört dazu, versteht ihr?

Sie nickten unentschlossen. Natürlich wussten sie nicht, wozu es gehören sollte.

Kotjatko verließ seinen Stuhl, nachdem er an einigen Schnüren gezogen hatte, und es war, als hätte er eine sakrale Maschine zum Stehen gebracht oder ein Stückchen Historie ausgeschaltet, das in die Gegenwart hinübergeholt worden war, in Eigenleistung, auf eigene Verantwortung, ohne Zustimmung der Zeit.

Er verließ den Raum.

Die Landvermesser blieben wie versteinert an ihren Plätzen. Die seltsame Umgebung, die wollene, farbenprächtige Hülle, in der sie standen, verlassen von dem, der sie gemacht hatte, entzog ihnen ihre gewohnte Sicherheit der Bewegungen.

Wo ist er hin? fragte die Frau.

Weiß der Teufel, antwortete der Mann in der Tür.

Was meinte er mit: Das gehört dazu? fragte sie weiter.

Weiß der Teufel, wiederholte der andere und ging an der Wand entlang, die Exponate betrachtend, die Hände auf dem Rücken, im Museumschritt, begutachtend die Dinge und Sachen, als wären sie unter Glas, verschlossen, gesichert. Weiß der Teufel.

Kommt, wir gehen ins nächste Haus! sagte der Rausschmeißer. Der hat nicht alle Tassen …

Aber alle Fäden …, widersprach der andere.

Mir gefällt das.

Die Frau tat, als wäre sie zu Hause. Sie setzte sich auf Kotjatkos Stuhl, zog die Stiefel von den Beinen und streckte sich gähnend.

Ein Verrückter.

Vielleicht ein Künstler, meinte sie und massierte sich die Füße.

Ein Wende.

Ein wendischer Künstler.

Ein verrückter wendischer Künstler.

Sie stützte sich auf den Webstuhl, legte Kopf und Hände auf das Stück fertigen Tuches und sagte: Bleibt! Ich gehe nirgend mehr hin. Verrückt oder nicht, auf jeden Fall weich und warm.

Der Rausschmeißer lachte wieder, auch dann noch, als Kotjatko zurückkam und über die Füße des Mannes steigen musste, denn die Tür war schmal und niedrig. Hinter ihm kam ein alter Mann, dem der Türenmann Platz machte. Er wollte nicht so sein.

Mein Vater, sagte Kotjatko. Und das sind Landvermesser. Sie wollen ein paar Tage bleiben.

Der Mann stand tief atmend da. Natürlich könnt ihr bleiben, sagte er. Wir haben noch keinen abgewiesen, keinen Bettler, keinen Landstreicher, keinen Soldaten, keinen Dieb. Das gehört dazu.

Wir sind aber keine Diebe, sagte der in der Tür.

Natürlich nicht, beeilte sich Kotjatko, als wollte er dem Vater die Antwort ersparen.

Kommt, ich zeige euch die Kammer!

Der Alte ging ihnen voraus. Sie stiegen über das ausgestreckte Bein des Rausschmeißers, der allein blieb, ein großer, stämmiger Mann, der sie alle unter sich hindurchzulassen schien.

Verrückt, sprach er leise in den Raum hinein. Einfach verrückt.

Es war, als erlösche mit jeder Silbe die Sonne, die am oberen Fenster stehen musste. Die Gegenstände verdunkelten sich. Der Webstuhl war ein Schattengeflecht an der Wand und der Mann im Türrahmen ein Gespenst, ein Wassermann mit langen Gliedern, der aus dem Fluss gestiegen war, um sich nach neuen Opfern umzusehen.

Sie staunten über die Länge des Tisches, befummelten die dicke Platte, die raue, steinharte Eichenplatte und wussten sofort, dass die Stühle mit einer Hand nicht zu heben waren. Man brauchte beide, und dieses Stuhlrücken mit beiden Händen verlieh dem einfachen, alltäglichen Abendbrot etwas Abendmahliges mit Vater und Jüngern und Judas und Wein und Brot, was tatsächlich alles da war. Ein ungewohnter Tisch mit prächtigen Speisen, mit glänzenden Weintrauben, wie gebündelte Tränen, hochgestapelt zur Pyramide in der Mitte, mit Äpfeln, prall und weit ausgerundet, mit Brot, von dem die Wärme stieg und mit ihr der Duft des Ofens, der im Garten stand, und es war, als stiege mit dem Duft in der Wärme der ganze Garten in die Stube, seine Blüten und Früchte und die Milch der Ziege und der Honig der Wespen aus dem Birnbaum.

