Der fliegende Teppich - Gert Scobel - E-Book

Der fliegende Teppich E-Book

Gert Scobel

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Beschreibung

Gert Scobel unternimmt mit seinem neuen Buch ›Der fliegende Teppich‹ eine Diagnose unserer modernen Welt, ihrer Probleme und Charakteristiken. Anhand des Bilds eines fliegenden Teppichs veranschaulicht er unsere Lage und fasst sie in klare Worte: vom Begründungsproblem in den Wissenschaften über die Frage nach dem, was wirklich ist, vom Zustand unserer Gesellschaft bis hin zur Kraft der Imagination. Eine überraschende, augenöffnende Analyse unserer Zeit und der Conditio des Menschen von einem der renommiertesten Wissenschaftsjournalisten. »Die Moderne macht schwindelig. Sie ist verwirrend, vielfältig, widersprüchlich und komplex. Vor allem zeigt sie, dass es keinen festen Boden unter den Füßen gibt. Nur mit Hilfe von Fiktionen, Vorstellungskraft und Erfindungen gelingt es uns, den Absturz zu vermeiden. So real unser Leben ist – so sehr findet es doch auf einem fliegenden Teppich statt. Wissenschaft, Kunst und Philosophie sind aus demselben Stoff gewebt. Wir leben ohne festen Boden unter den Füßen – und fliegen dennoch. Vorausgesetzt wir erkennen, was wir in Wahrheit tun. Denn alles hängt daran, fliegen und auf dem Teppich bleiben zu können.«

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Seitenzahl: 457

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Gert Scobel

Der fliegende Teppich

Eine Diagnose der Moderne

FISCHER E-Books

Inhalt

… Das Wertvollste, was [...]WidmungSie sagen: »Es gibt [...]VorwortPaul Smith, die Moderne, die Angst vorm Fliegen und worum es gehtKapitel 1 FallFall und Flug: Die Wirklichkeit der IllusionDie Welt ist alles, was der Fall istDer Fall im OrbitDer Fall des IkarusKapitel 2 TeppicheDer Frühling des KönigsTeppichkaufKapitel 3 ModerneStrukturen der ModerneArchimedes und der sichere Boden der ErkenntnisDie Matrix – Plato, Kant und die rettende Moderne ohne Boden42 – Wie war doch gleich die Frage? Wissen als GeschichteKapitel 4 Fiktiver RealismusPragmata – TatsachenDogmata – Meinungen, Dichtung, FiktionRealitätTeppich und RealitätKapitel 5 Leben im FiktivenEigentlich … Das Leben mit Metaphern im Default ModeFiktionen, Metaphern, RealitätRealitysmus, Onlife und die digitalisierte MadeleineSedimente: Halt aus dem NichtsSedimente aus dem NichtsDas InterdependenzprinzipThomas-Theorem und Werther-EffektKonsum+ – das ökonomische Leben im FiktivenNationalismus – das politische Leben im FiktivenKomplexität – das falsche einfache Leben im fiktivenEpilog – wolkenloser SternenhimmelDankLiteraturVorwort:Kapitel 1: Was der Fall istKapitel 2: TeppicheKapitel 3: ModerneKapitel 4: Fiktiver RealismusKapitel 5: Das Leben im FiktivenEpilog – wolkenloser SternenhimmelBildnachweis

… Das Wertvollste, was ich aus den Zaubermärchen [aus dem Osten] gelernt habe, ist, dass Literatur und Wahrheit nicht zweierlei Dinge sind. Es geht um Phantasieprodukte. Madame Bovary ist nicht weniger erfunden als ein fliegender Teppich. Auch sie existierte niemals. Hat man einmal verstanden, dass Literatur ihrem Wesen nach im Erfundenen liegt, dann liegt darin eine große Befreiung. Ehe man ein Rad baut, muss man sich ein Rad vorstellen. Ehe man einen Hyperlink programmiert, muss man sich einen Hyperlink vorstellen. Unsere Vorstellungskraft – sie ist das Entscheidende im Menschen.

 

Salman Rushdie, ARD Druckfrisch, 4.10.2015

Für Susanne

Sie sagen: »Es gibt keine fliegenden Teppiche.« So etwas kommt nur in Märchen vor.

Ich werde Ihnen zeigen, dass Sie auf einem sitzen, ob Sie wollen oder nicht. Und dass er fliegt. Mehr noch: Dass Sie gerade jetzt auf ihm sitzen und sogar jetzt auf ihm fliegen.

Die Welt ist zauberhaft – aber anders, als wir vermuten.

Vorwort

Paul Smith, die Moderne, die Angst vorm Fliegen und worum es geht

Erwin Schrödinger, 1926

Worum es geht, ist denkbar einfach. So einfach, dass ein Kind, dem man die Sache in Ruhe erklärt, sie leicht in ein oder zwei Minuten verstehen kann. Ob es sie gut finden wird, ist eine andere Sache. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus zu zeigen, dass die Welt keinen Boden hat. Und das bedeutet, dass auch unser Leben – gerade weil es ganz und gar von dieser Welt ist, zu ihr gehört und ihren Gesetzen folgt – keinen Boden hat. Jedenfalls hat es keinen echten Boden. Was wie ein Boden aussieht, ist in Wahrheit eher wie ein fliegender Teppich.

Das ist, etwas vereinfacht gesagt, die Lage, in der wir uns gegenwärtig befinden: Wir leben auf einem fliegenden Teppich. Zur Beschreibung des Wortes gegenwärtig werden je nach Denkweise, politischem Lager und Tradition, in der man erzogen wurde, verschiedene Begriffe herangezogen. Manche bezeichnen das »In-heutiger-Zeit-Sein« als modern – was zur Frage führt, ob in diesem Sinn nicht auch vergangene Zeiten modern waren. Natürlich gibt es auch genauere historische und soziologische Beschreibungen. Verwendet werden neben Moderne auch Begriffe wie Post-Moderne, Post-Post-Moderne, postfaktisches Zeitalter, virtuelles Zeitalter, Internetzeitalter, Zeiten des entfesselten Turbokapitalismus, Big Data oder Anthropozän. Man könnte stattdessen auch einfach von unserem Jetzt sprechen, was verständlicher, aber nicht unbedingt präziser ist.

Wie auch immer man die Gegenwart bezeichnen will: Das Leben in ihr wird von den meisten Menschen unabhängig von dem Kontinent, auf dem sie leben, in ähnlicher Weise als schwierig und mühsam beschrieben. Doch die Beschreibungen der Gegenwart erweisen sich in der Regel als widersprüchlich. Man muss nur lange genug warten, dann ist auch das Gegenteil einer Behauptung ebenso wahr wie sie selbst. Das Leben ist schnell, für viele zu schnell, turbulent, oft gewalttätig und mit Regelmäßigkeit chaotisch. Verlässlich ist dieses Chaos nur insofern, dass es in Erscheinung tritt. Wann ein System wie ein Finanzsystem kippt, d.h. in eine chaotische Dynamik übergeht und aufgrund seiner Nichtlinearität unregierbar wird, lässt sich hingegen wie beim Klima nicht genau bestimmen. Allerdings gibt es ein Modewort, das all diese Eigenschaften und Gegensätze einschließlich des Chaos bequem in einem einzigen Begriff zusammenfasst: komplex. Seltsamerweise hatte dieses heute viel verwendete Wort jahrzehntelange Anlaufschwierigkeiten. Außer in gewissen Fachkreisen der Mathematik, Physik, Biologie und Informatik wurde es vermieden und galt selbst in den Wissenschaften lange Zeit als unpräzise und zu esoterisch. Komplex war alles andere als ein cooles Wort, zumindest wenn man von den wenigen Wissenschaftlern absieht, die in den 1980er und 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts am Santa Fe-Institut zur Erforschung der Komplexität Pionierarbeit leisteten.

