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»Eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei« Orhan Pamuk Als Mustafa beim Fischen ein kleines Baby entdeckt, das von einem der vielen Flüchtlingsboote in der Ägäis stammt, ändert sich für ihn und seine Frau Mesude alles. Statt das Kind den Behörden zu übergeben, versteckt Mustafa es. Doch was, wenn die Mutter des Kindes noch lebt? Ein Roman von großer emotionaler Wucht über Elternschaft unter existenziellen Umständen. Mustafa und Mesude leben in einem kleinen Dorf in der Ägäis vom Fischfang. Seit ihr kleiner Sohn Deniz ertrunken ist, zeigt sich das Glück nur noch selten. Doch als Mustafa eines Morgens aufs Meer hinausfährt, sieht er die Leichen von zwei Menschen, die auf dem Seeweg nach Europa umgekommen sind, und er rettet ein lebendes Baby aus einem kleinen Schlauchboot. Mustafa und Mesude wissen, dass sie das Kind offiziell melden müssen, doch vor allem Mustafa versucht alles, um das Baby behalten zu können. Eindrücklich und poetisch erzählt Zülfü Livaneli meisterhaft von einem menschlichen Drama und davon, was elterliche Liebe wirklich bedeutet. »Zülfü Livaneli ist ein türkisches Universalgenie, das zu den wichtigsten Stimmen seines Landes zählt. Er ist zugleich Literat, Dichter und Musiker. Poesie bringt er in die Musik, vielfarbige Töne und Klänge in seine Bücher. Mit eleganter Leichtigkeit schlägt er große Bögen, etwa von Hannibal zu Hemingway. Sein neuestes Buch in Deutsch vorliegen zu haben, ist ein großes Glück.« Claudia Roth
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Seitenzahl: 224
Zülfü Livaneli
Der Fischer und der Sohn
Roman
Aus dem Türkischen von Johannes Neuner
KLETT-COTTA
Die Zitate von Ernest Hemingway entstammen dem Roman Der alte Mann und das Meer, in der Übersetzung von Annemarie Horschitz-Horst. Rowohlt, 1952.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Balıkçı ve Oğlu im Verlag İnkılâp, Istanbul.
© 2021 by Zülfü Livaneli
This translation published by arrangement with Other Press LLC
Für die deutsche Ausgabe
© 2023 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung
Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Cover: ANZINGER UND RASP KOMMUNIKATION GmbH, München
unter Verwendung einer Abbildung von © Arcangel
Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen
Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-608-98692-1
E-Book ISBN 978-3-608-12155-1
Zweifellos besaß ich in meiner Kindheit Spielzeuge, doch erinnere ich mich an keines davon. Wahrscheinlich machte ich mir einfach nichts aus ihnen. Dafür hatte ich als Grundschüler in der antiken Stadt Amasya, wo mein Vater Staatsanwalt war, drei Zeitschriften abonniert: Çocuk Yuvası, Pekos Bill und Köroğlu. Es war damals ein erhebendes Gefühl, drei Magazine auf meinen Namen zu erhalten. Ich vergrub mich in ihnen und verbrachte unzählige Stunden in einem Ozean des Lesevergnügens. Mir schwirrte regelrecht der Kopf davon. Außerdem hatten es mir die Abenteuer des Comic-Helden Sadık Demir in der Zeitung Yeni Sabah angetan, die täglich in unser Haus flatterte. Erst später erfuhr ich, dass es sich dabei um eine Übersetzung des von dem US-Amerikaner R. B. Fuller gezeichneten Oaky Doaks handelte.
Als ich Jahre darauf in Ankara die Mittelschule besuchte, hatte meine Leidenschaft extreme Ausmaße angenommen. Ich las zwar alles, was mir zwischen die Finger geriet, am meisten jedoch beeindruckten mich die amerikanischen Romanautoren Ernest Hemingway, Jack London, Erskine Caldwell und John Steinbeck (in gesetzterem Alter sollte sich noch eine Vorliebe für William Faulkner hinzugesellen). In unserem Haus in Ankara waren die Wände meines Zimmers mit Bildern von Ernest Hemingway bedeckt. Samstag für Samstag ging ich in die amerikanische Bibliothek, schnitt aus Magazinen wie Life heimlich alles aus, was irgendwie mit Hemingway zu tun hatte, trug es nach Hause und heftete es ab. Auf meinem Schreibtisch hatte ich neben den türkischen auch die englischen Ausgaben seiner Werke stehen. Jede Biographie über ihn hatte ich Zeile für Zeile gelesen, einschließlich die seines Bruders Leicester Hemingway. Hemingway vermittelte mir ein Gefühl von Freiheit. Ich spürte, dass ich das Leben, das sich vor mir erstreckte, so führen wollte wie er. Jedenfalls nicht so wie die gewöhnlichen Menschen, das war mir klar. So verleitete mich meine Leidenschaft für Hemingway auch zu einigen Eskapaden. Wobei ich zunächst jedoch von dem geheimen Büchertempel erzählen sollte, den ich mir in der 35. Straße in Bahçelievler eingerichtet hatte.
