Serenade für Nadja - Zülfü Livaneli - E-Book

Serenade für Nadja E-Book

Zülfü Livaneli

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Beschreibung

Ein 87-jähriger Mann spielt am Ufer des Schwarzen Meers bis zu seinem Zusammenbruch Geige. Er tut dies zum Gedenken an seine jüdische Geliebte Nadja, die auf der Flucht vor den Nazis dort ertrank. Maya, eine junge Türkin von heute, kommt von dem tragischen Schicksal der beiden nicht los. Und liest aus den Parallelen den Auftrag heraus, in ihrem eigenen Leben noch einmal ganz neu zu beginnen. Wieder gelingt es Zülfü Livaneli in einem lebensklugen Roman, große Gefühle mit einer packenden, zeitgemäßen Handlung zu verbinden.

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Seitenzahl: 464

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ZÜLFÜ LIVANELI

Serenade für Nadja

ROMAN

Aus dem Türkischen von Gerhard Meier

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Besuchen Sie uns im Internet: www.klett-cotta.de

Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Serenad« im Verlag Doğan/Egmont, Istanbul.

© 2010 by Zülfü Livaneli

Für die deutsche Ausgabe

© 2013 by J. G. Cotta'sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

Unter Verwendung eines Fotos von Danita Delimont/Gallo images/gettyimages

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93963-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10429-5

Dieses E-Book entspricht der 1. Auflage 2013 der Printausgabe

Inhalt

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Die Geschichte von Maximilian und Nadja

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Epilog

Informationen zum Autor

1

Es gibt Menschen, die sich in einem Flugzeug ganz dem Wein und dem Essen widmen und darüber vergessen können, dass sie in einer Metallkiste achttausend Meter über dem Meeresspiegel eingesperrt sind. So ein Mensch bin ich.

Bequem sitze ich in der Maschine von Frankfurt nach Boston, nippe an weißem Portwein und lausche dem sanften Brummen der Triebwerke.

Nachdem vor einer Weile der Essensservice beendet worden war, wurde das Flugzeug verdunkelt. Viele sehen sich auf dem kleinen Bildschirm vor sich einen Film an. Manche merken wegen der Ohrstöpsel gar nicht, wie laut sie lachen. Der weißhaarige Mann vor mir leidet anscheinend am Restless-Legs-Syndrom, unaufhörlich wippt er mit den Füßen.

Wer zum Frühstück nicht geweckt werden möchte, kann dies durch einen Aufkleber an der Lehne kundtun. Mir aber ist eh nicht nach Schlafen.

Ich habe nun diese Zeilen in meinen Laptop getippt und werde bis Boston weiterschreiben. Bis zur Landung soll meine Geschichte fertig sein.

Aus irgendeinem Grund erscheint mir das unerlässlich. Die Geschichte muss zu Ende erzählt werden, und die ganze Angelegenheit abgeschlossen. Alte Rechnungen, altes Leid, die Spuren menschlicher Grausamkeit, all das soll eine Ruhestätte finden.

Bei Carl Sagan steht irgendwo, der Mensch trage noch die Aggressivität unserer kriechenden Vorfahren in sich. Von ihnen sei uns der Hirnstamm überkommen, ein Organ, das im Verlauf von Hunderten von Millionen Jahren zur Heimstatt unserer allmählich sich herausbildenden Aggressionsmechanismen, unserer Rituale, unserer territorialen und sozialen Hierarchien geworden sei.

In uns allen steckt, hinter höflichem Gehabe verborgen, ein Krokodil, und sobald wir uns in Gefahr wähnen, zeigt es die Zähne.

Ich muss alles erzählen. Erst wenn alles gestanden ist, kann der Schmerz überwunden werden und das Leben unbeschwert weitergleiten.

Heute Morgen bin ich von Istanbul nach Frankfurt geflogen. Dort habe ich erst einen Milchkaffee getrunken und mich dann durch das Labyrinth dieser ausufernden Flughafenstadt gekämpft, bis ich vor der Passkontrolle stand. Ich reihte mich in die Schlange für Nichteuropäer ein und hielt schließlich einem eisig blickenden Zollbeamten meinen türkischen Pass hin. Sorgfältig tippte der Mann alle Angaben in seinen Computer ein.

Vorname: Maya

Familienname: Duran

Geschlecht: weiblich

Geburtsdatum: 21. Januar 1965

Dass ich sechsunddreißig Jahre alt bin, weiß der Beamte also. Und obwohl mein Pass keine Angabe zur Religion enthält, vermutet er bestimmt, dass ich Muslimin bin, wie sollte es auch anders sein, bei einer Türkin! Dabei stecken in mir noch drei andere Frauen. Ich bin nicht nur Maya, sondern auch Ayşe, Nadja und Mari.

Ich werde nach Amerika mit diesen vier Identitäten einreisen. Am Bostoner Logan-Flughafen werde ich in ein Taxi steigen und mich ins Massachusetts General Hospital bringen lassen.

Nach meiner Religion wird mich niemand fragen, doch sollte es einer tun, so habe ich meine Antwort bereits vorbereitet: Ich bin Muslimin, Jüdin und Katholikin; kurz: ein Mensch.

Die Stewardessen in dem Flugzeug sind alle groß, blond und hübsch. Und wie bei allen Deutschen sitzen ihnen die Uniformen wie angegossen. Einzig und allein die Deutschen schaffen es, ihre Kleider so knitterfrei zu tragen, als ob sie frisch aus der Reinigung kämen. Ob das nun an ihren Körpern liegt oder vielleicht daran, dass sie immer so kerzengerade dastehen, jedenfalls sehen sie nach einem Arbeitstag nie so zerknautscht aus wie ich, und dabei achte ich sehr auf meine Kleidung.

Ich habe für so etwas ein Auge, denn seit Jahren bin ich an der Universität Istanbul für die Betreuung ausländischer Gäste zuständig.

Eine der Stewardessen nimmt mir das leere Glas ab und fragt mich auf Englisch, ob ich noch einen Portwein möchte.

»Thank you«, antworte ich und bestelle noch einen. Seit Filiz mir von einem Medizinerkongress in Portugal weißen Portwein mitgebracht hat, habe ich meine Vorliebe dafür entdeckt, auch wenn ich selten an diese Köstlichkeit herankomme.

An und für sich trinke ich nicht viel. Wein habe ich zum ersten Mal mit Ahmet probiert. Geschmeckt hat er mir nicht, aber ich war viel zu verliebt in Ahmet, um das zuzugeben. Allmählich habe ich mich doch daran gewöhnt. Ach, jene Zeit damals! Da war das Ungeheuer, das in Ahmet schlummerte, noch nicht erwacht, und er war noch der erträumte Mann, der über weibliches Feingefühl verfügte und gleichzeitig sehr männlich sein konnte.

Ahmet ist ein hochgewachsener dunkelblonder Mann, den man durchaus als gutaussehend bezeichnen kann. Seine kleinen Augen stehen zu nahe zusammen, aber kleine Schönheitsfehler schlagen bei Männern nicht so durch wie bei Frauen. Mit breiten Schultern und Muskeln machen Männer das locker wett.

Vor acht Jahren haben wir uns scheiden lassen.

Zwar habe ich nun einen Freund namens Tarık, doch der soll einstweilen in meinen Istanbuler Erinnerungen bleiben. Maya muss frei sein, unbelastet von irgendwelchen Beziehungen.

Die Stewardess gleitet lautlos zwischen den schlafenden Passagieren hindurch und bringt mir den ausgezeichneten Portwein. Ich nehme einen Schluck und schließe die Augen.

Die Geschichte, die mein Leben von Grund auf verändert hat und nun mit meinen Besuch im Massachusetts General Hospital ihr Ende nehmen soll, hat vor drei Monaten begonnen, an einem Februartag.

Als ich damals gerade aus dem Rektoratsgebäude kam, läutete mein Handy.

»Ach, Tarık, ich habe dermaßen viel zu tun«, sagte ich. »Der Papierkram macht mich noch wahnsinnig. Ich soll Pressemeldungen herausgeben, eine Rede des Rektors vorbereiten, die Zeitungen auswerten und und und. Noch dazu muss ich jetzt zum Flughafen und einen Gast aus dem Ausland abholen. Bei dem Verkehr. Und diesem Mistwetter.«

Ich verstummte. Und fürchtete schon, es würde gleich eine gereizte Antwort kommen. Tarık stand ja selber unter Anspannung. Aber nein, es bahnte sich keine Auseinandersetzung an. Viel schlimmer im Grunde: Tarık gab kaum mehr von sich als »Hm« und »So, so«. Wer weiß, woran er gerade dachte. Vielleicht spielte er mit der anderen Hand an der Tastatur herum.

