Der Finger Gottes - Andreas Franz - E-Book

Der Finger Gottes E-Book

Andreas Franz

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  • Herausgeber: Knaur eBook
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Der Finger Gottes von Andreas Franz: Spannung pur im eBook! Waldstein, eine kleine Stadt in Franken, wird von einer mächtigen Familie beherrscht, die auf ihrem Weg zu Geld und Macht vor nichts zurückschreckt.

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Andreas Franz

Der Finger Gottes

Roman

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Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Epilog
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FÜR INGE

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Prolog

Normalerweise machten sie es am Wochenende, in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Diesmal jedoch waren sie gezwungen, es auf einen anderen Tag zu verlegen, denn es ging das Gerücht, irgendein mieser Verräter habe der Polizei einen Tip gegeben.

Sie hatten sich eine Scheune auf dem alten Müllerhof für ihr Spektakel ausgesucht, etwa zwei Kilometer außerhalb von Waldstein, auf einem schon seit Jahren verlassenen Grundstück, das keinem gehörte und für das sich keiner interessierte.

Immer mehr kamen angerollt, Kombis, Transporter, aber auch ganz normale Autos, deren Kofferräume teils zu Käfigen umgerüstet worden waren. Grelle Scheinwerfer durchstachen die schwülheiße Nacht, Reifen knirschten durch den Sand, der durch hauchdünne Wolkenschleier scheinende Vollmond verwandelte Menschen in Schemen.

Schließlich parkten mehr als sechzig Fahrzeuge auf dem großen Platz vor der Scheune. Die Männer und Frauen, die ihnen entstiegen, unterschieden sich nur unwesentlich von anderen »normalen« Bürgern. Einige trugen tief ins Gesicht geschobene Hüte, Jeans, Karohemden und Stiefel, es war als paßten sie sich ihren Vorbildern aus Übersee an, die Gesichter ernst und verschlossen. Gespenstische Atmosphäre.

Kaum jemand sprach, fast alles geschah schweigend, die Begrüßung erfolgte durch Kopfnicken, nur selten fiel ein Name, und wenn dann nur flüsternd; Namen waren bei diesen Veranstaltungen tabu. Im Moment standen sie alle, Beteiligte und Zuschauer, unter einer Hochspannung, die sich erst in einigen Stunden entladen haben würde.

An diesem Ort trafen sie sich zum ersten Mal, und es würde auch das einzige Mal bleiben, fast nirgends taten sie es öfter als einmal, denn bereits beim zweiten Mal liefen sie Gefahr, aufzufliegen. Ihr Tun war verboten, strafbar, aber wer sich hier einfand, den scherte dies wenig, denn nur ignorante Sesselfurzer mit weißen Kragen und hochgebundenem Schlips konnten solche Scheißverbote erlassen. Kleinkarierte Büroärsche, die den ganzen lieben langen Tag nichts anderes zu tun hatten, als mit ihrer Nase im Rinnstein rumzuschnüffeln, um herauszufinden, wie viele verschiedene Arten Scheiße drin rumschwammen.

Verdammte Verbote! Verdammte Strafen! Aber hier, an den Ausläufern des Fichtelgebirges, war das Land groß und die Besiedlung noch dünn, und so manch ein Richter und Staatsanwalt bestechlich, und nicht selten traf man am Ort des Geschehens selbst einen Richter, einen Anwalt oder einen Polizisten an.

Ein Hund nach dem andern wurde von seinem Herrn aus dem Auto geholt, meist kleine, krummbeinige, eigens für solche Kämpfe herangezüchtete Pit Bulls, drahtige, kernige, weder Tod noch Teufel fürchtende Kreaturen.

Diese Kämpfe übten eine merkwürdige Faszination aus, sie hatten etwas Prickelndes, Magisches, das nur verstehen konnte, wer einmal dabeigewesen war, und das keiner je verstehen würde, der nur davon hörte. Fast schien es, als faszinierte viele nicht so sehr der Kampf selbst, sondern das bloße Dabeisein, dieses störrische Sich-den-Verboten-Widersetzen, vielleicht auch die Enge der Scheunen oder Baracken, die stickige Luft, der beißende Geruch, fast schon Gestank, aus Schweiß, Ausdünstungen, Blut, Tabak und billigem Fusel, der Schimmer der aufgewirbelten Sägespäne im matten Licht einer einsam von der Decke baumelnden Glühbirne, die Anfeuerungsrufe, das wilde Schreien und Stöhnen der Männer und Frauen, in das man wie unter Hypnose mit einstimmte, egal für welchen Hund man Partei ergriffen hatte, das Betrachten der erhitzten, geröteten Gesichter, dieses kurze Dazugehören zu einer ausgestoßenen, verachteten Gruppe.

Es war sinnlos, ihnen Vorhaltungen zu machen, erklären zu wollen, was sie taten, sei Tierquälerei. Bestenfalls schüttelten sie nur mitleidig oder abfällig grinsend die Köpfe – manch einer reagierte aber auch aggressiv. Denn sie behaupteten allen Ernstes, ihre Hunde zu lieben, und diese Liebe würde von ihren Hunden erwidert. Und beobachtete man sie, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, dann war man sogar geneigt, ihnen dies abzunehmen. Sie behandelten ihre Hunde wie das kostbarste Gut dieser Welt. Wahrscheinlich stimmte es sogar, und sie liebten ihre Hunde mehr als andere ihre Pudel oder Schäferhunde, und wahrscheinlich stimmte es auch, daß die meisten von ihnen fast ausschließlich von ihren Hunden geliebt wurden. Sie lebten für ihre Hunde, beteten für sie, stellten Kerzen für sie auf, opferten alles für sie, freuten sich wie kleine Kinder, wenn ihre Hunde wieder einmal gewonnen und genug Geld gebracht hatten, um die Tage bis zum nächsten Kampf zu überleben – und ergaben sich in stille, depressive, wehmütige, selten wütende Trauer, wenn ihr Vierbeiner den Weg alles Irdischen beschritten hatte.

Es waren häßliche Hunde. Häßlich für andere. Für ihre Besitzer jedoch waren es die schönsten Hunde der Welt. Keine rötlich glänzenden, aufpolierten Irish Setter, keine drahtigen Dackel, keine formvollendeten Schäferhunde, keine »gestylten« Afghanen. Dafür kraft- und mutstrotzende Kerle, perfekte Hunde, das Abbild jener Kreatur, die Eigenschaften besaß, die viele ihrer Besitzer selbst gerne besessen hätten.

Wie vor jedem Kampf verhinderten die Männer und Frauen auch in jener Nacht, daß die Hunde vor der Auseinandersetzung in dem mit Sägespänen gefüllten Ring miteinander in Berührung kamen. Denn so sehr sie ihre Herren liebten, so sehr haßten sie die eigene Art. Gezüchteter, wilder Haß. Haß, der sich in ihren Augen, im Fletschen ihrer Zähne, in der drohenden, angespannten Haltung ihrer krummen Beine widerspiegelte. Ein Haß, der nur ein Ziel hatte – töten. Und wenn es auf Kosten des eigenen Lebens war. Tötungsmaschinen.

Hinter einem am Nachmittag schnell hingezimmerten Stand wurden die Wetten für die Kämpfe entgegengenommen, Wetten war das zweitwichtigste bei diesen Zusammenkünften.

Scherer stand in der Tür und begutachtete argwöhnisch jeden, der an ihm vorbei die sich zusehends füllende Scheune betrat. Noch war der Ring leer, doch nicht mehr lange, bald war es soweit, bald würden sie sich in den Spänen wälzen, Pit Bulls, Mastinos und andere, sich ineinander verbeißen, Blut und Schleim würden auf den Boden tropfen, die Späne zu blutig-schleimigen Klumpen verkleben, es würde von den Wänden widerhallen, das Geschrei, Gejohle, das Fluchen, das Stöhnen und das »Los« des Schiedsrichters, der mit diesem Kommando und dem Senken des Arms den ersten Kampf freigeben würde.

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Kapitel 1

Er hatte aufgehört zu wippen. Das einzige, was sich noch bewegte, war der von einem fleckigen, blau-rot karierten Hemd bedeckte Brustkorb, der sich langsam hob und wieder senkte, und sein linker Mittelfinger, der in unregelmäßigen Abständen zuckte. Wie jeden Mittag etwa um die gleiche Zeit war er in einen tiefen Schlaf gesunken, aus dem er erst nach zwei oder drei Stunden erwachen würde. Wenn er schlief, störte ihn nichts, weder das Knarren der morschen Verandabohlen unter seinem Schaukelstuhl, noch das Windrad in seinem verwahrlosten Garten, das sich quietschend drehte, angetrieben von einem heißen Südwind, der vereinzelt winzige Staubfontänen vor sich her durch die Gassen trieb.

Die Straße lag ausgestorben, kein Kind, keine Katze, kein streunender Hund, jedes Lebewesen schien das Ende der Mittagshitze abzuwarten. Noch war der Horizont eine milchige, flimmernde, beinahe undurchsichtige Wand, hinter der schemenhaft im flirrenden Dunst die Höcker des Fichtelgebirges im Osten, die des Frankenwaldes im Westen aus dem Boden ragten, die seit Wochen die Erde verbrennende Sonne hatte etwas Lebensfeindliches.