Inzwischen haben komplex und Komplexität Karriere gemacht und begegnen einem im Internet (rund 20 Millionen Einträge) ebenso oft wie in den Nachrichten, auf WhatsApp, in Modezeitschriften oder Kolumnen. Die Gegenwart ist die komplex gewordene Moderne. Und doch befinden wir uns, wo auch immer wir sind, aller Komplexität zum Trotz in einer ebenso einfachen wie seltsamen, zuweilen verstörenden Lage: Wir leben auf einem fliegenden Teppich – obwohl wir glauben, dass es sich völlig anders verhalte. Warum glauben wir, dass es sich anders verhalten muss? Die Antwort kennt heutzutage jedes Kind: Weil es natürlich keine fliegenden Teppiche gibt! Aber auch das ist nur ein weiterer Irrtum.

Den Eindruck, dass das Leben an einem vorbeifliegt, teilen heutzutage viele Menschen. Man rasiert sich, man ißt, man liebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, schrieb Robert Musil vor rund 100 Jahren, so als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt. Insofern ist das Bild vom fliegenden Teppich nicht so unpassend, wie es im ersten Moment vielleicht erscheinen mag. Viele Menschen – und nicht nur die mit Burn-out, Depressionen, Suizidgedanken oder anderen klinischen Symptomen – haben zunehmend das Gefühl, besser heute als morgen die Kurve kriegen und rechtzeitig abspringen zu müssen. Was sie daran hindert, ist nicht selten das unheimliche Gefühl, dass sich das Tempo ihres Lebens von Tag zu Tag weiter steigert, so als sei man in Wahrheit bereits über das Ziel hinausgeschossen, habe es einfach verfehlt und sei jetzt auf eine völlig falsche Spur geraten. Vom Zug der Zeit abspringen zu wollen, klingt seltsam antiquiert nach 19. Jahrhundert – nicht nur, weil die Züge noch schneller geworden sind (wie die Magnetschwebebahn Transrapid Shanghai), sondern vor allem, weil das Leben längst nicht mehr mit Metaphern aus dem alten Industriezeitalter beschrieben werden kann. Heute ist das Leben ein digitaler Scherbenhaufen, eine undurchschaubare, sich in ständiger Auflösung befindliche und neu formierende Flut von Daten, ein Flackern von Informationen in einem völlig unüberschaubaren Netzwerk. Aber ein fliegender Teppich?

Einer der innovativsten und »coolsten« Designer der Gegenwart ist für mich nach wie vor der Brite Paul Smith. Ich halte ihn für einen extrem entspannten, klugen und humorvollen Menschen mit einem großen Sinn für Qualität und Stil. Paul Smith, vielen bekannt als Herr der Streifen (so der Titel eines Interviews, das Claudia Merkle in Elle Decoration, 2/2016, führte), wurde 1946 in Nottingham geboren. Sein Vater Harry war Textilkaufmann und zudem ein guter Amateurfotograf. Paul verließ die Schule mit 15, arbeitete in einem Warenhaus, das Stoffe, Kleider und Anzüge anbot, und entwickelte schnell die Ambition, Rennradprofi zu werden. Er trainierte täglich auf dem Weg zur Arbeit, bis er mit 17 einen schweren Unfall hatte, der ihn für sechs Monate ins Krankenhaus brachte. In dieser Zeit machte er Bekanntschaft mit Studenten des Art College und begann, sich für Kunst zu interessieren. Zurück bei der Arbeit, setzte er sein neues Interesse in die Wirklichkeit um und dekorierte zunächst Ausstellungsräume. Schließlich nahm er in Nottinghamshire Abendkurse, um das Schneiderhandwerk von Grund auf zu erlernen, zog später nach London und arbeitete bei Lincroft Kilgour in der berühmten Savile Row im Stadtteil Mayfair. Savile Row ist bis heute berühmt für ihre Geschäfte und Schneidereien, die seit dem 18. Jahrhundert Herrenmode, Schuhe und Maßanzüge herstellen. Auch die ehrwürdige Royal Geographical Society war in der Savile Row Hausnummer 1 ansässig – von dort wurden wichtige Expeditionen u.a. zum Nordpol geplant. In Hausnummer 3 Savile Row befand sich das Büro der Beatles. Auf dem Dach dieses Hauses gab die Band ihr berühmtes Let it Be-Konzert – ihr letztes gemeinsames Konzert überhaupt. Paul Smith blieb London, der Mode und dem Design treu – und ist bis heute ein leidenschaftlicher Rennradfahrer geblieben.

Abb. 1:

Paul Smith als Kind auf dem fliegenden Teppich.

In dem Interview in Elle Decoration antwortete Paul Smith auf die Frage nach einem seltsamen (in der Zeitung selbst nicht abgebildeten) Foto, das ihn auf einem fliegenden Teppich zeigt: Das ist eine Fotomontage meines verrückten Vaters! Er hatte unseren Wohnzimmerteppich im Garten auf Kisten drapiert. Ich musste mich darauf setzen und so tun, als würde ich fliegen … Aber vielleicht ist das auch mein Geheimnis. Ich habe den Kopf in den Wolken, aber die Füße meist fest auf dem Boden. Mir schien diese Auskunft eine perfekte Beschreibung dessen, worum es in Der fliegende Teppich gehen sollte. Ich rief daher sein Büro in London an, bekam die freundliche Auskunft, mich an seine persönliche Assistentin Isabel Vince zu wenden, der ich mein Anliegen und Buchkonzept kurz erläutern sollte, und erhielt bereits wenige Tage später eine überaus freundliche Antwort. Im Namen von Paul Smith schickte sie mir das Bild aus dem Familienalbum sowie die Erlaubnis, es für dieses Buch zu verwenden.

Das Foto bringt die Situation, in der wir uns befinden, perfekt auf den Punkt. Es zeigt etwas, das auf den ersten Blick real und nicht erfunden erscheint – so wie jede Nachricht aus dem Internet und jede heutige Fotografie zunächst real erscheint. Und doch ist beinahe alles, was zu sehen ist, in dieser Zusammenstellung erfunden (obwohl es Photoshop noch nicht gab). Die Dinge existieren: Aber sie existieren nicht so. Und doch ist heute vieles, was unseren Vorfahren wie ein solches Foto erschienen sein muss, real. Was diese neuen Konstellationen (nennen wir sie die Konstellationen der Moderne) möglich macht, sind Wissen, handwerkliche Fähigkeiten und Techniken, die wie auf dem Bild selber unsichtbar bleiben. Wir können sie nicht direkt sehen, obwohl sie die Bedingungen für das sind, was wir sehen. In dem Bild vermischt sich eine damals moderne Technik der Fotobearbeitung mit den Elementen der wirklichen Welt und mit den alten Mythen von 1001 Nacht, mit Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen, Zauberern und wirklichen Städten, über die man heute mit Google Maps im Satelliten-Modus hinwegfliegen kann: ein Bild, in dem sich, keineswegs zufällig, Orient und Okzident treffen.

