Unruhe - Zülfü Livaneli - E-Book

Unruhe E-Book

Zülfü Livaneli

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Beschreibung

Ein aufstrebender Journalist reist aus Istanbul in seine Heimat an die türkisch-syrische Grenze. Dort sucht er nach Spuren eines Freundes und stößt auf die Berichte junger Jesidinnen, die dem IS entkommen konnten. Immer tiefer gerät er in einen Sog aus aktuellen und alten Geschichten, Leidenschaften und Gewalt, der ihn zwingt, seine Herkunft und sein Leben neu zu bewerten. Als Ibrahim, der in Istanbul ein geschäftiges aber gewöhnliches Leben führt, vom Tod seines Jugendfreundes Hüseyin erfährt, kehrt er zum ersten Mal seit vielen Jahren in ihre gemeinsame Heimatstadt Mardin zurück. Auf den Spuren des Freundes erfährt er von dessen geheimnisvoller Verlobten Meleknaz. Fasziniert von den Berichten über die junge Jesidin taucht er ein in die Mythen und Überlieferungen ihrer Kultur und trifft auf eine Gruppe von Frauen, die aus der Gefangenschaft des IS fliehen konnten. Zülfü Livaneli konfrontiert den Leser mit einer emotionalen und hochaktuellen Geschichte nahöstlicher Realität, in der Liebe und Schmerz ineinander übergehen. "Livaneli ist eine unverzichtbare Autorität in der kulturellen und politischen Szene der Türkei." Orhan Pamuk

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Seitenzahl: 185

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Zülfü Livaneli

Unruhe

ROMAN

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

KLETT-COTTA

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Huzursuzluk«

im Verlag Doğan Kitap, Istanbul

© 2017 by Ömer Zülfü Livaneli

Für die deutsche Ausgabe

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: ANZINGER UND RASP Kommunikation GmbH, München

unter Verwendung eines Fotos von © GettyImages /Caowei und Granefeldt, Lena

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96267-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11102-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Für Ülker und Aylin

Mit Dank an meinen Freund Necati Yağcı, der mir über Mardin so vieles beigebracht hat

In dieser kleinen Welt ist jeder verletzt,namenlos, am falschen Ort.

Fernando Pessoa,Das Buch der Unruhe

In deinem Gesicht habe ich das meine gesehen,und auf deinen Lippen meine Stimme gehört.

Ibn Arabi

Weißt du, was Harese ist, mein Junge? Es ist ein alter arabischer Begriff, von dem sich unsere Wörter für Gier, gierig und Habgier ableiten. Lass mich dir erklären, was genau mit Harese gemeint ist. Du weißt ja, dass man das Kamel auch Wüstenschiff nennt. So ausdauernd ist das gesegnete Tier, dass es ohne einen Bissen Nahrung, ohne einen Tropfen Wasser drei Wochen lang unentwegt durch die Wüste ziehen kann. Dort aber wächst eine Distel, auf die das Kamel sehr erpicht ist. Sobald es eine sieht, rupft es sie ab und kaut darauf herum. Die scharfen Dornen reißen ihm das Maul blutig, und mischt sich das salzige Blut mit dem Geschmack der Distel, labt sich das Kamel erst recht daran. Je mehr es kaut, umso mehr blutet es und kann vom eigenen Blut nicht genug bekommen, und lässt man es gewähren, verblutet es. Siehst du, so etwas nennt man Harese. Im Nahen Osten ist es seit jeher üblich, dass man sich gegenseitig umbringt und nicht merkt, wie man sich dabei selbst tötet. Man berauscht sich am eigenen Blut.

