Der Einsiedler von der Hallig - Gerik Chirlek - E-Book

Der Einsiedler von der Hallig E-Book

Gerik Chirlek

4,9

Beschreibung

Neuausgabe des Buches aus dem Jahr 1873. Aus dem Inhalt: Die kühnen Männer, die mutvoll den Gefahren des Ozeans trotzten, erkannten sehr wohl, dass ihnen weit größere Gefahr als auf offenem Meere hier in jener Strecke der Nordsee entgegengähnte, die Schleswigs westliche Küste bespült; zahllose Fahrzeuge strandeten dort bereits, wenn es ihnen in stürmischer Nacht nicht gelang, einen geschützten Ankerplatz zu erreichen, oder wenn die Wut des empörten Elements sie gegen eine der größeren oder kleineren Inseln, die sich an jenem Punkt befinden, schleuderte. "Hallo!", tönte jetzt eine kräftige Stimme vom Steuer her, "ich glaube die Warft des Einsiedlers auf der Hallig zu erkennen. Frisch Burschen! Gott mit uns! Wenn nur die Masten halten..."

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Der Einsiedler von der Hallig

TitelseiteErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelLeben und Wirken des AutorsImpressum

Titelseite

 Auf historischen Spuren mit gerik CHIRLEK

Hermann Hirschfeld

Der Einsiedler von der Hallig

Novelle

Original: 1873

Neuausgabe mit einer Ergänzung

zum Leben und Wirken des Autors

gerik CHIRLEK

2017

Erstes Kapitel

„Alle Segel auf! Lappen bei!“ – Das Heulen des Windes, das Wogengebraus der empörten Nordsee, auf deren Wellenkämmen das schmucke Schiff die „Iduna“, in einer Herbstnacht des Jahres 1838 turmhoch, turmnieder geschleudert ward, wie ein Spielzug in den Händen mutwilliger Riesen, übertönte stoßweise die durch das Sprachrohr verstärkte Stimme des Kapitäns, und im stummen Gehorsam erfüllten die Matrosen ihre Pflicht. Kein unnötiger Ruf, kein Laut des Bewusstseins der drohenden Gefahr ward hörbar. Vorwärts blickten die Augen der Mannschaft und aufwärts zu den Masten, die unter der Last der geblähten Segel, die der Sturm zu zerfetzen drohte, ächzten und sich beugten, tiefer, immer tiefer und dann sich empor hoben zum nächtlichen Himmel, an dem sich die schwarzen Wolken jagten in gespenstigem Reigen.

Die kühnen Männer, die mutvoll den Gefahren des Ozeans trotzten, erkannten sehr wohl, dass ihnen weit größere Gefahr als auf offenem Meere hier in jener Strecke der Nordsee entgegengähnte, die Schleswigs westliche Küste bespült; zahllose Fahrzeuge strandeten dort bereits, wenn es ihnen in stürmischer Nacht nicht gelang, einen geschützten Ankerplatz zu erreichen, oder wenn die Wut des empörten Elements sie gegen eine der größeren oder kleineren Inseln, die sich an jenem Punkt befinden, schleuderte.

„Hallo!“, tönte jetzt eine kräftige Stimme vom Steuer her, „ich glaube die Warft des Einsiedlers auf der Hallig zu erkennen. Frisch Burschen! Gott mit uns! Wenn nur die Masten halten. – Was wollen Sie auf Deck, Herr Baron?“, unterbrach er sich selber in ziemlich rauem Ton; „hier ist kein Platz für Sie!“

Dieser Zuruf galt einem jungen, schlanken, in einen dicken Rock gehüllten Mann mit blonden Haaren, der die Treppe, die von der Kajüte auf das Deck führte, emporgeschwankt war und sich mühsam, an jeden Gegenstand sich festklammernd, bis zum Steuermann vorgearbeitet hatte.