Ins Bodenlose zu stürzen bedeutet, den Halt – jeden Halt – zu verlieren. Alles um uns herum scheint dem zu widersprechen. Stehen wir nicht mit beiden Füßen auf dem Boden? Sitzen, laufen oder schlafen wir nicht auf ihm? Einen großen Teil unserer Zeit fühlen wir uns sicher, und die Welt ist alles Mögliche – nur keine Realität, die sich im freien Fall befindet. Doch Behaglichkeit und Sicherheit haben ihre Grenzen. Und dann schimmert plötzlich etwas durch den Boden durch, so, als sei dahinter – nichts. Oder genauer: zwar etwas, aber dieses Etwas trägt mit einem Mal nicht mehr. Ein Schicksalsschlag, ein Unglück oder ein plötzliches Ereignis, das einen aus der Bahn wirft (als befänden wir uns in einem Zug oder auf einer vorbestimmten Flugbahn) – und von einem Augenblick auf den anderen ist die Welt seltsam fadenscheinig geworden. Umgekehrt gilt auch für die Momente, in denen wir zu schweben scheinen oder richtig abheben in eine neue, bislang unentdeckte Welt, dass das Leben eine neue Leichtigkeit bekommt, die uns selbst das Gefühl der Schwerelosigkeit gibt. Erst dann, wenn wir uns wieder im Sinkflug befinden und »landen«, nimmt das Leben eine ungeheure Schwere an. Es bekommt einen Sog, den wir nach der Euphorie des Flugs stärker empfinden als je zuvor. Was bedeutet es also, dass wir uns die meiste Zeit über zu Hause fühlen auf der Welt, getragen (von was auch immer) und geborgen? All das soll ein fliegender Teppich sein, weil der Boden bodenlos ist? Der Augenschein spricht dagegen. Aber genau darum geht es in diesem Buch: dass die Dinge häufig anders sind, als sie scheinen.

Eine letzte Vorbemerkung. Es gibt Sachverhalte, die erstaunlich klar und einfach sind und leicht durchschaut werden können. Und doch fällt der Umgang mit ihnen überraschend schwer. Das liegt meist nicht nur daran, dass diese Dinge noch ungewohnt und neu sind, sondern dass sie uns Angst einjagen – ein Begriff, der auf unsere biologische Herkunft verweist, zurück in eine Zeit, in der es keine Supermärkte gab und Säbelzahntigerschnitzel eher eine Seltenheit waren. Einfachheit und Umgang mit einfachen Dingen liegen nicht unbedingt auf derselben Ebene. Beispielsweise ist es etwas völlig anderes, die einfache Feststellung zu machen, da draußen regnet es gerade unglaublich heftig, oder selbst derjenige zu sein, der mitten in diesem Gewitterregen auf der Straße steht und ohne Schirm, Regenmantel oder sonstigen Schutz dem Wasser hilflos ausgeliefert ist. Das eine kommt leicht über die Lippen und ist nicht der Rede wert. Regnet es nicht immer irgendwo auf der Welt? Irgendjemand wird gerade immer nass bis auf die Knochen. Das andere, das eigene Erleben, ist jedoch unerträglich, auf Dauer jedenfalls. Genau das markiert den Unterschied zwischen Erkenntnis und Erfahrung. Es kann sein, dass man gerade mit einfachen Sachverhalten nur schwer umgehen kann. So leicht das eine scheint, so schwer ist das andere.

Angenommen, das Leben, der Alltag und mit ihm vertraute Werte oder so etwas wie Wahrheit haben keinen Boden; angenommen, es gibt kein Ziel, keinen letzten Aufenthaltsort, keinen klaren Anfang, es sei denn einen, den wir definiert haben: Wäre ein solches Leben im Bodenlosen nicht schwierig, vielleicht sogar unzumutbar und unmenschlich? Andererseits: Wen sollte es kümmern, wenn es so wäre – außer die Betroffenen selbst? Wenn man sich einlässt auf das Gedankenspiel, wenn die Erkenntnis also wirklich wahr ist, kann sich ein Gefühl des Schwindels einstellen: im doppelten Sinn des Wortes. In diesem Buch geht es darum, diesen Schwindel auszuloten, der typisch ist für die Moderne. Das Grundprinzip ist denkbar einfach.

Die Moderne hat eine Menge von Apparaturen und Mitteln erfunden, mit deren Hilfe wir durch die Tage rasen, surfen, gleiten, schweben und fliegen, ohne jemals hart landen zu müssen. Im Internet, in der Luft, bei der Arbeit oder Liebe – immer scheinen wir dank unserer Hilfsmittel und Techniken festen Boden unter den Füßen zu haben. Die reißfesten fliegenden Teppiche der Moderne sehen täuschend echt aus, so wie echte Teppiche, die man auf echte Böden gelegt hat und auf die man unbesorgt treten kann, weil man dort weich und sicher steht. Bis etwas passiert. Bis Sie sich wie ein Kind fragen, warum das Flugzeug, in das Sie gerade steigen – ein Gerät aus Metall, das schwerer ist als alles, was Sie je in Ihrem Leben gehoben und in die Luft geworfen haben –, überhaupt fliegen kann. Nicht nur Kinder, auch viele Erwachsene haben ein Leben lang Angst vor dem Fliegen. Ein Flugzeug schwebt wie ein Vogel in der Luft und erzeugt umso mehr Auftrieb, je schwerer es ist? Sie können mir viel erzählen. Flugzeuge, die fliegen – das soll ich glauben?

Das Prinzip, um das es in diesem Buch geht, ist weitaus einfacher zu verstehen als solche Erklärungen der Strömungslehre aus der Newton’schen Physik, die von Auftrieb, Tragflächen und Anströmgeschwindigkeiten handeln. Alles, worum es geht, ist die Einsicht, dass der Boden der Realität, auf dem wir stehen, in Wahrheit kein fester Boden ist – auch wenn es (fast immer) anders aussehen mag. Was direkt zum zweiten Thema dieses Buches führt: zur Frage, was den direkten Aufprall eigentlich unterbindet und uns das gute Gefühl gibt, scheinbar festen und sicheren Boden unter den Füßen zu haben.

Natürlich hinkt der Vergleich des fliegenden Teppichs mit einem Flugzeug an entscheidenden Stellen. Flugzeuge sind natürlich keine fliegenden Teppiche – höchstens auf eine sehr metaphorische Weise. Doch die Bodenlosigkeit, von der die Rede war, und auch die Fähigkeit fliegender Teppiche, uns vor dem Fall zu bewahren, sind völlig real. Die Welt hat keinen Boden. Es gibt fliegende Teppiche – und sie fliegen wirklich. Sie werden im Laufe des Buches sehen, wie diese Gedanken Ihnen immer vertrauter werden.

Am Ende lässt sich das, was die Realität und unser Leben ist, nur in Bildern zeigen und sagen. Selbst die bewährten Formeln, die diese Wirklichkeit in wissenschaftlicher Form scheinbar fehlerlos und perfekt in Zahlen und Relationen wiedergeben, müssen, damit sie uns etwas sagen, in Bilder übersetzt werden. Dass wir rechnen können und wissen, was die Wurzel aus einer imaginären Zahl ist, hilft uns nicht, das Leben zu verstehen – und erst recht nicht, Lebenskrisen zu überwinden. Die Formeln selber sagen ohne Übersetzung am Ende ebenso wenig wie die Lehren der Wissenschaften, der Philosophien oder Religionen. Gott, schreibt der Schriftsteller und Medienwissenschaftler Tim Parks, ist eine Schöpfungsgeschichte in einem Wort. Wir verstehen Wörter wie Gott, Engel, Teufel, Gespenst nur anhand von Geschichten, da solche Wesen unmöglich ohne sie verstanden werden können, jedenfalls von meinesgleichen. Falls Sie widersprechen: Sagt Ihnen die folgende Formel tatsächlich, wie die ungestörte zeitliche Entwicklung von nichtrelativistischen Quantensystemen verläuft und was sie ist? Ein Fachmann bzw. eine Fachfrau wird antworten natürlich, denn die Schrödingergleichung beschreibe auf genaueste Weise – und ich zitiere hier nur Wikipedia-Wissen – die Dynamik des quantenmechanischen Zustands eines Systems, solange an diesem keine Messung vorgenommen wird. So also sieht die Welt aus, bevor jemand auf die Idee kommt, dass all das, was er gerade sieht, die Welt sein könnte, die man hören, riechen, schmecken, fühlen, denken und vermessen kann:

In gewisser Weise ist diese Gleichung, die die Welt beschreibt, bevor wir sie Welt nennen, sicherer Boden; so sicher, wie es ein fliegender Teppich eben sein kann.