Nehmt euch, sagte der Vater, lasst euch nicht bitten, sagt man bei uns. Er zeigte auf die Schüssel und Körbchen und griff hinein, als wollte er ihnen vormachen, wie man hier zu essen pflegte, mit Gästen und den Seinen, mit allen, die an Abendbrottische geführt werden.

Die beiden Männer hatten sich gewaschen, und nun sahen sie steif aus mit ihren Seifengesichtern und weißen Kragen und den Jacken, die noch zerknittert waren. Kleiderbügel sind zu sperrig für Beutel und Rucksäcke.

Wo ist deine Frau? fragte der Vater seinen Nachbarn, den Türenmann, dessen Ärmel nicht bis zum Handansatz reichten. Die Kraft, die in ihm steckte, quoll aus den Nähten und zerrte am Stoff der Kleider, dass überall freie Stellen entstanden, die Schlagringen ähnelten.

Es ist nicht meine Frau, antwortete er mit vollem Mund, nachdem er sich viel Zeit gelassen hatte.

Ihre Kollegin, fügte der Vater hinzu.

Ja, unsere Kollegin.

Er kaute die Silben mit, wie Weinbeeren, die er sich dabei in den Mund steckte. Unsere Kollegin.

Sie kommt noch, sagte der andere. Die Frauen, Sie wissen.

Der Vater nickte, als hätte er alles verstanden. Dann goss er ein und fragte: Wird es mit der Übernachtung gehen?

Es wird, antwortete der Nachbar. Wir schlafen überall, in Gräben, auf Jägerständen, im Moos und übereinander, abwechselnd.

Er begann wieder zu lachen.

Sein Kollege lachte mit: Ausgeschlafen sind wir nie.

Auch Kotjatko versuchte mitzulachen. Aber der Versuch brach in sich zusammen, denn die Frau trat ein. Sie war anders, verändert von oben bis unten. Sie hatte die grüne Hülle von sich gestreift, die Haare gekämmt, und ein Kleid hatte sie an, das so leicht zu sein schien, als könnte es in der Handtasche getragen werden ohne Falten und Bügel, und, verflucht, Kotjatko verging das Lachen, als er sie sah, ihre leichten sicheren Schritte zum anderen Ende des Tisches, wo der Rausschmeißer saß, der ihr den Stuhl zurechtschob. Sie war keine Frau des Wassermanns mehr, nicht seine Gehilfin, nicht mit Schilf und Entengrütze bekleidet. Für ein Weilchen dachte Kotjatko: Schade. Ich hätte ganz gern in dein Reich geschaut, mit Seerosen und Fischen und den vielen Ertrunkenen, denen ihr ein erträgliches Weiterleben ermöglicht.

Mein Gott, sagte die Frau, solche Tische sieht man nur auf Bildern der Fürsten.

Sie aßen, unbeeindruckt von der Fülle, von dem unerwarteten Schüsseldunst inmitten der Heide, die alles naturrein liefert, von der Erde in den Mund, und die alle Feuer verabscheut. Sie aßen, als wären sie tagelang durch den Wald geirrt, auf der Suche nach einer Hütte mit Herd und Stückchen Fleisch, und es störte sie nicht, als sie plötzlich merkten, dass sie alle aus einer Schüssel aßen, im Dreschflegelrhythmus der Löffel.

Fürsten? meinte der Vater. Da hast du recht. Wir sind Fürsten. Wir haben alles, was sie hatten, Wald und Wiesen und Wild und die Freiheit, alles zu tun, was uns gefällt. Wenn mir einfällt: Heute hebe ich eine Grube im Garten aus und morgen einen unterirdischen Gang vom Wohnhaus zur Scheune und übermorgen schütte ich das alles wieder zu, weil ich schon vorgestern gewusst habe, dass dies keinen Sinn hat, dann kann ich es tun, und niemand wird mir über den Zaun den Vogel zeigen oder mit der Polizei drohen.

Die Freiheit der Fürsten war anders, widersprach der Sohn und legte den Löffel beiseite. Du kennst sie doch, von deinem Vater und dessen Vater.