„Niels, ich ersticke unten! Auch sendet mich die junge Dame; Frau Bernheim ist in Todesangst. Sie gelten als der Besonnenste der ganzen Mannschaft; von Ihnen will ich‘s hören: sind wir in Gefahr, in Lebensgefahr?“

„Wenn die Masten halten und Gott uns nicht verlässt, dann nein!“, entgegnete der junge Steuermann; „‘s wäre wohl schrecklich für den vornehmen Herrn, dahinfahren und sich den Tod im Salzwasser trinken zu müssen – und all die Herrlichkeiten der Residenz hinter sich zu lassen.“

Der Baron, der sich an der Ankerwinde angeklammert hielt, schüttelte sich; war es vor Frost, war es vor den vom Seemann angeregten Gedanken. „Aber Frau Bernheim!“, rief er alsdann dumpf.

„Hab‘ auch ein fein‘s Liebchen auf der Hallig“, erwiderte der Steuermann; „das für mich beten wird, dem ich treu blieb, obgleich ich seit zwei Jahren sie und die Heimat nicht gesehen. – Achtung, Herr, da kommt eine Sturzwelle!“

Der Baron klammerte sich mechanisch fester an, um der Gewalt des Wassers zu entgehen, das für einen Moment das Schiff überflutete und ihm trotz des dicken Überrockes, bis auf die Haut durchnässte. –

Immer dunkler wurde die Nacht, immer wilder der Sturm. Steuermann und Passagier waren verstummt; dahin flog das Schiff, von kundiger Hand geführt, durch die Wellenberge; stärker ächzten die auf das Höchste angespannten Maste.

Wie stöhnte, wie klagte das in seinen Fugen krachende Schiff durch das Geheul des Sturmes; war es sein eigenes Grablied, das schaurig wie von Dämonen angestimmt, ertönte?

„Alle Beile zur Hand!“, schallte schrill des Kapitäns Stentorstimme plötzlich; „kappt! um Gottes Willen, Jungen, kappt!“

Der ihnen drohenden, äußersten Gefahr gewärtig, waren die Matrosen auf das Kommando vorbereitet. Krach – krach! und hernieder stürzte die Takelage mit den geblähten Segeln, halb auf das Hinterdeck, halb in das Meer. Aber noch ehe die Schwere des Teils, den sich die Wogen zum Opfer erkoren, das Fahrzeug nach sich zu ziehen vermochte, blinkten Äxte und Beile durch die Nacht, das Holzwerk war bis auf die Stumpfen mit mächtiger Wucht durchschnitten, und das ganze Segelwerk trieb schlapp, ein gedemütigter Feind, auf den Meereswogen, die grollend ob der ihnen für jetzt noch entgangenen, besseren Beute das Schiff hoch empor schleuderten als ein elendes der Gewalt der Stürme preisgegebenes Wrack.

In diesem Augenblick stürzte eine junge Dame auf das Verdeck; man konnte sie für ein Mädchen halten, wenn man nicht gewusst, dass Lydia Bernheim, obwohl erst im einundzwanzigsten Jahre stehend, bereits seit zwei Sommern Witwe eines bedeutend älteren Gatten war, der ihr und dem einzigen Sohne der kurzen Ehe ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatte.

Ein schwarzer, pelzgefütterter Samtmantel umhüllte die zarte Gestalt, die, des rauen Regens nicht achtend, das Haupt mit den dunkelblonden, entfesselten Haaren unbedeckt trug. Sie war schön und erschien im gegenwärtigen Momente so wunderbar ergreifend seltsam, dass die ihr nahestehenden Seeleute, die sie zu erkennen vermochten, bei ihrem Anschauen fast der eigenen Gefahr vergaßen.

„Müssen wir sterben?“, rief sie angstvoll, die Hände zum Himmel erhebend; „müssen wir hier elend zu Grunde gehen?“

Der Kapitän hatte, vereint mit dem Steuermann, einen Entschluss gefasst.

„Die Schaluppe ist vom Mast zerschmettert“, tönte sein Kommando.

