Ein gutes Leben ist die beste Antwort - Friedrich Dönhoff - E-Book

Ein gutes Leben ist die beste Antwort E-Book

Friedrich Dönhoff

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Beschreibung

Lange hat Jerry Rosenstein geschwiegen. Doch auf einer Reise durch Holland und Deutschland erzählt er dem 40 Jahre jüngeren Friedrich Dönhoff seine Geschichte. In der hessischen Provinz geboren, wuchs Jerry in Amsterdam auf, bis er im Alter von 15 Jahren deportiert wurde und nach Auschwitz kam. Mit viel Glück und dem richtigen Instinkt hat er diese Zeit überlebt. Danach wollte Jerry nur noch eins: frei sein. Und das hat er in vielerlei Hinsicht auch geschafft.

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Seitenzahl: 138

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Friedrich Dönhoff

Ein gutes Leben istdie beste Antwort

Die Geschichte desJerry Rosenstein

Die Erstausgabe erschien 2014 im Diogenes Verlag

Nachweis der Fotos im Bildteil:

›Synagoge von Bensheim‹ und ›Adolf Hitler besucht Bensheim‹

Quelle: Archiv Stadt Bensheim ›New York, Manhattan‹:

Freighter ships moving up the East River past skyscrapers, 1946,

Copyright © Andreas Feininger/Time Life Pictures/Getty Images

Alle anderen Fotos stammen aus Jerry Rosensteins

und Friedrich Dönhoffs Privatarchiven

Covermotiv: Foto aus Jerry Rosensteins Privatarchiv

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 25724343 7 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 25760448 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

San Francisco, im Juni 2013. Der Wecker auf dem Nachttisch im Gästezimmer zeigt sieben Uhr. Ich stehe auf, gehe leise in die Küche und drücke den Schalter an der Kaffeemaschine, wie Jerry es mir gestern Abend erklärt hat. Der Apparat beginnt zu röcheln.

In der Diele ist das Pendel der großen Standuhr zu hören. Aus dem anliegenden Esszimmer antwortet die kleinere Wanduhr mit ihrem hellen, aufgeregten Ticken. Der Esstisch ist wie in einem guten Hotel mit Tellern, Servietten, Besteck und geschliffenen Gläsern gedeckt.

Plötzlich wird ein Schlüssel von außen ins Schloss der Wohnungstür gesteckt. Foxy, der kleine Mischlingshund, hebt den Kopf. Wie von Geisterhand öffnet sich die Tür, aber nur einen Spaltbreit. Der Hund trippelt los, läuft über Parkett und Teppich, schlüpft nach draußen und verschwindet. Geräuschlos geht die Tür wieder zu.

Ich rühre einen Löffel Zucker in den Kaffee, [6] nehme etwas Milch und gehe mit meinem Becher hinüber ins Wohnzimmer. Die Strahlen der Morgensonne fallen auf Sofa, Kommode und Tisch, auf gerahmte Bilder und verlieren sich in dem langen Gang, der in den hinteren Teil der Wohnung führt. Draußen, auf der Jackson Street, fährt mit leisem Brummen ein Auto vorüber.

Ich lese im San Francisco Chronicle die Lokalnachrichten, als sich wieder der Schlüssel im Schloss herumdreht. Wieder öffnet sich lautlos die Tür. Durch den Spalt schlüpft der Hund herein. Er läuft zielstrebig über den Teppich in den Gang, an der weißen Holzvertäfelung entlang. Als er hinten links durch die immer offene Schlafzimmertür verschwindet, hat der unsichtbare Dogwalker die Haustür schon wieder geschlossen.

Jerrys Schlafzimmer ist quadratisch geschnitten und hat ein Fenster mit Blick in den Garten. Über dem Bett hängt ein Kunstwerk aus Bambusstäben, auf der breiten Matratze liegt eine Daunendecke. Ein kurzer Arm ragt hervor, am anderen Ende ein Bein und ein Fuß, der in einem Wollstrumpf steckt. Foxy springt auf den ledernen Hocker, von dort auf die Matratze und rollt sich neben seinem Herrchen zusammen.

Für Jerry ist es eine schwere Stunde. Gegen acht Uhr morgens fällt er in den tiefen Schlaf, der ihm [7] in der Nacht nicht vergönnt ist. Aber dann kommen auch die Alpträume, jeden Morgen, bis er gegen neun Uhr schlagartig erwacht.