Ja, sie sollen wie grüne Pinkel ausgesehen haben, erzählte der Vater weiter, frech und gewalttätig, hoch zu Ross, mit durchgesessenen roten Ärschen. Manchmal sind sie über Nacht gekommen, aus den Wäldern, über unsere Zäune hinweg und Hühnerställe und über unsere Kinder, die zu ihnen hinaufgeschaut haben wie zu feinen Göttern, für die in der Kirche gebetet und gesungen wurde, in mehreren Sprachen. Dafür war die unbedeutendste Sprache der Welt nicht zu simpel. Und manchmal haben sie ihr Land verscheuert, mit Vieh und Volk; für billiges Geld.

Prost, sagte der breitschultrige Landvermesser, der sich mit dem Ärmel den Mund wischte, unbeteiligt an der Erinnerung an alte Zeiten. Er hob seinen Becher und trank, dass das Glucksen im Hals zu hören war.

Kotjatko stand auf und holte einen neuen Krug. Er hielt ihn unter dem Arm wie ein zappelndes Kind und ging zunächst zu der Frau am anderen Ende des Tisches: Hagebuttenwein, selbst gemachter.

Hagebuttenwein? fragte der Kollege, der als einziger noch aß, und der nun seinen Löffel fallen ließ, in die leere Schüssel, die scheppernd ein Zeichen gab.

Eine kleine, nach vorn gebeugte Frau betrat das Zimmer, mit herunterhängenden Armen, die sie zum Gehen brauchte. Keiner beachtete sie, als sie nach den leer gegessenen Gefäßen griff und sie wortlos hinaustrug, in den schwarzen Ausgang, der in unbekannte Küchen und Speisekammern führte, in die keiner Zutritt hatte, nur sie, die sichelkrumme Frau, die alles mit den Händen tat. Wer hatte gesehen, wie sie beim Aufräumen mit den Händen gesprochen hatte?

Hagebutten. Sind die nicht giftig? fragte er verblüfft, als spürte er schon den tödlichen Schmerz im Magen.

Kotjatko lachte laut auf und goss ein: Ein Wein, der jung macht, rot und rund alle Wangen und Backen.

Hagebutten! Die Frau hielt sich das Glas vor die Augen. Sie schaute durch die gelbe Flüssigkeit, die die Welt dahinter bunter machte, und es war Kotjatko, als betrachte sie in dem Saft alle niedergewalzten Hagebuttensträucher ihrer Trasse.

Wie Öl, sagte sie leise. Sie hatte es nur für ihn gesprochen. Sonnenblumenöl, Flachsöl.

Es gibt noch mehr davon, sagte er und vergaß, dass er mit seinem zappelnden Krug weitergehen wollte, von Gast zu Gast. Er schaute auf die Hände der Frau, die so anders waren als vor wenigen Stunden noch. Er wusste, dass sie weich waren und warm, und er dachte: Sie passen nicht zu Messlatten und Schnüren und diesen Männern.

Was machen Sie mit diesen Händen? fragte er. Alles, antwortete sie. Alles, was verlangt wird. Und, was wird verlangt?

Ich halte die Zeichen, nach denen die Männer ihre Richtungen bestimmen. Ich ziehe die Schnüre zwischen den Bäumen hindurch. Manchmal berühre ich die Sträucher und wilden Blumen mit meinen Händen, damit sie wissen, was Menschenhände können.

Die Männer am Tisch hatten ihnen zugehört. Der Vater saß mit aufgerichtetem Oberkörper und gefalteten Händen: Vater unser, der du bist im Himmel, sei unser Gast, wir danken dir, was du uns bescheret hast. - So etwa saß er. Aber seine Aufmerksamkeit schien nicht dem heimlichen Gebet zu gehören, sondern dem Sohn, der sich für seltsame Dinge interessierte, für Ereignisse, die weit hinter dieser Hagebuttenwelt lagen, hinter den farbigen Wollfäden des Krosno aus Großvaterszeiten, hinter der dreisaitigen Fidla, die er gleich holen wird, denn schon sang jemand.

Jemand sang. Der Mann zwischen ihm und dem großen anderen war es. Er sang für sich. In den Schoß hinein, eine lang gezogene Melodie. Die Worte waren unverständlich. Sie ließen ihn singen, da sie sein Lied nicht kannten und nicht mitsingen konnten.