Meine Familie, die sich anfangs erfreut gezeigt hatte, dass ich so viel las, begann, als die Sache aus dem Ruder lief, sich mehr und mehr zu sorgen. Ich erinnere mich sogar, wie meine Mutter einmal eines meiner Bücher zerriss. Der Schulunterricht litt, weil ich morgens nicht mehr aus dem Bett kam. Das eigentliche Leben spielte sich für mich nachts ab, wenn ich mich in meine Bücher vertiefen konnte. Während die meisten meiner Freunde ins Kaffeehaus gingen und Tavla oder Karten spielten, hatte ich dort noch keinen Fuß hineingesetzt und kannte mich mit derartigen Aktivitäten nicht aus.
Irgendwann sah sich mein Vater gezwungen, mir die nächtliche Lektüre zu verbieten. Nachdem alle sich hingelegt hatten, trat er hin und wieder vor mein Zimmer und kontrollierte durch die Milchglasscheibe der Tür, ob noch Licht brannte. Wenn nicht, drehte er sich wortlos um und ging, anderenfalls öffnete er die Tür und befahl mir, sofort zu schlafen. Einige Nächte wälzte ich mich ruhelos in meinem Bett. Dann fand ich die Lösung: Ich ließ meine Decke so über den Rand des Bettgestells hängen, dass sie, dicht abschließend, bis zum Boden reichte. Auf dem Steinboden unter dem Bett breitete ich eine Wolldecke aus. Eine kleine Lampe, die ich an die Steckdose anschloss, leuchtete den Innenraum wunderbar aus. Ich überprüfte es ein paarmal von außen: Es drang keinerlei Licht durch. Damit begannen für mich außerordentlich vergnügliche Nächte. Am Kopfende meiner geheimen Kammer stapelte ich Bücher, holte mir einen Teller mit Obst aus der Küche und wähnte mich bis zum Morgen im Paradies. Meine Eltern, die hin und wieder an der Tür vorbeikamen, dachten, ich sei endlich von meiner übermäßigen Leselust geheilt und schliefe selig und süß.
In dieser Phase gab es auch erste Versuche, selbst etwas zu Papier zu bringen: Ich adaptierte Hemingways Roman Wem die Stunde schlägt für die Radiosendung Arkası Yarın, wodurch ich lernte, gute Dialoge zu schreiben. Für einen von der Zeitung Milliyet ausgeschriebenen Wettbewerb besuchte ich diverse Besserungsanstalten für Jugendliche, um eine Studie mit dem Titel »Kriminelle Kinder« zu verfassen. Inspiriert von Hemingway schrieb ich einen Roman über das Leben eines fiktiven Stierkämpfers namens Amarillo. Wahrscheinlich ein fürchterliches Werk, aber immerhin hatte ich als fünfzehnjähriger Junge, der seine Grenzen ausloten wollte, mein erstes Buch geschrieben.
So lange ich denken kann, hatte ich immer eine große Zyste hinter dem Ohr. Diese Zyste, die mein Ohr nach vorne bog und auf all meinen Kindheitsbildern deutlich erkennbar ist, musste irgendwann entfernt werden. Sie wurde abgeschabt, in einer fünfzigminütigen Operation ohne Betäubung. Da dies direkt an meinem Ohr geschah, hörte ich das Schaben des Messers in beängstigender Lautstärke. Es war, als würde die Operation per Lautsprecher übertragen, und trotzdem blieb ich vollkommen entspannt. In dem Buch, das ich zwei Tage zuvor gelesen hatte, hatte sich Ritter Pardaillan von einer Schwertwunde nämlich ebenfalls in keiner Weise beeindrucken lassen. Den wichtigsten Einfluss aber übte wieder Hemingway aus. So heldenhaft, wie er allen Schmerzen begegnet war, wollte auch ich sie ertragen, ohne einen Laut von mir zu geben.