Ich höre, wie er die Jalousien hochzieht und über den Flur in das gegenüberliegende Zimmer tritt. Im Pyjama geht er zum Schreibtisch, setzt sich die Brille auf, checkt zuerst die Mails von Freunden aus anderen Ländern und Zeitzonen, überfliegt dann die Onlinenachrichten und informiert sich über die Aktienkurse in New York, wo man bereits drei Stunden voraus ist. So macht er es jeden Morgen.

Jerry schaut hoch. »Hallo!«, sagt er. »Gut geschlafen?« Er schiebt den Stuhl zurück, steht auf und klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter. »Die erste Nacht ist immer die schlimmste, morgen hast du dich schon an die neue Zeit gewöhnt.«

In der Küche holt er Müsli und Milch aus dem Schrank, legt Kiwi, Äpfel und Bananen bereit. Die runde Teedose aus Messing schiebt er beiseite, am Morgen braucht er Kaffee. Er hat gerade die Maschine bedient, als das Telefon klingelt.

Eine Frauenstimme tönt aus dem Lautsprecher: »Guten Morgen, Jerry! Wie geht es dir?«, fragt sie auf Englisch.

Es ist Lisa, eine junge Ärztin und enge Freundin, die regelmäßig anruft und sich nach seinem Befinden erkundigt. Jerry plagen oft heftige [8] Rückenschmerzen, und vor ein paar Monaten war er ernsthaft krank.

»Ich habe einen Freund aus Deutschland zu Besuch«, sagt Jerry. »Wir fahren heute mal ein bisschen in der Stadt herum.«

»Oh, wirklich?«, knistert die Stimme durch den Raum. »Hört sich gut an!«

»Ja, endlich mal jemand, der sich für mein Leben interessiert.«

»Komm schon, Jerry. Wenn man etwas über dich erfahren will, weichst du doch meistens aus. Vor allem, wenn es um früher geht.«

»Ich mache ja nur Witze«, sagt Jerry. Aber tatsächlich habe er neuerdings Spaß daran, über sein Leben zu sprechen. »Wahrscheinlich weil es die letzte Gelegenheit ist.«

»Jerry!«

Die beiden plaudern noch ein paar Minuten, dann verabschieden sie sich voneinander.

Eineinhalb Stunden später fahren wir in Jerrys BMW über die steilen Straßen und Hügel von San Francisco. Ich sitze bequem auf dem Beifahrersitz, Foxy balanciert auf meinen Knien und schaut geradeaus zur Windschutzscheibe hinaus. Der Hund ist immer dabei, wenn Jerry unterwegs ist, bleibt aber meistens im Wagen. »Museen findet er [9] langweilig, Fitnessstudios mag er nicht, und in den Supermarkt darf er nicht.«

Wenn der 86-jährige Jerry deutsch spricht, sind manche Worte amerikanisch gefärbt; andersherum hat sein Englisch einen feinen deutschen Akzent. In seiner Kindheit wurde er Gerhard genannt, später wurde daraus Gerald und heute nennen ihn alle nur noch Jerry.

Vierundsechzig Jahre ist es her, dass er nach San Francisco zog. Eigentlich hatte er damals nur vor, sich die Stadt einmal anzusehen, aber dann wusste er sofort, dass er hier leben wollte – dass er sich nach allem, was er hinter sich hatte, in dieser liberalen Stadt endlich frei fühlen könnte. Als jüdischer und schwuler junger Mann, der ein neues Leben anfangen musste. Gegen den Willen der Mutter, aber mit dem Segen des Vaters zog der damals Zweiundzwanzigjährige im Herbst 1949 aus New York und der elterlichen Wohnung an die Westküste.

Wir spazieren durch den Financial District, entlang der California Street. Jerry geht wie immer schnell, hält die Arme ein wenig vom Körper ab, als würde er auf einem schmalen Steg balancieren. Zur Jeans trägt er ein Hemd, einen dünnen Pullover und schwarze Halbschuhe. Seine silbergrauen Haare sind kurz geschnitten. Mit 1,65Metern ist er [10] nicht gerade groß. Vor einem Gebäude aus hellem Klinkerstein bleibt er stehen.