„Boot nieder! zwei Mann vor! – Passagiere vom Schiff!“

„Um Gotteswillen!“, rief die Witwe, des Barons Arm umklammernd, „wir sollen fort vom Schiff? Dem Meer uns anvertrauen in leichtem, zerbrechlichen Kahn? Das wäre mehr als Wahnsinn, das wäre – frivol!“

„Und hierbleiben – Tod!“, entgegnete der junge Mann düster. „Der Steuermann kennt das Wasser; – es ist möglich, dass er uns zu einer der Halligen bringt; es bleibt uns kein anderes Mittel zur Rettung gnädige Frau.“

„Baron, ich bin noch so jung!“

„Deshalb weisen Sie das letzte Mittel zur Rettung Ihres Lebens nicht zurück.“

„So sei‘s gewagt!“

„Passagiere in die Jolle!“, befahl der Kapitän dringender.

Glücklicherweise waren der Baron von Waldenow und Lydia Bernheim, beide von Husum kommend, die einzigen Passagiere der „Iduna.“

Mit Gewandtheit hatte, von zwei Matrosen gefolgt. Niels, der Steuermann, die Jolle bestiegen, die vom Spiegel des Schiffes niedergelassen war. Auf und nieder flog das leichte Fahrzeug und so oft sich des Barons Fuß hob, den verhängnisvollen Sprung zu wagen, schleuderte eine Welle in demselben Augenblick das Boot weit von der Stelle, die es nur mit Kampf und Mühe wieder erreichte, und war es den mutigen Führern gelungen, die Jolle bis an die Schiffswand zu bringen, so lähmte die Furcht den Schritt der vornehmen Leute.

Der Kapitän machte dem Zaudern ein Ende. Er warf um Lydias zarte Gestalt ein Seil, einer der Matrosen folgte bei dem willenlosen Baron diesem Beispiel, und schon im nächsten Augenblick fühlten sich beide Passagiere niedergelassen und in der Jolle geborgen.

„Ahoi“, tönte es zu dem Schiff empor.

Die Seile wurden hinaufgezogen.

„Mit Gott! – Gedenket unser!“, rief es durch Nacht und Sturm, und dahin flog das leichte Boot; trug es zum Leben oder zum Verderben? Die Ruderer selber wussten es ja nicht, nicht einmal Niels, der abermals das Steuer übernommen hatte und die Richtung nur in der Dunkelheit inmitten der Wasserberge zu ahnen vermochte. Mehr als eine Stunde verstrich so in der Angst der Zweifel. Am Boden der Jolle saßen der Baron und Lydia, von den fortwährend das elende Fahrzeug überstürzenden Wellen durchnässt. Die Blicke der Passagiere starrten auf den Steuermann, der ihre ängstlichen Fragen durch Schweigen abgewiesen hatte. Plötzlich wurde der Schlag der Wellen kürzer, ein schmaler Streif hohler gehender Wogen bot sich Niels auf das Äußerste angespannten Blicken dar.

„Eine Einfahrt. – Gott sei gelobt!“, rief des Steuermanns Stimme; es war das erste Mal, dass ein Wort außer den unumgänglich notwendigen des Kommandos aus seinem Munde ertönte. „Nicht mehr verzagen – vorwärts Jungen!“

Hastiger griffen die bis zum Tode erschöpften Ruderer aus, – die Hoffnung auf Rettung elektrisierte und stählte von Neuem ihre Sehnen.

„Sind wir der Gefahr entronnen?“, wagte der Baron schüchtern die Frage.

„Wenn der Leute Kraft nicht erlahmt, wenn wir so rasch vorwärts können als der Wogenschwall uns wieder zurückwirft, ja“, lautete die Antwort. „Wir sind an der Einfahrt zu einer Halligwarft – und dort – ja das ist ein Licht – das Haus des Einsiedlers – frisch, Jungen! Wir sind gerettet – man bringt uns Hilfe!“

Eine von der Wellenströmung unterstützte Wendung des Bootes ward ausgeführt, und plötzlich verstummte das Brausen des Windes; wie aus weiter Ferne drang sein Stürmen an das Ohr der Leute im Boot, und die Wogen, die eben noch unbändig dräuenden, die ein stolzes Schiff der Vernichtung geweiht hatten, kräuselten sich sanft und schmeichelnd um den Kiel der Jolle, als bäten sie um Verzeihung.

Und nun flimmerten Lichter über den Häuptern der Bootfahrer. Das nahe Land zeichnete sich deutlicher ab und man gewahrte ein paar Gestalten am festen Strande.