Kotjatko stellte den Krug auf den Tisch und holte seine Geige, die kleine dreisaitige Geige, die er sich an die Brust stellte und zu fideln begann, langsam, als wollte er an das traurige, unbekannte Lied des Unbekannten anknüpfen, um dann unauffällig davonzueilen, im schnelleren Rhythmus und lustigeren Tönen, nach denen sich tanzen lässt: Juchej, und angefasst und im Kreise getreten! – Aber da fehlen die Tänzer, merkte Kotjatko und kam zurück zu seinem Liebeslied, das nun alle zu kennen schienen, denn sie summten mit, an ihren Plätzen sitzend, in sich hineinhorchend, tief hinein, in die Tage, die keine Nächte kannten, an denen alles kinderleicht war.

Keiner hatte gemerkt, dass der Vater hinausgegangen war. Jetzt kam er wieder, mit einem Dudelsack vor der Brust und auf dem Bauch und um den Hals, als säße ein Ziegenbock auf ihm, der dudeln konnte, in wenigen, aber einzigartig reinen und klaren Tönen, als kämen sie aus den Waldbächen oder von den Baumwipfeln herunter. Und nun kam auch der Tanz zustande, der in der Luft gelegen hatte, seit einer Weile schon in diesem Hause, mit diesen Menschen, mit diesen Instrumenten und Farben, denn der Vater spielte und tanzte, als genügte ihm der Ziegenbock an seinem Hals. Er drehte sich und spielte und wickelte sich ein in die dünnen tönenden Fäden, die aus den Löchern der verlängerten Nase des Ziegenbocks kamen, wenn sich der Blasebalg unter dem Arm des Vaters leerte und füllte. Auch die beiden Männer waren aufgestanden und sprangen abwechselnd zu der Frau hin, die ihren ausgestreckten Armen auswich, sich drehend, geölt mit dem Wein der Hagebutten. Und jemand hatte die sichelkrumme Frau aus der Küche geholt: Alle machen mit. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Wie viel von diesen haben wir hier erlebt, Mutter?

Sie feierten und spielten und tranken und tranken, bis einer von ihnen, der andere, der Unauffällige, auf einem Stuhl stand und anfing zu spielen, wie es seine Art war. Er hatte einen Hang zum Spielen, einen seltsamen, den er sich nicht erklären konnte.

Jetzt geht es wieder los, sagte der Türenmann. Soll ich ihn rausschmeißen?

Lasst ihn! sagte der Vater. Und zu ihm hinauf: Willst du uns etwas Schönes erzählen?

Ja, schrie er fast und balancierte mit wedelnden Armen. Etwas Schöönes.

Er will immer Reden halten, wenn er einen getrunken hat, erklärte die Frau Kotjatko, der weiter geigte, unbeteiligt an dem fremden sinnlosen Spiel der Betrunkenen. Es wäre besser, wir hindern ihn daran.

Lasst ihn reden! antwortete er nur und fiedelte weiter. Es muss raus. Vielleicht hat sich was angesammelt, was raus muss.

Der Stuhl knarrte unter der Last des spielenden Landvermessers. Meine Damen und Herren, lallte er leicht, und Kotjatko dachte: Der Wein ist gut. – Meine Damen und Herren, wir, die Landvermesserbrigade, bestehend aus mir, dem Chef, Maria, meiner Untergebenen, und Kurt, meinem Stellvertreter, bringen euch das Glück der neuen Zeit. Wir sind die ersten, die das Land betreten, durch das die Trasse führen wird, achtzig Meter breit, auf der die Brücke kommen wird, zweihundert Meter pro Tag. Wir sind diejenigen, die Licht bringen in dunkle Wälder. Nach uns ist Strom in jedem Halm, 380 kV, da glühen die Knospen und Wipfel und Dächer der Hütten. Alles wird elektrisch: der Brunnen, der Webstuhl, die Küche, der Wein, der Vater mit seinem Dudelsack …

Hör auf, Kortschagin! störte ihn Maria. Sie ging zu ihm und zerrte ihn vom Stuhl. Er wehrte sich, denn er war noch nicht fertig mit seiner Auskunft. Und Kotjatko dachte: Kortschagin? Was für ein Name für diesen Mann!

Aber nun schwieg der Spieler plötzlich, als hätte ihm Maria alle Hähne des Verstandes zugedreht.

Der Vater trat näher. Der Dudelsack auf ihm schwieg. Er hing wie ein totes Tier.

Sag mal, kennst du die Trasse genau? fragte er leise, und die Worte verfingen sich in seinem trockenen Mund.

Genau, sagte der Spieler.

Erklär sie mir! verlangte der Vater. Erklär sie mir!

Kortschagin stieg vom Stuhl und stellte sich vor den Tisch. Er suchte nach Gegenständen, mit denen es bildhafter zu machen wäre.