Besser, er hätte gar nicht angerufen. Doch weil ich ihn schon mal dran hatte, jammerte ich weiter. Nun musste ich irgendwie einen versöhnlichen Abgang schaffen.

»Du weißt ja, wie das Istanbuler Februarwetter einen nervt«, fuhr ich in sanfterem Ton fort. »Tag und Nacht nichts als Regen, andauernd friert einen, und alles, was man anfasst, kommt einem feucht vor. Dann der ständige Wind, mal von Norden, mal von Süden, die vielen Wellen auf dem Bosporus, und den ganzen Tag wird es nicht richtig hell …«

»Ach ja«, sagte Tarık, »und was tut sich noch Schlimmes in deinem Leben?«

Ich hielt das Handy ein wenig vom Ohr weg und starrte es wütend an.

»Das wäre alles, keine Sorge! Und danke auch für dein Verständnis!«

Hätte ich ihm vielleicht erzählen sollen, dass ich seit drei Tagen unentwegt Bauchschmerzen hatte, dass ich vergessen hatte, von zu Hause Tampons mitzunehmen, und dass ich es nur mit Müh und Not bis in eine Apotheke geschafft hatte?

Er war ja ein feiner Kerl, aber so vertraut waren wir noch nicht.

»Und wer soll das sein?«

Das fragte er wohl nur, um das Schweigen zu brechen.

»Wer soll was sein?«, fragte ich zurück.

»Na der, den du vom Flughafen abholen sollst.«

Ich sah auf den Zettel, den ich mitbekommen hatte.

»Ein Maximilian Wagner. Professor Doktor, aus Harvard. Der Name klingt deutsch, aber der Mann soll Amerikaner sein.«

»Und wozu kommt er?«

»Weiß auch nicht. Ich habe seinen Lebenslauf dabei, den lese ich im Stau. Ich brauche bestimmt eine Stunde bis zum Flughafen.«

»Na, dann wünsche ich dir mal Geduld, mein Schatz. Bis bald.«

»Warum hast eigentlich angerufen?«

»Weil ich mich heute Abend mit dir treffen wollte.«

Und peng, legte er auf. Ob ich wohl jemals einen kennenlerne, der bei mir heraushört, was ich wirklich meine? Ist es wirklich so schwer zu begreifen, worum es eigentlich geht, wenn ich über das Wetter klage? Muss ich tatsächlich explizit sagen, dass mich mein ganzes Leben anstinkt? Wird je einer verstehen, dass mein Jammern über die viele Arbeit nur heißt, dass ich anlehnungsbedürftig bin? »Mistwetter« bedeutet nichts anderes als: Ich wäre so gerne bei dir. Warum kapiert das keiner? Was hat eine Umarmung für einen Sinn, wenn man jemanden dazu auffordern muss?

Unser schmächtiger Fahrer Süleyman lenkte den schwarzen Wagen des Rektorats mit geschmeidigen Bewegungen auf die Autobahn. Das Dahinzuckeln im Schritttempo hatten wir zum Glück hinter uns. Die Autobahn verfügte wenigstens über einen Standstreifen, auf dem schwarze Limousinen wie die unsere zügig vorwärtskamen.

Die regulären Spuren waren hoffnungslos verstopft. Mein Gott, was für Menschenmassen leben in dieser Stadt, dachte ich. Wer abends fliegen wollte, musste der etwa schon morgens losfahren?

Man merkte, wie der eine oder andere versucht war, es uns gleichzutun, aber die Angst vor dem Bußgeld schreckte die meisten doch ab. Gut, ich ließ mich hier selber an den anderen vorbeichauffieren, aber ich fuhr schließlich nicht zum Vergnügen herum. Wenn man in einer Stadt, in der fünfzehn Millionen aufeinanderwohnen, nicht ein paar Privilegien genießt, wie soll man dann überhaupt leben?

»Worüber lachen Sie?«

Starrte der Kerl mich also im Rückspiegel an. Schau lieber, wo du hinfährst!

»Ach nichts, mir ist nur was eingefallen«, erwiderte ich. »Wann sind wir da?«

»So in zwanzig Minuten«, erwiderte er. »Und ohne den Standstreifen, na ja, um Mitternacht.«

Wir passierten Polizisten, die zu kontrollieren hatten, ob auf dem Standstreifen ein Normalbürger unterwegs war, den es anzuhalten und herunterzuputzen galt, oder ob wir hochwichtige Persönlichkeiten waren, die pflichtschuldigst zu grüßen wären. Als sie das blaue Licht sahen, das vorne an unserem Kennzeichen aufblinkte, identifizierten sie uns als Mitglieder der Elitenrepublik und tippten sich an die Dienstmütze.

Was für ein Paradies, unser Land! Wie leicht doch alles war. Im Auto des Rektors.

Ich musste doch mal diese Papiere lesen. Rechtsprofessor war der Mann, Amerikaner und ledig. Schon Professor und noch ledig?

Ich hatte etwas übersehen, und zwar das Geburtsdatum von Maximilian Wagner: 19. August 1914. Damit war der Gute siebenundachtzig Jahre alt. Was fuhr er da noch in der Weltgeschichte herum? Er war vermutlich schon Witwer, oder geschieden. Obwohl, in seiner Generation waren Scheidungen noch nicht so üblich. Man heiratete, um zusammen zu leben, und nicht, um sich bei der ersten Gelegenheit scheiden zu lassen.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Drei Tage lang würde ich damit beschäftigt sein, einem alten Mann beim Einnehmen seiner Medikamente zu helfen. Was musste dieser Maximilian Wagner ausgerechnet im schweinekalten Februar kommen?

Ich konnte mir auch schon denken, was er alles fragen würde. Was, so kalt ist es hier? Ich habe nur Sommersachen dabei. Ach, hier gibt es ja richtige Autobahnen? Entschuldigen Sie mal, Sie tragen gar kein Kopftuch? Dürfen eigentlich Frauen an der Uni arbeiten?

Ich war diese Art Fragen gewohnt, und wenn wieder Besuch aus dem Ausland anstand, stellte ich mich darauf ein, mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen die immergleichen Antworten zu geben: Da war dann von der Republik die Rede, von den Reformen, die es gegeben hatte, vom Frauenwahlrecht, das man in der Türkei eher eingeführt hatte als in so manchem europäischen Land, und von den vierzig Prozent Frauenanteil unter den türkischen Hochschullehrern. Ferner berichtete ich, dass seit einem halben Jahrhundert kein Mensch mehr einen Fes tragen würde, dass die Männer nicht vier Ehefrauen hätten, dass die Türken keine Araber wären, dass es in Istanbul weder eine Wüste noch Kamele gäbe und dass man sich im Winter dort den Hintern abfrieren würde. Und während ich diese Sätze abspulte, fluchte ich innerlich: Du Blödsack, informier dich gefälligst, bevor du wegfährst!

Dabei unterschlug ich jedoch, wie viele Frauen trotz aller neuen Gesetze noch immer von ihren Männern geschlagen wurden, und dass in der Osttürkei junge Mädchen auf Beschluss des Familienrates hin umgebracht werden konnten. Das waren Angelegenheiten, die meinen Nationalstolz verletzten. Und sie stellten ja auch nur einen Teil der Wahrheit dar.

Es war für mich der mühsamste Teil meiner Arbeit, solche Gäste zu betreuen, mit ihnen durch den Großen Basar und durch die Blaue Moschee zu trotten und sie auf ihren Einkaufstouren zu begleiten, auf der Suche nach günstigen Lederjacken, nach Apfeltee, blauen Perlen und Lokum. Da es auf dem Arbeitsmarkt nicht rosig aussah, musste ich dumme Fragen aushalten, die Flirtversuche gesetzter Herren geflissentlich übergehen und mir beim Abschied am Flughafen, wo man sich herzte und umarmte, als sei man seit Jahren miteinander befreundet, eine Suada über die türkische Gastfreundschaft anhören.

Jeder hat im Berufsleben seinen Ärger, und bei mir war es eben dieser. Wenn man einen Ex-Mann hat, der trotz Gerichtsbeschluss keinen Unterhalt zahlt, und einen vierzehnjährigen Sohn, für den man Schulgeld hinblättern muss und die gesamte Verantwortung trägt, versagt man sich eben Eskapaden.

In aller Herrgottsfrühe aus dem Haus, im vollbesetzten Sammeltaxi zum verfluchten Arbeitsplatz, abends todmüde wieder heim, für einen Sohn, dem seine Playstation als einziger Lebenszweck gilt, schnell das Essen gekocht, und das Tag für Tag, wie ein spätgeborener weiblicher Sisyphos.