Ein vom Supermarkt kommender alter Lieferwagen passierte laut tuckernd die staubige Straße in Richtung Hof, wenig später gefolgt von Brackmann, dem Polizisten, der in seinem klapprigen Opel eine gemächliche Runde durch den jetzt einer Geisterstadt gleichenden Ort drehte. Die wenigen Geschäfte hatten, bis auf den Supermarkt, bis drei Uhr geschlossen, der Krämerladen von Frau Olsen, die Gärtnerei, der Uhrmacher, der Friseur, die Filiale der Volksbank Hof, in der gleichzeitig auch die Post untergebracht war, die Apotheke und die wenigen anderen Läden, die für einen kleinen, abseits jeder größeren Ansiedlung gelegenen Ort wie Waldstein unbedingt nötig waren.

Lediglich Toni hatte seine Kneipe, die genau gegenüber vom Rathaus lag, geöffnet, wie jeden Tag von morgens um neun bis Mitternacht. Toni stand hinter dem Tresen, ein kleiner, gemütlicher, eher stiller Mann mit Halbglatze und Kugelbauch, die Augen hinter einer schmalen, leicht getönten Brille versteckt, das Gesicht schweißüberströmt. Mit einem Tuch wienerte er Gläser, mehr Beschäftigungstherapie denn Notwendigkeit, und sobald er überzeugt war von ihrer Sauberkeit, stellte er sie zufrieden knurrend in das Regal zurück.

Sein Reich war nur klein, Waldstein selbst war ja kaum mehr als ein unscheinbarer Flecken an den Ausläufern des Fichtelgebirges, und die einzigen, die Toni besuchten, waren die Einheimischen selbst. Fremde verirrten sich nur selten hierher, höchstens dann und wann ein Vertreter oder ein Durchreisender, aber es hielt keinen Fremden lange in diesem gottverlassenen Kaff. Wer zu Toni kam, verlangte meist Bier oder Korn oder beides zusammen, wer Hunger hatte, konnte zwischen Schnitzel, Hamburger oder Rührei mit Schinken wählen und sich zum Essen entweder an den Tresen oder einen der zehn dunkelbraunen, abgenutzten, runden Tische setzen.

Jetzt zur Mittagszeit hatte Toni nur einen Gast, den alten Willy, dessen Alter keiner im Ort kannte, möglicherweise kannte er es selbst nicht; seit Jahren hatte er hier seinen Stammplatz, auf dem er mit seiner blanken, abgewetzten, dunkelblauen Hose saß, auf immer demselben Hocker, dem dritten von der Tür aus gesehen – insgesamt gab es acht an der Theke –, von dem aus seine alten Augen den Marktplatz recht gut überblicken konnten. Meist jedoch war sein Interesse stur auf das Glas gerichtet, das jetzt fast leer vor ihm auf dem blanken Metall des Tresens stand, und es war beinahe unmöglich herauszufinden, was sich hinter seiner breiten, fliehenden Stirn abspielte. Er trank aus, nuschelte durch den fast zahnlosen Mund: »Noch ’n Bier.«

»Hast du Charlie heute schon gesehen?« fragte Toni, während er das Bier einschenkte. Mit Charlie meinte er Karl Müller, den besten und einzigen Freund und Saufkumpan von Willy. Eine dichte weiße Schaumkrone bedeckte zu mehr als zur Hälfte das Glas; Toni nahm mit einem Löffel einen Teil des Schaums ab, beförderte ihn in das Becken und füllte wieder Bier nach. Er stellte das Glas vor Willy.

»Hm, vorhin«, knurrte der, umfaßte das Glas mit seinen braunen, von harter Arbeit gezeichneten Händen, »und jetzt hält er sein Schläfchen. Du kennst das ja«, dabei zuckte er mit seinem rechten Mittelfinger – den kleinen und den Ringfinger der linken Hand hatte Willy vor Jahren in einer Kreissäge verloren – und grinste schief, »wenn er dabei ist, weckt ihn nicht mal ’n Kanonenschlag auf.« Er schüttelte seinen von lichtem, grau-weißem, fettigem, bis über die Ohren hängendem Haar bedeckten Schädel. »Charlie hat heut wieder Geld gekriegt. Wird wohl später vorbeischauen.«

Toni war mit dem Polieren der Gläser fertig und wischte abschließend mit dem Tuch über den Tresen. »Auch wenn’s mir egal sein sollte, aber ich kann Charlie einfach nicht verstehen. Wenn ich jeden Monat so viel Geld …!« Toni breitete seine Arme aus und schüttelte verständnislos den Kopf. »Mein Gott, ich wüßte, was ich damit anfangen würde! Aber er, was macht er? Er versäuft es oder steckt’s den Huren in den Rachen! Wenn ich mir nur sein Haus ansehe … Ein Schandfleck für diesen Ort, diese verkommene Bruchbude! Und sein Garten sieht aus, als hätte eine Herde wildgewordener Bullen eine Party veranstaltet.« Toni hielt kurz inne, atmete tief die heiße Luft ein, machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was reg ich mich auf, ist schließlich sein Problem und nicht meins!«

»Ich würd’s machen wie er. Sein verdammtes Leben war beschissen genug, oder etwa nicht? Vierzig oder fünfzig gottverdammte Jahre lang Tag für Tag auf den gottverdammten Feldern! Wer weiß, wie lang er’s noch macht!«

»Daß du es genauso machen würdest, ist mir klar«, frotzelte Toni. Willy reagierte nicht darauf, seine unergründlichen Gedanken befanden sich schon wieder in einer anderen Welt. Vielleicht träumte er den Traum des einsamen alten Mannes, der ein Leben lang vergeblich auf die Frau gewartet hatte, doch nun war er alt und gebrechlich und versoffen dazu, und vielleicht träumte er davon, daß sein Leben, das seit Jahren aus kaum mehr als dem Heben von Biergläsern bestand, schon bald ein Ende fand. Er grübelte viel, lachte kaum, die dumpfe Resignation eines alten Säufers hatte Willy in Ketten gelegt. Er widmete sich wieder seinem Glas, das ausdruckslose Gesicht leicht nach unten geneigt, die grauen Bartstoppeln wuchsen wild über seine Backen bis hinunter zum Kragen des schmutzigen Hemdes, tiefe Gräben durchzogen das Gesicht, den Hals abwärts, wo sie unter seinem Hemd verschwanden.

Einen Moment lang war das lauteste Geräusch das leise Surren des Ventilators, dessen Rotorblätter sich müde und langsam bewegten und die heiße Luft nur ein wenig durcheinanderwirbelten. Die Klimaanlage, die erst im vergangenen Jahr wegen des zweiten langen und heißen Sommers hintereinander installiert worden war, hatte vor zwei Tagen vor der Hitze kapituliert, und trotz Tonis sofortigem Anruf bei der Wartungsfirma in Hof hatte sich bis jetzt noch kein Mechaniker auf den Weg nach Waldstein gemacht.

Toni setzte sich, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Ich möcht bloß wissen, woher Charlie das ganze Geld hat! Der hat doch sein Leben lang immer nur auf den Feldern oder in der Spinnerei geackert, und dabei ist doch weiß Gott noch keiner reich geworden!«

Willy zuckte mit den Schultern, die von welkem Pergament überzogenen Hände hielten das Glas. »Keine Ahnung, vielleicht hat er ’ne reiche Tante gehabt. Ist mir aber auch scheißegal, woher er die Kohle hat.«

Das Quietschen von Bremsen ließ die beiden Männer den Blick zur Tür hin wenden. Der Polizeiwagen hielt direkt vor dem Lokal. Brackmann, ein großgewachsener, schlanker, asketischer Mann mit einem schmalen, durch breite Wangenknochen betonten Gesicht mit ehemals scharfen, wachen Augen, stieg aus. Er ging um den Wagen herum, blieb noch einen Augenblick stehen, warf einen schnellen Blick hinüber zum Rathaus, dessen Vorderfront von hohen, schattenspendenden Bäumen umrahmt war, zu seinem Bürotrakt, der klein, schmächtig, beinahe unscheinbar neben dem für Waldstein viel zu wuchtigen Rathaus stand. Er zog seine Hose gerade, nahm die Sonnenbrille ab, steckte sie in die Hemdtasche und betrat die Kneipe.

»Tag«, sagte Toni.

»Toni, Willy!« Brackmann nickte grüßend und setzte sich auf einen Hocker. »Diese elende Hitze! Ob das jemals wieder aufhört? Ich habe heute das Gefühl, als würde mein Blut gleich anfangen zu kochen. Der wievielte Sommer mit solcher Hitze ist das eigentlich?«

»Der vierte hintereinander«, sagte Toni. »Kaffee?«

»Bloß nichts Heißes! Orangensaft mit viel Eis.«

Toni stellte den Orangensaft vor Brackmann. »Irgendwas los heute?« Eine Gewohnheitsfrage, die sich im Prinzip erübrigte.

»In diesem Nest kannst du hundert Jahre alt werden, ohne daß auch nur das geringste passiert. Das ist so, seit ich hier bin, und daran wird sich voraussichtlich auch bis in alle Ewigkeit nichts ändern.«

»Vielleicht ändert sich’s ja doch bald«, bemerkte Willy leise.

»Aber nicht hier!« sagte Toni.

»Da wäre ich mir nicht so sicher!«

Toni und Brackmann wandten beide gleichzeitig den Blick in Willys Richtung, dessen merkwürdiger Tonfall sie aufhorchen ließ. »Wie bitte?« fragte Brackmann und kniff die Augen zusammen.

»Es braut sich was zusammen.« Willy starrte versonnen auf sein Glas, ein kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mund.

»Wie meinst du das?« fragte Toni.

»Es braut sich was zusammen. Unheil, ich spür das. Merkt ihr denn nicht, daß die Luft heute anders ist als sonst? Sie ist schwer und geladen. Ich sag euch, es braut sich was zusammen.«

Toni verdrehte die Augen, breitete die Arme theatralisch aus. »O ja, natürlich, ich merke es auch! Das Unheil ist förmlich zu riechen! Sie riechen es doch auch, oder?«

Brackmann grinste nur müde, spielte mit seinem Glas.