Die Reise zu Hüseyin

Vom roten Wind verschluckt

»Und wenn du mich zurück in deinen Bauch steckst, Mama, schützen kannst du mich nicht mehr!«

Das war das Letzte, was er zu seiner Mutter gesagt hatte. Die wischte sich nun mit einem weißen Kopftuchzipfel die Tränen aus den rotgeweinten Augen und wiederholte immer wieder diesen einen Satz. Den hatte damals auch Hüseyins Schwester Aysel gehört, denn auch sie hatte vor der Tür gestanden, als ihr Bruder für immer gegangen war. Sie hatte ihn noch umarmt, doch er hatte ihre Geste nicht erwidern können, so furchtbar geschwächt und der Welt entfremdet war er schon gewesen. Den linken Arm hatte er allein schon wegen seiner Schusswunde nicht mehr hochgebracht. »Irgendwie muss er gewusst haben, dass er in den Tod ging«, sagte Aysel später. »Ich ahnte, dass wir nichts für ihn tun konnten, und das alles wohl nur wegen dieser Frau.«

»Und wenn du mich zurück in deinen Bauch steckst, Mama, schützen kannst du mich nicht mehr!«

Das waren nicht Hüseyins letzte Worte überhaupt, aber doch der letzte Satz beim Abschied von Mutter und Schwester. Der Vater war längst verstorben, die Brüder beide in Amerika.

Als ich zu Hüseyins Familie nach Mardin flog, waren Häuser und Straßen der altehrwürdigen Stadt an der syrischen Grenze mal wieder in roten Staub gehüllt, als habe ein versierter Theaterregisseur sich für Hüseyins düstere Prophezeiung und den brennenden Schmerz seiner Familie um die passende Kulisse bemüht. Ich kannte diese roten Staubwolken. Schon zu Kinderzeiten, als ich Hüseyins Schulkamerad war, wehte es aus der syrischen Wüste so heiß zu uns herüber, dass wir kaum atmen konnten und sandrot eingefärbt wurden. Wenn die roten Winde aufkamen, räumten die Händler ihre Ware weg, jeder flüchtete sich nach drinnen, und wer draußen blieb, schleppte sich mit einem Taschentuch vor dem Mund hustend dahin. Als ich nun nach Jahren in meine Heimatstadt zurückkehrte, stellten sich die roten Wolken zum Empfang wieder ein.

Und das hatten sie auch getan, als Hüseyin sich von seiner Familie verabschiedete. Als sie ihn an der Tür zum letzten Mal gesehen hätten, erzählte Aysel, sei sein Gesicht vor lauter Staub ganz rot gewesen. Die Mutter habe, wie es bei uns Brauch ist, Wasser hinter ihm her geschüttet. »Denk nicht so schlimme Sachen, Junge! Geh wie das Wasser, komm wie das Wasser!« Aber da sei er von der roten Wolke schon verschluckt worden.

»Blutverschmiert habe ich das Gesicht meines Jungen zum letzten Mal gesehen«, sagte die Mutter, und zu Aysel gewandt: »Sprich ja in diesem Haus den Namen dieser Teufelin nicht mehr aus. Sie hat meinen herrlichen Jungen auf dem Gewissen, hat unsere Familie zerstört. Wo sie hintritt, bringt sie Unheil. Nenn sie gefälligst nur noch Teufelin.«

Da wurde ich erst recht neugierig auf die Frau und auf alles, was Hüseyin zugestoßen war. Hier in Mesopotamien war er verletzt worden, dann musste er ausgerechnet nach Amerika, um dort umgebracht zu werden. Hier angeschossen, dort drüben erstochen, was für ein Schicksal!

Bevor Hüseyin knapp zwei Monate nach seiner Ankunft in den USA in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Jacksonville sein Leben aushauchte, brachte er noch mehrfach heraus: »Ich war ein Mensch.« Einer seiner Brüder erzählte später, da niemand den Satz verstand, habe ein indischstämmiger Arzt ihn mit dem Handy aufgenommen. Er spielte ihn später den Brüdern vor und wollte wissen, was er bedeutete. Erst meinte der Arzt, sie hätten ihn wohl nicht genau übersetzt, denn es müsse doch eher heißen »Ich bin ein Mensch«, doch die beiden bestätigten, Hüseyin habe eindeutig die Vergangenheitsform benutzt und somit gesprochen wie ein Toter.

Im nach Mardin übersandten Totenschein hieß es, der türkische Staatsbürger Hüseyin, 32 Jahre alt, weiß (caucasian stand genau da), sei am 26. Juli 2016 um 23.44 Uhr den schweren Verletzungen erlegen, die ihm durch Stiche in die Bauch- und Nierengegend beigebracht worden seien.