Haus Nummer 150. Hier befand sich einmal die Firma Fidelity Trading Company – Import-Export, hier klingelte er an jenem Montag im Oktober 1949 auf gut Glück und fragte nach einem Job. Er wurde Assistent des Managers, der für den Export von Lebensmitteln zuständig war. Sein erstes Gehalt war klein, aber damals konnte man in San Francisco auch mit wenig Geld gut durchkommen. Jahre später wechselte er die Firma, stieg auf, machte Karriere und wurde mit dem Handel von Früchten, Sardinen und Holz wohlhabend.

Jerry fährt ruhig, lenkt mit einer Hand, erzählt von der Oper, von Museen, die er oft besucht. Ohne Musik könnte er nicht leben, und es verstreicht keine Woche, in der er nicht zu einem Konzert geht. »Leider kann ich kein einziges Instrument spielen«, sagt Jerry, »und singen schon gar nicht.«

Diejenigen, die Talent haben, fördert er. Er war im Aufsichtsrat des Merola Opera Program, das sich um den musikalischen Nachwuchs kümmert, und steht dem Förderungsprogramm heute als Berater zur Verfügung. Außerdem ist er Ehrenmitglied im Kuratorium der San Francisco Performances. Er hält sich an das jüdische Gebot der Tzedaqa, der Wohltätigkeit, und stiftet einen Teil seiner Einkünfte für [11] verschiedene Einrichtungen in San Francisco. Er findet, das ist er der Stadt schuldig, die ihn einst gerettet hat.

An der Ecke 16th und Dolores Street steht das hellgrüne Gebäude der Congregation Sha’ar Zahav, der progressiven reformierten Synagoge, die 1977 gegründet wurde und auch The Gay Synagogue genannt wird. Jerry ist Mitglied. »Nicht aus religiösen Gründen, sondern aus politischen«, sagt er.

Kurz darauf kommen wir an seinem Fitnessstudio vorbei. Die Rückenschmerzen plagen ihn, seit er damals die Zementsäcke schleppen musste. Das war in seinem ersten Leben. Mit Hilfe der Übungen hat er die Beschwerden einigermaßen im Griff.

»Magst du Schweinemedaillons?«, fragt er und schaut mich von der Seite an.

»Ja. Aber isst du gar nicht koscher?«

»Die meisten Juden in San Francisco essen nicht koscher und sind auch sonst nicht besonders fromm. Wir sind hier ein bisschen liberaler als an der Ostküste.«

Im Supermarkt schiebt er den riesigen Einkaufswagen durch die Gänge, packt Kartoffeln ein, Bohnen und Zwiebeln, Fleisch und vieles mehr. Am Ende noch zwei Flaschen kalifornischen Weißwein.

»Morgen kommt Erika«, sagt er, während wir an [12] der Kasse warten. Die Haushaltshilfe kocht Gemüse für mehrere Tage und schneidet Zwiebeln. Feingehackte Zwiebeln, erklärt Jerry, behalten über viele Tage ihren Geschmack, wenn man sie mit etwas Olivenöl beträufelt und in einer luftdicht schließenden Box verwahrt. Wie er auf diesen Trick gekommen ist? Er zuckt die Achseln. Einfach ausprobiert.

Wir fahren nach Crissy Field, eine Grünanlage, die direkt am Wasser liegt, an der Bucht von San Francisco. Foxy springt aus dem Auto, trippelt über den Rasen. Wir setzen uns auf eine Bank. Menschen schlendern über die Promenade, Jogger tragen neonfarbene Stirnbänder. Ein junger Mann im ärmellosen T-Shirt zeigt seine muskulösen Oberarme.

Jerry schaut ihm hinterher. »Hübscher Kerl«, sagt er. »Hast du das Tattoo gesehen? Sind ja bei jungen Leuten sehr in Mode.«

Er kneift die Augen zusammen und schaut in den Himmel, wo kleine weiße Wolken im Blau stehen.

»Hast du auch ein Tattoo?«, fragt er mich.