Willy blieb ganz ruhig. »Ihr glaubt, ich bin betrunken, was? Ihr denkt, der alte Säufer weiß eh nicht mehr, was er redet, stimmt’s?« Er nickte, den Blick nach unten gerichtet. »Hm, der alte Willy mag ein gottverdammter Säufer sein, trotzdem … ihr werdet’s schon sehen.«

»Aber Willy«, meinte Toni freundschaftlich, beugte sich nach vorn und sah Willy von unten herauf an, »wenn du so sicher bist, dann verrat uns doch mal, wo das Unheil herkommen soll. Und wie sieht es aus?«

»Woher soll ich das denn wissen?! Eben Unheil. Etwas Böses, etwas sehr, sehr Böses. Und jetzt laßt mich verdammt noch mal zufrieden!« Während Willy leise weitersprach, drehte er das leere Glas zwischen seinen Fingern.

»Willy! Unheil, Böses! Meinst du nicht, du übertreibst ein bißchen? Ein bißchen sehr? Wenn ich nicht genau wüßte, daß du gerade mal deinen Namen schreiben kannst, würde ich sagen, du hast in letzter Zeit zu viele Horrorromane gelesen. Aber gut, gib uns wenigstens einen Tip, was es sein könnte«, forderte Toni.

»Leck mich am Arsch!«

»Kommen Sie«, sagte Brackmann und sah Willy jetzt von der Seite an, »wenn Sie schon solche vagen Andeutungen machen, dann haben wir auch das Recht, ein klein wenig mehr zu erfahren. Soll auch nicht umsonst sein. Ein großes kühles Bier!«

Willys Miene hellte sich für Sekundenbruchteile auf, sein Tonfall wurde sofort versöhnlicher: »Weiß nicht genau, Unwetter, Gewitter, Hagel, vielleicht auch schlimmer … sucht euch was raus.« Er zuckte mit den Schultern.

»Willy, was soll daran schon Besonderes sein? Wir haben hier schon Hunderte von Gewittern gehabt, und auch Hagel ist nichts Besonderes. Und was kann es schon Schlimmeres geben? Wenn das alles ist …«

»Ihr könnt mich mal kreuzweise! Aber ihr werdet’s schon sehen! Ist euer verdammtes Problem und nicht meins! Es wird ein furchtbares Unheil über Waldstein kommen!«

»Toni, geben Sie ihm ein Bier, damit er das Unheil besser übersteht. Vielleicht stärkt es ja seine Widerstandskraft.«

Brackmann trank aus, zahlte und ging mit schweren Schritten zurück zu seinem Wagen, dessen Sitze sich in der glühenden Sonne wie Kochplatten aufgeheizt hatten. Er wollte einsteigen und weiterfahren, überlegte es sich anders, überquerte die Straße, um einen kurzen Blick ins Büro zu werfen – nachsehen, was Schmidt machte, und vielleicht für einen Moment, aber nicht länger, die Beine hochlegen. Und dann wieder fahren. Er mochte das Büro nicht, er hatte die Enge von Büros noch nie gemocht. Sie erdrückte ihn.

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Kapitel 2

Waldstein war eine kleine Stadt, die bei der letzten Erhebung vor fünf Jahren gerade 2243 Einwohner gezählt hatte, klein und friedlich. Die zumindest bis vor ein paar Jahren kalten und schneereichen Winter dauerten meist von November bis Ende März, die kurzen Sommer waren mild bis kühl und häufig regnerisch gewesen. Seit etwa zehn Jahren aber waren die Winter milder und kürzer geworden, Schnee fiel immer seltener, dafür wurden die Sommer länger und heißer. Vor zwei Jahren gab es einen Jahrhundertsommer, der im vergangenen Jahr von einem weiteren Jahrhundertsommer überboten wurde, als drei Monate lang Temperaturen von über 25 Grad herrschten, dazu eine teilweise unerträglich hohe Luftfeuchtigkeit, die sich in bisweilen gewaltigen Gewitterstürmen mit Hagelschlag entlud. Und dieser Sommer machte sich daran, einen weiteren Rekord aufzustellen; seit Mitte Mai hielt sich die Hitzeglocke, wurde erst trocken-heiße Luft von Osten herübergeschaufelt, später, ab etwa Mitte Juli, wehte fast permanent ein heißer Südwind. Waren schon die Tage kaum noch auszuhalten, so wurden die Nächte zur Qual, wenn kein Windhauch sich mehr regte, die Schwüle alles zu erdrücken schien, das Thermometer kaum mehr unter 20 Grad fiel. Ehemals saftig grüne Wiesen waren verdorrt, die meisten der zahlreichen Karpfen- und Forellenteiche waren nur noch stinkende Tümpel, die Fische fast sämtlich qualvoll an Sauerstoffmangel verendet. Wenn die Menschen sich überhaupt nach etwas sehnten, dann nach kühlerem Wind und vor nach allem Regen, der der verdorrten Landschaft wieder Leben einhauchte.

Kaum einer, der sich daran gewöhnt hatte, wie die Sonne unbarmherzig den Boden verbrannte, die Häuser aufheizte und tagsüber sämtliche Aktivitäten lähmte. Erst gegen Abend kam etwas Leben in den Ort, wenn die Sonne als riesiger roter Ball die leichten Wölbungen des etwa eine Autostunde entfernten Frankenwaldes berührte, um schließlich dahinter in den Horizont einzutauchen. Dann kamen auch die Menschen aus ihren Häusern gekrochen, die kleinen, meist liebevoll angelegten, schmucken Gärten wurden gewässert, hier und da Grillfeuer entzündet.

Doch die Einwohnerzahl von Waldstein reduzierte sich seit geraumer Zeit stetig, meist junge Leute zog es in die größeren Städte, wo das Leben aufregender war, spannender, abwechslungsreicher, amüsanter, kurz schöner und lebenswerter, wo sie sich austoben konnten, es genug Arbeit gab, viele und interessante Geschäfte, Kinos und Theater, Diskotheken und schicke Restaurants. Kaum einer verspürte Verlangen, in die Trostlosigkeit von Waldstein zurückzukehren. Denn Waldstein bot nichts, kein Theater, kein schickes Restaurant, nur ein kleines, allerdings schmuckes Kino mit bequemen Sitzen, in dem jeden Tag zwei Vorstellungen liefen mit den jeweils aktuellsten Filmen. Bis vor zwanzig Jahren gab es noch eine Bahnverbindung nach Münchberg und Hof, doch sie war wegen mangelnder Auslastung eingestellt und durch je einen Bus ersetzt worden, die beide einmal morgens um halb acht und ein weiteres Mal abends um sechs nach Hof und Münchberg fuhren. Die Gleise und das kleine, aus der Jahrhundertwende stammende Bahnhofsgebäude waren verwaist, Eidechsen, Ringelnattern und hier und da Kreuzottern sonnten sich zwischen dem hohen, jetzt gelben Gras, das die Schienen allmählich unter sich begrub.

Es gab einen Arzt, Dr. Reuter, der einen außerordentlich guten Ruf bis weit über die Ortsgrenzen hinaus genoß. Und Pfarrer Engler war sorgsam darauf bedacht, alle seine Schäfchen wohlbehütet durch dieses Leben voll tückischer Fallen zu geleiten.

Waldstein war eine Stadt der kleinen Leute, von denen viele in kleinen sauberen Häuschen wohnten, eingerahmt von kniehohen weißgetünchten Zäunen, sauber verlegte Steinwege führten vom Tor zum Haus, bunte Sträucher verströmten an manchen Tagen einen schweren, betörenden Duft.

Die wenigen Straßen waren schmal, bis auf die von Pappeln gesäumte Hauptstraße. Autos wurden kaum verschlossen, man vertraute sich, weil man sich kannte.

Nur am östlichen Stadtrand von Waldstein, gerade noch innerhalb der eigentlichen Ortsgrenzen, lebte eine Familie, die sich sehr wesentlich von den übrigen Bewohnern unterschied – die Vandenbergs. In der siebten Generation lebten sie hier, hier lagen ihre Wurzeln, hier hatten sie mit ihren Geschäften begonnen, die sie mittlerweile auf der ganzen Welt tätigten, sie besaßen Häuser und Wohnungen auf fast jedem Erdteil, gehörten zu den Reichsten und Mächtigsten im Land. Dabei machten die ausgedehnten Ländereien nur noch einen winzigen Bruchteil am Gewinnkuchen aus, ein Großteil der Spinnereien, Webereien und Textilfabriken war längst an andere Standorte verlagert worden, während die alten Gebäude langsam vor sich hin rotteten, die Scheiben und Oberlichter blind oder ausgeschlagen, die zurückgelassenen Maschinen verrostet, die Flachsfelder, vor dem zweiten Weltkrieg noch ein ertragreiches Geschäft, waren unrentabel geworden und wurden jetzt als Kartoffel- oder Rübenäcker genutzt. Doch auch wenn die Geschäfte in den großen Städten dieser Welt abgewickelt wurden, so residierten die Vandenbergs doch weiterhin in Waldstein, obgleich dieser weltvergessene Marktflecken wahrhaftig jeden Reiz vermissen ließ. Aber es war ihre Stadt, ihr Land, ihr Grund und Boden, Waldstein hätte genausogut Vandenberg-Stadt heißen können, denn ihnen gehörte fast alles hier und in der Umgegend, Grundstücke, Häuser, Ländereien; statt zu fragen, was ihnen gehörte, sollte man eigentlich fragen, was ihnen noch nicht gehörte.