Nach der Operation sah mir der Arzt anerkennend ins Gesicht und sagte: »Bravo, mein Junge! Was bist du für ein tapferer Kerl!« Er ahnte eben nicht, welche schmerzlindernde Wirkung von Büchern ausgehen kann.
Ich habe sämtliche Werke Hemingways mehrfach gelesen, aber Der alte Mann und das Meer kenne ich fast auswendig. Es kommt mir vor, als wäre ich Santiago, der »jetzt bestimmt für immer salao sei, was die schlimmste Form von Pechhaben ist«, persönlich begegnet. Ich spürte bei jeder Lektüre das Salz der Karibik auf meiner Haut, und der saure Geschmack von Hering zog mir die Zunge zusammen.
Als ich mit vierundvierzig Jahren die Karibik zum ersten Mal sah, hatte ich das Gefühl, als würde ich sie wiedererkennen. Es war, als wäre sie eines der Meere meiner Kindheit.
Zwischen der bezaubernden Welt Hemingways und meinem eintönigen Leben in Ankara jedoch klaffte ein Abgrund. Ich bewegte mich nur zwischen Schule und Zuhause hin und her, und meine Tage erschienen mir monoton, bedrückend und sinnlos. In der Schule langweilte ich mich entsetzlich.
Wenn das Schuljahr sich dem Ende entgegenneigt, lasten schlechte Noten und nicht bestandene Prüfungen auf der Brust eines Schülers wie ein Berg, der einem das Herz zu zermalmen droht. Nach dem ganzen Verdruss und Trübsinn sitzt man zu Beginn des Sommers tatenlos herum. Die Tage sind schal und gleichförmig, wie die hintereinander aufgereihten Perlen einer Gebetskette, und man weiß nichts mit sich anzufangen.
In der Luft liegt ein verheißungsvoller Frühjahrsduft. Der matte Wohlgeruch der Akazien in den Straßen prägt die jugendlichen Nächte. Doch während die Natur erwacht und die Knospen sprießen, bleibt einem selbst nichts anderes übrig, als im Zimmer zu hocken, zu lesen und die Stubenfliegen zu beobachten, die zum Fenster hereinkommen. Und wenn man wie ich in sieben Fächern durchgefallen ist, verwandelt sich das Leben in ein unentwirrbares Knäuel aus Problemen.
Als ich mein Zeugnis erhielt und die unheilvollen sieben »Ungenügend« sah, tat ich etwas, das ich nie zuvor getan hatte: Ich ging zum ersten Mal im Leben zu einem Fußballspiel. Ich weiß nicht, ob es Auflehnung war oder Flucht. Im »Stadion des 19. Mai« trat Ankaragücü gegen ein Team namens Amerigo an. Das Match begann, und die ausländischen Fußballer spielten mit den Ankaranern Katz und Maus. Das Endergebnis lautete sieben zu null.
Es musste mehr als nur Zufall sein, so dachte ich, dass mir die ominöse Zahl Sieben schon wieder begegnete. Ich ging nach Hause, packte ein paar Kleider ein und nahm auch ein oder zwei Bücher mit. Das Wenige, was ich von meinem Taschengeld angespart hatte, steckte ich ein und verließ das Haus. Es wurde bereits dunkel, als ich den Busbahnhof erreichte. In der hintersten Reihe eines Gazanfer-Bilge-Busses nach Istanbul fand ich noch einen Platz. Ein Freund hatte mir von zwei Küstenstädtchen namens Eskihisar und Darıca vorgeschwärmt. Das Leben dort, gereinigt durch das Salz des Meeres, übte einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus. Und nach Der alte Mann und das Meer konnte ich an fast nichts anderes mehr denken als an Fische, die See und das Abenteuer. Ich war wie eine jugendliche Version jenes Don Quijote, der sich, von Büchern um den Verstand gebracht, auf Reisen begibt.