Wenn man es, mit dunklen Ringen unter den Augen, bis zum Wochenende geschafft hat, will man sich mit ein paar Freundinnen ein bisschen amüsieren und zieht mit ihnen in eines der riesigen Einkaufszentren, die neuen Tempel Istanbuls. Man entspannt sich bei einer Hollywood-Komödie und trinkt dann, um in Stimmung zu bleiben, in einem Bistro ein, zwei Glas Wein. An den Tischen um einen herum sitzen größtenteils Gruppen von Frauen. Seit wann führen eigentlich Frauen und Männer ein so getrenntes Leben? Die Frauen schwärmen davon, wie gut man unabhängig und allein lebt, und reden dann doch nur über Männer.

Immer wieder heißt es, die Frauen hätten sich aus jahrhundertealter Knechtschaft befreit und stünden nun auf eigenen Füßen, und die Ehe habe daher ausgedient. Die Frauen seien heutzutage besser ausgebildet und den Männern überlegen, was die Männer in hohem Maße beunruhige, so dass es in zweihundert Jahren wohl gar keine Männer mehr geben und die Frauen es irgendwie durch Zellteilung schaffen würden, ganz ohne Männer Kinder auf die Welt zu bringen.

Der weißhaarige Mann vor mir hat seinen Sitz jetzt in Liegeposition, zappelt aber noch genauso herum. Mich stört das nicht weiter. Jenseits des Korridors habe ich ein Pärchen im Blickwinkel, das sich ununterbrochen küsst. Die beiden haben ihre Business-Class-Sitze flachgelegt und benehmen sich, als lägen sie im Bett. Sie haben sich eine Decke übergeworfen, unter der sie – da bin ich mir hundertprozentig sicher – aneinander herumfummeln. Ist Liebe wirklich nichts anderes als eine List, damit die Leute Kinder kriegen? Süleyman musterte mich immer wieder im Rückspiegel, und ich bemühte mich, jeden Augenkontakt zu vermeiden. Sogar dieser Holzkopf sah in mir nichts anderes als die »geschiedene Frau«, wie alle Männer. Eine geschiedene Frau war garantiert auf Männersuche. Wer weiß, was der Kerl sich alles vorstellte. Ich lehnte den Kopf an die Scheibe und sah in den Regen hinaus.

Mühelos passierten wir die Polizeisperre vor dem Atatürk-Flughafen. Wieder tat das schwarz-offizielle Gepräge unseres Wagens seine Wirkung, denn wir durften in die für andere Autos verbotene Zone direkt vor der Ankunftshalle fahren. Dabei war der Mercedes ein klappriges Gefährt, das von irgendeinem früheren Rektor stammte. Der Mann war vielleicht schon lange tot, aber sein Wagen wurde immer wieder aufgepäppelt.

Im Flughafen herrschte Gedränge. Kein Wunder, wo es doch im ganzen Land so zugeht, auf den Straßen, an Bushaltestellen, in Einkaufszentren, Kinos, Restaurants. Immer ist es voll, und immer ist es laut. Es ist so gut wie unmöglich, in dieser Riesenstadt einmal einen Augenblick lang für sich selbst zu sein. Auf dem Eminönü-Platz zwängt man sich durch die schwitzende Menschenmenge, aus Lautsprechern plärrt entsetzliche Musik, Straßenhändler bieten lauthals Simits, Kiwis und gefälschte Uhren an, Kinder halten einem Vögel hin, die man doch bitteschön freikaufen solle, von einem Hasen soll man sich wahrsagende Zettelchen herauspicken lassen, und man selber hat nichts anderes im Sinn, als sich an den Bosporus zu flüchten, in irgendein ruhiges Eckchen, um endlich einmal durchzuatmen.

Mit solchen Gedanken im Kopf wartete ich. Auf der großen Anzeigentafel sah ich, dass das Flugzeug aus Frankfurt schon gelandet war. Lange konnte es also nicht mehr dauern. Ich hielt den Karton hoch, auf dem »Prof. Maximilian Wagner« stand, und musterte die Reisenden, die herauskamen: in Deutschland lebende Türken, Touristengruppen, ein kleines Mädchen an der Hand einer Stewardess …

Und dann sah ich einen Mann auf mich zusteuern, hochgewachsen, blaue Augen, schwarzer Mantel, Filzhut. In der einen Hand trug er einen mittelgroßen Koffer, in der anderen einen Geigenkasten. An der Trennbarriere stellte er den Koffer ab, zog den Hut und hielt mir die Hand hin.

»Guten Abend«, sagte er auf Englisch, »ich bin Maximilian Wagner.«

Mein erster Eindruck war, dass der Mann unheimlich gut aussah. Er hatte einen wohlgeformten Kopf, weiße Haare, eine kleine Nase und Falten im Gesicht, die ihm sehr gut standen. Und es war auch das erste Mal, dass ein Mann vor mir den Hut zog.

»Willkommen, Professor Wagner. Ich bin Maya Duran.«

Wir gingen ans Ende der Absperrung, und ich sagte: »Unser Auto steht direkt vor der Tür.«

Ich zwang mich dazu, ihm nicht den Koffer abzunehmen. Vom Altersunterschied her wäre es zwar angemessen gewesen, doch hatte ich Angst, er würde die Geste falsch auffassen, nämlich als eingefleischte Beflissenheit einer muslimischen Frau. Außerdem machte der Mann für sein Alter einen äußerst rüstigen Eindruck. Sein Gang war vollkommen aufrecht.

Süleyman aber ließ es sich nicht nehmen, auf den Professor zuzustürzen und ihm den Koffer abzunehmen.

»Welcooome, welcoome«, rief er mit starkem türkischem Akzent.

Draußen setzte der Professor seinen Hut wieder auf und band sich einen Kaschmir-Schal um.

»Nicht dass ich besonders anfällig wäre«, sagte er, »aber um diese Jahreszeit ist es ganz schön kalt in Istanbul.«

»Schön, dass Sie gewappnet sind. Manche unserer Gäste denken sich: Naher Osten, da brauche ich nur Sommerkleidung.«

Er schmunzelte.

»Ich kenne Istanbul. Und gefroren habe ich hier genug.«

Ob es mir nur jetzt in meinem bequemen Flugzeugsessel so vorkommt oder ob es mir schon damals aufgefallen ist, jedenfalls meine ich mich zu erinnern, in sein Lächeln hätte sich damals so etwas wie Kummer gemischt.

Als Süleyman ihm die Autotür aufhielt, sagte der Professor: »Oh, old man, old car!«

Wir lachten, doch der Anflug von Kummer im Gesicht des Professors verlor sich dabei nicht. Unterwegs sah er müde zum Fenster hinaus, und dennoch erlebte ich ihn ungeheuer präsent. Ich wusste nicht recht, ob ich nun eher Achtung für ihn empfand oder Zuneigung, doch gewiss war, dass er sich von den üblichen Gästen deutlich abhob.

»Wann waren Sie denn schon mal hier?«, fragte ich.

»1939 bis 1942.«

»Oh, das ist aber schon lange her. Da muss Ihnen alles sehr verändert vorkommen.«

»Und ob. Hier waren viel weniger Autos damals, und viel weniger Häuser. Und Autobahnen gab es auch noch keine.«

Wir verfielen daraufhin in ein Schweigen, auf das Süleyman sich keinen Reim machen konnte. Immer wieder spähte er in den Rückspiegel.

Auch in dieser Richtung war die Autobahn verstopft, doch waren wir wieder in rascher Fahrt auf dem Standstreifen unterwegs.

»Könnten Sie bitte die Heizung etwas herunterdrehen?«

Erst als der Professor darum bat, merkte ich, wie heiß es im Auto mittlerweile war. Ich war ihm beim Ablegen des grauen Schals und des schwarzen Mantels behilflich. Darunter kamen ein Samtjackett mit Ärmelschonern und ein weißes Hemd mit spitzem Kragen zum Vorschein.

»Spüren Sie den Jetlag, Mr. Wagner?«

Kaum hatte ich das gesagt, kam mir die Frage auch schon unsäglich dumm vor. Wie sollte er den Jetlag nicht spüren, in dem Alter.

»Nein, noch nicht, aber heute Nacht ganz bestimmt.«

»Heute Abend steht nichts auf dem Programm für Sie. Wir bringen Sie direkt ins Hotel, dann können Sie sich bis morgen früh ausruhen.«

»Wo bin ich denn untergebracht?«

»Im Pera Palace.«

Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen.

»Das freut mich aber.«

»Warum denn?«

»Weil ich das Hotel kenne. Ich habe schon mal drin gewohnt.«

»Es stammt aus dem Jahr 1895. Agatha Christie soll darin einen Roman geschrieben haben.«

»Ein Glück, dass es noch nicht abgerissen wurde. Ich habe gelesen, dass das in Istanbul mit vielen alten Gebäuden geschieht.«

»Das Pera Palace hat sich halten können. Sind Sie seit damals nie wieder hier gewesen?«

»Nein, nie wieder.«

»Das ist ja dann … neunundfünfzig Jahre her.«

Der Professor erwiderte darauf nichts. Das plötzliche Schweigen im Auto war mir unangenehm.