Vielleicht sollte ich erst mal erzählen, wie ich in die Sache überhaupt verwickelt worden bin. Eines Vormittags saß ich wie üblich gegen elf Uhr in der Redaktionskonferenz unserer Zeitung, und alle an dem ovalen Tisch spuckten aus, was sie zu bieten hatten. Kollege Recep, den wir mit dem Spitznamen Kommissar aufzogen, wartete wie jeden Tag mit blutigen Meldungen und noch blutigeren Fotos auf, die unsere Seite drei zieren sollten. Wenn er auf seine unnachahmliche Art davon schwärmte, er habe wieder etwas ganz Besonderes, dann wussten wir schon, dass wir auf einen grässlichen Verkehrsunfall oder ein Verbrechen gefasst sein mussten, auf jeden Fall aber auf eine irgendwie verstümmelte Leiche. Je mehr Blut zu sehen war, desto fantastischer fanden wir ein Foto in unserer Zeitungssprache. Er fing mit dem an, was quasi sein tägliches Brot war, nämlich mit an Frauen begangenen Verbrechen. Ein Mann hatte mitten auf der Straße seine Ex-Frau erstochen, ein Polizist mit der Dienstwaffe seine Frau erschossen und sich danach selbst gerichtet; so ging es fort und fort. Zum Abschluss eine Meldung, die ihm nicht sonderlich wichtig schien. In Jacksonville in den USA war ein zweiunddreißigjähriger Türke namens Hüseyin Yılmaz in der von seinen Brüdern betriebenen Pizzeria von Rassisten mit Messerstichen so schwer verletzt worden, dass er im Krankenhaus nicht mehr gerettet werden konnte. Der Bürgermeister der Stadt hatte die Tat in einer Mitteilung scharf verurteilt und von Islamfeindlichkeit gesprochen. Ein blutiges Bild war nicht dabei, da dergleichen in den USA nicht veröffentlicht wurde, doch die Zeitung hatte über das Einwohnermeldeamt von Mardin ein Foto von dem Mann aufgetrieben. Unser Chefredakteur ordnete an, die Meldung nur klein zu bringen, da sie höchstens für religiöse Leser von Interesse sei; ich aber stutzte wegen etwas ganz anderem. Wenn jemand Hüseyin Yılmaz hieß, aus Mardin stammte und zweiunddreißig Jahre alt war, konnte er eigentlich niemand anderes sein als mein alter Schulkamerad Hüseyin; es sei denn natürlich, damals wären dort tatsächlich zwei Hüseyin Yılmaz auf die Welt gekommen. Ich fragte Kommissar Recep, aus welcher Gegend von Mardin der Mann stamme, und als er Kızıltepe antwortete, gab es für mich keinen Zweifel mehr, dass der in Amerika umgebrachte Mann tatsächlich der schmächtige, hellwache Junge war, mit dem ich jahrelang die Schulbank gedrückt, Celikçomak und Murmeln gespielt und aus Nestern Vogeljunge geholt hatte.

