Der englische Tänzer - Friedrich Dönhoff - E-Book

Der englische Tänzer E-Book

Friedrich Dönhoff

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Beschreibung

Musicalstadt Hamburg. Plakate und Zeitungen kündigen es an: Das Erfolgsstück Tainted Love kommt von London an die Reeperbahn. Doch am Morgen vor der Premiere wirft ein seltsames Ereignis einen unheimlichen Schatten voraus: Eine Backstage-Mitarbeiterin sieht im Theatersaal einen Toten von der Kuppel hängen. Als der junge Kommissar Sebastian Fink am Tatort eintrifft, ist die Leiche aber verschwunden. Alles nur eine Halluzination? In seinem zweiten Fall ermittelt Sebastian Fink hinter den Kulissen der Musicalwelt. Es geht um Eitelkeiten, versteckte Rivalitäten und sehr viel Geld. Tänzer und Manager, Musiker und Choreographen alle stehen unter Druck. Jeder beobachtet jeden. Und doch will niemand gesehen haben, wie ein Mensch aus ihren Reihen zu Tode kam."

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Seitenzahl: 289

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Friedrich Dönhoff

Der englische Tänzer

Ein Fall für Sebastian Fink

Roman

Die Erstausgabe erschien 2010 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Foto (Ausschnitt) mit freundlicher Unterstützung des Hotel Atlantic Kempinski Hamburg

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24018 4

[5] 1

Als sie durch die schwere Eisentür ins Freie traten, sahen sie den Bussard. Er kreiste auf gleicher Höhe und balancierte im eisigen Wind. Sebastian zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Kinn. Wie bescheuert war er eigentlich? Kraxelte an einem Nachmittag im November bei Temperaturen um den Gefrierpunkt auf den Turm der Michaeliskirche. Spätestens heute Abend würden ihm die Ohren schmerzen.

Anna hielt ihren Hut mit der einen Hand, an der anderen hielt sie den eingemummelten kleinen Leo. Seit dem letzten Winter war der Junge gewachsen. Auch ihm zuliebe hatten sie sich aufgerafft und gesagt: Komm, wir gehen da jetzt mal rauf, auf den Michel, das Wahrzeichen von Hamburg, das ist schließlich nicht nur für Touristen gebaut.

Von der Plattform konnte man kilometerweit schauen. Dort waren Sankt Pauli und die Reeperbahn, drüben die Alster und das weiße Hotel Atlantic, rechts von ihnen ragte der spitze Turm des alten Rathauses in die Höhe. Unten, so nah, dass man glaubte hineinspucken zu können, floss das silbergraue Wasser der Elbe, auf dem die Schiffe wie Spielzeug aussahen.

Leo rief mit hoher Stimme Fragen in den Wind: »Wo ist unser Haus?« – »Ist das England?« – »Was für ein Ballon [6] liegt da?« In der großen gelben Kuppel, die sich am Ufer des Flusses blähte, wurde jeden Abend das Musical Der König der Löwen aufgeführt. Dahinter erstreckte sich der achthundert Jahre alte Hafen mit seinen tausend Kränen, langen Armen, die nach den Wolken griffen.

Annas roter Mantel flatterte. Sie hatte ihn vor Jahren ausgemustert, aber nie entsorgt, und nun feierte er ein Comeback. Sie hielt sich auf der anderen Seite der Plattform am Geländer fest und blickte in die Ferne. Etwa dort musste Lübeck sein, ihre Heimatstadt, aber das war ihr vielleicht gar nicht bewusst. Sie war in letzter Zeit so nachdenklich, hatte aber bislang nicht gesagt, was sie beschäftigte.

Ruhig und elegant schwebte der Bussard hoch über den Häusern, ein Meer mit Millionen Menschen, eine enorme Ansammlung von Individuen mit festen Spielregeln und mit Spannungen. Von Westen, der Nordsee, nahte eine Wolkendecke, wie ein riesiges graues Plumeau, das sich langsam über die Stadt legen würde. Sebastian presste seine Jacke an den Körper, als würde er sich selbst umarmen.

Am nächsten Morgen irrten hinter seinem Fenster Schneeflocken umher. Sebastian beobachtete sie vom Bett. Sie fielen leise und sanft, wie Schneeflocken fallen und immer fallen werden. Sein Wecker hatte noch nicht geklingelt, doch, als wäre eine Sirene losgegangen, war er plötzlich aus dem Schlaf hochgeschreckt. Und nun saß er da mit klopfendem Herzen und schaute hinaus auf die vergehende Zeit.

»Auch so früh?«, warf er Jens entgegen, der mit einer Zeitung in der Cafeteria saß. Das war nur fünfzig Minuten später im Polizeipräsidium.

[7] »Ich finde, es ist zu kalt da draußen«, murrte Jens, »zu dunkel, und der Schnee bleibt auch nicht liegen.«

Sebastian stellte seinen Kaffee, den der Automat ausgespuckt hatte, auf den Tisch und zog über den gefliesten Boden einen Plastikstuhl heran. Jens sah kurz auf.

Sebastian nahm sich die Morgenpost von der Fensterbank und blätterte darin. Parteienstreit im Hamburger Senat, Turbulenzen an der Börse, Premiere am Hans-Albers-Theater. »Das Londoner Erfolgsmusical Tainted Love kommt von der Themse an die Elbe«. Tainted Love – das war doch damals der Hit des Pop-Duos Soft Cell, Sebastian erinnerte sich gut daran, Synthie-Pop, typisch achtziger Jahre. Die Stadt war vollgepflastert mit Werbung, es war immer dasselbe, wenn ein neues Musical an den Start ging. Der Innensenator behauptete, nach New York und London sei Hamburg inzwischen der drittgrößte Musicalstandort der Welt, und die Hansestadt würde finanziell außerordentlich vom Musicaltourismus profitieren.

Sebastian trank vorsichtig von seinem heißen Kaffee und blätterte die Zeitung noch einmal von hinten nach vorne durch.

»Oh, die Herren machen so früh am Morgen schon Pause!«

Frau Börnemann aus der Verkehrsabteilung, etwas rundlich und stets in Uniform, kam sonst immer erst mittags herunter.