Gegen Morgen stieg ich an einer Tankstelle auf der Schnellstraße zwischen Ankara und Istanbul aus dem Bus. Es war dunkel, und außer der Tankstelle und zwei Fernfahrercafés gab es hier nichts. Ich betrat eines davon. Umgeben von Lastwagenfahrern und anderen Frühaufstehern trank ich einen Tee. Den blonden Kellner, der nur wenig älter war als ich, fragte ich nach Eskihisar. Er zeigte zur Rückseite des Gebäudes, von dort gebe es einen Waldweg hinunter ans Meer, etwa fünf Kilometer lang.
»Bald dürften die Waldhüter kommen«, sagte er. »Ich sage ihnen, sie sollen dich mitnehmen.«
Als der Morgen dämmerte, kamen tatsächlich zwei Waldhüter, und nachdem sie ihren Tee getrunken hatten, machten wir uns auf den Weg nach Eskihisar. Wir stapften durch einen überaus dichten und gesunden Kiefernwald abwärts. Ihren Nachfragen entgegnete ich, dass ich Student sei und campen wolle. Ich hätte ihnen ja wohl kaum sagen können, dass ich ein Ausreißer war, der nur Bücher im Kopf hatte!
Nach einem beschwerlichen Marsch kamen wir an den Ort, wo sich Hannibals Grab befindet, in die kleine Fischerstadt namens Eskihisar (»Alte Burg«). Vor Christi Geburt hatte sich hier das zum Königreich Bithynien gehörende Libyssa befunden. Der karthagische Feldherr Hannibal, über den ich viel gelesen hatte, beging hier Selbstmord und wurde seinem Willen gemäß an Ort und Stelle begraben. Ich setzte mich an sein Grabmal und las mit lauter Stimme die erste Seite aus Der alte Mann und das Meer. So hatte ich Hannibal und Hemingway miteinander bekannt gemacht. Eskihisar repräsentierte für mich jenes Fischerdorf in der Karibik. Ich war in Hemingways Roman eingetaucht, und es schien mir, als hätte ich den Ort gefunden, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte.
Unter der großen Platane am Ortseingang gab es ein schönes Landcafé. Es wurde von einem Mann namens Hasan betrieben. Ich sagte ihm, dass ich in Ankara studiere und hier Urlaub machen wolle. Sogleich wurde mir die traditionelle Hilfsbereitschaft der Anatolier zuteil, die mir noch so oft das Leben retten sollte. Jedermann versuchte mich zu unterstützen, es war ein Gebot der Gastfreundschaft. Hasan holte Erkundigungen ein, und dann teilte er mir mit, dass ich oben auf dem Hügel im Hause einer alten Frau wohnen könne. Das Haus zeigte er mir von ferne. Es lag weitab der anderen Häuser der Stadt, eine windschiefe Holzhütte, die einsam am Gipfel stand.
Ich eilte aber zunächst zum Strand, suchte mir einen ruhigen Platz, las bis zum Abend Hemingway und genoss das Meer und die Freiheit. Als ich am Abend in Hasans Café knusprig gebratenen frischen Fisch aß, hatte ich zwar einen entsetzlichen Sonnenbrand auf Schultern und Rücken, war aber bester Stimmung.
Es wurde schon Nacht, als ich mich zu dem Ort aufmachte, an dem ich schlafen sollte. Ich begann, den Hügel zu erklimmen. Die Bebauung wurde spärlicher. Während ich auf die düstere Holzhütte zumarschierte, die im Mondlicht einen unheimlichen Eindruck machte, fand ich mich plötzlich auf einem Friedhof wieder. Ich fühlte mich, als wäre ich von einem Abenteuerfilm in einen Horrorfilm geraten. Mit einem seltsamen Schaudern erreichte ich das Holzhaus. Die Tür war nicht abgeschlossen, also stieß ich sie auf und trat ein. Drinnen kein Laut. In der Stille des Hauses roch es nach Weihrauch. Die Holzdielen knarzten unter meinen Füßen, und ich fragte laut, ob jemand da sei. Da drang aus einem Hinterzimmer ein Stöhnen, und ich ging darauf zu. Als ich eintrat, lag dort die alte Frau. Im Mondlicht, das durchs Fenster fiel, wirkte ihr Anblick äußerst befremdlich. Die Alte, von der ich später erfuhr, dass sie das Bett nicht mehr verlassen konnte, schaute mich an, ohne etwas zu sagen, nur ächzte sie ab und zu. Ich stieg eine Etage höher, ließ mich ins erste Bett sinken, das ich finden konnte, und fiel in einen unruhigen Schlaf, der bis in den Morgen hinein von Albträumen und obskuren Visionen unterbrochen wurde.