Als ich in Mardin ankam und unseren wie durch ein Wunder noch immer nicht zugebauten Platz wiedersah, auf dem allerdings niemand mehr Celikçomak spielte, kam mir aus der Welt der Kindheit jener Hüseyin von damals in den Sinn, und ich stellte ihn mir beim Celikçomak vor. Bei diesem Spiel musste man mit einem Stock auf ein kleineres, auf einem Stein balancierendes Stöckchen so geschickt schlagen, dass es in die Luft flog, und es dann gleich wieder treffen und so weit wie möglich wegschlagen; in späteren Jahren war mir das als eine Art Baseball für Arme erschienen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, wieder selbst so einen Stock in der Hand zu halten, und war ganz verblüfft, wie schnell die Bilder von damals sich wieder einstellten. Nicht nur Hüseyin sah ich vor mir, sondern auch die anderen Freunde: Mehmet, Raif, Safter, Fikret, Münir, Tahir. Der kleinste und dünnste von uns war stets der spitzgesichtige Hüseyin gewesen. Beim Armdrücken machte er nie mit, weil er sich von vornherein geschlagen gab. Im Koranunterricht dagegen, in den wir allesamt geschickt wurden, war er der gelehrigste. Wenn wir in dem kahlen Raum vor den Holzpulten niederknieten und aus den Umhängetaschen das Heft mit dem arabischen Alphabet herausholten, las er mühelos die Buchstaben ab: Elif, Be, Te, Se, Cim, Ha … Ganz verdattert waren wir, als er einmal sagte, am liebsten würde er eine Sekunde lang das Gesicht des Propheten sehen und gleich darauf sterben. Überhaupt steckte er voller Todesgedanken. Von dem roten Wind behauptete er, der werde uns als Zeichen für den Jüngsten Tag geschickt, damit wir uns nicht mit irdischem Tand begnügten. Da lachten wir nur, bis uns vor lauter Wüstensand im Mund die Zähne knirschten, dann hielten wir uns irgendein Tuch vors Gesicht und machten, dass wir nach Hause kamen. Dass wir mit Gummischleudern Vögel jagten, warf er uns als Sünde vor, worüber wir nur spotteten. »Isst du etwa keine Hühner, das sind doch auch Vögel, bloß dass sie nicht fliegen!«

Da wiegte er gedankenvoll den Kopf. »Na ja«, sagte er, »wer weiß, ob nicht gerade dieser Vogel von den Mauerseglern abstammt, die aus ihren Schnäbeln Steine auf die Soldaten des Götzendieners Abraha geworfen haben, als der mit Elefanten gegen Mekka loszog.«

Darauf spuckte der frechste von uns, nämlich Ismail, kräftig auf den Boden und sagte: »Leck mich doch am Arsch, Hüseyin. Musst du uns hier alles versauen? Geh lieber heim und verdirb uns nicht den Spaß.«

Unser Lehrer Cemal erklärte uns einmal, was eine Fatwa sei, und fragte dann, wer von uns wohl in Frage käme, selbst einmal eine Fatwa zu sprechen. Als wir uns wie ein Mann zu Hüseyin umdrehten, musste Cemal lachen: »Stimmt schon, wenn überhaupt einer von euch, dann Hüseyin. Der Junge wird uns noch ein Mullah.«

Die Tage schienen damals länger zu dauern, die Sonne später unterzugehen, die Zeit langsamer zu verstreichen, und um nicht ganz und gar vor Langeweile zu vergehen, erfanden wir Spiele, saßen unter der glühenden Sonne, bis uns schwindlig wurde, zeichneten mit Stöcken in den Sand, vertrieben uns die Stunden mit Reifentreiben und Kreiselpeitschen, und als ich so daran zurückdachte, kam mir das alles vor wie aus dem Leben eines anderen Menschen und nicht zu meinem Ich gehörig, jenem Ich, das in Istanbul von Termin zu Termin eilte, im Verkehr steckenblieb und mit hängender Zunge zu Sammeltaxi, Bus und Metro hetzte. Es war, als sei ich durch einen merkwürdigen Traum in ein anderes Ich hineingeraten. Welches würde die Oberhand gewinnen? Etwa das Ich des furchtsamen Jungen, dem vor Jahr und Tag die Eltern – der Vater ein Mekkapilger, die Mutter mit Kopftuch – hinterhergewinkt hatten, als er zum Studieren in die große Stadt geschickt worden war? Mir schien, dass dieses Ich, seit ich in Mardin war, auf vielfältige Weise wieder hervorspitzte. Ich erinnerte mich, wie ich von meinen aufgeschürften Knien, die gerade erst wieder verheilten, mit peinigendem Genuss den Wundschorf abkratzte, bis die rosa Haut zum Vorschein kam. Wie mir im Hammam Seife in die Augen geriet, wenn meine Mutter mich wusch und mir immer wieder heißes Wasser über den Kopf goss, und wie sie mir gnadenlos die Haut abrieb, was besonders unter den Achseln und in der Leistengegend wehtat, und wie es aus den mit rotgestreiften Badetüchern abgetrennten und für uns Kinder verbotenen Bereichen streng herausroch (wir wussten damals noch nicht, dass die Frauen sich dort enthaarten), und wie durch die runden Löcher in der Hammam-Kuppel Lichtsäulen hereinschienen, in denen träge Staubkörner tanzten; kurz gesagt erinnerte eher mein Körper als mein Geist sich an das Land meiner Kindheit, das in mir hochkroch wie langsam ansteigendes Wasser.