Kapitel 1Fall

Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes. Er bemerkte nicht, daß er durch seine Bemühungen keinen Weg gewönne, denn er hatte keinen Widerhalt gleichsam zur Unterlage, worauf er sich steifen und woran er seine Kräfte anwenden konnte, um den Verstand von der Stelle zu bringen. Es ist aber ein gewöhnliches Schicksal der menschlichen Vernunft in der Speculation, ihr Gebäude so früh wie möglich fertig zu machen und hintennach allererst zu untersuchen, ob auch der Grund dazu gut gelegt sei. Alsdann aber werden allerlei Beschönigungen herbeigesucht, um uns wegen dessen Tüchtigkeit zu trösten, oder auch eine solche späte und gefährliche Prüfung lieber gar abzuweisen. Was uns aber während dem Bauen von aller Besorgniß und Verdacht frei hält und mit scheinbarer Gründlichkeit schmeichelt, ist dieses. Ein großer Theil und vielleicht der größte von dem Geschäfte unserer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben.

 

Kant, Kritik der reinen Vernunft AA III (1781)

Fall und Flug: Die Wirklichkeit der Illusion

Sich nichts vorzumachen, von vorneherein, würde bei ihm auf große Sympathie stoßen, die Welt leide doch daran, dass die meisten Menschen in ihrer Phantasie lebten, in Träumen, die mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen hätten und dauernd zu Fehlinterpretationen führten … eine Theorie, die er nie müde wurde zu erläutern (wenn man ihn nicht bremste), all die falschen Schlüsse, die aus solchen Voraussetzungen gezogen würden, und nicht nur Einzelne, sondern mehr als einmal schon ganze Gesellschaften ruiniert hätten, glaub mir, ich weiß aus Erfahrung, wovon ich rede.

 

Ulrich Peltzer, Das bessere Leben (2015)

Wer verzweifelt ist, sagt von sich, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen spürt. Er oder sie hat jeden Halt verloren. Dieses seltsame Gefühl völliger Verlorenheit und Ohnmacht erzeugt Schwindel, Angst und Depression. Nicht selten wird von einem Menschen, der Halt und Orientierung verloren hat, gesagt, dass er abstürze. Umgekehrt fühlt sich jemand, der euphorisch ist, weil es ihm gutgeht oder er Erfolg hat, leicht und unbeschwert. Er hat das Gefühl, abheben zu können. Es spielt in diesem Fall keine Rolle mehr, keinen Boden mehr unter den Füßen zu haben. Im Gegenteil: Das Abheben vom Boden, das Schweben und Fliegen machen gerade das Gefühl der Euphorie aus. Erst wenn jemand völlig abzuheben droht, mahnt ihn die Umwelt, auf dem Teppich zu bleiben. Was bedeuten diese Metaphern, mit denen entscheidende Lebenssituationen beschrieben werden?

Fall und Flug markieren zwei extreme Pole unserer Existenz. Doch in der Regel verläuft das Alltagsleben irgendwo in der Grauzone zwischen Aufstieg und Absturz. Es ist dieser wohltemperierte mittlere Bereich, in dem Menschen sich am ehesten aufzuhalten versuchen. Wird die Balance gehalten, dann bewegt sich das Leben der meisten Menschen in einem angenehmen Gleichgewicht. Es nimmt einen Zustand geringer Anspannung an, der als wohltuend erlebt wird. Wie alle Lebewesen versuchen auch Menschen von Natur aus, Energie zu sparen – was paradoxerweise dazu führt, dass sie dafür riesige Mengen an Energie aufwenden müssen. All das hat weniger mit Faulheit und Moral zu tun als vielmehr mit den Möglichkeiten einer Ökonomie, die verbunden wurde mit der Vorstellung von unerschöpflichen Ressourcen – eine Fiktion angesichts der Tatsachen. Im Idealfall haben Menschen, denen es gelingt, eine Balance zwischen Entspannung und Anstrengung zu halten, das befreiende Gefühl, ohne große Widerstände und Stress durchs Leben zu gleiten. Sie befinden sich in einem Zustand des Schwebens, der häufig erst im Nachhinein und in der Erinnerung daran als Glück interpretiert wird. Psychologen sprechen angesichts solcher Tätigkeiten, die Zustände des Schwebens hervorbringen, von Flow bzw. Flow-Erfahrungen. Wer schwebt, hält ein perfektes Gleichgewicht, das weder ein Fallen noch ein Aufsteigen, weder ein Über- noch ein Unterfordern ist. Dinge, die schwerelos sind, brauchen keine Energie mehr, um gehalten zu werden und in ihrem Zustand zu verweilen: Auftrieb und Gewicht halten sich ohne weiteres Zutun die Waage.

Die Metapher vom fliegenden Teppich, um die es im Folgenden geht, soll helfen, solche Vorgänge besser zu verstehen. Allerdings wäre es seltsam, damit eine Art allgemeine Theorie fliegender Teppiche zu entwickeln, so als handele es sich dabei um eine Variante der Aerodynamik oder eine Art allgemeine Teppichkunde. Metaphern sind eingebunden in eine Vielzahl kultureller Prozesse, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen ablaufen können. Es gibt, obwohl viele sich darum bemüht haben, bis heute keine wirklich verbindliche, universale und einheitliche Theorie von Kultur. Stattdessen findet man viele unterschiedliche Theorien über das, was im Annäherungsmodus Kultur genannt wird. Wie bei allen Metaphern und Paradigmen, bei leitmotivischen Sprachspielen oder zentralen Symbolsystemen gibt es zwischen den einzelnen narrativen Bildern und den Begriffen unvermeidliche Überschneidungen.

Denn eine Metapher kommt selten allein. Sie ist ein Muster innerhalb anderer Muster, mit denen sie, hier und da, Überschneidungen hat. Dies gilt auch für die Metapher vom fliegenden Teppich. Selten sind sprachliche Bilder wirklich trennscharf definiert (weshalb sie nicht problemlos durch analytische Begriffe ersetzbar sind). Deshalb können Metaphern oder Bilder, zuweilen auch ganze Bildzusammenhänge wie ein Mythos, dazu benutzt werden, umfassende Vorgänge zu beschreiben, die sich über viele Gebiete erstrecken. Beispielsweise kann der Mythos von Daidalos und Ikarus, dem Helden, der abstürzt, weil er mit seinen Wachsflügeln der Sonne zu nahe kommt, als eine Metapher für die Hybris und Gier mancher Investmentbanker gelesen werden, die ihre Bank buchstäblich zum Absturz gebracht und Kunden in den Ruin getrieben haben. Zwischen den einzelnen Bildern besteht, wissenschaftlicher formuliert, ein Funktionsäquivalent. Trotzdem ragen einzelne Bilder heraus, weil sie, zumindest für eine gewisse Zeit, eine suggestive und vor allem überraschend starke diagnostische Kraft haben. Vermutlich wird man das Bild vom fliegenden Teppich eher zu den peripheren als zu den Zentralmetaphern des Abendlandes zählen wollen. Und doch hat, wie dieses Buch zeigen wird, die Metapher vom fliegenden Teppich eine überraschend weitreichende und starke diagnostische Kraft. Die Metapher vom fliegenden Teppich ist gut geeignet, die Gegenwart, in der wir leben, besser zu verstehen und ihre wesentlichen Züge klarer zu erkennen. Ob sich am Ende das, was man auf dem Weg erkannt hat, wirklich in ein begriffliches System, eine Theorie übersetzen lässt oder ob man nicht immer auf mehrere alternative Begriffe und Theorien angewiesen bleiben wird, muss dabei zunächst offen gelassen werden. In den meisten Fällen laufen die realen Entwicklungen ohnehin den Begriffen und Theorien davon. Dies gilt, zum Leidwesen der Analytiker von Finanz- und Banksystemen, häufig sogar für ihre angeblich unschlagbaren, trickreichen Algorithmen, die ebenso wenig wie ihre Schöpfer den ökonomischen Krisen entkommen.