Mit dem ersten Licht des Tages verließ ich das Haus und sagte zu Hasan, dass ich dort unmöglich bleiben könne. Außerdem wolle ich arbeiten und die Fischerei erlernen. Hasan sprach mit einem Fischer und fand eine Anstellung für mich. Auf dem Boot eines erfahrenen Mannes, den man den Feldwebel nannte, sollte ich die Netze in Ordnung halten, für Sauberkeit sorgen und ihm beim Fischfang zur Hand gehen. Freudig begann ich mit meiner Tätigkeit, später erteilte mir der Feldwebel dann auch die Erlaubnis, auf dem Boot zu übernachten. Früh morgens fuhren wir hinaus und brachten die Langleine und die Netze aus. Der Feldwebel lehrte mich, wo man die besten Fischgründe fand, wie man das Netz auswarf und wieder einholte und welche mir noch unbekannten Meereswesen es gab, und manchmal zeigte er mir sogar, wie man im tiefen Wasser mit der Harpune jagte.
Während ich, so wie er es mir beigebracht hatte, die vollen Netze leerte und die brauchbaren Fänge ins Boot und die unbrauchbaren zurück ins Wasser warf, war er stets an meiner Seite. Eines Tages entdeckte ich im Netz ein seltsames graues Geschöpf, das einem Steinbutt nicht unähnlich sah. Es schien keine Stelle zu geben, an der man es anpacken konnte, nur ein Loch konnte ich sehen. Ich wollte gerade hineingreifen, da hielt mich der Feldwebel hastig zurück. Hätte ich auch nur den kleinen Finger hineingesteckt, der Fisch hätte wohl meine ganze Hand verspeist.
Nachts lag ich unter offenem Himmel auf dem Boot, betrachtete die Sterne und genoss mein Abenteuer inmitten von Meer, Salz und im Wasser sich spiegelndem Mondlicht. Ich hatte beschlossen, mein Leben lang in Eskihisar zu bleiben, auf Fischfang zu gehen und Bücher zu schreiben. Ein anderes Leben wollte ich nicht. Das Einzige, was mir ein wenig Sorgen bereitete, war, dass ich meine Familie hintergangen hatte. In meinem jugendlichen Leichtsinn blendete ich das zwar weitgehend aus, doch das schlechte Gewissen nagte an mir und sorgte dafür, dass ich stets ein leichtes Schuldgefühl mit mir herumtrug.
Zwei Monate später beschloss ich, nach Ankara zu fahren und meiner Familie alles zu erklären (im Nachhinein erfuhr ich, dass sie innerhalb dieser zwei Monate fast verrückt geworden wären vor Sorge und mich überall gesucht hatten). Über Waldwege stieg ich hoch bis zur Schnellstraße. Ich trat an einen Wagen heran, der an der Tankstelle gehalten hatte, um dort zu tanken, stellte mich als Student vor, der nach Ankara müsse, und wurde mitgenommen. So waren wir also auf dem Weg nach Ankara. Am Steuer saß ein Piloten namens Koparal, auf dem Rücksitz seine Mutter.
In Ankara rief ich einen Freund an und verabredete mich mit ihm vor dem großen Kino. Während ich dort in der Menge auf ihn wartete, bekam ich plötzlich meinen Onkel zu Gesicht. Mir wurde klar, dass mein Freund mich bei ihm angeschwärzt haben musste, und rannte los. Doch mein Onkel rannte hinterher, holte mich ein und brachte mich in mein Elternhaus. Als wir das Wohnzimmer betraten, saßen meine Mutter, mein Vater und meine drei Geschwister am gedeckten Tisch. Sie wollten gerade mit dem Essen beginnen. Mein Vater sah mich aus dem Augenwinkel an und sagte, an meine Mutter gewandt: »Şükriye, stell doch bitte noch einen Teller dazu.« Ich kann nicht beschreiben, welche Scham ich während des Essens empfand. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Meine drei Geschwister, die alle jünger waren als ich, musterten mich mit neugierigen Blicken, wagten es jedoch nicht, etwas zu sagen. Auch wurde während des Essens kein Wort gesprochen, und so strafte meine Familie mich mit erdrückender Stille. Danach ging bald alles wieder seinen normalen Gang. Ich paukte für die Schule, büffelte nächtelang und wurde versetzt. Meine Kindheitsträume von Eskihisar und Hannibal versanken als ein aufregendes Abenteuer in der Erinnerung. Doch meine Leidenschaft für Hemingway und das Meer prägte weiter mein Leben. Das Buch, das Sie in Händen halten, ist eine Folge dieser Leidenschaft, eine Hommage an jenen Papst der Literatur. Denn er hat nicht nur das Leben zahlreicher Leser weltweit, sondern unwissentlich auch das eines Ankaraner Jungen für immer verändert.