Sie bewohnten einen prachtvollen schneeweißen Herrensitz, gebaut vor mehr als hundertfünfzig Jahren, umgeben von einem ausgedehnten Park, überwacht von ausgeklügelter Elektronik und einem Dutzend Angestellten sowie zwei furchteinflößenden, schwarzen dänischen Doggen, die jeden Fremden, der sich der Toreinfahrt näherte, argwöhnisch beäugten.

Sie besaßen fast alles: Geld, Macht, Einfluß. Und seit einigen Jahren spielten sie eine immer größere Rolle in der Politik. Das vorläufige Tüpfelchen auf dem i sollte bereits im Herbst gesetzt werden, wenn die Landtagswahlen anstanden und von allen Bewerbern Jonas Vandenberg, der mittlere von drei Brüdern, allerbeste Aussichten hatte, zum neuen Ministerpräsidenten von Bayern gewählt zu werden. Er war beliebt, sein Zahnpastalächeln flimmerte immer öfter über die Bildschirme, immer häufiger wurden Interviews mit ihm abgedruckt, immer deutlicher wurde sein Eintreten für mehr Gleichberechtigung von Mann und Frau, für verstärkten Schutz der Jugend; er hielt feurige Plädoyers für die Schaffung von Arbeitsplätzen, forderte drastische Maßnahmen für solche, die arbeitsunwillig waren und sich auf Kosten des Staates schmarotzend durchs Leben schlugen, verlangte, daß wieder mehr auf moralische und ethische Werte gesetzt wurde, verdammte Abtreibung und forderte mehr Familiensinn. Er war liberal und konservativ zugleich, und vielleicht war es dieser reizvolle Widerspruch, der viele bewog, sich auf seine Seite zu schlagen.

Die alteingesessenen Waldsteiner, neueingesessene gab es ja fast keine, waren stolz – hatte man doch sonst kaum etwas, worauf stolz zu sein sich lohnte –, bald einen Ministerpräsidenten quasi aus den eigenen Reihen stellen zu können. Man war stolz, obwohl die Vandenbergs sich nur äußerst selten im Ort blicken ließen, nur einmal im Jahr präsentierten sie sich der Öffentlichkeit, am 15. Mai, dem Tag, an dem Waldstein vor jetzt 543 Jahren die Stadtrechte verliehen worden waren. Am 15. Mai fuhren sie in ihren dunkelblauen Nobelkarossen hinter dunkel getöntem Glas durch das ihnen zujubelnde Waldstein und hielten den ganzen Ort mit Essen, Getränken und Unterhaltungsprogrammen frei.

Brackmann passierte das Anwesen der Vandenbergs. Das einzige Mal, daß er einem von ihnen die Hand geschüttelt hatte, war bei seinem Dienstantritt vor knapp sechs Jahren gewesen. Er war damals aus Frankfurt gekommen, und obwohl er gewußt hatte, daß er in ein Nest geraten würde, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten, so hatte er doch nicht mit dieser extremen, bisweilen grausamen Eintönigkeit gerechnet, die in diesem öden, auf kaum einer Landkarte zu findenden Ort herrschte. Saubere Straßen, saubere Häuser, saubere Gärten, ein irgendwie immer sauberer Himmel, egal ob blau oder grau. Keine Unordnung, keine Unruhe, geschweige denn so etwas wie Kriminalität. Die Bezahlung für dieses Nichtstun hingegen geradezu fürstlich, er erhielt das gleiche Gehalt wie in Frankfurt, nur hatte er sich dort im Bahnhofsviertel täglich mit kleinen und großen Gaunern und Spinnern, randalierenden Säufern und Junkies, Vergewaltigern und Totschlägern, Zuhältern und Mördern herumschlagen müssen. Nichts davon gab es in Waldstein, kaum einmal, daß ein Betrunkener die Ausnüchterungszelle vollkotzte.

Doch Brackmann hatte nicht grundlos die Einsamkeit und Ruhe in einer kleinen Stadt gesucht. Mit siebenunddreißig war er es leid gewesen, immer wieder sinnlos Menschen sterben zu sehen, und irgendwann, nach irgendeinem sinnlosen Sterben war er an den Punkt gelangt, wo er diese Art von Tod nicht mehr ertragen konnte und mochte und nicht mehr in der Lage war, Angehörigen zu sagen, der Sohn oder die Tochter oder der Ehemann oder Vater lebten nicht mehr.

Ein Unfall, ein eingeschlagener Schädel, ein aufgeschlitzter Bauch … er ertrug solche Anblicke nicht mehr. Er ertrug nicht mehr die hoffnungslosen Gesichter der Heroinsüchtigen, die im Abfall nach Eßbarem wühlten, die aufgedunsenen Gesichter und ausgemergelten Körper der alkoholabhängigen Straßenmenschen, die nirgends eine Bleibe hatten als irgendwo unter irgendeiner Mainbrücke oder in irgendeinem miefigen Hauseingang, vor allen Dingen aber ertrug er nicht länger die immer weiter eskalierende Gewalt, die immer jüngeren Täter, Kinder, acht, neun oder zehn Jahre alt, die mit Messern und Schlagringen, Knüppeln und Ninjasternen bewaffnet, immer öfter sogar mit Pistolen oder Gewehren Jagd aufeinander oder völlig unbeteiligte Menschen machten. Wenn schon Kinder mit dem Krieg begannen, wo war dann das Ende der Spirale?

In irgendeiner Nacht hatte er das erste Mal nicht mehr schlafen können; er war zwischen drei und vier aufgewacht, hatte gedacht, daß alles mit einem Mal so furchtbar sinnlos war … viele solcher Nächte folgten. Der erste Zusammenbruch, wenig später ein heftigerer zweiter, ein zweiwöchiger Klinikaufenthalt, Tabletten. Und schließlich sah er sich vor die Wahl gestellt, entweder den Polizeiberuf an den Nagel zu hängen oder wegzugehen in eine kleinere, ruhigere Stadt mit einer geregelten Arbeitszeit, nicht wie in Frankfurt, wo ein Zwölfstundentag die Regel war.

Doch die Depressionen und Angstzustände blieben sein unsichtbarer Begleiter. Sie waren urplötzlich gekommen, eines Morgens noch vor dem Aufstehen. Er hatte die Augen geöffnet, auf eine schwarze Wand geblickt und in ein noch schwärzeres tiefes Loch, seine Beine schienen mit schweren Ketten ans Bett gefesselt, seine Brust wurde von einem tonnenschweren Eisengewicht zerquetscht, sein Mund war trocken wie Wüstensand, und da war das absolut sichere Gefühl, entweder bereits tot zu sein oder im nächsten Moment sterben zu müssen. Etwas Fremdes, Unheimliches, Schleimiges, Tödliches war in jeden Winkel seines Körpers gekrochen und hatte sich festgekrallt. Das Tageslicht hatte mit einem Mal etwas grausam Erdrückendes, die Vorstellung, auf die Straße unter Menschen gehen zu müssen, kam fast einem Todesurteil gleich.

Er hatte seinen Zustand zunächst auf Überarbeitung geschoben, denn etliche Kollegen waren in der Vergangenheit ausgefallen, deren Dienst er zum Teil hatte mit übernehmen müssen. Er hatte ein paar Tage frei genommen, sehr zum Unwillen seines Vorgesetzten; die Erholungsphase wollte er nutzen, um sich zu regenerieren. Die Beschwerden aber waren geblieben, fast jeder Morgen war der Morgen der Vollstreckung eines Todesurteils. Schließlich, nachdem seine Nerven endgültig am Boden lagen, hatte er einen Arzt aufgesucht, der ihm die niederschmetternde Diagnose mitteilte – Depressionen. Und dabei litten doch unter Depressionen höchstens Kriegsveteranen, die selbst nach fünfzig Jahren noch von aufgeschlitzten Bäuchen mit herausquellendem Gedärm träumten und schweißgebadet und schreiend aufschreckten, ältere Frauen oder Männer, die mit dem modernen Leben nicht zurechtkamen, oder einfach nur Verrückte, die in die Klapsmühle gehörten. Er und Depressionen? Aber diese unheimliche Krankheit umschlang ihn wie ein Dämon; er erzählte niemandem davon, denn keiner sollte denken, er wäre verrückt. Es war nicht die übliche, normale, gesunde Angst, die vor Gefahr warnte, es war eine heimtückischere, unerklärliche Form. Er begann, seinen Körper zu beobachten, hatte zu manchen Zeiten solche Todesangst, daß er schreien wollte und es doch nicht konnte. Dabei, das wußte er, war die Furcht vor dem Tod unbegründet, denn er war in körperlich einwandfreier Verfassung – der Arzt hatte es ihm nicht nur einmal bestätigt –, doch bei einer solchen Attacke wurde der Verstand einfach außer Kraft gesetzt.

Nachdem er den Ort gewechselt hatte, waren die Beschwerden mit der Zeit abgeklungen, die Panikattacken wurden immer seltener und damit die körperlichen Symptome, wie Herzjagen, das Gefühl, einen Eisenpanzer um die Brust gelegt zu bekommen, kaum noch schlucken zu können, weil die Kehle trocken wie Wüstensand wurde … Er nahm regelmäßig seine Pillen, sein Leben war geregelter geworden. Nur manchmal, wenn er sich besonders gut fühlte und voller Tatendrang steckte, sehnte er sich nach Frankfurt zurück. Wenigstens für ein paar Tage. Der enervierenden Langeweile entfliehen, ein paar Stunden abgasgeschwängerte Großstadtluft und -atmosphäre inhalieren, alte Bekannte wiedersehen.