„Anker!“, tönte Niels‘ Stimme.

Der kleine Hacken flog ins Wasser und saß fest. Jetzt zog der Steuermann ein Tau durch den Ring der Jolle, das er um den Leib schlang, dann ergriff er die Bootsstange und mit mächtigem Satz sprang er vorwärts in die Dunkelheit, dass Lydia unwillkürlich einen Angstruf ausstieß; aber schon nach wenigen Minuten fühlte sie den Nachen von starker Hand näher zum Strande gezogen, über sich erkannte sie das freundlich schimmernde Licht eines Hauses, und nun klang eine wohlklingende, sonore Mannesstimme an das Ohr der Geretteten.

„Bretter her! Und du, Dagobert, – sorge, dass Ursel ein bequemes Zimmer herrichtet und Tee und Grog bereithält. – Näher – näher, Freunde! Gott hat Euch wunderbar beschützt.“

Man hörte Bretter werfen, und schon im nächsten Augenblick erschien eine Mannesgestalt, vom Licht der hellbrennenden Laterne in seiner Hand beleuchtet, auf dem schwanken Steg.

„Der Einsiedler von der Hallig!“, flüsterte einer der Matrosen Lydia zu.

„Der Einsiedler!“, wiederholte sie. Kaum der Todesgefahr entronnen, regte sich die schwache Seite des Weibes schon in ihr, – die Neugier. Der Einsiedler von der Hallig konnte nur ein lebensmüder, welker Greis mit weißen Haaren sein. Sie erhob sich und streckte die Hand aus, um die ihr vom Einsiedler dargebotene zu erlassen; fast aber zauderte ihr Fuß, als sie dem Manne ins Antlitz sah. Es stand ein Dreißiger, eine edle, hohe Gestalt vor ihr, die ein dunkler, talarartiger Rock umhüllte. Aus dem bleichen, von einem kohlschwarzen Bart umrahmten Antlitz mit einer Nase, deren Form an die Linien klassischer Zeit erinnerte, leuchteten ein Paar dunkle Augen, und wie ein harmonischer, nie gehörter Klang drang der Ton feiner Stimme an ihr Herz.

„Folgen Sie mir getrost, meine Dame. Sie sind gerettet, und auch Sie, mein Herr“, wandte er sich an den Baron. „Nehmen Sie mit der dürftigen, aber gern dargebotenen Gastlichkeit eines Halligbewohners fürlieb.“

Er ergriff Lydias Hand und geleitete sie über den schwankenden Steg, ihr folgte der Baron von Waldenow, dann ein Matrose nach dem andern. Mit unwiderstehlicher Macht ergoss sich das süße Gefühl, geborgen zu sein, durch der Geretteten Brust. Der Nachen ankerte neben einer Warft, deren halbe Höhe von den Fluten bedeckt war. Ein kleines Wohngebäude lag oberhalb.“ Dieses Gebäude, dessen Pfosten tief in den Erdhügel der Warft reichten, durfte man nur eine ziemlich geräumige Hütte nennen, der, so viel sich in der Dunkelheit erkennen ließ, keine Nachbarwohnungen zur Seite lagen; ein schmaler Gang führte von der aufsteigenden Höhe ins Innere.

Der Halligbewohner lächelte unmerklich, als er sowohl den Baron als auch Lydia beim Eintreten ihre Kleider glattstreichen sah: die Residenzbewohner verleugneten sich auch hier in dieser Stunde der Angst und Rettung nicht; aber dennoch überkam das ganze Bewusstsein ihrer Lage jetzt Lydias Seele, als sich die Tür des Zimmers öffnete, behagliche Wärme ihr entgegendrang, das milde, trauliche Licht einer schlichten Kuppellampe sie begrüßte; die über ihre Kräfte angespannten Nerven versagten der Dame den Dienst, und, einer Ohnmacht nahe, sank ihr Haupt an des sie führenden Wirtes Schulter.