Vielleicht hätte ich nicht Fischer werden sollen, dachte er. Aber dafür bin ich geboren.
Ernest Hemingway, Der alte Mann und das Meer
Noch schlief das Meer, es regte sich nicht, bald würde eine leichte Brise es wecken. Der vor der Morgendämmerung einsetzende Wind und die Feuchtigkeit, die sich in der Nacht angesammelt hatte, würden die seit Stunden anhaltenden Beinschmerzen des Fischers rasch lindern. Es war Zeit aufzustehen, nun, da das Meer sich von dunklem Blau in ein seltsames Weiß verfärbte. Der Himmel, der Tag für Tag neue Formen erschuf, würde die Menschen auch heute wieder in Erstaunen versetzen; erst violett, dann rosa, dann milchig weiß, würde er schließlich in allen möglichen Farben erstrahlen und sich in der schillernden Oberfläche des Meeres spiegeln.
Der Fischer hatte das Erwachen des Meeres niemals versäumt. Jeden Morgen stand er auf, noch ehe es dämmerte, trank ein Teeglas Olivenöl und machte sich auf zum Fischereihafen. So hielt er es seit Jahren. Olivenöl auf nüchternen Magen zu trinken, das hatte er von den Alten des Ortes gelernt, die bei guter Gesundheit mehr als hundert Jahre alt wurden. Wobei ihre Körper mit der Zeit so knorrig wurden wie die Stämme der Olivenbäume, deren Früchte sie seit Generationen pressten. Es war das Geheimnis der Ägäis für ein langes Leben.
Als er den Hafen erreichte, war es heller geworden, doch auf dem Feldweg war noch niemand zu sehen. So früh wie er brach keiner auf. Das war dem wortkargen Fischer, der die Einsamkeit liebte, nur recht. Er war ein großer, hagerer Mann. Seine hohlen Wangen, seine graugrünen Augen und die zerzausten hellbraunen Haare verliehen seinem Gesicht eine natürliche, urwüchsige, ungekünstelte Schönheit. Er hatte die Ausstrahlung jener Männer, die ihr Brot mit körperlicher Arbeit verdienen, und glich in keiner Weise seinen verweichlichten Geschlechtsgenossen aus der Stadt, die in mittleren Jahren zur Rundlichkeit neigten und ihn wiederum als zu wild, zu männlich, zu hart empfunden hätten. Wer allzu viele Gedanken im Kopf wälzte und der verwirrend komplexen Welt mit besonders fein entwickelten Sinnen beizukommen versuchte, dem wäre es ohnehin schwergefallen, in so einem Fischerdorf zu leben. Das Leben hier war beschwerlich, und wer seinen Körper nicht bis zur Erschöpfung antrieb, hielt es nicht durch. Ein solches Leben verlangte nicht nur von den Frauen und Männern des Dorfes, sondern sogar von den Kindern beständige Schicksalsergebenheit.
Mustafa bat niemanden um etwas. Und es ärgerte ihn, wenn andere sich bei ihm Köder, Angeln oder Leinen borgten, bevor sie auf Fischfang gingen. Er gab ihnen, wonach sie ihn fragten, aber er tat es mit finsterer Miene. Wenn ich meine Arbeit richtig mache, dann könnten die es auch, dachte er. Als sein ehemaliger Meister, Kapitän Tahsin, für den er schon als kleiner Junge gearbeitet hatte, erschöpft aus dem Erwerbsleben ausgeschieden war, hatte Mustafa ihm den schönen betagten Außenborder nach und nach abgestottert. Auf den abgewetzten, an den Griffen schwarz gewordenen Rudern, an der Pinne, der von der Angelschnur eingeritzten Reling und dem Deckel der Bünn, der bei laufendem Motor beständig vibrierte, hatten sich die Spuren dreißigjähriger Arbeit tief eingegraben – hinterlassen von den Händen seines Meisters und seinen eigenen Händen. Die waren von der Sonne ledern geworden und glichen zwei kräftigen, unabhängigen Meeresgeschöpfen.