Entsprechend kann auch das Bild vom fliegenden Teppich in einer Vielzahl von Zusammenhängen verwendet werden. Beispielsweise verweist es einerseits auf die absolute Bodenlosigkeit unseres Lebens, andererseits aber auch auf die Möglichkeit, Halt zu finden und sich zu erheben. Ähnlich wie wir stabile Netzwerke bilden oder versuchen, die losen Fäden unseres Lebens zu einer soliden Lebensgeschichte zu verbinden, erweist sich auch das luftige Gewebe des Teppichs als überraschend reißfest. Es kann zuweilen ein Leben tragen. Schließlich hat auch das Vertrauen, das wir zueinander haben, in Wahrheit keine andere Basis als ebendieses Vertrauen selbst. Vertrauen ist aus Vertrauen gewoben – und erweist sich dennoch in vielen Fällen als äußerst strapazierfähig. Der fliegende Teppich ist ein Bild für diesen Zusammenhang: für die Tragfähigkeit eines Gewebes, das aus nichts anderem besteht als aus Phantasie und den Tauen, die Menschen einander zuwerfen und dann miteinander verbinden, um größeren Halt zu finden.

Nicht alles, was sich als tragfähig erweist, ist auch wissenschaftlich – im naturwissenschaftlich-empirischen Sinn – hundertprozentig erklärbar. Die Frage ist, ob es das überhaupt sein muss. Häufig dient die Forderung nach nomologischer Geschlossenheit von naturwissenschaftlichen Erklärungen in erster Linie dazu, das, was sich als sperrig und widerständig gegenüber etablierten Erklärungen erweist, ganz zu eliminieren. Die Metapher vom fliegenden Teppich steht auch für den Zwang, in der Kommunikation etwas zu erfassen, was sich der Kommunikation entzieht. Sie entzieht sich, weil sie nur bedingt in unseren Kulturkreis gehört und damit auch nicht in den Bereich eines etablierten Realismus. Fliegender Teppich klingt nach Magie. In den Märchen aus 1001 Nacht dienen fliegende Teppiche dazu, im Bruchteil eines Augenblicks wohlbehalten an einen anderen Ort, einen Wunschort zu gelangen –, um von dort aus später wieder sicher zurückzufinden, ohne sich Gedanken machen zu müssen über Zeit und Raum, Navigation oder Wetter. Der fliegende Teppich ist das Medium, das uns trägt, wenn wir weit reisen und Gedankenflüge machen wollen. Er ist ein Vehikel, mit dem wir abheben können, ohne je in ein Flugzeug oder eine Raumkapsel steigen zu müssen. Der fliegende Teppich steht daher nicht zuletzt für die Kraft unserer Imagination. Tatsächlich erschließt das Leben im Fiktiven neue Möglichkeiten – wirkliche Möglichkeiten, die wirklich sind, weil sie zu Wirklichkeiten werden könnten. Das Fiktive hilft uns, Widerstandskraft und das Vermögen zu entwickeln, den Riss im Leben auszuhalten, das Gefühl der Vergeblichkeit und des Scheiterns. Mit Hilfe von Vorstellungen und Geschichten zu leben bedeutet, so leben zu können, dass man im Widerstreit mit sich und der Welt nicht auch noch der Welt sekundieren muss, dem mächtigen Gegner, der am Ende immer die geschwächte Seele auszählt, weil er den längeren Atem hat. Der fliegende Teppich steht für die befreiende Fähigkeit unseres Vorstellungsvermögens, uns gegen alle Erfahrung, gegen den Knacks in uns, neu zu beflügeln und den Ort, an dem wir uns befinden, wieder zu verlassen, um ihn gegen eine bessere Gegenwart einzutauschen – eine Gegenwart, die nicht erst in einem sagenhaften Jenseits zu finden ist, sondern in einem veränderten Hier. Manche Menschen finden für das, was sie zutiefst beschädigt, kein richtiges Wort – und haben vielleicht auch deshalb keines für das, was sie retten könnte. Sie finden weder einen Begriff noch ein Symbol für das, was sie zu zerstören droht und in die falsche Richtung treibt, weg vom Leben. Statt die Dinge wieder zusammenzubringen – dies ist die wörtliche Bedeutung des Wortes Symbol: zusammenfügen –, dominiert in ihnen Zerrissenheit, eine innere Leere und ein sinnloses, raumgreifendes Rauschen, das anschwillt, bis alles zerbirst. Roger Willemsen brachte in seinem Buch Der Knacks für dieses Auseinanderbrechen den Begriff des Diabols ins Spiel: das Gegeneinandertreiben und Entzweien, darin das Gegenteil des Symbols (wörtlich: Zusammenbringen). Es ist nicht nur eine Frage des Klangs, wenn Diabol und diabolisch verwandt scheinen.

Viele Menschen leiden an ihrer Zeit und damit an sich selbst und ihren Zeitgenossen. Sie tun dies auf eine eigene, oft stille und leise Weise. Die Literatur der vergangenen Jahrhunderte ist ein guter Beleg dafür, dass es vermutlich niemals anders war. Die wahren Paradiese, schreibt Marcel Proust in Die wiedergefundene Zeit, sind die Paradiese, die man verloren hat. Hat es sie je gegeben, so dass man sie verlieren könnte? Oder sind sie Erfindungen wie der fliegende Teppich – Relikte aus Märchen? Walter Benjamin war der Ansicht, dass vom Paradies her ein Sturm weht – der Sturm, der uns der Zukunft entgegenträgt und den fliegenden Teppich im Aufwind fliegen lässt. Handelt es sich bei alldem nur um Metaphern? Ist Erlösung nur das Wunder einer Analogie, von der Proust sprach, als er das Glückserlebnis seines Lebens zu verstehen suchte? Dieses kurze Erlebnis beim Schmecken einer Madeleine, die er zuvor in Tee getaucht hatte, enthob ihn tatsächlich der Ordnung der Zeit, so dass das Wort Tod keinen Sinn für ihn hatte. Proust beschreibt mit diesem Erlebnis das, was in den Märchen ein Flug auf dem Teppich vermag: Man wird aus der Gegenwart gerissen, um (eine Analogie?) in Sekundenschnelle anzukommen. Wo? An einem Ort, an dem die Idee der Existenz keine Idee mehr ist und die verloren geglaubte Zeit wiedergefunden wird; an dem das Ich, das manchmal seit langem tot schien, aber es doch nicht völlig war, erwacht und ein neues Leben gewinnt. Dies geschieht völlig unabhängig von den Bemühungen des Gedächtnisses und des Verstandes, die erlebte Zeit zu erinnern – ein Prozess, den bislang keine neurowissenschaftliche Theorie des Erinnerns vollständig zu entschlüsseln weiß. Wenn dies so ist: Ergibt sich aus einer Theorie des Bewusstseins (falls es sie je geben wird), dass alle anderen Erklärungen falsch sein müssen – bloße Analogie oder ein Symbol, das in Wahrheit (welche Wahrheit?) nichts sagt? Ist nicht auch die neurowissenschaftliche Beschreibung der Wirklichkeit bei Licht besehen ein fliegender Teppich der Erklärungen, die an einen Wunschort der Erkenntnis der Welt tragen sollen – in Wahrheit aber auch nur in der Luft hängt, statt auf dem sicheren Boden purer Physik zu ruhen? Alle bisher existierenden Theorien über die Welt sind, einschließlich der besten, die es gibt, keine geschlossenen Gebäude: Es fehlen ganze Stockwerke und Verbindungen zwischen den einzelnen Zimmern. Es führt kein direkter Weg von der Atomphysik zum Bewusstsein oder zur Kultur.