»Und Sie?«, sagte Sebastian. »Was machen Sie so früh hier unten?«

»Bei uns ist die Kaffeemaschine kaputt. Ich habe den Auftrag, sechs Becher – drei Cappuccino, einen Caffè Latte und [8] zwei… – wenn Sie so gucken, bringen Sie mich ganz durcheinander.«

»Zweimal koffeinfrei«, murmelte Jens.

»Woher wissen Sie das, Herr Santer?«

»Intuition.«

»Nicht schlecht.« Frau Börnemann nickte anerkennend.

Wenig später kam sie mit den Bechern auf einem Tablett vorbei, und Sebastian und Jens falteten die Zeitungen zusammen.

Als wäre er durch eine Lichtschranke gegangen, begann das Telefon auf dem Schreibtisch in dem Moment zu klingeln, als Sebastian sein Büro betrat. Er hängte die Jacke schnell an den Haken, drei große Schritte, und er hatte den Hörer in der Hand. Die Sekretärin. Sie kündigte ein Gespräch mit einem Beamten der Davidswache an, es sei dringend.

Davidswache, Reeperbahn, das war sicher keine Einladung zu einem lustigen Abend in Sankt Pauli. Eigentlich schade – dort gab es die meisten Musik-Clubs, Diskotheken und Kneipen, und Sebastian wäre gern mal wieder ins Nightlife zum Tanzen gegangen. Ab und zu brauchte er das: in eine andere Welt treten, wo Musik der Sauerstoff war.

»Herr Fink?«, kam es aus dem Hörer. Die Stimme klang merkwürdig instabil. »Kipke hier. Wir haben…, also, ich würde sagen, das ist eine ziemlich bizarre Geschichte…«

»Nämlich?«

Der Mann holte Luft. »Nebenan im Hans-Albers-Theater ist eine Leiche.«

Von dem Theater hatte Sebastian doch eben erst in der Morgenpost gelesen. »Und? Ich höre.«

[9] »Es heißt, die Leiche hängt im Zuschauersaal an einem Strick von der Kuppel herab.«

»Wie bitte?« Sebastian musste schlucken. Es vergingen ein paar Sekunden, in denen er versuchte, sich das Bild vorzustellen, bevor der Beamte fortfuhr: »Eine Mitarbeiterin vom Theater kam eben auf die Wache, sie war ganz außer sich. Die Kollegen sind schon drüben, um es sich anzusehen. Herr Fink?«

Er fuhr alleine. Pia war noch nicht im Präsidium, und Jens würde gegebenenfalls bald nachkommen.

Über ihm kreiste das Blaulicht, und vor ihm ging der Verkehr auseinander, als würde der Weg freigepustet. Eine Leiche, die von der Kuppel hängt – so etwas hatte er noch nie gehört. Er hielt den Wagen direkt vor dem Eingang des prächtigen Gebäudes.

Ein Mann im Anorak kam mit zornigen Schritten auf ihn zu. Er hämmerte gegen die Scheibe. Sebastian öffnete.

»Blind?«

»Wie bitte?«

»Sehen Sie nicht, dass wir hier den roten Teppich ausrollen?«

»Nein«, antwortete Sebastian. Aber dann sah er den breiten Läufer auf sich zurollen.

»Parken Sie bitte woanders!«

»Beruhigen Sie sich!« Unglaublich, in welchem Ton der Mann wagte, mit der Polizei zu sprechen. Im nächsten Moment wurde Sebastian klar, dass er in seinem eigenen Auto saß, einem Fiat Uno, einer Schrottkiste, wenn auch einer sehr schnellen, und das Blaulicht hatte er eben wieder [10] eingeholt. In der Nähe wurde gerade ein Parkplatz frei, Sebastian ließ den Kerl im Anorak einfach stehen und zog rüber.

Das geräumige Foyer des Hans-Albers-Theaters war mit einem nachtblauen Teppich ausgelegt, auf dem goldene Sterne prangten. In aller Ruhe wurde er von drei Putzfrauen gesaugt, als sei hier gar nichts passiert. »Wo geht’s zum Saal?«, rief Sebastian. Eine der Frauen schaute auf. Sie verstand ihn nicht. Während sie den Knopf an ihrem Gerät drückte und das Brausen abnahm, war Sebastian schon weitergegangen. Ein Polizist kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand: »Wir haben telefoniert.« Inzwischen schien Herr Kipke sich beruhigt zu haben. »Kommen Sie mal mit«, sagte er. Hatte er etwa ein Lächeln auf den Lippen?

Am Ende des Foyers lag der Eingang zum hellerleuchteten großen Theatersaal. Als sie durch die offene Doppeltür traten, bemerkte Sebastian, dass sich vorne an der Bühne Männer unterhielten, während andere an der Kulisse werkelten. Im Saal ging Sebastians Blick sofort nach oben, wo ein barock anmutendes Gemälde die Kuppel zierte. »Eine schöne Malerei«, sagte er. »Aber wo ist die Leiche?«

Der Beamte zuckte die Schultern.

»Was heißt das?«

»Niemand hier hat eine Leiche gesehen.« In den Augen des Mannes meinte Sebastian den Anflug eines Lächelns zu erkennen.

»Entschuldigung«, sagte Sebastian streng, »warum haben Sie mich dann gerufen? Ist das ein Witz? Finden Sie das komisch?«

Der Beamte räusperte sich. »Ich wollte Ihnen gerade [11] Bescheid geben, aber Sie waren so schnell da. Die Physiotherapeutin des Theaters, die vorhin auf der Wache war, spinnt offenbar manchmal. Die Leute hier jedenfalls wundern sich gar nicht.«

Sebastian kam sich blöd vor. Raste hierher, und dann so was.

»Wo ist die Frau?«, fragte er.

»In Altona. Im Krankenhaus. Nervenzusammenbruch.«

»Wie heißt sie?«

»Silke Engelmann.«

»Ich wusste gar nicht, dass Theater Physiotherapeuten beschäftigen.«

»Vielleicht«, überlegte der Beamte, »weil beim Musical so viel getanzt wird?«

Sebastian ging den Mittelgang entlang, zwischen den Sitzreihen hindurch. Er betrachtete die Kuppel. Er schätzte die Höhe auf vielleicht fünfundzwanzig Meter. Unter dem Deckengemälde waren unauffällig Leisten für Lampen angebracht. Theoretisch schien es immerhin möglich, hier einen Menschen aufzuhängen. Man konnte allerdings von unten schlecht einschätzen, ob die Stangen dem Gewicht eines Körpers wirklich standhalten würden.