Nachdem er die Leinen gelöst hatte und ins Boot gesprungen war, sprach er wie jeden Morgen ein vernehmliches »Bismillah«, um sich Gottes Beistand zu versichern. Der Motor, der ihm seit Jahren treu gedient hatte, nahm tuckernd seine Tätigkeit auf. Das in die Bucht hinausgetragene Geräusch beruhigte ihn, wie stets. Das Wasser lag still, und das schnelle, wendige Boot glitt ungehindert ins Meer hinaus. Zu dieser morgendlichen Stunde war das zu erwarten, aber bald schon würde eine leichte Dünung einsetzen, je höher die Sonne kletterte, desto launischer würde das Meer, es würde die Wellen höher treiben, bis es am Nachmittag wütende Stürme zu entfachen vermochte, wie eine Liebende, die sich, nachdem sie sich lange geziert hat, dem Geliebten endlich bedingungslos hingibt.
Mustafa schaltete sein kleines Radio ein, das er immer dabei hatte, und ein wehmütiges ägäisches Volkslied ertönte: Schaum auf den Wassermassen, hey, Liebste, rinna nay, rinna rinna nay / Und mich im Boot forttragen lassen, hey, Liebste, hey … Die Musik, die ihm eine liebe Weggefährtin war, würde so lange nicht verstummen, bis er mit der Arbeit fertig und zurückgekehrt war. Oder zumindest glaubte er, dass es so wäre, weil es sich jeden Tag so verhielt. Heute war in dem Sender, der nur ägäische Volksweisen, Zeybeks und andere Tänze sowie Klagelieder spielte, zufällig das Lieblingslied seines verstorbenen Vaters zu hören. Was mich nun gehen lässt aus dieser Welt, hey, Liebste, rinna nay, rinna rinna nay / Ist die Liebe zur Heimat, hey, Liebste, hey …, so ging dieser Klassiker weiter.
Sein Vater war ein armer Mann gewesen, dessen Leben vom Meer aufgezehrt worden war. Damals hatte es hier noch keine Touristen gegeben, Fische waren reichlich vorhanden und dementsprechend billig, und seine Fänge reichten kaum aus, die Familie zu versorgen. Nur ein paar Kurusch bekam er dafür. Jetzt wurden Fische teuer bezahlt; die Preise für Kalmare, Kraken, Miesmuscheln und Garnelen waren horrend, allerdings hatte das Meer auch an Reichtum eingebüßt. Man fischte nicht mehr wie damals mit bleibeschwerten Paternostern, an denen Haken an Haken saß. Heutzutage grasten riesige Schiffe mit Sonar, die aus fernen, fremden Gewässern kamen, den Meeresgrund ab. An den Küsten hatten teure Restaurants eröffnet und wetteiferten darum, den frischesten Fisch einzukaufen. Diejenigen aber, die diese Fische fingen, würden ihr Leben lang keinen Fuß dort hineinsetzen. Wie denn auch, bei den Preisen? Die Istanbuler geben das, was wir pro Monat verdienen, für ein einziges Abendessen aus, so raunten sie einander zu. Und manche behaupteten gar, in den Luxushotels bekäme man dafür gerade einmal einen Drink. Ohnehin wären die Dorfbewohner nie darauf gekommen, Geld auszugeben, um auswärts Fisch zu essen. Absurd wäre ihnen das erschienen. Ja, die Restaurants waren gute Kunden, aber selbst das reichte nur gerade so, um die Fischer über die Runden zu bringen.
Mustafa würde die Hände seines Vaters niemals vergessen. Riesige, unförmige, harte, schwielige, ja fast unmenschliche Hände waren das gewesen. Wenn er die Hand seines Vaters gehalten hatte, so war es ihm immer vorgekommen, als berühre er die Rinde eines Baums. Jetzt waren seine eigenen Hände genauso. Sein Vater war ein zäher Mann gewesen, hatte geraucht wie ein Schlot, und war dann auch viel zu früh an Lungenkrebs gestorben. Sein altgedientes Ruderboot hatten sie verkauft, um ihre Schulden zu tilgen.