Brackmann stoppte gegenüber dem großen, schmiedeeisernen Tor der Vandenbergs, in dessen Mitte das nicht zu übersehende Familienwappen prangte. Hinter dem Tor zog sich der Weg in einem absolut gleichförmigen Halbkreis zum Haus hinauf, das wie ein Palast, eine Festung über dem Ort erbaut war. Die Doggen waren, sobald sie das Motorengeräusch hörten, wie aus dem Nichts aufgetaucht, starrten ihn regungslos an, stumm und feindselig, als warteten sie nur auf eine Gelegenheit, ihn mit ihren messerscharfen Zähnen genüßlich in kleinste Stücke zu zerlegen.

Die Sonne hatte den Zenit leicht überschritten, stand jetzt hinter den Bäumen, der kräftige Südwind selbst aber war viel zu heiß, um auch nur die geringste Linderung oder Kühlung zu bringen. Die schwüle Hitze ermüdete Brackmann, seine Glieder wurden schwer, er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Fünf, sechs Minuten döste er vor sich hin, bis Richters krächzende Stimme ihn aus seinem Dämmerschlaf riß.

»Brackmann, bitte kommen!«

Er tastete schläfrig nach dem Mikrofon. »Hier Brackmann«, antwortete er. »Was gibt’s?«

»Kommen Sie schnell zu Frau Olsen! Der Doktor ist auch schon hier. Sie möchte mit Ihnen sprechen, allein. Aber beeilen Sie sich, es steht nicht gut um sie.«

»Verstanden, bin schon unterwegs. Ende.« Brackmann startete den Motor, gab Gas. Die Müdigkeit war wie weggeblasen.

Richters Streifenwagen parkte vor Maria Olsens Gemischtwarenladen. Noch warf das Geschäft Gewinn ab, trotz des Supermarktes, der eigentlich fast alle anderen Geschäfte überflüssig machte, aber Maria Olsen war eine Institution, immer freundlich, stets hilfsbereit, mit ihr ließ sich reden, wenn man einmal nicht ganz flüssig war, bei ihr konnte man noch anschreiben lassen.

Seit ihr Mann, ein amerikanischer Soldat, den es nach seiner Stationierung in Hof nicht in die Staaten zurückgezogen hatte, vor über dreißig Jahren an einem Hirntumor innerhalb von nur einer Woche gestorben war, führte sie den Laden allein. Sie hatte nie wieder heiraten wollen, obwohl sie mit ihren sechzig Jahren eine recht gut aussehende, attraktive Frau mit einem beinahe faltenfreien, feinporigen Gesicht und einer ungewöhnlich jugendlichen Figur war. Lediglich die Augen verrieten ihr Alter, das einst strahlende Blau hatte sich in fahles Grau gewandelt, sie waren leer, kein Glanz, geschweige denn so etwas wie Feuer, sie verliehen dem Gesicht etwas Maskenhaftes. Unverbindliche, distanzierte Höflichkeit. Maria Olsen hielt ihre feine Stimme immer gesenkt, wählte ihre Worte mit Bedacht, eine fromme Kirchgängerin.

Dr. Reuter, der schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite wohnte und dort auch seine Praxis betrieb, stand in der Tür, seine Mundwinkel zuckten, die Schultern hingen nach vorn, die Augen waren voll Trauer auf Brackmann gerichtet. Jetzt schien er Brackmann nicht einmal mehr bis zu den Schultern zu reichen; er wirkte noch kleiner.

»Sie ist tot. Weiß der Teufel, was in sie gefahren ist, aber sie ist einfach tot«, flüsterte er und schüttelte verzweifelt den Kopf. Mehr Blöße gab er sich aber nicht, er kämpfte erfolgreich gegen die Tränen an. Es war ein offenes Geheimnis, daß Reuter sich die ganzen Jahre über Hoffnungen auf sie gemacht hatte, doch Maria Olsen hatte ihre starre, unbeugsame Haltung ihm gegenüber zu keiner Zeit aufgegeben. Zwar hatten sie oft zusammengesessen, manchmal bis spät in die Nacht, um sich zu unterhalten, Karten zu spielen oder zu essen – Maria war bekannt für ihre Kochkünste –, aber mehr als einen Kuß auf die Wange zum Geburtstag hatte sie nie zugelassen. Trotzdem hatte Reuter nie aufgehört, sie zu umwerben. Nun war die Zeit des Werbens vorbei.

Sie hatten beide allein gelebt, jeder für sich in einem großen Haus, nur getrennt durch die Straße. Reuters Frau war durchgebrannt, kurz nachdem er seine Praxis vor bald fünfunddreißig Jahren hier eröffnet hatte. Sie hatte es nur wenige Monate in Waldstein ausgehalten, war unzufrieden, wollte zurück in die Großstadt, das Leben erleben. Irgendein Fremder war gekommen und sie am nächsten Morgen mit ihm verschwunden. Reuter hatte nie wieder etwas von ihr gehört, nur kurz bei der Scheidung, für ihn war sie tot.

Und nun war auch Maria Olsen tot. Brackmann wußte, wieviel sie dem Doktor bedeutet hatte, er hätte ihm gerne in seinem Schmerz zur Seite gestanden. Reuters Blick war dumpf auf einen imaginären Punkt am Ende der Straße gerichtet, die noch vollen, etwas zu lang gewachsenen grauen Haare durcheinander. Brackmann legte ihm eine Hand auf die Schulter, sagte leise: »Tut mir leid, Doktor, ich kann mir vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute ist …«

»Ach was, gar nichts können Sie!« fuhr er Brackmann barsch an und schüttelte die Hand von seiner Schulter. »Gehen Sie lieber rein zu Ihrem Kollegen und lassen sich von ihm alles berichten!«

Richter kam Brackmann bereits entgegen, faßte sich verlegen ans linke Ohrläppchen.

»Was ist passiert?« fragte Brackmann.

»Wenn ich das wüßte!« antwortete Richter ratlos. »Ich hab nur unsern Doktor wie von Furien gehetzt über die Straße rennen sehen. Dann hielt ich an, weil ich so ein komisches Gefühl hatte. Ich ging rein und sah, wie er sich über Frau Olsen beugte. Ich half ihm, sie vom Laden in die Wohnung zu tragen. Sie hat es kaum geschafft, die Augen aufzumachen, geschweige denn sich zu bewegen. Er hat getan, was er konnte. Aber Sie sehen ja selbst … Sie hat übrigens zweimal nach Ihnen verlangt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.« Er wollte sich bereits abwenden, als er innehielt, Brackmann ansah und sagte: »Ach ja, sie hat zum Schluß noch so ’ne seltsame Bemerkung gemacht, von wegen es täte ihr leid und so ’n Zeug. Aber fragen Sie mich nicht, was sie damit gemeint haben könnte. Und beinahe hätte ich’s vergessen, sie erwähnte noch was von einem Brief und Pfarrer Engler.« Richter stand neben Brackmann, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben, den Blick gesenkt.

»Danke, Sie können jetzt gehen.« Brackmann begab sich ins Schlafzimmer, wo sie auf dem Bett lag. Als schliefe sie nur, den Mund wie zu einem leisen, sanften Lächeln verzogen, als sei der Tod in Gestalt eines guten Freundes gekommen.

Die Wohnung war das Spiegelbild von Maria Olsen, sauber und ordentlich, irgendwie freundlich und höflich. Das Schlafzimmerfenster war geschlossen, die Klimaanlage surrte leise.

Brackmann hatte den Tod oft gesehen, und oft hatte er ihn kaltgelassen. Diesmal trug der Tod ein anderes Gewand. Er fühlte sich neben der Toten unbehaglich. Vielleicht, weil er sie kannte, im Gegensatz zu den vielen anderen, oft namenlosen Toten, mit denen er früher konfrontiert worden war. Darum verweilte er auch nicht lange vor dem Bett, drehte sich um, Reuter kam mit schweren, schlurfenden Schritten ins Zimmer, bückte sich, nahm seine schwarze Tasche vom Boden auf. Hielt sie einen Moment mit beiden Händen stumm umklammert, sah Brackmann an, stellte dann die Tasche auf einen Stuhl und öffnete sie weit.

»Sie werden sicherlich wissen wollen, woran sie gestorben ist.« Er nahm das Stethoskop vom Bett sowie ein kleines braunes Fläschchen, verstaute beides in der Tasche, warf einen letzten, undeutbaren Blick auf die Tote. »Genau kann ich es nicht sagen, aber ich nehme an, es war ein Schlaganfall. Sie hat in den letzten Tagen verschiedentlich über Unwohlsein und Kopfschmerzen geklagt. Ich wollte sie untersuchen, aber sie weigerte sich … Sie hat sich ja nie von mir untersuchen lassen!« stieß er bitter hervor und ließ die Tasche zuschnappen. »Ein Schlaganfall dürfte jedoch das wahrscheinlichste sein. Verfluchte Hitze!« Nach diesen Worten verließ Reuter den Raum. In der Tür blieb er jedoch plötzlich stehen, mit dem Rücken zu Brackmann. »Wenn Sie noch Fragen haben … Sie wissen ja, wo Sie mich finden können.«

Brackmann begleitete Reuter zur Tür; er sah ihm nach, wie er die zehn Stufen des Hauses hinunterging, eine Sekunde an der Straße verharrte.