Auf einmal bemerkte Sebastian, dass sich im Saal die Stimmung veränderte. Im Eingang erschienen eine Frau und ein Mann. Wie ein Magnet, auf den sich alles ausrichtet, zog das Paar die Aufmerksamkeit auf sich, auch die Arbeiter auf der Bühne schauten. Das dicke blonde Haar fiel der Frau in mädchenhaften Wellen auf die Schultern. Sie war ganz in Schwarz gekleidet, und auf ihrer Brust glitzerte eine bunte Kette. Um die fünfzig Jahre alt mochte sie sein. Der Mann [12] neben ihr mit dem roten, verstrubbelten Haar war deutlich jünger, seine Bewegungen geschmeidig. Die beiden gingen über den Außengang in Richtung Bühne. Während die Frau sprach, gestikulierte sie mit flatternden Händen. Der Mann hörte aufmerksam zu, lachte, und sprang, vorne angekommen, mit einem Satz auf die Bühne und verschwand in den Kulissen. Die Frau sprach mit den Leuten, die eben noch in Aufzeichnungen vertieft waren und jetzt ausnehmend freundlich grüßten. Sie gab irgendwelche Anweisungen. Einen Moment lang schauten alle wie hypnotisiert auf die Bühne. Dann drehte die Frau sich um, als hätte sie Sebastians Blick im Rücken bemerkt. Sie sagte noch etwas, kam dann durch den Mittelgang auf ihn zu. Das viele Schwarz, ein eng anliegender langer Rock aus dünnem Strick und ein Pullover, kaschierte geschickt ein paar überzählige Pfunde. Die kleinen bunten Steine ihrer Kette funkelten bei jedem Schritt.

»Sie sind von der Polizei, richtig?« Ihre Augen waren blau, sie lächelte nicht.

»Sebastian Fink ist mein Name.« Er zeigte seinen Ausweis. »Und wie heißen Sie?«

»Linda Berick. Ich bin die Autorin und Co-Produzentin. Ich hoffe, wir können nun wieder in Ruhe arbeiten. Schließlich ist heute Abend Premiere. Wir erwarten 1600 Gäste.«

»Wenn jemand behauptet, hier würde eine Leiche hängen, müssen wir herkommen und der Sache nachgehen. So ist das nun mal, Frau Berick.«

Sie verschränkte die Arme und schaute an ihm vorbei. An ihrem Ohr klemmte ein großer Clip mit einem türkisfarbenen Stein in der Mitte, von dem feine goldene Streifen ausgingen, wie Strahlen einer blauen Sonne.

[13] »Seien Sie froh, dass es Fehlalarm war«, schob Sebastian nach.

»Ich habe keine Sekunde gedacht, dass es wahr sein könnte«, antwortete sie spitz, und Sebastian fragte sich, warum eigentlich nicht.

Sie sahen gleichzeitig hinauf zur Kuppel. »Wo bitte sollte da eine Leiche hängen?«, fragte sie. »Und wie könnte man einen Körper dort hinschaffen? Sie wissen, dass die Frau, die das gemeldet hat, nicht richtig tickt?«

»Ich hab’s gehört.«

Auf der Bühne bewegte sich eine Kulisse, bis ein Bühnenarbeiter den Arm in die Luft streckte, dann blieb sie stehen.

Die Autorin war nun betont freundlich. »Sie müssen wissen, dass Menschen am Theater manchmal Schwierigkeiten haben, zwischen Realität und Illusion zu unterscheiden. Wenn dann noch der Stress vor der Premiere hinzukommt, kann einiges durcheinandergeraten.«

»Sind Sie eigentlich Engländerin?«

Irritiert sah sie ihn an. »Ich bin aus London«, erklärte sie. Es klang stolz und ein wenig trotzig. »Meine Großmutter war Deutsche. Ich spreche die Sprache seit meiner Kindheit. Und hier kann ich nun meine Kenntnisse auffrischen.« Sie musterte ihn. »Hätten Sie vielleicht Interesse, heute Abend das Stück zu sehen? Eben haben zwei Gäste abgesagt. Sie müssten sich allerdings sofort entscheiden.«

Es hatte aufgehört zu schneien. Die Reeperbahn lag verlassen im grauen Vormittagslicht. Menschenleer der Bürgersteig, die Leuchtreklamen tot, die Türen zu den [14] Etablissements verschlossen. Von der nächtlichen Glitzerwelt war nichts zu erahnen.

Sebastian schaute noch einmal zurück. Das Hans-Albers-Theater. Über dem Eingang wurde ein riesiges Plakat befestigt: »Tainted Love – das Musical«. Heute Abend würde es angestrahlt sein, 1600 Gäste würden über den roten Teppich gehen, wie über eine Zunge, die in den Rachen des gewaltigen Gebäudes führte.

Und die Geschichte einer Leiche, die es nie gegeben hatte, wäre vergessen. Plötzlich war Sebastian klar, dass er diesen kuriosen Vorfall erst dann endgültig abhaken konnte, wenn er sich selbst einen Eindruck von der vermeintlich verrückten Frau verschafft hatte. Warum war sie überhaupt fest angestellt, wenn sie doch, wie die Engländerin meinte, »nicht ganz richtig tickt«?

Der Empfang des Krankenhauses war gerade nicht besetzt. Was war heute nur los? Sebastian lehnte sich mit dem Ellbogen auf das Pult und sah sich um. Hier roch es nicht gut. Desinfektionsmittel wahrscheinlich. Er beugte sich über die Theke und entdeckte eine Liste, Namen in alphabetischer Reihenfolge, dahinter die Zimmernummer – E wie Engelmann, Zimmer 423.

Er fuhr im Lift mit einem Pfleger und einem Krankenbett. Im vierten Stock stieg er aus. Ein menschenleerer Gang. Blankpoliertes Linoleum. Eine Reihe geschlossener Türen. Am Ende des Flures hörte er Stimmen hinter einer Tür, die nur angelehnt war. Hier musste – laut Liste – Silke Engelmann untergebracht sein. Sebastian klopfte sachte.