Mir Hüseyin als Erwachsenen vorzustellen, fällt mir hingegen schwer. Gerade so, als wäre in Mardin der schmächtige Junge von damals angeschossen und in Amerika mein schwermütig dreinblickender kleiner Freund erstochen worden.

Auf den Bildern, die in der Zeitung eintreffen, und später im Familienalbum der Familie blickt mir jedoch ein junger Mann entgegen, der ganz anders wirkt, abgesehen vom Blick, der einzigen Spur aus der Kindheit noch, die nicht verwischt wurde. Spärliches Haar, runde Stahlbrille, schmales Gesicht, dünne Lippen, sichtlich schüchtern. Ohne jegliches Merkmal, das einem haften bliebe. Seine Mutter (Tante Adviye nannten wir sie, und sie erschien uns damals schon alt; nun ist sie eine gebückte, typisch osttürkische Frau mit faltigem Gesicht) reicht mir das Album mit den Worten, ich solle es ihr ja zurückgeben, denn etwas anderes sei ihr von ihrem Sohn nicht geblieben.

Ich frage sie, ob auch ein Bild jener jungen Frau darin sei. Mit heftiger Geste wehrt sie ab, nein, von der Teufelin sei da kein Foto, sie habe zwar eines gehabt, doch um noch mehr Schaden vom Haus abzuwenden, habe sie aus dem Bild erst die Augen herausgeschnitten und es dann im Ofen verbrannt und dazu ein paar Suren aus dem Koran aufgesagt. Damit nicht mal die Seele der Frau ins Haus gelange, habe sie an den Wänden Steppenraute aufgehängt und überall Blattsalat ausgelegt.

Wie ein eiskalter Wind, der einem ins Gesicht schlägt, wenn man das Fenster aufmacht, wird mir da auf einmal klar, was mich in dem alten zweistöckigen Haus so befremdet. Es liegt tatsächlich überall Salat herum: auf dem Fernseher, der Couch, den Beistelltischchen, den Sesseln, überall frischer grüner Salat. Auch an den Türen hängt welcher, an der Haustür, am Balkon und sogar draußen im Hof. Falls Tante Adviye aus Schmerz um ihren Sohn nicht selbst verrückt geworden ist, bringt sie mit dieser Salatorgie zumindest ihre Gäste um den Verstand. Ich will sie fragen, was es mit der Sache auf sich hat, aber sie nimmt gerade den an der Wand hängenden Koran aus seiner Schutzhülle, küsst ihn drei Mal und legt ihn sich kurz auf den Kopf. Aysel gibt mir mit einer Geste zu verstehen, sie werde mir das später erklären, also schweige ich. Mit dem Album in der Hand und dem Salat im Kopf gehe ich ins Hotel. Als ich Aysel wieder treffe, bin ich mir sicher, dass sie mir erläutern wird, ihre Mutter sei leider nicht mehr ganz bei Verstand, doch weit gefehlt. Sie sieht mich aus ihren Brombeeraugen an, in denen ich mich schon früher so gern verlor, und erklärt, mit dem Salat habe es schon seine Bewandtnis, vor dem habe sich die junge Frau nämlich gefürchtet.

»Vor Salat?«

»Ja. Deswegen ist ja auch alles herausgekommen.«

»Was?«

»Dass sie eine Teufelin ist.«

»Was hat das mit Salat zu tun?«

»Wussten wir zuerst auch nicht. Wir waren genauso verblüfft wie du.«

Da nicht gut sowohl die Mutter als auch die Tochter verrückt geworden sein können, muss hinter der Sache mit dem Salat etwas stecken. Die ganze Geschichte zieht mich immer mehr in ihren Bann, aber ich weiß nicht, wie ich die vielen disparaten Elemente unter einen Hut bringen soll. Die sogenannte Teufelin, mein Schulfreund Hüseyin, der sich in sie verliebt, der Anschlag in Mardin, sein Tod in den USA, und dann der Salat …

»War diese Meleknaz Hüseyins Frau?«, frage ich Aysel.