Und dennoch haben wir uns einigermaßen komfortabel eingerichtet und fühlen uns sicher. Einen Grund dafür erwähnt Karl Marx in seinen Thesen über Feuerbach: Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis. Es geht nach Marx also bei aller Komplexität des Lebens, damals oder heute in der Moderne, nicht alleine um die Entwicklung elaborierter gesellschaftlicher Theorien. Sobald eine Theorie der menschlichen Praxis entflieht, entwickelt sie sich zum Mystizismus und zur Ersatzreligion. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage. Alles, was eine von der Praxis isolierte Theorie hervorbringen kann, sind Mystizismem wie die Credit Default Swaps: reine Erfindungen der modernen Finanztheorien. Werden sie in die Wirklichkeit entlassen und umgesetzt, dann zeigt sich, dass die Erklärungen nur Teil- und Scheinerklärungen waren. Faktisch sind wir niemals in der Lage gewesen, die angeblich berechenbaren Risiken tatsächlich genau zu berechnen. So gering das Restrisiko eines Börsencrashs durch einen Zusammenbruch des Immobilienmarktes angeblich war, und so gering es nach wie vor bei modernen Atomkraftwerken angeblich ist: Die Crashs haben sich ebenso wie die Kernschmelzen ereignet. Kleinste Risiken, nahezu verdünnt wie das Nichts einiger unscheinbarer Tropfen, die irgendwo in den Riesenwolken von Wahrscheinlichkeiten verteilt sind, aber dann, gegen alle Erwartungen, plötzlich doch kondensieren und abregnen?

Worauf gründet sich die Gewissheit von jemandem, der an die Beherrschung von Restrisiken glaubt, in Zukunft weniger zu irren als in der Vergangenheit? Wer an die Beherrschbarkeit von Restrisiken glaubt, unterscheidet sich kaum von jemandem, der sagt, das Leben sei ein fliegender Teppich, dessen Flug wir weder verstehen noch beherrschen. Am Ende ist es die Realität, um die es geht und die sich, in der menschlichen Praxis, zeigt. Das Bild vom fliegenden Teppich dient dem Begreifen dieser Praxis. Es hat viele Fürsprecher. Hat nicht der Systemtheoretiker Niklas Luhmann recht, wenn er schreibt, dass die Illusion, einen festen Boden unter den Füßen zu haben, sich fortschreibt in der Illusion, mit Hilfe von wissenschaftlichen Beobachtungen die Umwelt zu berühren? Wir glauben, dass es genüge, etwas zu beobachten – und glauben dann direkt zu beobachten, was wir da beobachten. Die darin steckende Illusion der Wissenschaft wird jedoch erst deutlich, wenn wir beobachten, wie wir beobachten. Denn alles, was wir beobachten, beobachten wir, so Luhmann, innerhalb des Systems unserer menschlichen Praxis. Die objektive Berührung der Welt, ihre objektive Erfassung in Theorien gleich welcher Art, ist eine Illusion. Aber leider bleibt auch die durchschaute Realitätsillusion ein Faktum in der realen Welt.

In dieser dialektischen Bewegung liegt die kritische Kraft der Metapher. Fliegende Teppiche sind so real wie Wahrheiten und so haltbar wie Illusionen; sie fliegen, ungehindert, genau so wie jene bereits durchschauten Realitätsillusionen ungehindert Fakten bleiben, die unser Leben weiterhin bestimmen, obwohl es sich um Illusionen handelt. Alles kommt darauf an, diese Illusionen endlich als das zu erkennen, was sie sind. Nur so gelingt es, überhaupt in der Realität anzukommen, statt weiter in einer täuschend echten Illusion zu leben. Die Illusionskritik ist dabei nur ein Teil der Wahrheit; das Aufdecken seiner Mechanismen und enormen Antriebskraft der andere. Was gemeint ist, lässt sich gut am Phänomen des Flugsimulators zeigen, der ohne Zweifel eine simulierte Wirklichkeit ist. Doch die fiktive Welt eines Flugsimulators ist so »echt« und wirklich, dass sie es Menschen tatsächlich ermöglicht, in der Realität zu fliegen, ohne je ein wirkliches Flugzeug betreten zu haben. Man muss nur lange genug in der Simulation lernen, dann gelingt auch der wirkliche Flug. Auch der fliegende Teppich ist eine Fiktion, die hilft, die Natur von Fiktionen, in denen wir leben, besser zu verstehen – um auf diese Weise, ganz real und wirklich, Täuschungen zu erkennen und im Wirklichen anders leben zu können. Insofern existiert der fliegende Teppich. Er ist ein reales Mittel der Aufklärung; und, wenn sie gelingt, auch des Transports in die Wirklichkeit.

Die Welt ist alles, was der Fall ist

Die Welt ist alles, was der Fall ist.

 

Ludwig Wittgenstein (1918)

Aus Gleichheit entsteht Unsicherheit, aus Unsicherheit Krieg. Aus dieser Gleichheit der Fähigkeit erwächst Gleichheit der Hoffnung, unsere Ziele zu erreichen. Und wenn daher zwei Menschen das gleiche verlangen, in dessen Genuß sie dennoch nicht beide kommen können, werden sie Feinde … Und aus dieser gegenseitigen Unsicherheit führt für keinen Menschen ein vernünftiger Weg, sich zu sichern, als zuvorzukommen; das heißt, alle Menschen, soweit er es vermag, mit Gewalt oder List so lange zu unterwerfen, bis er keine andere Macht sieht, die groß genug ist, um ihn zu gefährden.

 

Thomas Hobbes, Leviathan (1651)

Die Welt ist alles, was der Fall ist, schrieb Ludwig Wittgenstein. Und fügte an: Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. Er meinte damit, dass wir uns keinen einzelnen Gegenstand, kein isoliertes Ding, kurz nichts, das es gibt, denken können, das nicht mit allen anderen Dingen in einem logischen Zusammenhang steht. Die Dinge tragen diesen Zusammenhang – die Tatsachen – in sich. Die Dinge strömen, bildhaft gesprochen, den Geruch einer ganzen Welt aus. Sie alle sind eingehüllt in diese Welt. Dennoch passiert es Wissenschaftlern aller Disziplinen, dass sie, völlig versunken in die Betrachtung einzelner Weltphänomene, diesen Zusammenhang völlig übersehen oder vergessen. Wenn beispielsweise von einem Tisch oder einem Stuhl gesprochen wird, dann weiß jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft oder Kultur, zugleich immer auch, dass dieser Tisch oder Stuhl, so wie alle anderen Dinge, die mit ihnen in dieser Welt existieren, nur innerhalb von Raum und Zeit vorstellbar sind. Über Tische und Stühle in einer zeitlosen Welt oder einer Welt ohne Raum wissen wir nichts. Auch auf diese indirekte Weise hängen alle Dinge zusammen. Tische und Stühle, Raum und Zeit – sie bilden einen Verband der Dinge, ein Netzwerk. Diese Cloud des Wirklichen und Unwirklichen ist unsere Welt. In ihr schwingen sogar die noch ungelebten Möglichkeiten der Dinge mit. Das ist mit Notwendigkeit so und gilt für alles, so Wittgenstein.