Der Raum war mit Neonlicht hell ausgeleuchtet, die beiden Betten unbenutzt. In einer Ecke flimmerte ein Fernseher, [15] davor saß eine Frau mit spitzem Profil und starrte gebannt auf den Schirm. Silke Engelmann war jünger, als Sebastian sie sich vorgestellt hatte, etwa Mitte zwanzig.

Die Frau bemerkte ihn nicht. Er klopfte noch einmal laut. Sie schaute auf und blickte ihn erstaunt an. Er stellte sich vor, erklärte, dass er wegen des Vorfalls im Hans-Albers-Theater gekommen sei. »Können wir den Fernseher ausmachen?«

»Natürlich. Entschuldigung.« Silke Engelmann fingerte an der Fernbedienung, bis das Bild erlosch. Einen Moment lang fixierte sie die graue Mattscheibe, dann stand sie auf, zog den Stoff ihrer Hose, eine Art Jogging- oder Sporthose, glatt und gab ihm die Hand. Sehr feste. Sie war von kräftig gebauter Gestalt, hatte aber ein mädchenhaftes Gesicht, das von braunem, dauergewelltem Haar umrahmt war.

Sebastian bedeutete ihr, sich mit ihm an den kleinen, quadratischen Tisch zu setzen, auf dem eine Blume stand. An der Wand hing das Plakat eines Sonnenuntergangs in einem hellblauen Rahmen.

Er bat sie zu erzählen, was am Morgen vorgefallen war, und er bemerkte eine leichte Unruhe in sich, ohne dass er den Grund hätte benennen können. Die Physiotherapeutin schaute mit leerem Blick auf die Fernbedienung, die sie noch in der Hand hielt. Dann begann sie mit leiser, aber klarer Stimme zu sprechen.

»Ich bin heute früher als sonst ins Theater gekommen, ich hatte einiges vorzubereiten. Ich wollte den neuen Heizstrahler in meinem Raum ausrichten. Ich ging also durch den Haupteingang –«

»Der war offen?«

[16] Die Frau nickte. »Das kommt vor, wenn um diese Zeit saubergemacht wird. Ich bin dann gleich zum Saal. Ich liebe diesen Saal. Ich habe das Licht angemacht und bin rein. Ein paar Schritte nur…« Engelmann begann schwerer zu atmen. »Aber auf einmal hatte ich das Gefühl, dass da irgendetwas… Ich dachte, da ist doch jemand. Ich habe ›Hallo!‹ gerufen, aber es kam keine Antwort. Ich glaube, dann hat das Licht geflackert.«

»Sie glauben?«

»Ich weiß es nicht mehr. Ich habe herumgeguckt, nach oben, und –« Silke Engelmann schluchzte laut auf. Sie hielt sich die Hände vor das Gesicht, die Fernbedienung bebte zwischen ihren Fingern.

Sebastian sah in seinem Job oft Menschen weinen. Er wartete, bis die Frau sich beruhigte. Aber plötzlich gellte eine Stimme durch das Krankenzimmer: »Geben Sie mir das Hemd! Ich will das Hemd!«

Sebastian hatte die Vase aufgefangen, die Silke Engelmann vor Schreck umgestoßen hatte. Auf dem Fernsehschirm erschienen zwei Figuren, die an einem Stück Stoff zogen. Silke Engelmanns zitternde Finger suchten auf der Fernbedienung den Ausschaltknopf. Das Bild verschwand vom Schirm.

»Entschuldigung.« Die Frau wandte sich Sebastian mit fast ängstlichem Blick zu.

Er stellte die Vase wieder an ihren Platz zurück. Die Blume hatte gar kein Wasser. »Was genau haben Sie dann gesehen?«

»Einen Körper.«

»Mann oder Frau?«

[17] »Ich weiß es nicht. Ich hab den Körper nur von unten gesehen.«

»Es hieß, er hinge an einem Strick…«

»Ich glaube, es war ein Strick, ich konnte es nicht so genau erkennen.«

»Warum nicht?«

»Oben war kein Licht. Ich habe geschrien und bin rausgelaufen.«

Silke Engelmann schluchzte wieder. Sebastian fragte sich, warum die Physiotherapeutin keine Hilfe im Theater gesucht hatte. Die Antwort, die Engelmann gab, war logisch: Sie wollte nur noch raus aus diesem Haus. Sie sei einfach nur gerannt, durch mehrere Straßen. Er fragte verwundert, warum sie denn nicht sofort zur Davidswache gelaufen sei, die an der nächsten Straßenecke lag. Ihre Antwort: »Ich war total unter Schock.«

»Aber dann«, begann sie noch mal und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, »dann dachte ich auf einmal, dass ich mir alles vielleicht nur eingebildet hätte.«

»Wie kamen Sie darauf?«

Gedankenverloren spielte die Frau wieder mit der Fernbedienung. »Mir ist so etwas schon mal passiert. Aber nie so heftig. Manchmal höre ich Stimmen. Manchmal sehe ich in meiner Wohnung einen Hund. Aber… das geht immer vorbei.«

Es geht nicht vorbei, dachte Sebastian, es verstärkt sich. Er fragte: »Wann und warum sind Sie dann doch noch zur Polizei gegangen?«

Silke Engelmann drückte die braune Locke, die ihr ins Gesicht gefallen war, hinters Ohr. Sie erklärte, sie habe sich [18] entschieden, einfach zurück zum Theater zu gehen, als wäre nichts geschehen. Doch je näher sie dem Gebäude kam, umso heftiger wurde wieder die Angst. Sie geriet in Panik, lief direkt zur Davidswache und erzählte, was sie gesehen hatte. Die Polizisten seien mit mehreren Mann rübergegangen.

»Und Sie sind nicht mit?«

»Nein. Und dann kam die Entwarnung. Und dann haben sie mich ins Krankenhaus gebracht, und –«

»Stop«, sagte Sebastian. »Wie viel Zeit war vergangen, nachdem Sie das Theater verlassen hatten, bis die Polizei dort eintraf? Überlegen Sie bitte genau.«

Sie rechnete. »Dreißig Minuten.«

Theoretisch wäre es also möglich gewesen eine Leiche zu beseitigen, bevor die Polizei eintraf, dachte Sebastian.