»Ach, Doktor!« rief Brackmann ihm hinterher und deutete mit einer Hand zum Haus. »Was soll jetzt mit ihr geschehen?«

»Rufen Sie Pickard an. Er soll sich um sie kümmern.«

Pickard, dessen Vorfahren Hugenotten waren, der sich aber seiner Frau zuliebe zum Katholizismus bekehrt hatte, war Schreiner. Und Dachdecker. Und Schlosser. Zusammen mit seinen Söhnen Bernd und Dieter betrieb er eine Werkstatt, in der sie Möbel, Dachbalken und Zäune oder auch mal eine Hausverkleidung fertigten. Und natürlich, wenn nötig, einen Sarg. Brackmann telefonierte mit ihm, und auch Pikkard war entsetzt, vom Ableben der Maria Olsen zu erfahren. Schließlich war Maria Olsen nicht irgendwer, sie hatte dazugehört wie das launische Klima, die Ruhe, die Eintönigkeit, der Gestank nach Katzendreck, der bei Ostwind aus grenznahen Fabriken der Tschechei rüberwehte.

Nachdem Brackmann aufgelegt hatte, inspizierte er die Räume des Hauses. Er war noch nie hiergewesen. Jedes Zimmer war bis in den letzten Winkel aufgeräumt, Nippesfiguren hinter einer Glasvitrine, teures Geschirr, das wahrscheinlich nie benutzt worden war, dicke, dichtgewebte Teppiche, die den Boden des Wohnzimmers bedeckten und jeden Schritt schluckten, im Wohnzimmer zwei Wandteppiche mit arabischen Motiven. Ein Regal voller Bücher, Brackmann stand davor, las einige der Titel, er hätte nie vermutet, daß Maria Olsen eine derart belesene Frau war.

Nirgends Staub, dafür penible Sauberkeit, fast Sterilität. Maria Olsen. Brackmann überlegte und mußte feststellen, fast nichts aus ihrem Leben zu wissen, nicht einmal, ob sie Verwandte hatte. Dabei war es durchaus wichtig, Angehörige zu finden, denn Maria Olsen war nicht unvermögend. Das ertragreiche Geschäft, dazu ihre bekannte Sparsamkeit, lediglich einmal im Monat die Fahrt nach Nürnberg wegen wichtiger Besorgungen. Was würde nun mit all ihrem Besitz geschehen? Gab es Erben?

Nach seinem Rundgang durchs Haus setzte er sich auf die Stufen, blickte auf die Straße hinunter. Während er auf Pickard wartete, zog er aus seiner Brusttasche eine Schachtel Rothhändle. Er saß im Schatten, zündete sich eine der filterlosen Zigaretten an, inhalierte tief, ein Blick zum Himmel, wo sich kleine weiße Wattebäusche über das blasse Blau verteilt hatten. Schweiß rann in Bächen über seinen Körper, es war weniger die Hitze als die extrem hohe Luftfeuchtigkeit, die ihm heute zu schaffen machte. Er haßte solche Tage, besonders, wenn sie Tote forderten.

Pickard kam eine knappe halbe Stunde nach dem Telefonat. »Tut mir leid, wenn es etwas länger gedauert hat. Doch bei dieser Sauhitze geht alles etwas langsamer«, sagte er stöhnend und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Nur der Tod nicht«, erwiderte Brackmann leise und erhob sich von den Stufen.

»Leider, aber wo geht der schon langsam?«

Pickard war ein kleiner, leicht untersetzter Mann, dem man die enormen physischen Kräfte nicht gleich ansah. Verschmitzte wäßrigblaue Augen nahmen durch eine silberfarbene Nickelbrille die Welt wahr, Pickards Augen wirkten immer verschmitzt, selbst wenn er wütend war.

»Ich habe sie gestern noch gesehen. Arme Maria! Tja, ich sage immer, man weiß nie, wann es einen trifft. Er da oben«, sagte er und deutete mit der Hand in Richtung Himmel, »wird wohl ganz gut wissen, wann die Zeit für jeden von uns gekommen ist. Wehren kann sich keiner dagegen.« Er zuckte mit den Schultern. »Wozu auch, wäre ja doch sinnlos.«

Brackmann schwieg dazu, Pickard folgte ihm ins Haus. Sie blieben vor dem Bett stehen, auf dem die Tote lag, die Hände über dem Bauch gefaltet, die Augen geschlossen. Pickard verharrte einen Moment andächtig, schaute auf die Tote, ein leichtes Zucken um die Mundwinkel, ein kurzer Blick zu Brackmann.

»Sie sieht friedlich aus, nicht?« sagte er beinahe ehrfürchtig. »Sei’s drum, die meisten Toten sehen irgendwie friedlich aus. Sie werden mir helfen müssen. Bernd und Dieter sind heute nämlich in Nürnberg, was für die Werkstatt besorgen. Und«, dabei zwinkerte er vieldeutig, »danach werden sie sich ein wenig Vergnügen gönnen.«

Brackmann ignorierte es. Es hatte Zeiten gegeben, da konnte auch er in der Gegenwart von Toten noch Witze reißen, heute war ihm nicht danach. Sie hievten den Leichnam in den Sarg, Pickard bei den Füßen, Brackmann unter den Armen. Nach kaum fünf Minuten hatten sie es geschafft; der Sarg war im Auto verstaut.

»Dann werde ich mich mal auf den Weg machen. Den Totenschein hat doch sicher unser …« Er verzog leicht gequält den Mund, sagte: »Scheiße, was? Ist er ansprechbar?«

»Er hat den Totenschein. Aber ich würde nicht gleich jetzt … ich meine … wenn Sie verstehen.«

Pickard nickte, stieg wortlos in sein Auto, nahm den Weg zurück zu seinem Betrieb, der wie das Wohnhaus, das Holzlager und die kleine Kühlhalle, in der Tote bis zur Beerdigung »frischgehalten« wurden, am Südrand von Waldstein lag. Eine Menge Formalitäten standen in den kommenden Tagen an, das Geschäft, das Haus, das Geld. Reuter würde sicherlich einen Teil übernehmen, für das Notarielle war wohl Obert, der Anwalt, zuständig.

Brackmann setzte sich in seinen Streifenwagen, fuhr die wenigen Meter zum Büro. Stellte das Radio an, Nachrichten aus der Umgebung, anschließend der Wetterbericht, die gleiche eintönige, nichtssagende Vorhersage wie seit Tagen, Wochen, Monaten. Keine Abkühlung, kein Regen in Sicht. Ihm kam die merkwürdige Prophezeiung des alten Willy in den Sinn. Willy war ein lieber Kerl, nur manchmal quatschte er ein bißchen viel, vor allem, wenn er einen über den Durst getrunken hatte. Und es verging kaum ein Tag, an dem er nicht spätestens um sechs Uhr nachmittags sturzbesoffen war, seine Leber mußte inzwischen die Größe eines Fußballs haben.

Der Sender spielte Wunschhits, Brackmann drehte den Lautstärkeregler höher. Statt vor dem Büro zu halten, beschloß er kurzerhand, es links liegenzulassen und Pfarrer Engler einen kurzen Besuch abzustatten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wußte er noch nichts von dem Geschehenen.

Er fuhr die leichte Anhöhe hinauf, wo die Kirche, ein gerade vor wenigen Wochen neu gestrichener weißer Bau stand und der Pfarrer in einem Haus dahinter wohnte.

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Kapitel 3

»Sie war eine gute Frau.« Pfarrer Engler stand an den Altar gelehnt, eine respektable, hünenhafte Erscheinung, knapp einsneunzig groß, weit über zwei Zentner schwer. Ein gutmütiger Mann mit einer sonoren Stimme, beliebt und hochangesehen – bei den meisten jedenfalls. Er wandte viel Zeit auf, sich um die großen und weniger großen Sorgen und Nöte seiner Schäfchen zu kümmern, seine Kirche war Sonntag für Sonntag bis auf den letzten Platz besetzt. Es war angenehm kühl in der Kapelle, der Geruch von Weihrauch hing in der Luft, auf dem Altar zwei brennende Kerzen. Eine erhabene, friedliche Stille.

»Sie war noch am Sonntagabend bei mir. Sie wollte sich einmal aussprechen … über Dinge, über die man wohl nur mit einem sehr, sehr guten Freund oder eben mit einem Priester sprechen kann. Wenn ich an den Abend zurückdenke … ich muß zugeben … nun, sie hat auf mich einen bedrückten Eindruck gemacht.« Eine kurze Pause, ein Stirnrunzeln, die Frage: »Wie hat Doktor Reuter es aufgenommen?«

»Sie ist praktisch in seinen Armen gestorben. Mein Gott, der Mann ist fertig …«

»Sie hat es jetzt besser.«

»Wie meinen Sie das?«

»Nun, sie war nicht arm, zugegeben, doch was nützen diese Schätze, auf die Ewigkeit bezogen? Dort, wo sie jetzt ist, braucht sie kein Geld. Und sie ist ihre Sorgen los …«

»Sorgen …«

»Ja, sie hatte Sorgen, große Sorgen sogar. Ich denke, oder, nein, ich bin fest überzeugt, daß sie am Sonntag abend zum ersten Mal wirklich darüber gesprochen hat.«

»Ausgerechnet Frau Olsen? Seltsam, bei ihr hätte ich am wenigsten vermutet, daß …«

»Es ist, wie ich sage. Ich kann nicht darüber reden, mein Beichtgeheimnis verbietet es mir«, sagte er mit einer bedauernden Handbewegung. »Wissen Sie, ich bin jetzt seit vierunddreißig Jahren Pfarrer in Waldstein, ich habe miterleben müssen, wie ihr Mann … ich meine, es war entsetzlich mit anzusehen, wie ein Kerl, ein Mannsbild wie dieser Olsen innerhalb von nur wenigen Tagen … Ein Hirntumor, einfach schrecklich. Aber lassen wir das. Jedenfalls, als ihr Mann starb, begannen auch ihre Sorgen. Sie müssen wissen, Maria Olsen war, als ich sie kennenlernte, eine aufgeschlossene und lebenslustige Frau, und mit einem Schlag wurde aus ihr eine in sich gekehrte und zurückgezogen lebende Person. Aber das hat ihrer Beliebtheit keinen Abbruch getan. Der einzige, der es einigermaßen verstanden hat, sie aus ihrer selbstgewählten Isolation herauszureißen, war unser Doktor. Doch Sie wissen ja selbst …«

Sie bewegten sich auf den Ausgang zu, die Schritte vom roten Filzteppich gedämpft, der den gesamten Mittelgang vom Altar bis zur Tür verlief.