»Sie haben Hochzeitsvorbereitungen getroffen, das hat sich aber hingezogen, denn Meleknaz war hierher geflohen aus Syrien.«

»Ach, eine Syrerin?«

»Ja, er hat sie in einem Flüchtlingslager kennengelernt. Da konnte er natürlich noch nicht ahnen, dass es ihn mal das Leben kosten wird, wenn er sich dermaßen in sie …«

Der Satz erstickt in einem kleinen Schluchzer.

»Verliebt?«, frage ich.

»Ach woher«, erwidert sie aufbegehrend. »Man verliebt sich doch nicht in den Teufel. Verführt hat sie ihn, wer weiß, mit was für Tricks. So, dass er sogar seine Verlobte verlassen und seine ganze Familie gegen sich aufgebracht hat.«

»Ach, Aysel, das wird ja immer komplizierter. Kannst du mir nicht alles der Reihe nach erzählen?«

»Nein, jetzt nicht. Morgen kommt Hüseyins Leichnam, da ist die Beerdigung. Ich bin sowieso schon mitgenommen und muss auch noch alles Mögliche erledigen.«

Dann geht sie, mit ihren nach wie vor herrlichen Augen, und lässt mich verwirrt zurück, voller Fragezeichen.

Am Abend ziehe ich durch die engen Gassen der antiken Altstadt, komme an Werkstätten vorbei, in denen aramäische Meister filigrane Silberarbeiten fertigen, und irgendwann bin ich aus der Stadt heraus und steige wie damals als Jugendlicher auf den Hügel, auf dem die Kasımiye-Medrese steht. Von dort oben liegt einem die Ebene zu Füßen und man vermeint, ganz Mesopotamien zu überblicken. Die untergehende Sonne taucht die Burganlage von Mardin und die alten Steinhäuser in glühendes Rot. Mir ist, als wäre die Zeit stehengeblieben und mit ihr alle, die dieses Land hier schon bevölkert haben, seien es nun Kreuzfahrer, Tamerlans Mongolen, Artukiden, Seldschuken, Aramäer, Araber, Türken oder Kurden. Dass man in Istanbul losfliegen und sich kaum zwei Stunden später in die jahrtausendealte Geschichte Mesopotamiens versenken kann, löst ein seltsames Gefühl in mir aus, nicht eigentlich Melancholie und auch nicht einfach Verblüffung, ich weiß nicht, irgendeine vage Sehnsucht. Ich fühle mich weit weg von der Hektik meines Lebens in Istanbul, von meiner Frau, von der ich mich gerade getrennt habe, von der anstehenden Mühsal der Scheidung, der ständigen Nachrichtenjagd in der Zeitung, meinem Schreibtisch, meinem Computer. Jenseits der syrischen Grenze sehe ich in der Ferne die Stadt Qamischli. Von der Großen Moschee ertönt der Gebetsruf, gleich danach auch von den anderen Moscheen. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Auch die Große Moschee hat in meinen Kindheitserinnerungen ihren Platz. Errichtet hat das schöne Gebäude ein christlicher Architekt, nicht weiter verwunderlich in dieser Stadt, in der so viele Glaubensrichtungen sich vermischten. An hohen Feiertagen wurden wir früh geweckt, vollzogen am Moscheebrunnen unsere rituellen Waschungen und nahmen gemeinsam mit unseren Eltern am Festtagsgebet teil.

Mit der Dunkelheit befällt mich Schwermut. Die Ebene wird immer konturenloser und verschwimmt zu einem endlosen Ozean. Fast ist mir zum Weinen zumute, doch weiß ich nicht warum. Mir fällt ein altes arabisches Gedicht ein, das mein Großvater mir beigebracht hat: Vornehme Menschen seien selbst in frohen Momenten von Traurigkeit angehaucht, während niedrigere Geister sich auch in großer Not ihre Fröhlichkeit bewahrten. Der Tenor des Gedichts passte gut zu jener trostlosen Atmosphäre damals, in der die Menschen kaum lachten, Frauen und Kinder sich in Gegenwart der Männer des Hauses nicht laut unterhalten durften, das Radio, aus dem arabische Lieder tönten, sogleich ausgemacht wurde, wenn der Großvater oder der Vater nach Hause kam, und wo bei den rasch eingenommenen Mahlzeiten jedermann schwieg.