»In welchem Viertel haben Sie damals gewohnt?«, fragte ich deshalb.

»In Beyazıt. Um nah an der Universität zu sein.«

»Können Sie Türkisch?«

Er lächelte und antwortete auf Türkisch: »Ein bisschen. Ganz wenig.« Nach einer Pause sprach er auf Englisch weiter. »Als ich damals hier Unterricht gab, konnte ich einigermaßen Türkisch. Aber ich habe alles vergessen. Nach Istanbul habe ich nie wieder mit jemandem Türkisch gesprochen.«

»Sie werden bestimmt Ihre Erinnerungen auffrischen. Und Ihr Türkisch gleich mit.«

Sein Gesicht verfinsterte sich.

Je näher wir ins Zentrum kamen, umso dichter wurde der Abendverkehr. Ein Wald aus lauter Autos, der reine Wahnsinn. Missmutig dachte ich darüber nach, wie ich wohl nach Hause kommen sollte, wenn der Professor erst mal im Hotel war. Taxis waren an Regentagen ja nicht zu bekommen. Da rauschten sie an einem vorbei, wie aus Rache dafür, dass man an normalen Tagen nicht damit fuhr. Mit dem Sammeltaxi wiederum würde ich mindestens eine Stunde brauchen. Nun ja, ich hätte auch wie Wagner damals in der Nähe der Uni wohnen können, aber in diesen Vierteln ließ sich nicht mehr leben.

Ich dachte daran, dass Kerem bestimmt schon zu Hause war und vor dem Computer hockte. Ich musste ihm etwas zu essen machen. Ob wohl noch irgendetwas Fertiges daheim war? Ganz egal, was ich ihm vorsetzte, er würde es nicht am Esstisch einnehmen, sondern ich würde es ihm in sein Zimmer bringen müssen, wo er weder mich noch das Essen eines Blickes würdigen, sondern alles in sich hineinstopfen würde, ohne nur einen Moment lang den Blick vom Computerbildschirm zu wenden. Mit der Tastatur waren seine Hände so gut wie verwachsen. Nur zum Schlafen bewegte er sich von seinem Computer noch weg.

Sollte ich Süleyman bitten, mich nach Hause zu fahren? Aber ohne Gegenleistung tat der ja nichts für einen. Bei allem und jedem fragte er immer nur nach seinem Vorteil. Intelligent war er nicht, aber gerissen.

Intelligenz und Gerissenheit stehen wahrscheinlich im umgekehrten Verhältnis zueinander. Und etwas Gerissenes hatte bei diesem Süleyman auch schon die Art an sich, wie er den Mercedes durch den Verkehr lenkte und die Wagen, die sich auf den Standstreifen gewagt hatten, mit der Hupe verscheuchte.

Irgendwann fiel mir auf, dass uns ein weißer Renault folgte, der von der Straßenpolizei dennoch nicht angehalten wurde. Stundenlang im Stau steckende Autofahrer warfen uns wütende Blicke zu.

»Ist in Boston der Verkehr auch so?«, fragte ich.

»Nein«, erwiderte er sanft, aus seiner Versunkenheit erwachend. »Gott sei Dank nicht, denn wir haben dort nicht solche Privilegien.«

»Aber in New York muss der Verkehr doch ähnlich sein?«

»Manchmal schon, aber doch nicht so schlimm. Wo kommen hier bloß die ganzen Autos her? Zu meiner Zeit sah man hin und wieder mal eins. Die Leute fuhren mit der Trambahn und mit dem Stadtdampfer.«

»Es gab ja auch die Brücken noch nicht.«

»Die Galata-Brücke? Doch, die war schon da.«

»Nein, die Brücken über den Bosporus meine ich, von Europa nach Asien.«

»Ach so, ja. Damals kam man nur mit den Dampfern und mit kleinen Booten hinüber.«

Irgendwann konnte ich meine Neugier nicht mehr zügeln.

»Sind Sie Deutscher oder ein deutschstämmiger Amerikaner?«

Da verzog er das Gesicht. Er murmelte etwas, von dem ich aber nichts verstand.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte ich. »Es ist nur, weil Sie in Amerika unterrichten, aber einen deutschen Namen tragen, da dachte ich …«

»Schon gut«, beschwichtigte er, »Sie können ja nichts dafür, es liegt an mir. Wenn es um Identität geht, bin ich nun mal etwas empfindlich. Also, ich bin Deutscher, aber …«

»Nein, nein, lassen Sie nur, ich wollte Sie damit nicht belästigen, entschuldigen Sie bitte.«

Er lächelte wohlwollend.

»Durch eine so harmlose Frage soll keine Verstimmung zwischen uns aufkommen. Entschuldigen Sie bitte meine seltsame Reaktion. Ja, ich bin Deutscher, aus Bayern, aber seit 1942 lebe ich in den USA und habe auch die amerikanische Staatsangehörigkeit angenommen. Seit 1939 bin ich nie mehr in Deutschland gewesen.«

»Obwohl es Ihr Vaterland ist.«

»Diesen Begriff vermeide ich.«

Mit verschlossener Miene wandte er das Gesicht etwas ab. Das Gespräch war für ihn beendet. Ein geheimnisvoller Mann.

Als wir von der Autobahn in Richtung Beyoğlu abfuhren, blieb uns der weiße Renault auf den Fersen. Ich phantasiere gern, denn nur so erscheint mir das Leben erträglich, und so stellte ich mir augenblicklich vor, unser Professor sei ein Spion, der von irgendeinem Geheimdienst verfolgt würde. Gleich würden sie uns den Weg abschneiden, den Professor aus dem Auto ziehen und entführen und mich gefesselt in einen Kerker werfen. Nur dieser bauernschlaue Süleyman, der würde natürlich davonkommen. Oder sowieso zu den anderen gehören.

Mir Geschichten auszudenken, hatte ich mir angewöhnt, als ich Literatur studierte und mich auch ansonsten recht intensiv mit Literatur beschäftigte. Mit der Zeit aber ließ das nach. Im Hinblick auf einen eigenen Roman befasste ich mich eine Weile mit Schreibtechniken, und irgendwie kühlte durch dieses methodische Vorgehen mein Verhältnis zur Literatur eher ab.

Oder aber, profaner noch, aus dem Roman war deswegen nichts geworden, weil bei meinem Leben aus mir nun mal keine Schriftstellerin werden konnte. In den vor Gemeinplätzen nur so strotzenden Büchern über »Persönlichkeitsentwicklung« wird einem immer vorgegaukelt, man brauche etwas nur zu »wollen«. Wirklich wollen aber kann man nur das, wozu man auch wirklich fähig ist. Wollen ist etwas anderes als bloßes Wünschen und Träumen. Man muss bereit sein, für das Gewollte einen Preis zu bezahlen, und man muss tatsächlich etwas tun.

Meine Lebensumstände gaben keinen Raum für einen Roman her. Es reichte gerade noch zum Phantasieren, denn das war amüsant.

»Sie lächeln, also sind Sie mir nicht böse?«

Diese Worte des Professors brachten mich wieder zu mir, und ich merkte, dass ich tatsächlich lächelte.

»Aber ich bitte Sie, wie sollte ich Ihnen böse sein, hocam.« Kaum hatte ich das gesagt, biss ich mir verlegen auf die Lippen. Aus reiner Gewohnheit hatte ich ihn auf Türkisch mit hocam angesprochen, »mein Lehrer«, der üblichen Anrede für das gesamte Lehrpersonal der Universität, die mir Tag für Tag hundertfach über die Lippen ging.

Nun lächelte er.

»Genau, hocam!«, rief er aufgeregt aus, »So haben sie mich damals immer genannt. Ein halbes Jahrhundert lang habe ich das nicht mehr gehört. Danke. Jetzt weiß ich, dass ich in Istanbul bin.«

So war, als wir am Pera Palace ankamen, das Eis zwischen uns gebrochen. Mit seinem Vordach aus Glas und Schmiedeeisen und den im Regen glänzenden Lampen wirkte das Hotel in der engen Straße wie aus einer Märchenwelt.

Irgendwie tut es mir gut, jetzt an das Pera Palace zu denken. Das für die exklusiven Fahrgäste des Orient-Express errichtete Pera Palace, das seinerzeit mit einem großartigen Ball eröffnet wurde, ist und bleibt für mich das imposanteste Gebäude von Istanbul.

Wir flüchteten uns vor dem Regen ins Foyer. Süleyman übergab den Hotelbediensteten das Gepäck des Professors, doch wollte sich dieser nicht von seinem Geigenkasten trennen und trug ihn lieber selbst.