»Nein, ich habe mir nie eines machen lassen. Du?«

Jerry schüttelt den Kopf. »Nie. Ich habe mir nur eines wegmachen lassen.«

[13] »Wie denn das?«

»Na, die Nummer.« Er zeigt mir seinen Unterarm, auf dem eine kleine Narbe zu sehen ist. »Meine Häftlingsnummer von Auschwitz.«

»Oh. Natürlich.«

»Kurz nach dem Krieg habe ich sie mir entfernen lassen. Ich habe sie mir ja nicht ausgesucht. Und sieht ja auch wirklich nicht schön aus.« Jerry schaut aufs Wasser. »Außerdem hätte es mich ständig an die Vergangenheit erinnert. Und das wollte ich nicht.«

[14] Bensheim, am 21.Mai 1927. An diesem Tag werde ich im südhessischen Bensheim an der Bergstraße geboren. Ich bin das dritte Kind und der dritte Sohn in der Familie. Meine Mutter, Sophie, hätte vielleicht lieber eine Tochter, aber das würde sie niemals zugeben. Sie liebt mich, und sie ist zufrieden mit ihrem Leben in der Kleinstadt, wo die Familie seit über zweihundert Jahren und vielen Generationen lebt. Mein Vater Max stammt aus dem nordhessischen Herleshausen und hat in Bensheim eine Polster- und Möbelfabrik aufgebaut. Die Geschäfte laufen gut, und meine Eltern können sich ein Haus mit großem Grundstück am Stadtrand leisten.

Bei der Arbeit im Haushalt hilft Luise, das Hausmädchen, und für uns drei Buben ist noch ein Kindermädchen da: Erna. Sie bringt uns morgens zur Schule, überwacht am Nachmittag die Hausaufgaben und bringt uns abends zu Bett. Unsere Eltern sind gläubig und fromm, bei uns wird koscher gegessen, und freitagabends und samstagvormittags gehen wir zum Gottesdienst in die Synagoge. Zur Belohnung dürfen Hans, Ernst und ich mit Erna samstags, nach der Synagoge, ins Café an der [15] alten Wassermühle gehen, wo es den besten Käsekuchen gibt.

Unser Haus liegt an einem Hang, direkt an der Darmstädter Straße, die von Heidelberg über Bensheim bis nach Darmstadt führt. Im Sommer spielen wir in einem riesigen Garten voller Bäume. Oft kommen Nachbarskinder zu Besuch. Im Winter fahren wir Schlitten und bauen Schneemänner. Schäferhund Bruno ist meistens dabei. Er ist ein friedliches Tier, aber eines Tages treiben wir es zu wild, und er beißt meinen Bruder in die Hand. Von da an sind wir vorsichtiger.

Ich bin sechs Jahre alt, als die Eltern beginnen, miteinander zu flüstern. Mutter ist oft nervös und mit den Gedanken woanders, Vater fährt ständig weg. Er sei in Holland, heißt es. Holland – ich habe keine Ahnung, wo das ist, aber es klingt märchenhaft.

Irgendetwas muss passiert sein. Obwohl Hans und ich schon alleine zur Volksschule gehen durften, begleitet uns jetzt plötzlich wieder das Kindermädchen. Erna fasst unsere Hände fester als früher, und wir gehen schnell. Sie sagt, so sei es sicherer, aber sie sagt nicht, warum. Unterwegs begegnen wir Nachbarn und Bekannten, von denen uns manche nicht mehr grüßen. Ernst soll jetzt nicht mehr auf das Gymnasium in der Wilhelmstraße gehen, [16] und als ich frage, warum, heißt es: Es geht ihm dort nicht gut. Er wechselt auf eine Schule in Darmstadt und fährt jeden Morgen in aller Frühe mit dem Zug. Erna bringt ihn zum Bahnhof und holt ihn ab, wenn er mittags zurückkommt. Niemand von uns Kindern darf mehr allein durch Bensheim gehen. Es ist zu gefährlich, heißt es. Aber warum das so ist, das sagt mir keiner. Ich sei zu jung, um das zu verstehen.

Am 20.März 1935 – ich bin schon fast acht Jahre alt – herrscht in der ganzen Stadt eine riesige Aufregung und Vorfreude. Die Stimmung ist ansteckend. Die Straßen sind geputzt und geschmückt, überall flattern Fahnen. Am Straßenrand und auf den Gehwegen versammeln sich begeisterte Menschen. Sie freuen sich, weil der Führer kommt. Auf seinem Weg von Heidelberg nach Darmstadt wird er auch durch Bensheim fahren und den Bürgern zuwinken.

Der Name des Führers ist mir geläufig, denn die Darmstädter Straße, die an unserem Haus vorbeiführt, ist erst kürzlich in Adolf-Hitler-Straße umbenannt worden. Und dieser Herr Adolf Hitler wird nun persönlich auf dieser Straße direkt an mir und unserem Haus vorbeifahren.