Als ich die von artukidischen Sultanen erbaute Kasımiye-Medrese verlasse, wird mir klar, was mir so zusetzt: meine Einsamkeit. Ich bin allein in dieser Stadt. Wer von meiner Familie noch lebt, ist nach Ankara oder Izmir gezogen, und auch zu diesen Menschen habe ich keinen Kontakt mehr; meine Familienbande muss ich irgendwie gekappt haben. Mein Großvater und meine Eltern wiederum sind auf dem Friedhof. Dies ist nicht mehr meine Stadt. Die auf tausendjährige Steinhäuser aufgepflanzten Etagen aus billigen Ziegeln, der wie aufgeschlitztes Gedärm aussehende Wirrwarr aus Strom- und Telefonkabeln, all diese Hässlichkeiten, die nun vom Dunkel kaschiert werden.

Aus den Häusern dringt mattes Licht. Als wäre mit der Dunkelheit sämtliches Leid der mesopotamischen Geschichte auf die Stadt herabgesunken. Auf einmal gelüstet es mich nach Alkohol. Hunger habe ich keinen, aber ich will unbedingt etwas trinken. Nach allem, was ich so gelesen habe, ist Alkohol heutzutage in Mardin sehr schwer zu bekommen. Im Hotel wird keiner ausgeschenkt, in den Gaststätten auch nicht. Dabei war die Stadt früher berühmt für ihren aramäischen Kirschwein, und ebenso für den Reyhani-Tanz, bei dem man sich ein volles Raki-Glas auf die Stirn stellt, sich dann im Rhythmus der Musik, die Knie mal nach rechts, man nach links drehend, mit dem Oberkörper immer weiter nach unten und schließlich wieder nach oben bewegt, ohne dabei auch nur einen Tropfen zu verschütten.

Zu meiner Kindheit war der Islam in Mardin noch anders. Wenn wir an meiner betenden Großmutter vorbeiliefen oder ihr gar auf den Rücken kletterten, fürchtete sie zwar, ihr Gebet werde dadurch ungültig, doch wehrte sie sich nur so, dass sie gutmütig ihre Gebetsformeln mit lauter Stimme wiederholte. Bestand im Ramadan ein Kind darauf, auch zu fasten wie die Erwachsenen, hieß es, na gut, dann faste eben drei Mal, einmal am Anfang, einmal in der Mitte und einmal am Ende, dann hängst du an die Drei eine Null und schon hast du deine dreißig Fastentage beisammen. Derart liebevoll ging es zu. So sehr wir fasten wollten, hielten wir doch nicht durch, tranken heimlich Wasser und stibitzten aus der Küche Essen, und obwohl unseren Eltern das nicht entging, machten sie uns keine Vorwürfe, sondern sagten beim Fastenbrechen auch zu uns: »Möge Gott es annehmen.«

In der Stadt, in der Schule, überall waren Aramäer, Muslime, Juden und Zoroastrier miteinander befreundet und feierten gemeinsam die jeweiligen Feiertage. Jetzt dagegen verkommt die Stadt unter dem Schatten eines in sich gekehrten, verhärteten, wütenden Islams.

Wenn das andere Ich an der Vaterhand durch die Straßen ging, wurde ihm fast schwindlig von der Mischung aus Anis- und Grilldüften, die manchen Restaurants entströmte. Das roch so gut und so ganz anders als das Essen zu Hause, dass das Kind – wenngleich auch daheim Raki getrunken und an aramäischem Kirschwein genippt wurde – sich vorkam wie in einer anderen Welt. Nun hingegen erscheinen mir die Straßen dunkler als damals, freudloser, öder. Es ist eine Stadt, in der vieles aufeinanderprallt: der Islamische Staat, die PKK, die Armee … Eine Stadt voller Angst.