Als ich schon durch die Drehtür hindurch war und mich zum draußen zurückgebliebenen Süleyman umdrehte, sah ich tatsächlich, wie gerade der weiße Renault parkte. Das konnte kein Zufall mehr sein. Hatte die Regierung den Professor etwa unter Personenschutz gestellt? War der Mann so wichtig?

Seit wir das Hotel betreten hatten, sah Professor Wagner aus seinen blauen Augen noch melancholischer drein. Auch wirkte er bleich, doch konnte das am besonderen Licht des riesigen Kronleuchters liegen.

»Setzen Sie sich erst mal hin, ich erledige inzwischen das mit der Anmeldung«, sagte ich und führte den Professor zu einem der altehrwürdigen Lehnstühle im Foyer.

»Ich bräuchte nur Ihren Reisepass. Möchten Sie vielleicht etwas trinken, einen Kaffee oder etwas Alkoholisches?«

»Könnten wir vielleicht, wenn Sie fertig sind, gemeinsam einen Whisky trinken?«

»Selbstverständlich«, erwiderte ich, einigermaßen überrascht. Kerem würde sein Essen nun erst später bekommen.

»Na, schon wieder Besuch?«, rief mir der Empfangschef Mustafa entgegen.

»Tja, bringt der Beruf so mit sich. Es ist diesmal ein alter Herr, und er ist ziemlich müde. Wenn Sie ein ruhiges Zimmer für ihn hätten …«

»Wird erledigt.«

»Vielen Dank.«

Auf dem Weg zurück bestellte ich bei einem Kellner einen doppelten Whisky und einen weißen Portwein. Dann erst sah ich, dass Professor Wagner in dem Lehnstuhl eingeschlafen war. Er atmete in tiefen, regelmäßigen Zügen.

Eigentlich kam mir das gerade recht. Ich wollte die Gelegenheit nutzen und so schnell wie möglich nach Hause. So machte ich die Bestellung rückgängig und bat die Kellner, den Mann in Ruhe zu lassen.

»Wenn er wach wird, bringen Sie ihn einfach auf sein Zimmer.«

Auf dem Briefpapier des Hotels hinterließ ich dann noch eine Nachricht.

»Hocam, Sie haben so tief geschlafen, da wollte ich Sie nicht stören. Ich hole Sie morgen um elf Uhr hier ab.«

Als ich draußen auf Süleyman zuging, bemühte ich mich um ein möglichst freundliches Gesicht. Bevor ich ihn ansprach, tippte ich ihn sogar kurz auf den Arm.

»Ist spät geworden heute«, sagte ich und trat dann noch näher an ihn heran, als ob meine Stimme dann wärmer klänge: »Kerem wartet schon auf sein Essen. Ob Sie mich wohl nach Hause fahren könnten?«

Mein Gott! Ich schäme mich richtig, das hinzuschreiben. »Ob Sie mich wohl nach Hause fahren könnten?« Wie konnte ich dem Mann nur so schöntun! Meine Worte waren zwar nur genau so gemeint und nicht anders, aber dennoch. Aber was soll’s, ich schreibe einfach weiter, wie es mir in den Sinn kommt, ganz ohne Angst vor Missverständnissen. Schließlich bin ich keine Schriftstellerin. Der Wert dieser Aufzeichnungen ergibt sich allein daraus, wie aufrichtig ich bin.

Süleyman zögerte kurz. Wahrscheinlich überlegte er, was sich aus meiner Bitte herausschlagen ließ. Dann sagte er: »Na, steigen Sie schon ein.«

Das tat ich, und dabei fiel mir wieder der weiße Renault auf. Es saßen drei Männer drin. Der am Steuer rauchte grinsend. Anscheinend beobachteten sie uns. Oder kam mir das nur so vor?

Ach was, dachte ich, warum sollten sie uns beobachten? Und wenn schon. Obwohl, auffällig war es doch. Wenn man zu einem Hotel fährt, warum steigt man dann nicht aus? Es waren wohl doch Personenschützer. Die amerikanische Botschaft oder die türkische Regierung wollte auf den Professor aufpassen. Er musste also ein bedeutender Wissenschaftler sein. Dabei war er doch kein Kernphysiker, sondern Rechtsprofessor …

Ich sah zum Rückfenster hinaus. Die Männer musterten mich nach wie vor, auf eine unverschämte Art.

Süleyman bemühte sich inzwischen, den Mercedes in Gang zu bekommen, doch der Motor hustete und stotterte nur. Immer wieder drehte Süleyman energisch den Zündschlüssel herum. Irgendwann winkte er ab und drehte sich zu mir zurück.

»Tut mir leid, ich habe ihn abgewürgt.«

Zweifelnd sah ich ihn an. Der Mercedes war ja nun wirklich sehr alt und hatte andauernd irgendwelche Mucken, doch konnte es nicht etwa sein, dass Süleyman nur einen Vorwand suchte, um mich nicht heimfahren zu müssen? Es war unmöglich, das herauszubekommen.

»Na gut«, sagte ich und stieg wieder aus, und so stand ich plötzlich auf der Straße und wusste nicht weiter. Kurz entschlossen ging ich ins Hotel zurück. Kaum war ich drinnen, fragte ich mich auch schon, warum ich nicht in eines der draußen im Regen wartenden Taxis gestiegen war.

Der Portier spannte seinen Regenschirm zu und sah mich verwundert an. Der Professor wiederum schlief noch immer tief und fest. Er sah jetzt noch bleicher aus. Mit leicht geöffnetem Mund lehnte er da wie ein schutzloses Kind. Seine sorgfältig gekämmten Haare hatten einen glänzenden Blaustich. Ich stupste ihn am Arm und sagte leise: »Herr Professor … Herr Professor …«

Da schlug er zögerlich die Augen auf und sah sich erst einmal verwundert um. Als er sich wieder zurechtgefunden hatte, sagte er: »Entschuldigung, ich muss eingeschlafen sein, tut mir wirklich leid.«

»Das braucht Ihnen doch nicht leid zu tun«, erwiderte ich lächelnd. »Sie sind seit vierzehn Stunden unterwegs, und Ihr Rhythmus ist durcheinander. Da ist das ganz normal.«

Ich blieb noch ein wenig neben ihm stehen, bis er wieder all seine Sinne beisammen hatte, dann sagte ich: »Ihr Zimmer ist fertig. Kommen Sie, ich bringe Sie hinauf.«

Ich half ihm aus dem Sessel. Mit dem Aufzug, einem Prachtstück aus Holz und Eisen, fuhren wir in den dritten Stock hinauf. Als uns der mitgekommene Hotelboy mit einem großen eisernen Schlüssel die Zimmertür öffnete, schlug uns der für alte Gebäude so typische Modergeruch entgegen. Old man, old hotel!

Der Professor stellte den Geigenkasten auf die Mahagonikonsole, und ich half ihm aus dem Mantel. Dann sagte ich: »So, ich gehe dann, hocam. Morgen essen Sie mit dem Rektor zu Mittag, dazu hole ich Sie um elf Uhr hier ab.«

»Wir wollten doch zusammen etwas trinken. Nun ja, die Gelegenheit habe ich verpasst. Aber darf ich Sie jetzt zum Abendessen einladen?«

»Das würde ich liebend gerne annehmen, aber zu Hause wartet mein Sohn auf mich.«

Er nickte verständnisvoll.

Als ich wieder draußen war, sah ich, dass der Mercedes noch immer dastand. Süleyman grinste mich an.

»Ich habe die Karre wieder angekriegt. Kommen Sie schon, ich bringe Sie heim.«

Als wir losfuhren, fiel mir der weiße Renault wieder ein. Ich drehte mich um. Nein, er war weg. Gut so. Jetzt konnte ich mich entspannen und mich dem sanften Rütteln des Wagens überlassen.

Moment. Waren die Kerle wirklich weg? Und wenn sie sich nur versteckt hatten? Womöglich entführten sie den Professor diese Nacht. Und wenn ich dann morgen Vormittag hinkam: kein Professor mehr da. Oder aber sie fuhren uns gerade nach. Ich erschauderte.

Jetzt lass den Unsinn, Maya, schalt ich mich. Das sind doch Hirngespinste.

Während Süleyman den Mercedes über den Tarlabaşı Bulvarı in Richtung Taksim lenkte, drehte ich mich dennoch immer wieder um. Weiße Renaults waren eine ganze Menge unterwegs, aber in keinem davon saßen die Kerle. Wieso gab es überhaupt so viele weiße Renaults, hatten die sich schlagartig vermehrt? Schon komisch. Obwohl, hätten die Kerle ein anderes Auto gefahren, von einer anderen Farbe, dann hätte ich wohl davon so viele gesehen. Oft genug kam es mir ja auch so vor, als ob der Großteil der Männer ganz einfach abstoßend sei, aber das musste doch eher an mir liegen als an der Realität, oder? Und wenn ich mal einen gutaussehend und vertrauenswürdig fand, dann … Aber Moment mal, ob einer gut aussah oder nicht, das hing doch nicht bloß davon ab, wie mir gerade zumute war? Oder etwa doch? Inwiefern sollte ich meinen Gedanken dann überhaupt noch trauen können?