Zum ersten Mal blickte dieser in das Antlitz der Geretteten, das totenblass, aber eben darum doppelt lieblich erschien; wie das Zucken eines elektrischen Strahles flog bei ihrem Anschauen durch seine ernsten Mienen, und starr haftete sein Blick auf ihr; als er, sorgsam wie ein Bruder, die leidende Lydia mit Hilfe der Magd auf die mit bunten Kissen belegte Bank bettete und ihr warmen Tee einflößte, der sie neu zu beleben nicht verfehlte.

Unterdes hatte sich Herr von Waldenow, dessen zarte Körperkonstitution den Gefahren der letzten verflossenen Stunden besser getrotzt hatte, als er selber vermeint, einen prüfenden Blick ins Zimmer des Hausherrn geworfen, der seiner Erscheinung und seiner Rede nach den gebildetsten Ständen angehörte und, wer weiß wie, hierher verschlagen war auf dies einsame, wogenumschwellte Eiland. Die Stube war klein und niedrig aber die höchste Reinlichkeit herrschte darin. Die Wände und das Holzwerk unter den Fenstern mit kleinen, in Blei gefassten Scheiben hatte man, nach der Sitte des Landes, rot und blau bemalt, die schwere, eichene Lade mit Messing beschlagen, die Stühle und der Tisch vor der Bank waren von ungefärbtem Holze. Desto stärker kontrastierte ein Piano in einer Ecke des Gemaches und darüber, auf Regalen angebracht, eine Sammlung Bücher.

Niels und die Matrosen hatten sich, der Strapazen und des Unwetters gewohnt, zuvörderst in der kleinen Küche des Hauses gestärkt; jetzt traten sie ins Zimmer.

„Wir gehen“, nahm der Steuermann das Wort; „vielleicht finden wir Leute, die, vereint mit uns, dem Schiffe Rettung bringen, wenn diese möglich; der brave Kapitän hat‘s um uns verdient.“

„So recht, Niels; denn ich erkenne dich wohl, obschon Jahre verstrichen, seit ich dich nicht gesehen. Menschen retten wollen, heißt nicht Gott versuchen; ich schließe mich Euch an!“

Lydia fuhr empor, ihr Antlitz nahm den Ausdruck höchster, beinahe fieberhafter Angst an.“

„Nicht hinaus!“, rief sie, „nicht auf die wilde, entsetzliche See, wer soll mich hier schützen, wer für mich sorgen hier, wo alles wüst und elend? Wenn Sie mich verlassen, – es wäre mein Tod!“

„Meine Dame, die Pflicht gebeut; ich lasse Sie in guter Hut; sollte mir etwas Menschliches begegnen, – die Halligbewohner sind brave Leute, und hier der Herr, Ihr Begleiter, vielleicht Ihr Gemahl…“

Fast rau und zögernd glitt dies Wort über seine Lippen.

Lydia unterbrach ihn hastig.

„Der Herr Baron von Waldenow ist mir in keiner Weise verwandt. Bewohner der Residenz B., wo ich als Witwe lebte, trafen wir uns auf einem Ausflug nach Kopenhagen, den ich mit einer älteren Begleiterin unternahm; leider musste ich diese in Husum krank bei Verwandten zurücklassen, um allein in meine Heimat zurückzukehren. Auf dem Schiffe fand sich auch zufällig Herr von Waldenow ein, der, wie ich, nach Hamburg wollte; bis dorthin vertraute ich mich seinem Schutz an.“

Ein Strahl der Freude überflog das ernste, beinahe leidend aussehende Antlitz des Halligbewohners bei den Worten Lydias, und sein Auge blickte fast freundlich auf den Baron, um den er bisher, mit der Sorge für seine Schutzbefohlene beschäftigt, sich wenig gekümmert hatte.

„Und doch muss ich fort, gnädige Frau“, sagte er, sich sanft von Lydias Hand befreiend, die in nervöser Aufregung die seine umklammert hielt, „der Menschenhilfe ist mein Dasein geweiht. Ihnen und auch dem Herrn Baron“, fuhr er höflich zu Waldenow gewendet fort, „stelle ich mein armes, kleines Haus zur freiesten Verfügung. Betrachten Sie sich als Herren desselben.“

Er hatte diese Worte kaum vollendet, als draußen auf dem Flur Stimmen durcheinander ertönten, und im nächsten Augenblick mehrere Personen im Zimmer erschienen. Es waren Bewohner der Hallig, straffe, wettergebräunte Mannesgestalten, auch zwei Frauen. Die eine der Letzteren, ein junges Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen, kontrastierte durch edle Zartheit gegen die Genossen, und ein Fremder zweifelte, dass die Halligen ihre Heimat seien.