Brackmann faßte sich ans Kinn und blieb abrupt stehen. »Seltsam, aber Sie sagten, Frau Olsen sei am vergangenen Sonntag bei Ihnen gewesen. Mich rief vorhin Richter über Funk zu ihr, weil sie mir etwas im Vertrauen mitteilen wollte. Leider kam ich einen Tick zu spät. Ich meine, es muß etwas Wichtiges gewesen sein, denn eigentlich kannten wir uns nicht gut genug, als daß sie einfach nur so zum Spaß nach mir verlangt hätte. Und außerdem nannte sie kurz vor ihrem Ableben noch Ihren Namen und erwähnte einen Brief. Können Sie sich darauf einen Reim machen?«

Engler schaute von der Tür aus über das im matten Sonnenlicht liegende Waldstein, schwieg einen Moment, seine Kiefer mahlten aufeinander, dann richtete er seinen Blick auf Brackmann und sagte mit ernster, gedämpfter Stimme: »Würden Sie bitte mitkommen? Vielleicht kann ich Ihre Frage beantworten. Es tut mir leid, wenn ich nicht sofort daran gedacht habe, aber …« Er machte eine entschuldigende Geste. Sie liefen durch einen schmalen Seitengang, betraten Englers Büro. Er ging um den mit Büchern, Papieren und einer Schreibmaschine, in der ein halbbeschriebenes Blatt steckte, vollgepackten Schreibtisch herum. Gemütliche Unordnung. Er zog eine Schublade heraus, holte einen großen braunen Umschlag hervor. Darauf stand Nach meinem Ableben zu öffnen. Der Umschlag enthielt drei kleinere weiße Umschläge, die jeweils mit Namen versehen waren. Einer war für Engler bestimmt, einer für Reuter und einer für Brackmann. Engler reichte Brackmann mit undurchdringlicher Miene den für ihn bestimmten Umschlag.

»Hier, vielleicht finden Sie darin, was Sie suchen.«

»Möglich.« Brackmann öffnete den Umschlag, nahm den Brief heraus. Maria Olsens Schrift war apart, kunstvoll geschwungen, jugendlich. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich gleich hier lese?«

»Nein, nein, machen Sie es sich nur bequem. Möchten Sie etwas trinken? Einen Sherry vielleicht?«

Brackmann lehnte dankend ab, setzte sich in einen der drei weichen braunen Ledersessel, die im Raum verteilt standen. Der Brief trug das Datum des vergangenen Samstags. Er begann zu lesen.

 

Werter Herr Brackmann,

sicherlich werden Sie sich wundern, von mir einen Brief zu erhalten. Doch dafür gibt es einen guten Grund.

Sie haben auf mich von Anfang an den Eindruck eines rechtschaffenen Mannes gemacht; für mich ist das im übrigen Grundvoraussetzung für einen Polizisten, auch wenn er es, wie es scheint, in Waldstein nicht sonderlich schwer hat.

Ich liebe Waldstein, ich bin hier geboren, habe hier geheiratet und werde mit Sicherheit auch hier begraben werden.

Doch nun zum eigentlichen Grund dieses Briefes. Es handelt sich um eine Angelegenheit, von der, so glaube ich zumindest, nur wenige Menschen außer mir wissen. Sie hat sich im Frühjahr vor sechs Jahren zugetragen – vom Datum ausgehend, an dem ich diesen Brief jetzt abfasse –, also etwa ein halbes Jahr, bevor Sie herkamen. Damals ist ein junger Mann namens Alexander Höllerich nach Waldstein gekommen. Dieser Alexander Höllerich ist aber leider auch hier gestorben – keines natürlichen Todes jedoch, wie ich bedauerlicherweise hinzufügen muß. Er wurde getötet oder ermordet, ich bin mir nicht ganz sicher, welche Bezeichnung ich wählen soll, aber ich schätze, eher letzteres trifft zu. Ich weiß nicht, was mit seinem Leichnam geschehen ist, aber er wurde entweder aus der Stadt gebracht oder im Steinbruch vergraben (was ich aber nicht mit Bestimmtheit zu sagen vermag). Ich gehöre jedoch zu den sehr wenigen, die von seinem Tod Kenntnis haben.

Herr Brackmann, ich habe all die Jahre über geschwiegen, und glauben Sie mir bitte, ich schäme mich zutiefst dafür. Ich schäme mich für mein Schweigen, besonders aber für meine Feigheit. Ich habe oft mit mir gerungen, mit Ihnen oder einer anderen Person meines Vertrauens wie Pfarrer Engler darüber zu sprechen, doch ich konnte es nicht. Ich hätte dadurch noch andere Menschen unglücklich gemacht. Aber vielleicht werde ich irgendwann noch mit unserem Pfarrer sprechen. Denn sollte ich eines Tages sterben, dann möchte ich dies in der Gewißheit tun, mit einem wenigstens einigermaßen reinen Gewissen zu gehen. Ich habe unzählige schlaflose Nächte verbracht und habe seit jenem Tag viele Tränen geweint.

Ich weiß, daß ich niemals hätte schweigen dürfen. Doch auch ich bin nur ein Mensch mit Fehlern und Schwächen, und es gab triftige Gründe, die mich gehindert haben, mein Wissen weiterzugeben. Einer davon war Angst, denn ich glaube zu wissen, wer die Verantwortung für den Tod des jungen Mannes trägt – Jonas Vandenberg.

Bitte verzeihen Sie mir diese Unannehmlichkeit. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Erfolg bei Ihrer Arbeit, und sollten Sie versuchen, den Fall zu klären, so möchte ich Sie eindringlich davor warnen, allzu eifrig ans Werk zu gehen, denn Sie wissen selbst, welche Macht und welchen Einfluß die Vandenbergs besitzen. Ich bitte Sie nochmals, mir mein Schweigen zu verzeihen,

Ihre Maria Olsen

 

Brackmann ließ das Blatt sinken, der Inhalt explodierte in seinem Kopf. Er las ein zweites, ein drittes Mal. Die bislang für Waldstein gültigen Gesetze von Frieden und Anstand waren auf einmal ad absurdum geführt. Dieser Brief war Sprengstoff pur, reinstes Dynamit, und die Zündschnur schien schon zu brennen.

»Kann ich ihnen helfen?« fragte Engler, der Brackmanns Verwirrtheit aus den Augenwinkeln registrierte.

»Keine Ahnung, vielleicht.« Brackmann legte den Kopf zurück und schloß die Augen. Ein Mord, hier in Waldstein, dazu gleich noch die Nennung des Mörders! Oder zumindest des möglichen Mörders oder Anstifters oder welche Rolle immer dieser Jemand bei dem Tod von Höllerich gespielt hatte! Und dieser Mann sollte angeblich nicht irgendwer sein, sondern … Nein, dachte Brackmann, es ist einfach zu unglaublich, um wahr zu sein.

»Brackmann?«

»Ja«, sagte er und setzte sich auf, »ich habe nur nachgedacht.«

»Dann lassen Sie uns anfangen.«

Brackmann stellte einfach nur eine Frage: »Ich gehe davon aus, daß Sie mit dem Inhalt des Briefes vertraut sind?«

Engler zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Könnte sein«, antwortete er ausweichend. »Ich habe ihn jedoch nicht gelesen, der Umschlag war verschlossen, wie Sie ja selbst gesehen haben.«

»Kennen Sie einen Alexander Höllerich? Oder haben Sie schon einmal den Namen gehört?«

»Nein, glaube nicht.« Engler schüttelte den Kopf, ohne Brackmann dabei anzusehen.

Brackmann faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück in den Umschlag. Nach einer kurzen Pause sagte er trocken: »›Glaube nicht‹ hört sich an wie … könnte sein, könnte nicht sein, möglicherweise, unter Umständen, jein.« Brackmann ließ seinen Blick nicht von Engler. Doch Englers Gesicht war eine starre, undurchdringliche Maske, er hatte die Hände aneinandergelegt, berührte mit den Fingerspitzen seine Nase, seine Haltung wirkte angespannt. Er antwortete nichts. Brackmann fuhr fort: »Und was können Sie mir über die Vandenbergs sagen?«

Englers Anspannung löste sich etwas. »Da fragen Sie mich viel. Tatsächlich. Ich fürchte, ich weiß kaum mehr über diese Familie als Sie.« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf, lehnte sich zurück, wirkte nachdenklich. »Ich kann im Prinzip an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft ich sie gesehen habe. Das letzte Mal, daß ich wirklich engeren Kontakt mit ihnen hatte, war bei der Beerdigung von Esther Vandenberg. Ein armes Ding und eine schreckliche Sache, die keinen hier kaltgelassen hat. Sie hatte zu ihrem achtzehnten Geburtstag einen roten Sportwagen geschenkt bekommen und war damit gleich bei ihrer ersten Fahrt in der Nähe des Steinbruchs tödlich verunglückt. Sie ist mit dem Wagen mehr als fünfzig Meter tief in eine Schlucht gestürzt und verbrannt. Das, was von ihr übriggeblieben ist, haben wir auf dem Friedhof beerdigt. Danach ist der ohnehin eher spärliche Kontakt der Vandenbergs zu Waldstein fast völlig abgerissen, mit Ausnahme der Feiern am 15. Mai. Sie müssen wissen, Esther war so etwas wie ein Bindeglied zwischen den Vandenbergs und den Menschen im Ort gewesen. Immer fröhlich, immer gutgelaunt, sie war einfach unbeschwert, ihr war es egal, ob jemand reich war oder arm, sie machte keine Unterschiede. Sie hob sich in angenehmer Weise vom Rest der Familie ab. Und sie scherte sich einen Teufel um Konventionen.« Eine kurze Pause, ein Lächeln, ein schneller Blick auf Brackmann. »Nein, ich kann sonst über die Vandenbergs nichts sagen, weder positiv noch negativ.«

»Gar nichts? Sie leben seit Jahrzehnten hier in Waldstein, und Sie wissen nichts?« fragte Brackmann, der seine Erregung nur mühsam unterdrücken konnte.