Doch was ist, wenn man genauer hinsieht, all das, was der Fall ist? Was ist diese seltsame Tatsache, dass die Dinge und mit ihr eine Welt existieren? Gibt es etwas, das man unbezweifelbar und sicher über sie und die Dinge sagen kann, also über all das, was der Fall ist?

Wer über die Welt nachdenkt, betreibt notgedrungen Fallstudien. Das gilt nicht nur für die Philosophie, sondern auch für die Wissenschaften, die Literatur oder die Kunst. Einer sehr frühen Lehre zufolge, die zunächst mündlich weitergegeben und erst um die Jahrtausendwende vor Christus niedergeschrieben wurde, war diese Welt ein perfekter Garten. Er enthielt alles, was Menschen, Tiere und Pflanzen zum Leben und zu ihrem Glück brauchten. Dieser Garten samt seiner Früchte war ein Paradies. Der französische Philosoph Michel Foucault veröffentlichte in seinem Todesjahr 1984 einen Text, in dem er auf diesen Garten zurückkam. Gärten, so schrieb er, sind erstaunliche, jahrtausendealte Schöpfungen, die im Orient sehr tiefe Bedeutung besitzen. Der traditionelle Garten der Perser beispielsweise war ein heiliger Raum, dessen viergeteiltes Rechteck für die vier Teile der Welt und ihre Himmelsrichtungen stand. Im Zentrum des Raumes befand sich ein weiterer Raum, der heiliger als alle anderen war und den Nabel der Welt darstellte. In diesem Raum stand die Brunnenschale mit dem Wasser, um das herum sich die gesamte Vegetation des Gartens verteilte. Teppiche waren ursprünglich Nachbildungen eines solchen Gartens. Der Garten ist ein Teppich, auf dem die ganze Welt in symbolischer Vollkommenheit erscheint, und der Teppich ist gewissermaßen der im Raum bewegliche Garten. Der Garten ist die kleinste Parzelle der Welt, und zugleich ist er die ganze Welt.

Doch auch dieser Paradiesgarten trug den Zerfall in sich – symbolisiert durch eine böse Schlange. Woher der Wurm kam, der die wunderbare Frucht faulen ließ, wird nirgendwo gesagt; er war einfach da. Trotz dieses Widerspruchs zwischen dem vollkommenen Paradies und seiner Zerstörung blieb die biblische Erzählung vom Sündenfall im Westen neben dem Schöpfungsbericht die zweite, fundamentale Grunderzählung von der Welt. Schöpfung und Sündenfall folgen notwendig aufeinander. Und doch sind die Spannungen in beiden Berichten auffällig. Die ungeklärte Herkunft der Schlange, die sich offensichtlich einem anderen Ursprung verdankt, ist nur eines von mehreren Elementen, die in einem ambivalenten, sogar widersprüchlichen Verhältnis zum Rest der Erzählung stehen. Der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke spricht daher zu Recht von einer Bimythie (einer Zwei-Mythigkeit), die sich auch in vielen anderen Mythen etwa über die Gründung von Staaten und Nationen nachweisen lässt. Solche Erzählungen helfen gerade in ihrer eigenen Widersprüchlichkeit dabei, die widersprüchliche, konfliktreiche Vielfalt der Welt zu bändigen. Die Widersprüche im Detail werden durch den großen Bogen der Erzählung abgefedert und zusammengehalten. Doch die Spannung bleibt spürbar.

Dem Glauben zufolge war der Mensch ein glückliches Lebewesen, darin beinahe Gott ähnlich, ein Engel, der aus dem Paradies vertrieben wurde. Er selbst trägt als Mensch in Gestalt von Mann und Frau die Schuld für den Fall, der ihn ganze Stufen und Dimensionen hinabschleuderte. Bis heute müssen Männer und Frauen im Schweiße ihres Angesichts arbeiten, um zu leben. Und alle sind sterblich »geworden«. Diese Geschichte, die kein Happy End bereithält, für niemanden, ist postfaktisch. Sie imaginiert einen Anfang, der im Heute endet – im Heute einer endlichen, veränderlichen Welt, in der alle Menschen sterben. Dort, in der Welt, in der wir leben und in die wir nach einem paradiesischen Anfang gefallen sind, herrscht der Tod. Die Vergänglichkeit des Lebens ist die Folge der Verfehlung eines einziges Paares gegen Gott. Seitdem sind alle, die ihm folgten, schuldig geworden. Der Fall aller ist auch in Zukunft unaufhaltsam. Unsere Biologie ist unser Fall.

Tatsächlich gibt es selbst im westlichen säkularen Kulturkreis wenige Beispiele dafür, dass der Anfang der Welt anders als negativ, d.h. als Fall, vorgestellt wird. Selbst das weltliche Denken erwidert den religiösen Aufschlag, statt das Spiel zu beenden. Untergangsszenarien haben immer wieder Konjunktur. Obwohl alle ihr Alltagsleben leben, glauben die wenigsten, dass der Gang der Dinge und Menschen wirklich in Ordnung ist und alles so bleiben sollte, wie es ist. In fast allen Entwürfen der Geschichte, die ihr Woher und Wohin bedenken, bleibt alles, was geschieht, vom Fall infiziert. Die Welt ist schlecht. Sie ist gefallen. Das ist auch einer der Gründe, warum Denker wie Thomas Hobbes der Ansicht waren, dass ein Mensch für den anderen theoretisch zwar ein Gott sein könne, tatsächlich aber das Gegenteil ist, vor allem, wenn er sich in einer größeren Ansammlung von anderen Menschen befindet oder als Mitglied eines Staates auftritt. Staaten sehen in jedem anderen Staat und mit ihm in den dazugehörigen fremden Menschen den Wolf. Da das Verhältnis auf Gegenseitigkeit beruht, wird jeder Mensch für den anderen zum Wolf. Entsprechend verhalten sich die Menschen seit Anbeginn der Zeiten. Selbst die besten Menschen, die, die anfänglich noch beste Absichten hatten, müssen angesichts der Verdorbenheit ihrer Mitmenschen Zuflucht zu Gewalt und List nehmen. Sie müssen kämpfen, Kriege führen und töten. Es ist am besten, wenn man sich gleich darauf einstellt und sich wie ein wildes Tier verhält, nur listiger. Denn alle führen Krieg gegen alle: Das ist der natürliche Zustand des Menschen nach dem Fall.