»Sind Sie eigentlich zum ersten Mal in psychiatrischer Behandlung?«, fragte er.

Sie nickte unsicher.

»Was hat die Untersuchung ergeben?«

»Ein Psychologe hat mit mir gesprochen, aber nur kurz. Später soll ich noch zum EKG. Dabei wurde erst vor kurzem alles durchgecheckt. Alles in Ordnung.«

Sebastian konnte gegebenenfalls später im Krankenhaus wegen der Ergebnisse nachfragen. Einen eigentümlichen Eindruck machte die Frau schon. Aber man konnte auch nicht behaupten, dass sie so viel merkwürdiger war als manch andere Großstadtbewohner.

Die Physiotherapeutin schaute aus dem Fenster. Sie hatte wässrige Augen. »Ich habe Angst, meinen Job zu verlieren«, sagte sie. »Ich liebe dieses Theater.«

[19] Bevor er ging, legte er seine Karte auf den Tisch. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, melden Sie sich.«

»Herr Fink?«

Er drehte sich um.

»Glauben Sie…«, die Frau sah ihm direkt in die Augen, »glauben Sie, dass ich verrückt bin?«

Er überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ich weiß es nicht.«

Und das stimmte tatsächlich.

Er parkte auf seinem Stellplatz vor dem Polizeipräsidium und blieb im Auto sitzen. Den Motor ließ er laufen, damit die Heizung weiter funktionierte, auch wenn er sich eigentlich vorgenommen hatte, sich diese Unart abzugewöhnen. Doch im Kalten konnte er nicht nachdenken. Und zum Nachdenken war das Auto ideal, weil ihn hier niemand behelligte.

Die Vision einer Verrückten – das war die einfachste Erklärung. Und genau daran störte ihn irgendetwas. Er verfluchte sich im Nachhinein dafür, dass er die Stangen an der Decke im Theatersaal nicht einmal überprüft hatte. Wenn sie einen menschlichen Körper nicht tragen könnten, erübrigte sich jede weitere Spekulation. Und die Prüfung nachzuholen ging nicht so einfach, dafür müsste es einen neuen Anlass geben. Irgendetwas… Eine Vermisstenanzeige, zum Beispiel.

Sebastian war in seinem Büro, als der Rückruf der zuständigen Kollegen kam: Alle Personen, die in den letzten Tagen als vermisst gemeldet worden waren, hatten sich wieder eingefunden. Sebastian hinterließ den Auftrag, ihn über [20] jede Vermisstenanzeige, die heute oder in den nächsten Tagen eingehen würde, umgehend zu informieren.

Jens saß über irgendwelche Papiere gebeugt an seinem Schreibtisch – und Sebastian erzählte ihm von Theater und Krankenhaus.

»Also wirklich!«, entfuhr es dem Kollegen. »Wenn ich das schon höre: Physiotherapeutin.«

»Wieso?«

»Eine Physiotherapeutin, die nicht alle Tassen im Schrank hat, aber trotzdem Leute behandelt. Was ist denn das für ein Laden?«

»Warum bist du eigentlich so mies drauf?«

»Ich war gut drauf, bis ein gewisser Herr Fink in mein Zimmer kam und mir diesen Quatsch erzählte.«

Jens war nicht nur gereizt, sondern geradezu unverschämt, wenn man bedachte, dass Sebastian nicht nur ein Freund seit der gemeinsamen Zeit auf der Polizeischule war, sondern inzwischen formal sein Vorgesetzter.

»Und warum sollte man?«, fragte Jens, im Ton jetzt etwas milder.

»Sollte man was?«

»Warum sollte man im Theater eine Leiche entfernen, anstatt die Polizei zu verständigen?«

Das war allerdings etwas kurz gedacht, fand Sebastian, es gab natürlich einen sehr guten Grund. »Die Macher erwarten sicher ein Riesengeschäft und können nichts weniger gebrauchen als einen Fehlstart wegen einer Leiche, ausgerechnet am Tag der Premiere.«

Jens hörte sich das an und sagte dann: »Wahrscheinlich spinnt die Frau wirklich, meinst du nicht auch?«

[21] Jens hatte wohl recht, dachte Sebastian, aber er sprach es nicht aus.

»Nun«, meinte Jens versöhnlich, »solange es keine Leiche gibt, können wir nichts tun. Sei doch froh.«

Auch da hatte Jens recht. Sebastian sagte: »Ich habe übrigens Karten für die Premiere.« Da war er schon in der Tür.

»Wie viele?«

»Zwei.«

»Super!«

»Tut mir leid, aber sie sind schon für jemand anderen reserviert.«

Es war inzwischen später Nachmittag geworden, Feierabendzeit, Jogger trabten um die Alster. Der dunkle Himmel spiegelte sich in einem schimmernden Schwarz auf der Wasseroberfläche. Sebastian lief sehr schnell, und bei jedem Schritt hüpfte der Schlüsselbund in der Seitentasche seines dicken Kapuzenpullovers. Er lief immer am Wasser entlang, einmal um die Außenalster herum, von Harvestehude über Winterhude, Uhlenhorst, Sankt Georg, die Kennedybrücke, dann war er wieder zurück, auf Höhe von Bodos Bootssteg. Er sah auf die Uhr: 48 Minuten. Das waren drei weniger als sonst. Er war außer Puste, seine Kleidung trotz der Kälte durchgeschwitzt. Dennoch fühlte er sich gut. Er joggte gemächlich weg von der Alster in Richtung Benderplatz, durch Straßen, die gesäumt waren von Eichen mit nackten Ästen. Auf der breiten Treppe, die zum Eingang ihres Hauses führte, sah er von weitem schon Annas roten Mantel leuchten. Sebastian erinnerte sich, sie kam vom Eltern-Treff zurück. Annas Laune, das sagte ihm ihre ganze Haltung – wie sie sich [22] umständlich drehte, während sie den Schlüssel ins Schloss schob und die Haustür aufstieß –, war nicht die beste.