Ich warte mit den anderen Menschen am Straßenrand. Dann endlich kommt das Auto. Es ist [17] groß, das Verdeck offen. Da steht der Führer. Die Leute rufen ihm zu, strecken den rechten Arm in die Höhe, ihm entgegen. Sie lachen, und einige müssen vor Glück weinen. Ich bin ganz erfüllt von diesem Erlebnis. Die Menge geht auseinander, und ich laufe zurück ins Haus.

Meine Mutter steht im Wohnzimmer.

»Ich habe den Führer gesehen!«, rufe ich stolz.

Mutter sieht mich an, wie sie mich noch nie angesehen hat.

Dann gibt sie mir eine schallende Ohrfeige.

[18] 2

Sommer 2013. Die Ohrfeige von Bensheim liegt fast achtzig Jahre zurück. Wir sind auf der Autobahn nach Amsterdam, die Sonne knallt durch die Windschutzscheibe, es ist warm. Jerry sitzt auf dem Beifahrersitz und hält eine Wasserflasche in der Hand, eineinhalb Liter. Wir haben sie vorhin an der Tankstelle gekauft. Wenn er nicht davon trinkt, hat er sie neben sich auf dem Sitz. Das Wasser, sagt er, sei »wirklich sehr, sehr gut«.

Jerry ist von San Francisco zu Besuch nach Europa gekommen. Kennengelernt haben wir uns im vergangenen Jahr über gemeinsame Freunde. Wir sind miteinander im Gespräch geblieben. Jetzt wollen wir zusammen auf den Spuren seiner Vergangenheit reisen. Auf den Spuren jener Zeit, als er und seine Familie verfolgt wurden.

Wir treffen uns in Hamburg, wo ich wohne und genau vierzig Jahre nach Jerry geboren bin, im Jahr 1967, in einer Zeit des Friedens. In meiner Familie gab es Anhänger wie Gegner der [19] Nationalsozialisten, und solche, die sich irgendwo dazwischen bewegten. Mich interessiert diese Zeit und der Umgang mit den Folgen. Bei Jerry kommt noch etwas hinzu. Ich frage mich: Wie schafft er es, ein Leben ohne Hass und Bitterkeit zu führen, wo er doch in jungen Jahren so viel Unmenschliches und Grausames gesehen und erlebt hat? Wie schafft er es, nach dem Holocaust den Menschen noch so zugewandt zu begegnen? »To survive the survival«, hat Jerry neulich auf Englisch gesagt – darauf komme es an: auf das Leben nach dem Überleben.

Unser erstes Ziel ist Amsterdam, die Stadt, die in Jerrys Leben eine große Rolle spielt. Links und rechts gleitet die Landschaft vorbei, vereinzelt Häuser, ein Mann auf einem Trecker. Hinter uns drängelt jemand mit Lichthupe. Ich lasse den Raser vorbei.

Jerry dreht an der Klimaanlage. »Sind wir schon in Holland?«, fragt er.

Ein grünes Verkehrsschild, ja, wir sind bereits in den Niederlanden – die Grenze haben wir gar nicht bemerkt. Die Landschaft, die bisher nur platt war, ist hier, im Nordosten, ein wenig hügelig.

»Das sind die holländischen Alpen«, sagt Jerry.

Die Autobahn führt in einen Tunnel, der nicht enden will. Als wir wieder ans Tageslicht kommen, sind wir plötzlich in Amsterdam.

[20] Wir müssen zum Museumsplein, dort liegt unser Hotel. Schmale Straßen, wenig Verkehr, überall Fahrradfahrer. »Das war schon früher so«, erinnert sich Jerry. In Amsterdam Auto zu fahren hätte schon vor dem Krieg als politically incorrect gegolten.

Er war seither ein paar Mal zu Besuch in der Stadt und kann sich gut orientieren. »Ist nicht schwer. Die Stadt ist so klein, da findet sich jeder schnell zurecht. – Da, fahr mal rechts.«

Nach einigen Umwegen haben wir das kleine Museum Square Hotel in der De Lairessestraat gefunden. Vor dem Hotel ist ein Parkplatz frei. Kein Wunder: An der Rezeption erfahren wir, dass der Stellplatz pro Tag 36Euro kostet. Jerry zieht die Augenbrauen hoch.