Endlich waren wir da. Ich raffte mich aus dem bequemen Autositz hoch. Matt und schläfrig bedankte ich mich bei Süleyman. Sogar der Regen machte mir nichts mehr aus. An der Haustür sah ich auf die Uhr: Es war schon nach neun. Kerem musste sich Sorgen machen. Ach was, Sorgen. Er hatte wohl nicht einmal gemerkt, dass ich noch nicht da war. Nun würde ich mit dem Aufzug in den vierten Stock hochfahren, die Wohnung mit der Nummer neun aufsperren, aus Kerems Zimmer einen schwachen Lichtschein sehen und mir im Gang die Schuhe und den nassen Mantel ausziehen. Durch die dünnen Türen würden aus den Nachbarwohnungen gedämpfte Töne der Fernseher zu hören sein, Frauengelächter, das Weinen eines Kindes. Aus dem Treppenhaus würde ich noch allerlei Essensgerüche in der Nase haben. Ich würde im Wohnzimmer das Licht anmachen und dann in Kerems Zimmer gehen und meinen Sohn in buckliger Haltung vor dem Computer vorfinden.

»Na, Kerem, wie geht’s?«, würde ich fragen.

Ohne mich anzusehen, würde er murmeln: »Gut.«

Dann würde ich in die Küche gehen, im Kühlschrank Pizzareste finden, sie aufwärmen und sie meinem Sohn zusammen mit einer Cola neben den Schreibtisch stellen. Danach würde ich ins Bad gehen und unter der Dusche noch einmal den vergangenen Tag überdenken. Im Bademantel und mit nassen Haaren würde ich mir dann ein Käsesandwich machen und mich vor den Fernseher setzen. Kauend würde ich die Nachrichten über mich ergehen lassen, die Wirtschaftskrise, zankende Politiker, zappelnde Sänger, die Verbrechen des Tages. Vor dem Schlafengehen würde ich auf der Suche nach einem Film die Kanäle durchgehen.

Dann würde ich zu Kerem hinüberrufen »Geh endlich ins Bett!«, wohl wissend, dass er das nicht tun würde, doch ich selber würde mir noch schnell die Haare trockenreiben und mich schlafen legen. Und kaum würde ich im Bett die Augen schließen, da würde ich auch schon in einem anderen Leben, einer anderen Welt sein, und würde nicht mehr Maya sein, sondern irgendjemand anders, mal ein verliebtes junges Mädchen, mal eine Demonstrantin, mal eine Abenteurerin …

Ich würde Emily Dickinsons Gedicht There is another sky, das ich einst beim Literaturstudium für mich entdeckt hatte, wie jeden Tag als eine Art Nachtgebet vor mich hinsagen und mir dabei einen anderen Himmel wünschen.

Und genauso, wie ich mir das alles beim Aussteigen aus dem Auto vorgestellt hatte, geschah es dann auch, und mit dem Handtuch auf dem Kopf legte ich mich ins Bett. Kurz vor dem Einschlafen aber merkte ich, wie sehr der Professor mich beeindruckt hatte, und dass ich mich freute, ihn am nächsten Tag wiederzusehen.

Ein paar Stunden später allerdings riss mich ein ganz anderer Gedanke aus dem Schlaf, nämlich die Frage, was ich nur mit meinem Sohn anfangen sollte. Erzog ich ihn falsch, oder waren einfach alle Kinder so? Ich hatte von einem automatischen Abschaltprogramm gelesen, für Jugendliche, die es nicht schafften, ihren Computer mal auszumachen. Kerem redete nicht mit mir. Aber auch mit sonst niemandem. Kommunikation lief bei ihm nur über das Internet ab.

Mit Müh und Not hatte ich ihn überreden können, einen Psychologen aufzusuchen, der bei Kerem dann eine Art »Lebensangst« diagnostiziert hatte.

Mit offenen Augen lag ich da. Ein paar Tage zuvor hatte ich zugegebenermaßen etwas hinter Kerems Rücken getan. Er verbrachte ausnahmsweise einen Sonntag bei seinem Vater, und da schaltete ich seinen Computer ein, um zu sehen, was er dort so trieb. Ich stieß auf eine entsetzliche Welt. Es war nicht zu fassen, zu wie vielen Pornofilmen ein in der Pubertät steckender Junge über das Internet Zugang hatte. Und noch dazu waren es Filme, in denen Frauen durchwegs erniedrigt und versklavt wurden.

Die Frauen mussten die fürchterlichsten Dinge über sich ergehen lassen. Sie wurden ausgepeitscht, gewürgt, gefesselt, gequält und zum Geschlechtsverkehr mit Pferden, Hunden, Affen und Schlangen gezwungen.

Für Liebe, Zärtlichkeit und dergleichen war in diesen Filmen kein Platz. Es war eine Atmosphäre der Gewalt, die allen Grundsätzen der Menschlichkeit hohnsprach. So also lernte mein Sohn die Welt und die Frauen kennen? Hatte er deswegen keinen Respekt vor mir, weil ich auch eine Frau war und damit erniedrigt werden durfte? Was für eine kranke Welt.

Ich ging dann auf Webseiten, bei denen mein Sohn als Mitglied registriert war. Zwar hatte ich nicht überall Zugang, da oft ein Passwort verlangt wurde, aber auch so wurde mir schnell klar, dass von Selbstmordtipps bis zum Bombenbau alles vorhanden war.

Als ich den Computer wieder ausmachte, verblieb ich eine Weile in Schockstarre. Das also war die Internet-Welt, die meinen Sohn an sich fesselte.

Warum wurde nicht eingeschritten gegen ein System, das die Menschenrechte derart mit Füßen trat und Millionen von Jugendliche wie Kerem in anormale, selbstmordanfällige, unsoziale Menschen verwandelte?

Als ich Ahmet darauf ansprach, wiegelte er gleich ab. Kerem sei eben ein Junge in der Pubertät, da komme so was schon mal vor. Ich solle mir da nur keine Sorgen machen. Dabei ging es ihm doch lediglich darum, nur ja keine Verantwortung für den Jungen zu übernehmen.

Über all diesen Gedanken schlief ich irgendwann ein. Als ich gegen Morgen wieder wach wurde, schoss mir als Erstes der weiße Renault in den Sinn. Ob ich nicht wirklich übertrieb? Es konnte doch reiner Zufall sein.

Dennoch stand ich auf und ging zum Fenster. Es war draußen völlig still. Unter einer Straßenlampe parkte tatsächlich ein weißer Renault, doch war nicht auszumachen, ob jemand drinnen saß. Ich legte mich wieder hin.

Zwei Stunden später klingelte der Wecker, und es begann wieder der tägliche Kampf, Kerem aus dem Bett zu bekommen. Ich stellte den Fernseher laut, knipste die Lichter an, riss alle Vorhänge auf, doch alles vergeblich. Schließlich wusste ich, dass er doch wieder nicht zur Schule gehen, sondern vor dem Computer versacken würde. Es gab Tage, an denen er rechtzeitig aufstand und auf meine Mahnungen, den Schulbus nicht zu verpassen, einigermaßen zivilisiert reagierte, aber dann folgten auch immer wieder Phasen, in denen nichts mit ihm anzufangen war.

Einmal hatte ich in meiner Verzweiflung Ahmet angerufen und gesagt: »Dein Sohn steht ums Verrecken nicht auf, und in die Schule geht er auch nicht. Kümmere gefälligst du dich mal um ihn, es ist auch dein Sohn.« Er hatte mir geanwortet, er müsse dringend in eine Besprechung und könne jetzt nicht reden, und schon hatte er aufgelegt. Ich hatte daraufhin vor Wut geweint.

Nun waren wieder mal solche Krisentage, doch um nicht zu spät zur Arbeit zu kommen, eilte ich aus dem Haus, zur Haltestelle des Sammeltaxis. Für ein Frühstück war keine Zeit. Ich würde unterwegs einen Simit essen und in der Uni dann einen Tee trinken.

Als ich auf mein Büro zuging, sah ich an der Tür Süleyman stehen.

»Guten Morgen«, sagte er. »Kann ich kurz was mit Ihnen bereden?«

»Klar, gehen Sie nur rein.«

Breit grinsend fragte er: »Wie geht’s heute Morgen?«

»Gut. Sagen Sie schon, was los ist, ich hab’s eilig. Ich muss zum Rektor.«

»Genau um den geht es.«

»Wie bitte?«

»Ihnen schlägt er doch nichts ab, der Rektor. Ich habe da einen Neffen, Hüseyin heißt er. Könnten Sie den Rektor nicht mal fragen, ob er für den Jungen einen kleinen Job hätte, als Bote oder Teejunge?«

Aha, daher gestern die Freundlichkeit …

»Mit so etwas kann ich den Rektor nicht behelligen. Sagen Sie es ihm doch selbst.«

Missmutig sah er mich an.