»Erzähle ich dir oben«, antwortete sie. »Du holst dir ja sonst den Tod.«

Auf dem Tisch stand ein Stövchen, darauf eine Kanne Tee. Drum herum hatte Anna mehrere Teelichter gruppiert und angezündet. Durch die offene Tür war Leo zu sehen, der in seinem Zimmer mit dem gelben Plastikkran spielte, den Sebastian ihm nach dem Ausflug auf den Michel gekauft hatte. Anna wärmte ihre Hände am Becher.

Er kannte sie aus der frühen Schulzeit in Lübeck. Anna war damals das Mädchen mit den langen, zum Zopf geflochtenen dunkelbraunen Haaren, mit der er sich anfreundete. Später, in der Teenagerzeit, interessierte er sich für andere Mädchen, und Anna ging es ebenso mit den Jungs. Nicht, dass er Anna unattraktiv fand. Es kam auch vor, dass er sie abcheckte, und ob sie das auch getan hatte, wusste er bis heute nicht. Aber dieser Zug war früh abgefahren, und er geriet endgültig außer Sichtweite, als sie ihre ersten Partner fanden.

Nach dem Abitur trennten sich ihre Wege; Sebastian absolvierte Bundeswehr und Polizeiausbildung, Anna machte eine Ausbildung zur Fotografin in München. Sie heiratete einen zwanzig Jahre älteren Mann und bekam Leo. Dann wurde sie von ihrem Ehemann verlassen, sie kehrte zurück nach Hamburg und zog mit ihrem kleinen Sohn bei Sebastian ein. Es war nur als Übergangslösung gedacht, aber inzwischen hatten sich die drei an die kleine Gemeinschaft gewöhnt, und von einer neuen Lösung war schon lange keine Rede mehr.

[23] Vielleicht hatten Anna und Sebastian instinktiv alles Erotische von ihrer Beziehung ferngehalten, aus Angst, die Vertrautheit und Geborgenheit zu gefährden. Dass sie kein Liebespaar waren, machte das Zusammenleben mit Anna leichter, dachte Sebastian manchmal. Aber vielleicht war das nur oberflächlich betrachtet so. Er ertappte sich dabei, dass er Hemmungen hatte, ihr von anderen Frauen zu erzählen, von Wünschen und Sehnsüchten, geschweige denn von einem One-Night-Stand. Umgekehrt wollte er auch nicht so genau wissen, mit welchem Mann sie sich eine Zukunft vorstellen könnte. Grundsätzlich war ihre Lebenskonstellation aber wirklich gut. Zu Veränderungen mussten jedoch auch sie vielleicht immer bereit bleiben.

Sebastian und Leo hatten sich auf Anhieb gut verstanden. Auch wenn der Junge ihm manchmal auf die Nerven ging, zum Beispiel wenn er im Wohnzimmer auf dem Klavier übte, beschäftigte Sebastian sich gerne mit ihm. Er brachte ihn zur Schule oder zum Schwimmtraining, sie führten Gespräche und spielten Karten. In letzter Zeit hatte Sebastian öfter daran gedacht, wie merkwürdig das Leben spielte: Er, der nie einen Kinderwunsch verspürt hatte, war durch Verschiebungen im Leben anderer zu so etwas wie einem Vater geworden. Und das war etwas, was er eigentlich nicht mehr ändern wollte.

Anna trank von ihrem Tee und seufzte leise. Sebastian setzte sich zu ihr an den Küchentisch. »Erzähl, was ist los?«

»Ich habe vorhin Céline getroffen, die Mutter von Anton. Ich habe dir von ihr erzählt.«

»Die Fotografin.«

[24] »Sie hat mir wieder vorgeschwärmt, wie toll ihr Job ist.«

Sebastian tröpfelte etwas Milch in seinen Tee. Jetzt geht das wieder los, dachte er. Sie neidet einer anderen Frau, dass sie weitergekommen ist, aber sie selbst bewegt sich einfach nicht.

»Ich dagegen weiß nicht mal mehr, wo meine Kameraausrüstung ist.«

»Im Keller. Du kannst sie jederzeit raufholen und loslegen.«

»Du stellst dir das immer so einfach vor. Aber nach meiner Ausbildung habe ich doch nie etwas Richtiges zustande gebracht.«

Sebastian nippte an seinem Tee. Er wusste, es war besser, Anna erst einmal in ihrem Unglück baden zu lassen, bis sie genug davon hatte.

»Mit den Männern ist es genauso«, fuhr sie fort, »mein letztes Date – wie lange ist das eigentlich her? Ich bin total aus der Übung.«

»Dann beweg dich. Von allein passiert nichts. Es gibt nichts Gutes, außer –«

»Danke für den Spruch!«

»Aber so ist es.«

»Das musst du gerade sagen. Du hast deinen Job, löst deine Fälle, aber bei jedem neuen Fall, der dir auf den Tisch kommt, geht dir auch wieder die Muffe.«

»Worüber reden wir hier eigentlich? Über meinen Job oder deinen Traumtypen? Der klingelt nun mal nicht an der Tür, während du hier die Kerzen anzündest.«

Anna rührte still in ihrem Tee. Es war immer wieder dasselbe: Zuerst kam die Hoffnung, das große Ziel zu erreichen, [25] darauf folgten Zweifel und dann die große Depression – das alles innerhalb weniger Minuten. Aber irgendwann kam der Moment, und sie würde doch noch handeln.

»Ich habe übrigens dem Babysitter Bescheid gegeben«, sagte Sebastian. Er wühlte in seiner Hosentasche.

»Wozu?«, fragte Anna.

Er legte zwei Karten auf den Tisch.

Anna zog sie mit den Fingerspitzen zu sich heran. »Tainted Love.« Sie sah ihn fragend an. »Wie bist du an die Karten gekommen?«

»Das kam so –«

»O mein Gott!«, unterbrach ihn Anna und stand auf. »Das ist ja Wahnsinn. Die Premiere! Was soll ich denn anziehen?«

Eine rhetorische Frage, denn sie ließ sich sowieso von niemandem dreinreden.

»Ich bin froh, dass es dir wieder bessergeht«, sagte Sebastian.