„Der alte Vater Gottbert weckte uns“, nahm einer von den Männern das Wort; „er sagte uns, dass Niels von der „Iduna“ sich, ein Schiffbrüchiger, mit zwei Passagieren und zwei Mann hierher gerettet; wir wollten die Stadtleute willkommen heißen. Auch Hella ist mitgekommen, ihren Niels zu begrüßen und der fremden Dame beizustehen. Das Schiff selber ist gestrandet; am jenseitigen Ufer der Hallig liegt das Wrack; zwei Leichen spülten die Wogen in den Schlamm. Gott sei ihren Seelen gnädig! – Ehre und Preis ihm, der gnädig seine Hand hielt über euch – Amen!“

„Amen!“, tönte es rings umher im Kreise – Wehmut und Freude mischten sich in den Ton. Der Baron und Lydia neigten ergriffen das Haupt.

Der junge Steuermann Niels, eine kräftige Gestalt am Anfang der zwanziger Jahre, war der Erste, der die Stille brach. „Ja, Gott die Ehre!“, rief er, die Hände des jungen Mädchens erfassend, das der Mann Hella genannt hatte, – „führte er mich doch zu meinem Lieb, dass ich es wiedersehen solle und heimführen nach dem Spruch, den unsere Väter einander getan, da wir noch Kinder waren, – zum heiligen Altar. Gelt, Hella, bist mir treu ‘blieben und freust dich des Heimgekehrten, der nun kommt mit Brautschleier und Myrtenstrauß?“

Ein Lächeln überflog das Antlitz der Jungfrau; es sollte freundlich, ermutigend für den sich ihr so herzlich Nahenden sein, aber es war wie ein Lächeln der Sonne im November, die so gern den Fluren noch einmal Licht und Wärme spenden möchte, und es doch nimmermehr vermag.

„Ich ehre unserer Väter Spruch; ich denke an dich, du treuer Freund aus der Kinderzeit und preise Gott aus vollem Herzen; dass er dich heimgeführt; – doch verzeih‘!“, unterbrach sie sich, sanft ihre Hände aus denen Niels‘ lösend, „mich sendet die Mutter; christliche Pflicht zu erfüllen.“ Und zu Lydia tretend; die; von schützender Decke umhüllt; auf der Bank ruhte; und deren vorhin so bleiches Antlitz, wie im Fieber gerötet war; fuhr sie fort: „Gnädige Frau; wohl wissen wir; dass das Haus des guten Herrn Barfeld alles zu gewähren vermag, was diese arme Insel bietet; er ist ja unserer aller Vorsehung in Krankheit und Gefahr; allein wenn Sie weiblichen Beistandes bedürfen, verschmähen Sie den meinen nicht; ich bitte Sie darum.“

Lydias brennende Hand presste die Finger Hellas. „Du braves Kind; ich danke dir; wie wohl tut mir die Liebe guter Menschen; eine Liebe, die ich kaum geahnt. Mir ist so seltsam zu Mute; als ob eine schwere Krankheit mir drohte; doch wer bist du?“

Niels antwortete statt der Gefragten. „Sie nennt sich Hella Martensen; Madame; ihre Mutter war Erzieherin bei einem reichen Hamburger Kaufmann; der mit seinem Schiffe häufig an unsere Hallig anlegte; deren Prediger fein Schulfreund war; einst brachte er seine kleine Tochter und ihre Gouvernante mit; der Bruder des Pastors; ein Kapitän; verliebte sich in die Erzieherin; auch sie ließ ihr Herz hier; und ich glaube, obwohl sie später Witwe ward; sie hat‘s nie bereut – gelt; Hella?“

Das junge Mädchen neigte das Haupt. Der Baron; der ihr zur Seite saß und kein Auge von ihr wandte, glaubte einen leichten Seufzer zu vernehmen.