»Wir müssen um elf im Hotel sein, wann sollen wir losfahren?«, fragte ich in sanfterem Ton.

»Um zehn.«

Er klang kalt dabei, aber nicht eigentlich wütend. Gerade das aber, diese unterschwellige Wut, war besonders gefährlich. Es war wohl ein Fehler gewesen, Süleyman so direkt abzuweisen. Im Orient musste man eigentlich anders vorgehen. Hätte ich gesagt: »Klar, ich kümmere mich darum«, wäre alles in Butter gewesen.

Dabei hätte ich dem Rektor nicht einmal etwas sagen brauchen. Es hätte genügt, Süleyman lange genug hinzuhalten, und während dieser Zeit des hoffnungsvollen Wartens wäre er zu mir nur umso aufmerksamer gewesen. Und hätte mich Abend für Abend nach Hause gefahren.

Irgendwann wäre dann deutlich geworden, dass der Sache kein Erfolg beschieden war, doch in Süleymans Augen wäre ich dann immer noch jemand, der sich zumindest bemüht hatte. Und zumindest an einen Teil seiner Gefälligkeiten hätte er sich bis dahin so gewöhnt, dass er sie nicht wieder aufgegeben hätte.

Mit eifriger Miene setzte ich mich an meinem Schreibtisch und sah aus dem Augenwinkel den innerlich bebenden Süleyman davongehen.

Wie jeden Morgen machte ich mich als Erstes daran, für den Rektor einen Pressespiegel mit allen Nachrichten zu erstellen, die die Universität und im Speziellen das Rektorat betrafen. Über Professor Wagner fand ich zwei kleine Meldungen, aus denen hervorging, dass er am Nachmittag in der Universität eine Rede halten würde. Beinahe flüsternd fragt mich die Stewardess, ob ich noch einen Wunsch habe. Die hübsche blonde Frau in ihrer blauen Uniform wirkt jetzt noch zuvorkommender. Ich lehne dankend ab, denn noch einen Portwein würde ich wohl kaum vertragen. Auch schlafen mir allmählich die Beine ein. Am besten, ich mache eine Pause und verschaffe mir etwas Bewegung.

2

Als ich aus dem Unigebäude trat, hatte es aufgehört zu regnen. Durch die Wolkendecke hindurch trafen schon einzelne Sonnenstrahlen in die Pfützen auf den Gehsteigen, auf die Moscheekuppeln, die Schornsteine der Stadtdampfer, die über dem Meer kreisenden Möwen.

Vor dem Hotel sah ich mich nach dem weißen Renault um. Dass ich ihn nirgends erblickte, beruhigte mich nur halbwegs. Die Kerle konnten ja woanders geparkt haben oder erst später eintreffen.

Als ich nach dem Professor fragte, sagte der junge Rezeptionist: »Sein Schlüssel hängt da. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, er ist ausgegangen.«

Es war fünf vor elf. Der Professor musste früh aufgestanden sein, um auf Erkundung zu gehen. Ich setzte mich ins Foyer. Am Nebentisch saß ein älteres Paar, allem Anschein nach Amerikaner, über eine Istanbul-Karte gebeugt.

Nach ein paar Minuten trat voller Elan der Professor durch die Drehtür. Von der Müdigkeit des Vortags war ihm nichts mehr anzumerken. Unter dem schwarzen Mantel trug er ein graues Flanelljackett und eine hellblaue Krawatte. Wieder lüpfte er zum Gruß seinen Hut. Ich bestätigte ihm mit einem Lächeln, wie sehr ich diese Geste schätzte.

»Habe ich Sie warten lassen?«, erkundigte er sich. Selbst seine Stimme hatte etwas Lebhafteres.

»Nein, ich bin gerade erst gekommen.«

»Ich bin nach dem Frühstück ein wenig herumgelaufen. Schließlich kenne ich mich im Prinzip hier aus. Aber Pera hat sich schon sehr verändert, ich erkenne es kaum wieder.«

Er schien diesmal viel mehr auf eine Unterhaltung aus zu sein.

»Schon zu meinen Lebzeiten hat sich hier viel verändert«, sagte ich, »wie muss es da Ihnen erst ergehen.«

»Die İstiklal-Straße habe ich als schickste Gegend von ganz Istanbul in Erinnerung. Jetzt wirkt sie eher wie eine Amüsiermeile.«

»Das ist noch vornehm ausgedrückt. Sie können ruhig sagen, dass die Straße heruntergekommen ist, ich bin da nicht beleidigt.«

»Nein, nein, so meine ich es nicht. Städte verändern sich nun mal, und Menschen auch, das habe ich zur Genüge erlebt.«

»Aber die Gegend ist doch völlig degeneriert.«

»Das ist ein Wort, das ich nicht gern benutze. In Bezug auf was oder wen soll sie degeneriert sein? Das ist doch alles relativ.«

Ich zog es vor, ihm nicht weiter zu widersprechen und das Gespräch lieber in andere Bahnen zu lenken.

»Sind Sie durch Asmalımescit gekommen?«

»Ja.«

»Die Straße hat sich ziemlich gemacht. Es gibt jetzt viele Cafés und Kneipen dort.«

»Ja, sehr schön.«

Als Süleyman dem Professor beim Einsteigen die Tür aufhielt, wurde er von diesem mit einem Trinkgeld bedacht und bedankte sich dafür mit einer Verbeugung.

Unterwegs sah der Professor sehr aufmerksam zum Fenster hinaus. Als wir auf die Galata-Brücke einbogen, deutete er auf die Süleymaniye-Moschee, die auf dem Hügel gegenüber in all ihrer Pracht erglänzte.

»Da ist sie!«, rief er aus. »Ein herrlicher Bau. Ich habe mich immer wieder in den Hof der Moschee gesetzt, um dort Ruhe zu finden.«

Für einen Amerikaner fand ich das erstaunlich. Ich enthielt mich aber jeglichen Kommentars.

Etwas geradezu Kindliches hatte der Professor nun im Blick. Er staunte die an- und ablegenden Dampfer an, die Fischverkäufer auf ihren schwankenden Booten, die vielen Leute auf der Brücke, die Angler, das Goldene Horn, die Tauben vor der Yeni-Moschee …

Und ohne den Blick von der Scheibe zu wenden, sagte er versonnen: »Istanbul ist wie eine untreue Geliebte.«

Es klang so, als verberge sich hinter diesen Worten ein tiefer Schmerz. Ich erwiderte jedoch nichts, da der Professor eher mit sich selbst zu sprechen schien. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Sie betrügt einen ständig, und doch hört man nicht auf, sie zu lieben.«

»Hat Istanbul Sie betrogen?«, fragte ich nun doch.

Er antwortete nicht, und erst nach einer Weile sagte er: »Es ist eine wunderschöne Stadt. Die Byzantiner, die Osmanen, die Paläste, die Moscheen … Es ist eine märchenhafte Stadt, eine Stadt … wie soll ich sagen … voller Aromen.«

»Das ist aber nur das Istanbul, das die Touristen sehen, Herr Professor. Mein Istanbul ist ganz anders. Ich habe nämlich keine Zeit für all diese Schönheit.«

»Ich war ja auch nicht als Tourist hier. Ich habe zwei Jahre lang hier gearbeitet.«

»Das war aber eine andere Zeit damals, in der das Leben noch leichter war.«

Er drehte sich zu mir um.

»Jede Zeit hat ihre eigenen Schwierigkeiten, aber mit Kriegszeiten lässt sich nichts vergleichen. Ich wünsche Ihnen, dass Sie nie einen Krieg kennenlernen.«

»İnşallah!«

»İnşallah«, wiederholte er lachend.

Mir fiel auf, dass er sich immer öfter umdrehte. Hatte er auch das Gefühl, dass wir verfolgt wurden? Ich drehte mich auch manchmal um, doch in dem dichten Verkehr war nichts Besonderes zu erkennen.

»Falls wir Zeit dazu haben, würde ich gerne kurz aussteigen«, sagte der Professor.

Selbst wenn wir keine Zeit gehabt hätten, hätte ich ihm diese Bitte nicht abschlagen können.

Wir stiegen also vor dem geschichtsträchtigen Eingangstor zur Universität aus und betrachteten den Beyazıt-Turm, der zu osmanischen Zeiten als Feuerwache gedient hatte.

»Herrlich. Als wäre die Zeit stehengeblieben«, sagte er mit kaum wahrnehmbarer Stimme.