[26] 2

Eingehüllt in einen dunklen Pelzmantel stand Linda auf der Terrasse ihrer Suite im weißen Hotel Atlantic und schaute auf die Außenalster. Sie zog ein Etui hervor, mit der anderen Hand ein goldenes Feuerzeug. Eine kleine Flamme, die Zigarette glühte auf. Linda blies den Rauch in die kalte Luft, in der Schneeflocken wie Reste eines zerfetzten Taschentuchs umherschwebten.

Noch ein paar Minuten, bis man sie abholte. Eine Limousine würde vor dem Hotel warten, der Fahrer die Tür aufhalten. Wer hätte das gedacht, damals, in Manchester?

Linda sah sich und Melissa, in den Anfängen ihrer Freundschaft: die beiden jungen Verkäuferinnen in weißen Kitteln mit den blauen Applikationen am Kragenaufschlag. Das Kaufhaus Delbridge im Zentrum der Stadt. Linda und Melissa in der Abteilung für Haushaltsgeräte. Melissa, irgendwo zwischen den Regalen, räumte ein und aus, Linda beriet die Kunden. Manchmal pries sie ein Bügeleisen an, eine Haushaltsmaschine, eine Salatschüssel. Wenn sie wollte, konnte sie Ehrgeiz entwickeln.

Die Wochenenden verbrachten die beiden oft mit Scott – einem Frisör und engen Freund Melissas. Im Schneidersitz hörten sie Singles und Langspielplatten: Depeche Mode, damals eine neue Gruppe aus Essex – die gab es heute noch; [27] George Michael und Andrew Ridgeley, die beiden süßen Jungs von Wham!; Bananarama, drei Zicken, die aber ganz gut tanzen konnten. Ein paarmal waren sie im Konzert, manchmal in der Disco gewesen, ansonsten war in Lindas Erinnerung alles ziemlich grau. Melissa und Scott glaubten damals, Manchester sei die Welt, aber Linda, die etwas älter war, hatte immer rausgewollt, ein aufregenderes Leben führen. Und was war aus ihren Plänen geworden? Erst mal nichts. Und später: auch nichts. Abteilungsleiterin wurde sie, immerhin, aber das Kaufhaus hieß noch immer Delbridge, und es stand noch immer im Zentrum der Stadt. Geheiratet hatte sie nicht, weil sie immer auf den Richtigen gewartet hatte. Von Kindern wollte sie gar nicht erst reden.

Irgendwann hatte sie begonnen, kleine Geschichten zu schreiben, nur für sich. Später hatte sie es gewagt, Texte an Verlage zu senden. Die Erfolgsquote? Eine runde Null. Nein, das war kein aufregendes Leben. Nun, dann würde sie eben in ihrer kleinen, engen Welt ein verdammtes kleines, enges Leben führen. Sie hatte sich damit abgefunden.

Aber es gibt im Leben Momente, die eine unsichtbare Magie in sich tragen. Und oftmals zeigt sich das geheimnisvolle Zusammenspiel feiner Schicksalsfäden erst zu einem späteren Zeitpunkt. Melissas Geschenk von einst. Im Sommer 1981 schenkte Melissa ihr die brandneue Maxi-Single Tainted Love. Jahre später – nein, inzwischen waren es Jahrzehnte – kramte Linda sie wieder hervor. Es war an ihrem neunundvierzigsten Geburtstag. Linda feierte allein, mit einer Flasche Sekt. Sie holte den alten Plattenspieler aus dem Schrank, legte die Maxisingle auf, hörte sie immer wieder von neuem und tanzte allein. Schließlich lag sie auf dem [28] Bett und schrieb und schrieb und schrieb, eine ganze Nacht lang, den ganzen Sonntag hindurch und noch eine Nacht. Wie in einem Rausch entstand das Buch zu einem Musical, in dem sie alle ihre Lieblingslieder aus den achtziger Jahren unterbrachte. Am Ende gab sie dem Manuskript den Titel Tainted Love.

Das war inzwischen auch schon drei Jahre her. Und dann wurde Linda von einem Sog erfasst. Von Manchester hatte eine Welle sie über London – wo ihr Musical inzwischen täglich im Westend vor ausverkauftem Haus spielte – bis nach Hamburg getragen, aus ihrer Zweizimmerwohnung mit niedrigen Decken ins weiße Grandhotel; aus dem Leben einer Verkäuferin in eine Welt, wo sie die Anweisungen erteilte, wo ihre Kreativität gefragt war, mit der sie Menschen erfreute, Geld in Bewegung setzte, Arbeitsplätze sicherte, und die – nicht zu knapp – auch ihr eigenes Konto auffüllte. Es war wie in einem Traum. Es war sogar besser.

Linda summte, zog ein letztes Mal an der Zigarette und schnippte sie ins Dunkel. Das Theatermanagement hatte angeboten, ihr eine Begleitung zu schicken, aber Linda wollte die Stunden und Minuten vor der Premiere alleine auskosten. Die Zeit vor der Premiere ist eine besondere, eine innige Zeit.

Der Fahrer grüßte freundlich und hielt ihr die Tür auf. Ohne zu antworten, darauf bedacht, ihren Pelz unbeschadet in das Auto zu hieven, stieg Linda ein. Die Fahrt führte sie über die Kennedybrücke und den Holstenwall nach Sankt Pauli. Unterwegs sah sie am Straßenrand Litfasssäulen und Plakatwände, die ihre Schöpfung annoncierten: Tainted Love – das Musical. Und darunter, etwas kleiner: von Linda Berick. [29] Grüße, hier und dort, die ihr ein Gefühl von Geborgenheit spendeten.

Der hellerleuchtete Eingang des Hans-Albers-Theaters war schon von weitem zu sehen. Die Limousine näherte sich langsam. Zwischen den Silhouetten der Besucher hindurch leuchtete der rote Teppich. Blitzlichtgewitter, laute Rufe, damit sich die Prominenten den Fotografen zuwandten.

Linda stieg aus. Die Aufregung war spürbar wie die feine Gischt, die einem entgegenweht, wenn man sich der Brandung des Meeres nähert.