»Was ich weiß, wissen alle. Die Vandenbergs sind reich, ihnen gehört praktisch ganz Waldstein, und was ihnen nicht direkt gehört, gehört irgend jemandem, der mit ihnen verwandt oder verschwägert ist. Mich wundert sowieso, daß sie noch immer in Waldstein leben, wo sie doch ihre Geschäfte in der ganzen Welt tätigen. Nun gut, sie haben ihre Flugzeuge, ihre schnellen Autos, und vielleicht sitzen die Wurzeln einfach so tief, daß sie es nicht übers Herz bringen, wegzuziehen. Schließlich leben sie schon seit vielen Generationen hier.«

Brackmann erhob sich, steckte den Brief in die Brusttasche seines Hemdes, schaute auf seine staubigen Schuhe, den nicht minder staubigen Saum seiner Hose. Das schweißnasse Hemd begann allmählich zu trocknen und an seiner Brust und dem Rücken zu kleben, seine Haut juckte. Engler verschwieg ihm etwas. Es war eine vage, doch sichere Ahnung, und er würde nicht lockerlassen; selbst wenn es härtester Granit war, durch den er sich bohren mußte, er würde herausfinden, was Engler wußte und verheimlichte.

»Ich denke, ich sollte mich jetzt wieder auf den Weg machen. Aber ich bin sicher, wir werden uns bald wiedersehen.«

Engler hielt die Hände wieder wie zum Gebet gefaltet vor sein Gesicht.

»Ich finde allein hinaus.«

»Nein, nein«, sagte Engler und erhob sich schnell, »ich begleite Sie natürlich.« Er lächelte jetzt, seine Verkrampfung hatte sich gelöst. »Stehen Sie eigentlich gut mit Gott?« fragte er im Hinausgehen.

»Wie meinen Sie das?«

»Wie ich es gefragt habe.«

»Nun, ich habe nichts gegen ihn, und ich hoffe, er hat auch nichts gegen mich. Ich denke, wir kommen miteinander aus, zumindest tritt keiner dem andern auf die Füße.«

»Und Sie glauben, das genügt?«

»Ich habe mir noch keine Gedanken weiter darüber gemacht. Ich hatte bisher ehrlich gesagt nicht den Eindruck, etwas versäumt zu haben.«

»Nun, ich frage nur, weil ich Sie noch nie sonntags zum Gottesdienst begrüßen durfte. Es wäre schön, wenn sich das ändern würde. Und möglicherweise könnten Sie dann die Menschen hier noch besser kennenlernen. Was halten Sie davon?«

Brackmann zuckte mit den Schultern. Natürlich, dachte er, schaden würde es sicher nicht. Auch wenn er nicht wirklich an Gott glaubte. Aber er würde die Kirche besuchen, wenigstens einmal, damit Engler beruhigt war. Und um so vielleicht einen besseren Kontakt zu ihm zu bekommen.

»Gut, ich werde nächsten Sonntag kommen. Versprochen. Und Sie helfen mir, wenn ich Fragen habe – Sie wissen, was ich meine. Einverstanden?«

»Was immer es ist und wann immer Sie wollen, ich werde Zeit für Sie haben. Sie können auf meine Hilfe zählen.« Engler reichte Brackmann die Hand. Du lügst, dachte Brackmann, während er Engler direkt in die Augen sah und die ihm gereichte Hand schüttelte. Und ich werde herausfinden, was du mir verheimlichst!

Als er durch die Tür ins Freie trat, glaubte Brackmann, in einen Glutofen zu geraten – als wäre es noch heißer geworden, heißer und drückender. Milchiger Wolkenflaum verschleierte die Sonne, der vor einer Stunde noch so böige Wind war kaum noch spürbar. Er fuhr zum Büro. Es gab mehrere Fragen, die ihn auf dem Weg dorthin beschäftigten. Und alle drehten sich um Maria Olsen, um Engler, vor allem aber um diesen Alexander Höllerich. Warum, zum Beispiel, hatte Engler nicht gleich, als er von der traurigen Nachricht erfuhr, den Brief erwähnt, sondern so getan, als hätte er ihn nur vergessen? Warum hatte er nicht nachgefragt, wer dieser Höllerich war und was es mit ihm auf sich hatte? Und war da nicht auch ein kurzes, erschrockenes Aufblitzen in seinen Augen gewesen, als Brackmann den Namen Höllerich erwähnte? Und vor allem, was genau hatte Maria Olsen mit dem Pfarrer am Sonntag zu besprechen gehabt? Mit Sicherheit mehr, als im Brief stand. Und überhaupt, wer war dieser Alexander Höllerich? Und was genau war wann und warum geschehen?

Er würde Zeit brauchen, um auf alle Fragen die passenden Antworten zu finden. Maria Olsen hatte ein Puzzle mit vielen Teilen vor ihm ausgeschüttet, und er hatte nun die mühevolle Aufgabe, diese Teile so rasch wie möglich zu einem zusammenhängenden Bild zusammenzusetzen. Und Engler würde ihm dabei helfen, denn er würde Engler keine Ruhe lassen.

Brackmann stoppte den Wagen vor seinem Büro und stieg aus. Kein Lufthauch mehr, Windstille. Es war kurz nach vier, die Geschäfte hatten wieder geöffnet, ein paar Kinder, die aus den Mauselöchern gekrochen kamen und auf den Gehwegen oder in Gärten spielten. Die Bürgersteige füllten sich mit Menschen, die langsam, mit von der Hitze bestimmten Schritten und ausdruckslosen Gesichtern ihrer Wege gingen. Waldstein war aus seinem Mittagsschlaf erwacht.

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Kapitel 4

Er wippte wieder, wie immer, wenn sein Mittagsschlaf beendet war. Geweckt wurde er von Pickards Leichenwagen, der an seinem Haus vorüberfuhr. Charlie hatte die Hände über dem Schoß gefaltet, sah dem schwarzen Mercedes nach, bis dieser hinter der Biegung verschwunden war. Irgendwer mußte gestorben sein, denn umsonst fuhr Pickard nie mit dem langen, schwarzen Vehikel durch den Ort.

Nun, Charlie kümmerte es einen Dreck, wen es erwischt hatte, solange es sich nicht gerade um den alten Willy oder Toni handelte. Ihn interessierten die anderen nicht, so wenig wie sich die anderen für ihn interessierten.

Die Verandadielen knarrten unter dem sich vor- und zurückbewegenden Schaukelstuhl, das kleine Windrad hatte aufgehört sich zu drehen. Seine Zunge klebte am Gaumen, die Kehle war trocken wie Wüstensand, ein Zustand, den Charlie nie lange aufrechterhielt. Er war gerade achtundfünfzig oder neunundfünfzig, vielleicht aber auch erst sechsundfünfzig oder siebenundfünfzig, genau wußte nicht einmal er das, aber die Arbeit auf den Flachsfeldern und in der Fabrik, wo er seit seinem zwölften Lebensjahr hatte schuften müssen, hatte tiefe Spuren in seinem Gesicht und auf seinem Körper, aber auch auf seiner Seele hinterlassen.

Charlie war selbst in betrunkenem Zustand ein mürrischer, wortkarger Mann, der außer Toni und Willy keine Freunde hatte. Über zehnmal war er von Kreuzottern gebissen worden, er selbst behauptete, inzwischen immun gegen das Gift zu sein, sein Rücken war krumm von der jahrzehntelangen Arbeit in gebückter Haltung und schmerzte seit vielen Jahren, und nur Schnaps vermochte die Schmerzen zu lindern. Eigentlich sah er aus wie siebzig, eine knochige, hohlwangige, unrasierte, ungepflegte Gestalt.

Der gichtgeplagte Mann quälte sich aus dem Schaukelstuhl und schlurfte mit steifen Beinen zu Toni. Mitten auf dem Weg blieb er stehen, richtete seine Augen gen Himmel, warf einen Blick zurück auf sein Haus, das windschief, vernachlässigt und reparaturbedürftig etwas oberhalb der Straße stand. Er fuhr sich mit knöchernen Fingern über die festen grauen Bartstoppeln und stieß einen kurzen Seufzer aus. Ich müßte was an dem Haus machen, verdammt! Sieht wirklich nicht gut aus. Er dachte das nicht zum ersten Mal, aber in der Regel vergaß er seine Gedanken und Vorsätze, sobald das Haus außer Sichtweite war, und wenn er zurückkehrte, war er meist so besoffen, daß die baufällige Hütte ihm wie ein Palast erschien.