Mir war, als ob ich jene Gebäude zum ersten Mal so richtig sähe. Das Universitätstor mit seinen goldenen Schriftzügen war wirklich ein majestätischer Anblick.

»Apropos Krieg«, sagte ich, »das Gebäude ist eine Zeitlang als osmanisches Kriegsministerium genutzt worden.«

»Tja, Universitäten haben auch etwas von Schlachtfeldern an sich.«

Da der Professor noch etwas herumgehen wollte, schickten wir Süleyman fort und betraten das Universitätsgelände zu Fuß. Durch den weitläufigen Park, in dem es von Studenten wimmelte, gingen wir auf das Rektoratsgebäude zu. Inmitten all des lebhaften Treibens strahlte der Professor große Ruhe aus.

»Wozu waren eigentlich Polizisten am Eingang?«, fragte er.

»Die schützen seit Jahren die Universität vor den Studenten.«

Verdutzt sah er mich an. Ich merkte, dass das nicht der Moment für ironische Sticheleien war.

»In letzter Zeit sind die Polizisten vor allem wegen der Studentinnen da, die ein Kopftuch tragen. Mit dem dürfen sie nämlich nicht in die Universität.«

Der Professor hob die Hand. Nach einer Weile fragte er: »Und was machen diese Studentinnen dann?«

»Manche nehmen vor der Uni das Kopftuch ab und setzen sich eine Mütze auf, andere ziehen sich eine Perücke über, und wieder andere hören auf zu studieren.«

»Zu meiner Zeit gab es solche Probleme nicht. Da trugen Studentinnen sowieso kein Kopftuch.«

»Wie gesagt, Herr Professor, die Türkei hat sich verändert.«

Der Rektor stand schon am Eingang, um seinen Gast zu empfangen. Da er in Deutschland studiert hatte, unterhielten die beiden sich auf Deutsch, und ich ließ sie bald alleine.

Bevor ich mich in meinem Büro in die Arbeit stürzte, machte ich mein Handy an und fand eine Nachricht von Tarık vor: »What’s up, honey?« Wie viele Leute, besonders aus der besseren Gesellschaft, warf auch er gern mit englischen Phrasen um sich. Ich rief ihn an.

»Na, wie ist er denn so, dein Alter?«, fragte er.

»Höflich und elegant ist er. Und gut aussehen tut er auch noch.«

»Schau einer an, stehst du jetzt auf Achtzigjährige?«

»So war das nicht gemeint, das weißt du genau.«

»Man wird ja noch einen Witz machen dürfen. Wie oft muss ich dir sagen, dass du das Leben nicht so ernst nehmen sollst?«

»Mein Leben besteht aber aus lauter ernsten Problemen.«

»Ach was, sei doch mal ein bisschen locker.Sehen wir uns heute Abend?«

»Glaube ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Solange der Professor hier ist, werde ich mich um ihn kümmern müssen.«

»Na, wie du meinst. Übrigens, bald gibt es gute Nachrichten für dich.«

»Was für Nachrichten?«

»Du wirst zu Geld kommen.«

Das hörte sich gar nicht gut an. Weil es nämlich völlig unglaubwürdig war.

»Spinnst du?«

Tarık kicherte.

»Wirst schon sehen!«

Dann legte er auf. Wahrscheinlich beeilte er sich, für den Abend mit einer anderen etwas auszumachen. Ich kochte vor Wut und zischte »Mistkerl!«, was zum Glück niemand hörte.

Ich ging schon eine Weile mit Tarık aus, und das, obwohl mir von Anfang an klar war, dass es nichts mit ihm werden konnte. So war ich ständig hin- und hergerissen, ob ich nun Schluss machen sollte oder nicht.

Er reagierte wohl deshalb so gleichgültig, weil er mich nicht mehr erobern musste und wir uns ohnehin regelmäßig sahen. Das war es aber nicht allein. Seit er an der Börse spekulierte und dabei einiges verdiente, besaß er Selbstvertrauen im Übermaß. Auf jeden, der nicht Geld scheffelte, schauten solche Leute nur noch herab.

Aber vielleicht tat ich ihm ja unrecht. Nach meinen schlechten Erfahrungen mit Ahmet neigte ich dazu, alle Männer über einen Kamm zu scheren. Es fiel mir schwer, überhaupt zu benennen, was mich an Tarık störte. War er nett zu mir? Auf seine Art, ja. War er hilfsbereit, eine Unterstützung? Das hatte er schon mehrfach unter Beweis gestellt. Gab er mir das Gefühl, attraktiv zu sein? Ja, auch das. Was also war es dann? Ich wusste es nicht, wusste es wirklich nicht. Irgendwie hatte ich an Tarık etwas auszusetzen, das ich nicht einmal benennen konnte.

Auf einmal merkte ich, dass ich während meiner Grübelei unablässig das Handy auf dem Tisch herumdrehte. Sollte ich Tarık eine SMS schicken? »Ruf mich nie wieder an!« Daran gedacht hatte ich schon oft, doch war ich nicht entschlossen genug für diesen Schritt. Außerdem hatte ich Tarık mein bisschen Erspartes überlassen, damit er eben an der Börse mehr daraus machte.

Ich hörte erst auf damit, als es klingelte. Yeşim war dran, von der Unikanzlei. Wir sollten zum Essen aufbrechen.

In den schwarzen Mercedes stiegen diesmal nur der Professor und der Rektor. Ich folgte in einem anderen Dienstwagen.

Das Essen sollte in einem schicken Restaurant innerhalb des Topkapı-Palasts stattfinden. Als ich durch das riesige Eingangstor des Palastes kam, fiel mir ein, dass man dort früher die Köpfe Hingerichteter ausgestellt hatte. Durch jahrelange Betreuung ausländischer Gäste hatte ich mich ein wenig zur Fremdenführerin entwickelt.

Es nahmen noch andere Professoren an dem Essen teil. Ich setzte mich weitab von Professor Wagner und dem Rektor an den großen Tisch, von dem man aufs Meer hinuntersah. Ohnehin verstand ich kein Deutsch, und auch das viele Englischreden hatte mich ermüdet.

Einfach in Ruhe zu essen war mir dennoch nicht vergönnt, da sich neben mich der junge Dozent setzte, der mir jedes Mal mit seinen Anzüglichkeiten auf die Nerven ging. Ich hatte hünkârbeğendi bestellt, und es drängte mich, dem Professor zu erzählen, warum dieses Auberginengericht ausgerechnet »Es hat dem Sultan gefallen« hieß, nämlich weil ein Gast von Sultan Abdülaziz, die französische Kaiserin Eugénie, eine heikle Esserin, sich davon sehr angetan gezeigt hatte. Doch saß Professor Wagner, ganz aufrecht und mit sorgfältig gescheiteltem Haar, zu weit weg von mir.

»Worüber lächeln Sie denn?«

»Ich lächle doch gar nicht.«

»Ach kommen Sie, vor mir brauchen Sie es nicht zu verbergen. Sie haben doch gerade an etwas Angenehmes gedacht, was weiß ich, an ein Abenteuer vielleicht. Ich habe doch Verständnis für so was.«

Er wedelte bedeutsam mit dem Zeigefinger, als würde er zugleich über etwas Ernstes reden und doch auch scherzen. Das war überhaupt so seine Art. Um sich gegen eine Abfuhr zu wappnen, behielt er immer einen spöttischen Unterton bei.

Als der Kaffee serviert wurde, atmete ich auf. Bald würden wir aufstehen und ich den aufdringlichen Kerl endlich loswerden.

Als wir zur Uni zurückkehrten, war schon alles vorbereitet. Wir nahmen im gut gefüllten Audimax unsere Plätze ein. Zuerst trat der Rektor an das Pult und hieß Professor Wagner im Namen der ganzen Universität noch einmal willkommen.

Danach trat der Rechtsprofessor Hakkı vor und würdigte seinen Kollegen in den höchsten Tönen. Durch seine Arbeiten in der Türkei und die von ihm hervorgebrachten Akademiker zähle Professor Wagner zu den Wegbereitern einer modernen türkischen Universitätsausbildung. Hakkı bezeichnete sich selbst als einen Schüler Wagners und bat diesen schließlich, nun selbst an das Pult zu treten.

Wagner stellte sich an das Pult und ließ erst einmal seine Blicke über die Zuhörer schweifen. Augenblicklich verstummte das Flüstern.

»Merhaba!«

Sogleich erhob sich großer Beifall. Ich blickte ein wenig herum: Die Leute schienen schon jetzt von dem Mann beeindruckt, obwohl er noch nichts anderes getan hatte, als sie anzusehen und sie auf Türkisch zu begrüßen.

Der Professor sprach zunächst auf Türkisch weiter, etwas stockend und mit einem seltsamen, aber angenehmen Akzent.