Vor ihr stöckelten zwei Schauspielerinnen. Junge Dinger, die den Schaulustigen und Fotografen ihre zierlichen und perfekten Körper in so dünnen Kleidern vorführten, als wäre Sommer. Linda behielt ihren Mantel an. Ein paar Sekunden genehmigte auch sie sich auf dem roten Teppich, umschwirrt von grellweiß aufflackernden Lichtern, Augenblicke des Hochgenusses, und für einen Moment vergaß sie: Wer oben stand, war auch bedroht.

Im Foyer Männer in Smoking und dunklem Anzug und Frauen in fließenden Abendkleidern. Händeschütteln, Küsschen, Nicken und Hallos. Viele der Gäste gehörten zur Branche. Theaterleiter, Geschäftsführer, Schauspieler, Produzenten, Choreographen, Casting- und Musikdirektoren, Kostümdesigner, Make-up-Spezialisten, Regisseure, Gesangslehrer, Musiker, Presseleute.

Im Saal suchten einige Gäste noch ihren Platz. Die Antwort auf die Frage, wer im europäischen Musicalgeschäft derzeit gut im Rennen war, zeigte sich an der Platzzuweisung: [30] Die Wichtigsten saßen mittig in Reihe sechs, von wo aus man den besten Blick auf die Bühne hatte. Die Übrigen gerne in ihrer Nähe.

Linda begrüßte die Honoratioren und setzte sich dann auf ihren bevorzugten Platz in der ersten Reihe, Mitte.

Ruhe kehrte ein. Endlich Ruhe. Die Sekunden, bevor der Vorhang sich hob. Linda strich sanft über die Brosche an ihrem Abendkleid, ein Geschenk, das sie – wie die Perlenkette – sich selbst gemacht hatte.

Der junge Kommissar vom Vormittag kam ihr plötzlich in den Sinn. Er saß wohl irgendwo da oben im Rang. Fast hätte sie dem Impuls nachgegeben, einen Blick hinauf zur Kuppel zu werfen, aber sie beherrschte sich. Sie atmete einmal tief durch und starrte auf den schweren blauen Vorhang. Das Licht im Saal wurde langsam heruntergefahren. Dunkel und dunkler.

Plötzlich eine Hand auf ihrer Haut.

»Sorry«, flüsterte der Mann, »the plane was late.«

»It’s okay, Duncan. You are just in time…«

Er war einer der Ehrengäste an diesem Abend, für den der Platz neben ihr reserviert war. Er spielte die Hauptrolle von Tainted Love im Royal Court Theatre in London und war für die Deutschlandpremiere nach Hamburg eingeflogen worden. Eine geschickte Werbemaßnahme.

Ein Kuss. Linda spürte den kühlen, feuchten Film, den seine Lippen auf ihrer Wange hinterlassen hatte. Sie wollte ihn mit dem Finger entfernen, hielt aber inne – es wäre nicht unauffällig zu machen gewesen.

Duncan tippte sie noch einmal an und wies ans Ende der Reihe. Das kleine Mädchen, das dort in einem Rollstuhl saß, [31] spielte mit einem leuchtenden Stab, in dessen Flüssigkeit glitzernde Sternchen rieselten.

»Süß, deine Tochter«, flüsterte Linda und winkte dem Mädchen mit den Fingern zu.

Der Vorhang ging auf. Eine Disco, Menschen mit toupierten Frisuren, neonfarbene Blazer, breite Schulterpolster, Hosen in Karottenform, es roch förmlich nach Haarspray. Die achtziger Jahre. Aufregend und verheißungsvoll. Und unwiederbringlich vergangen.

Linda lächelte wehmütig.

[32] 3

Saaldiener öffneten die Türen, Menschen strömten hinaus zu Bars, Toiletten, nach draußen, zum Rauchen; zwanzig Minuten Pause.

Anna prüfte, ob sich das goldene Bändchen noch an ihrem Handgelenk befand, das der Typ mit Headset ihnen am Eingang angelegt hatte. Sie waren heute »Very Important Persons«, eingeladen von der Autorin und Co-Produzentin persönlich. Anna meinte zu wissen, wo der VIP-Bereich war, und ging vor. Sebastian fand, dass sie in ihrem schlichten blauen Kleid irgendwie süß aussah. Dazu hatte sie eine Halskette aus roten Korallen umgelegt – typisch Anna – und natürlich die großen Creolen, die ihr an den Ohren baumelten. Er dagegen: langweiliger dunkler Anzug, derselbe wie seit Jahren, einer von der Sorte, die für nahezu jede Gelegenheit okay war.

Jetzt standen sie zwischen anderen »Very Important Persons«, in einem von Seilen eingefassten Bereich. »With the kids in America…«, summte Anna vor sich hin. Es war das Schlusslied vor der Pause gewesen.

»Ich kannte fast jedes Lied«, sagte Anna. »Du auch?«

Sebastian nickte unentschieden. Self Control, Careless Whisper, People are People, Baby Jane, Fade to Grey,er kannte sie alle und mochte sie zum Teil. Aber ein besonderer Fan der Musik aus den Achtzigern war er nicht.

[33] Er ließ den Blick wandern und sah, dass durch die Menge die Autorin auf sie zukam.

»Ich hoffe, Sie bereuen Ihre Entscheidung nicht«, sagte Linda Berick.

»Wir amüsieren uns bestens«, antwortete Sebastian. »Darf ich vorstellen: Anna Schwaninger.«

Linda Berick schüttelte Annas Hand und schaute zwischen den beiden hin und her, als prüfte sie, in welcher Beziehung sie zueinander standen.

»Sind Sie zufrieden mit der Aufführung?«, fragte Sebastian.

»Aufführung?«, wiederholte die Autorin, »das soll eigentlich Show sein.«

»Das ist es auch«, rettete Anna, »ich finde es grandios.«

Linda Berick nahm das Lob lächelnd an. »Wenn es sich um das eigene Stück handelt, bangt man von Minute zu Minute, dass alles gutgeht. Natürlich passieren immer Malheurs.« Die Frau zögerte, als würde sie abwägen, ob es in Ordnung sei, den fremden Gesprächspartnern ein Beispiel zu verraten. »Heute, zum Beispiel«, sagte sie dann, »hat unsere Hauptdarstellerin Olga zweimal ihren Einsatz verpasst. Und der Hauptdarsteller Max-Andreas hat im Lied Born to be alive