Hier, und er stellte ein Glas an die Stelle, die der Ausgangspunkt war. Hier, das ist die Brücke in M., verstehst du?

Ja, antwortete der Vater. Versteh’ ich …

Und das hier der Teufelsteich, sprach er weiter und nahm die Schüssel, die noch geblieben war. Und das die Kreuzung zur Mühle, und ein Messer stak in der Tischplatte, und das der Anfang des Waldes, eine Gabel daneben, und das hier ist die Wiese, die zu euch hinüberführt, und er malte mit dem Finger, den er in sein Glas tunkte, einen Kreis.

Kotjatko hörte auf zu spielen. Nun kam auch er an den Tisch, auf dem das Land lag, zwischen Messer und Gabel und Schüssel, eingezäunt mit einer Spur aus süßem Hagebuttenwein.

Was kommt hier durch? fragte er in die seltsame Stille, die eingetreten war. Eine naive unschuldige Frage, die die Gäste verlegen machte, denen es geschmeckt hatte und die bleiben wollten, ein paar Nächte.

Eine Trasse, antwortete der Spieler.

Eine kleine Schneise, beruhigte Maria.

Kleine, wiederholte der Türenmann, der Kurt hieß, was nun bekannt war, und der immer lachte, wenn es unangebracht war.

Achtzig Meter breit, setzte er hinzu und breitete die Arme aus, langsam, als wären es Adlerflügel. Dann klappte er sie zusammen, legte sie auf den Tisch und wiederholte den Vorgang. Einige Gegenstände fielen hinunter, polternd, und Kotjatko glaubte das Scheppern eines Schaufelradbaggers zu hören.

Genau, drängelte der Vater, der sein Instrument abgelegt hatte, genau, genau.

Genau ist es noch nicht zu sagen, lächelte Kurt. In ein paar Tagen vielleicht. Dann wissen wir, ob dein Haus bleibt oder nicht, oder ob wir unsere Schnüre durch deine Scheune ziehen, durch deinen Ofen …

Dein Herz, setzte Kotjatko hinzu, aber keiner schien es zu hören.

Ob wir im Hof unsere Stäbe aufstellen, unsere Latten, zwischen Schuppen und Wohnhaus, zwischen Küche und Schlafzimmer …

Zwischen Vater und Sohn, sagte Kotjatko und wieder schien es keiner gehört zu haben, denn sie reagierten nicht auf seine Bemerkung.

Der Vater holte tief Luft und setzte sich langsam auf seinen Stuhl, auf dem er zusammensank, als hätte ihn ein Schraubstock freigelassen, in den er unfreiwillig geraten war und an dem eine Ungewissheit drehte, stark und unbestechlich.

Also, ihr wisst es noch nicht? fragte er. Aber er wollte keine Antwort, denn er hatte auf den Tisch hinauf gefragt, in den Krug hinein, aus dem er trank, erschöpft und zufrieden, wie nach einer schweren Arbeit.

Wenn wir noch Wein bekommen, Vater, sagte der Brigadier, vielleicht machen wir eine Kurve, und er zeigte sie mit einer weitausholenden Bewegung an. Wir, die Glücksbringer, haben die Macht, uns zu verrechnen, um einige Meter, an einem Gehöft vorbei, an einem Familienglück vorbei …

An einer Sprache vorbei, unterbrach ihn wieder Kotjatko, und nun schauten sie ihn an, denn nun hatte er etwas Unverständliches gesagt.

Wobei vorbei? fragte Maria.

An einer anderen Sprache, wiederholte er. An einer, die hier in der Heide gesprochen wird und die wohlklingend ist und in der alle Dinge der Welt einen Namen haben und in der man Gedichte schreiben kann und Lieder singen …

Aber Kurt fragte nach Wein, ob es wohl noch einen Krug gäbe oder nicht, sonst könne man ja schlafen gehen, denn der nächste Tag, also der morgige, sei schließlich wichtig für alle Nachbarschaften, an denen ihre Bandmaße klirren werden.

Die alte Frau erschien, als hätte sie in der Dunkelheit bereitgestanden. Als sie nach dem leeren Krug griff und gehen wollte, wurde sie vom Türenmann aufgehalten: Mutter, wie lange lebst du in diesem Hause?