Das Tuckern des Motors hallte von den schlafenden Häusern der Bucht wider und wurde an andere Ufer getragen. Ein heftiger Sturm hatte während der letzten drei Tage das Meer aufgewühlt und auf die Küste eingedroschen, aber jetzt herrschte tiefe Stille. Außer einigen Abfällen, die träge am Ufer vor sich hindümpelten, hatte er keine Spuren hinterlassen. Und auch die würden von selbst wieder verschwinden. Ohnehin störten Abfälle nur die Touristen, die im Meer baden wollten, und nicht die Fischer, die nicht ins Wasser gingen, solange sie nicht mussten.
Die langen Jahre, die vergangen waren, hatten Mustafa, wie Tang, Fische, Felsen, Sand und Kiesel, zu einem Teil des Meeres gemacht. Er atmete mit dem Meer, war wütend, wenn es wütend, ruhig, wenn es ruhig, traurig, wenn es traurig war. Für gewöhnlich war er ein stiller Mann und sprach nicht, solange es nicht unbedingt erforderlich war.
Oft sah man ihn, eine Zigarette im Mund, wie er allein ein Netz flickte, das Boot schrubbte oder versunken in die Ferne blickte. Er saß nicht mit den anderen Fischern im Café, spielte nicht Okey und trank abends seinen Rakı immer nur zu Hause. Die Alten, die ihn schon als Kind gekannt hatten, erzählten, er sei schon immer in sich gekehrt gewesen, doch als sein Sohn, den er – nach dem Meer – Deniz genannt hatte, als Siebenjähriger ertrunken war, hatte er sich noch mehr in sein Innerstes zurückgezogen. Eines Tages war er mit seinem Sohn hinausgefahren – und ohne ihn wieder zurückgekehrt. Seitdem hatte er sich in einen lebenden Toten verwandelt und nicht einmal mehr mit seiner Frau gesprochen, die von morgens bis abends geweint und sich vor die Brust geschlagen hatte.
Nur einmal hatte er sie mit blutunterlaufenen Augen angesehen und zu ihr gesagt: »Das Meer hat Deniz zu sich genommen. Es wird schon wissen, warum.« Ob Mesude ihm die Schuld an dem gab, was geschehen war? Ob sie sich fragte, warum er ihren Sohn nicht gerettet hatte? Gesagt hatte sie nichts dergleichen. Aber nachdem sie ihren Sohn verloren hatte, schien alle Farbe aus der jungen Frau gewichen zu sein. Ihr Gesicht, ihr Blick, der Glanz ihrer grünen Augen, alles war verblasst. Wenn sie nicht weinte, saß sie da mit hängendem Kopf, wie eine vertrocknete Blume, die zu lange nicht gegossen worden ist. Mann und Frau hatten einander nach diesem unfassbaren Verlust lange nicht mehr in die Augen schauen können. Es war, als dürften sie darüber weder sprechen noch nachdenken, als würden sie Schuld auf sich laden, wenn sie einander an das Ereignis erinnerten, es mit dem kleinsten Gefühlsausdruck heraufbeschworen, es andeuteten, ja, indem sie einfach bloß existierten. Und so war es, als ob sie das Gesicht des anderen nur durch einen Vorhang betrachteten, und sie sprachen ausschließlich über alltägliche oder nicht aufschiebbare Dinge. Das Haus war mit unsichtbaren Minen übersät, die beim geringsten Fehltritt unweigerlich explodieren würden. Und dann gäbe es kein Zurück mehr.
Die Leiche ihres Jungen war nie gefunden worden. Den stürmischen Tag zu vergessen, an dem sich der Unfall ereignet hatte, nicht mehr an ihn zurückzudenken, das wäre Mustafa vorgekommen, als verriete er seinen Sohn. Daher durchlebte er jeden Abend, wenn er den Kopf aufs Kissen legte, das Ereignis bis hin zu seinen schmerzlichsten Einzelheiten erneut, kratzte die Wunde mit den Fingernägeln immer wieder auf. Es erschien ihm beschämend, ohne seinen Sohn weiterzuleben. Das Schuldgefühl war so frisch wie am ersten Tag. Hätte er nicht gewusst, dass es die größte Sünde wäre, hätte er sich selbst in den tobenden Fluten ertränkt.