„Wir wuchsen miteinander auf, die Hella und ich“, fuhr Niels in feiner Rede fort, „und früh verlobte, wie es Sitte hier zu Lande ist, uns der Väter Spruch; werde nun Kapitän dieses Jahr, und gut soll‘s mein Weib haben, wie keine auf der Hallig.“

„Du bist ein braver Bursche. Niels; doch jetzt, da wir den Armen vom Schiffe nicht zu helfen vermögen, lasst uns für die Geretteten sorgen“, nahm Barfeld das Wort. „Sie, gnädige Frau, lasse ich unter Hellas Obhut in diesem Zimmer; sie wird Ihnen gern ihren Sonntagsstaat leihen, um Sie von Ihren feuchten Kleidern zu befreien; ich werde sogleich danach senden. Der Herr Baron wird mein Schlafzimmer mit mir teilen, wo sich auch für ihn ein Anzug finden wird. Vorläufig aber erquicken Sie sich durch eine Tasse heißen Tees, und dann zur Ruhe.“

Die bäuerisch gekleidete Magd brachte eben das dampfende Getränk in irdenen Schalen. Barfeld nahm ihr eine derselben ab und bot sie der Witwe dar. Die Augen der beiden begegneten sich; vor des Einsiedlers glühendem Blick schlug Lydia den ihren zu Boden. Es lag etwas so Sonderbares, Rätselhaftes in den Augen des eigentümlichen Mannes.

Mittlerweile hatte sich der Baron Waldenow dem Mädchen von der Hallig genähert. „Hella heißest du, mein schönes Kind?“, fragte er, und der Ton seiner sonst ziemlich herrisch klingenden Stimme ward milde und weich, „ist es dir nicht zu einsam, lebenslang an dieses wüste Eiland gebannt zu sein?“

Die Angeredete schlug ihr blaues Auge zu dem Fragenden empor. „Meine Mutter lebt hier seit fünfundzwanzig Jahren“, sagte sie, „und hat doch manche Menschen und Städte gesehen; ich kenne wenig mehr als diese – Stätte. Das ist eben unser Geschick.“

„Und möchtest du nicht auch Welt und Menschen sehen?“, fuhr der Baron weiter fort; „wünschest du niemals die Genüsse einer großen Stadt kennenzulernen? Weißt du, dass du zu schön und zu hold bist; auf diesem Fleck Erde zu verkümmern?“

Niels hatte mit dem Ohr der Eifersucht das kurze Gespräch behorcht; jetzt trat er zu Hella und schnitt dadurch die Antwort des jungen Mädchens ab.

„Ich gehe zu deiner Mutter; die Kleider für die Dame zu holen“, sagte er. „Alsdann suche ich meine Hütte auf; denn auch mich verlangt nach Ruhe. Es wird mir dort recht einsam vorkommen; Hella; aber ich werde von dir träumen. Gute Nacht mein Mädchen“, und er neigte sich flüsternd zu ihrem Ohr; – „nicht wahr, das zimperliche Herrchen ist ein Laffe?“

Hella erhob ihre Augen zu Waldenow; dessen feines, aristokratisches Antlitz eben dem Herrn des Hauses zugewandt war; dann ließ sie ihre Blicke auf Niels‘ gutmütigen; aber ziemlich plumpen Zügen ruhen. Der Vergleich musste notwendig zum Nachteil des armen Burschen ausfallen. Sie wandte sich schweigend ab.

Eine halbe Stunde später herrschte tiefe Stille in dem kleinen Hause auf der Warft. In fieberhaftem Schlummer atmete Lydia; zu ihren Füßen hatte Hella sich ein Lager bereitet; und in der Kammer des Hausbesitzers ruhte der Baron von Waldenow in tiefem; schweren Schlaf, dessen Traumbilder ihm ein liebliches Mädchenantlitz vor die Seele führten, das zu ihm aufschaute und dessen Mund flüsterte: „Lass mich hier nicht verkümmern; hier muss ich vergehen – in ungefülltem Sehnen.“

Draußen aber auf der kleinen Warft stand Leo Barfeld, den die Matrosen den „Einsiedler der Hallig“ genannt hatten.