Sie antwortete nicht. Sie wollte zurück in ihre Küche. Er ließ sie gehen und wiederkommen. Und als sie in der Mitte des Zimmers war, sagte sie, für alle unerwartet: Sehr viele Jahre. – Sie zeigte ihre Hände. Die gespreizten Finger ähnelten einem Rechen. Mit ihnen habe ich Disteln gezogen und Suppen gekocht, sprach sie eintönig und langsam, Kinder erzogen und Steine geformt für dieses Haus, meine Söhne begraben im eigenen Garten, gebetet zu Gott dem Allmächtigen und gebettelt die Faschisten, sie sollen uns verschonen, denn der Pole unter unserem Dach hatte vier Kinder. Und sie haben mir die Tracht vom Leib gerissen und mich Hexe genannt und deutsch angezogen und in ein Lager gebracht. Dort hab ich …

Ein langes Leben, unterbrach sie der Türenmann. Wahrhaftig. Auf deine alten Tage kommt die Belohnung. Die Wohnung in der Stadt, ferngeheizt, hell und gemütlich, warmes Wasser aus silbernem Hahn, Nachbarn über Nachbarn …

Und wenn Milch und Honig aus goldenen Hähnen flössen …, sagte sie und ging hinaus, und es war zu sehen, dass sie keinen Wein mehr bringen würde. Kotjatko hielt wieder seine kleine Geige. Aber er spielte nicht. Er hatte sie angesetzt, aber etwas hinderte ihn, den selbst gemachten Bogen über die Saiten zu ziehen. Dafür sprach er: Irgendwann musstet ihr ja kommen. Dagegen, Vater, lässt sich nichts machen. Zweihundert Meter pro Tag, sagst du?

Zweihundert, antwortete Maria.

Aber hier bleibt ihr stecken, sagte der Vater, und er lächelte dabei, als hätte sich plötzlich alles geklärt. In den Teichen bleibt ihr stecken, und dort müsst ihr durch, wenn ihr zu uns wollt, dort geht ihr baden, dort schnappt euch der Wassermann. Mit ihm hab ich einen Vertrag, seit hundert Jahren. Wer zu uns will, mit bösen Absichten, wird hinabgezogen, zu den Wurzeln der Seerosen, merkt euch das.

Böse Absichten? fragte der Brigadier. Wir haben einen Auftrag, schwarz auf weiß, hier, sieh ihn dir an, und er zog einen zerknitterten Zettel heraus und bot ihn an. Messen, messen, messen. Weiter nichts. Uns interessiert kein Wassermann und kein Hahn auf dem Kirchturm, keine Sprache, keine Geige, kein Webstuhl, der Krosno heißt, kein …

Jetzt spielte Kotjatko wieder, leise, als käme die Melodie aus der Tiefe der Seerosenwurzeln, und der Vater summte mit, und dann sang er, immer stärker werdend, ein trauriges Lied, das sie nicht verstanden. Vielleicht sang er wirklich vom Wassermann und seiner Braut, weiß der Teufel, wer versteht schon diese Sprache.

Aber dahinein platzte plötzlich eine andere Melodie, als käme sie durch alle Ritzen des Hauses, die Begleitmusik des Teufels, sägend und schleifend und zerrend, laut, dass Kotjatkos kleine Geige untertauchte und der traurige Gesang des Vaters. Einer von den Landvermessern hatte ein Radio gebracht und auf den Tisch gestellt und aufgedreht bis zum Anschlag.

Tanzen! rief der Türenmann, und er griff nach Maria, als sei es selbstverständlich, dass sie nun zu tanzen hatte. Er breitete wieder seine Adlerhände aus, als Aufforderung zum Mitmachen. Der Brigadier holte die Frau aus der Küche und zerrte Kotjatko vom Stuhl und schob ihm Maria zu. Es war ein fremder, heißkalter Tanz, mit improvisierten Bewegungen, albern und störend, aber Kotjatko und die Großmutter tanzten mit, so gut sie konnten. Sie ließen sich drehen und schieben und auffordern, bis der Vater, der am Tisch sitzengeblieben war, rief: Aufhören!

Er rief in den Tumult der Tanzenden hinein wie in eine Herde Kälber mit blöden Gesichtern. Sie tanzten weiter, als hätten sie ihn nicht verstanden, als wüssten sie nicht, dass es ernst gemeint war. Erst als sie sahen, dass er ein Gewehr in der Hand hielt, ein altes Jagdgewehr mit Doppellauf und silbernen Beschlägen, hörten sie auf und schauten zu ihm. Nur das Radio spielte noch, verzerrt, verzehrend den Rest der abgeschiedenen archaischen Schönheit.