Es mag einfältig klingen angesichts derart großer Geschichtspanoramen, aber man vergisst inmitten der Erzählung und der Argumente für das geradezu biologische Wolfsein des Menschen leicht, dass der Blick von Hobbes tiefer in die Vergangenheit zurückreicht, als es jeder Wissenschaft möglich ist. Sein Blick landet an einer Stelle, an der es noch keine menschlichen Wesen gab. Oder vielmehr Wesen, die Hobbes sich als Menschen vorstellte, ohne über sie und ihre Lebensweise wirklich etwas zu wissen. Was Hobbes gesehen hatte, war eine Phantasie, so plausibel manches auch erscheinen mag. Sollte es den Naturzustand je gegeben haben – niemand von uns, kein Wissenschaftler, Soziologe, auch kein Märchenerzähler war dabei. Es ist anzunehmen, dass auch dieser Zustand ein fließender Übergang war, der von der nachparadiesischen Gartenwelt mit Pflanzen, Tieren und Affen zur sich weiterentwickelnden Kulturwelt der Primaten führte. Hobbes selbst ahnt die mythologische Natur seiner Überlegungen. Er benennt seine Einsicht nach einem Sagentier sowohl der babylonischen und kanaanitischen wie auch der jüdischen und christlichen Tradition: Leviathan. Gott konnte mit diesem Seeungeheuer namens Leviathan spielen, heißt es in der Bibel. Er ist schließlich Herr über alles, auch über das mächtige Böse. Nicht aber der Mensch, der kein Herr mehr ist und vertrieben wurde aus dem Paradies und daher von der Stärke eines Leviathan überwältig wird. So, dachte Hobbes, muss auch der Einzelne von einem absolutistischen Staat gezähmt werden, damit durch diesen neuen Leviathan und seine Gewaltausübung die wilden Wölfe aus Anarchie und Gewalt herausgeführt werden. Man muss Gewalt ausüben, um den Schaden möglichst gering zu halten.

Auch das weitere Denken im Anschluss an Hobbes bleibt infiziert von der religiösen Vorstellung des längst schon gefallenen, verdorbenen Menschen. Theoretiker wie David Hume und viele andere nach ihm behaupten, allein unter der Führung des Verstandes und der auf ihn gegründeten Institutionen, sozusagen mit vernünftiger Gewalt, könne Abhilfe geschaffen werden. Nur die Vernunft kann das tierische Anfangschaos und die wilden Neigungen der wölfischen Menschen bändigen und in den Griff bekommen. Aufklärer wie John Locke oder Jean-Jacques Rousseau, die nicht gewillt waren, den Urzustand durch die Brille des Sündenfalls zu betrachten, bilden seither eine Minderheit, wenn auch die weitaus optimistischere. Locke war wie Rousseau im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes keineswegs der Ansicht, dass sich die Menschen von Anfang an betrügen und zerfleischen würden. Im Gegenteil: Sie waren bestens in der Lage, aus freien Stücken miteinander zu kooperieren und zu leben. Aber in dem Maße, in dem durch die Anhäufung von Eigentum die Ungleichheit zunimmt und damit der Gegensatz von Arm und Reich, sah Locke die Notwendigkeit, gegenzusteuern – jedoch (anders als später Rousseau) nicht mit Gewalt.

Lockes Ideen haben, noch vor der Französischen Revolution, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 zutiefst geprägt. Ihr folgte erst 1791 der französische Verfassungsentwurf, der fälschlicherweise im Gedächtnis der Europäer der erste und wichtigere geblieben ist. Diese geschichtliche Verzerrung ist dem Umstand geschuldet, dass die Französische Revolution auf dem Kontinent stattfand. In der Wahrnehmung der wahren Ureinwohner der Welt, die natürlich Europäer waren, blieb die Revolution in Paris das entscheidende Geschehen, auch wenn ihr eine Welle der Gewalt folgte. Wenn sich die Aufklärung bereits vor der Revolution in der Renaissance gegen die Religion wandte, dann vor allem, um endlich dem belastenden religiösen Märchen vom Fall ein Ende zu setzen. Kamen nicht die verehrten vorchristlichen Denker, die zunächst auch vom christlichen Humanisten bewundert, dann aber für zu gefährlich gehalten wurden, ohne eine negative Vorgeschichte der Weltgeschichte aus? Im christlichen Weltbild sind alle Menschen von Grund auf böse. Sollte ihre weitere Zukunft tatsächlich derart automatisch ablaufen und zur ewigen Wiederholung vorherbestimmt sein? Ist alles ein immer weiterer Fall, der in der Hölle endet – und der einzige Ausweg der, dass die Menschen bekennen, was die kirchliche Dogmatik ihnen zu glauben vorgibt, und tun, was ihnen durch kirchliche Hierarchie und institutionalisierte Macht zu tun befohlen ist? Ist die einzige Möglichkeit, dem ewigen Fall zu entgehen, tatsächlich der Kniefall? Locke und andere in seiner Folge weigerten sich, die Welt so zu sehen. Das direkte Echo der kritischen Haltung von Locke findet sich in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.

Dieser positive und nur scheinbar theologisch gedachte Ausblick hat Konsequenzen. Denn wenige Zeilen später heißt es in der Präambel: Zwar gebietet Klugheit, daß von langer Zeit her eingeführte Regierungen nicht um leichter und vergänglicher Ursachen willen verändert werden sollen; und demnach hat die Erfahrung von jeher gezeigt, daß Menschen, so lang das Übel noch zu ertragen ist, lieber leiden und dulden wollen, als sich durch Umstoßung solcher Regierungsformen, zu denen sie gewöhnt sind, selbst Recht und Hülfe verschaffen. Wenn aber eine lange Reihe von Mißhandlungen und gewaltsamen Eingriffen, auf einen und eben den Gegenstand unabläßig gerichtet, einen Anschlag an den Tag legt sie unter unumschränkte Herrschaft zu bringen, so ist es ihr Recht, ja ihre Pflicht, solche Regierung abzuwerfen, und sich für ihre künftige Sicherheit neue Gewähren zu verschaffen.

Der Fall einer Regierung, eines Staates und der Kirchen kann zur notwendigen Aufgabe werden und sogar die Erfüllung einer moralischen Pflicht darstellen. Doch was ist mit der Welt als Ganzes, die ja nicht nur aus Menschen und Staaten und Pflichten und Gedanken besteht, sondern auch aus Tischen und Stühlen, Geranien und Krimiserien?

Alles fällt – aber immer nur in Gottes Hand, lautet die dominante christliche Vorstellung von der Welt. Doch auch Christen war immer schon klar, dass im Alltag vieles zu Bruch ging, darunter auch Wesentliches und Bedeutsames. Die Dinge in der Welt fallen und zerbrechen, ohne dass sie jemand wieder völlig zusammensetzen kann. Mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften wurde diese Erfahrung zur großen Entdeckung in der Physik Isaac Newtons. Er zeigt, dass nicht nur die Dinge auf der Erde fallen, sondern diese selbst in rasender Geschwindigkeit durch das Universum fällt. Es gibt nichts im ganzen Universum, das den Gesetzen der Gravitation und Anziehung und damit dem Fall widerstehen könnte. Alles fällt aufeinander und umeinander: kleine Planeten wie der Mond um größere wie die Erde, die ihrerseits um die Sonne kreisen, die als Stern in einem Galaxienverband zirkuliert, der seinerseits seine kreisenden Bahnen entsprechend der Kepler’schen Bahngesetze und der Newton’schen Gravitation zieht. Die Welt ist nicht nur, was der Fall ist – die Welt selbst fällt auch, kontinuierlich und immer weiter.

Doch der Mensch hat Angst zu fallen. Denn zu fallen heißt: zu stürzen. Er hatte diese archaische Angst immer schon – nicht erst seit der Geschichte vom Fall. Und er hat sie immer noch. Kein Wunder, dass der Mensch seine Aufmerksamkeit auf Dinge richtet, die den Fall verhindern und ihm widerstehen: moralisch, physikalisch, logisch, ästhetisch. Gerade weil die Welt fällt, braucht sie etwas, das ihren Fall erträglich macht. Das sie stabilisiert. Und, im Fallen, auch den Sündenfall aufhebt und die Perspektive umkehrt, so dass nicht alles immer in der Hölle und im Bösen endet. In all dem spiegelt sich die Sehnsucht nach Erlösung und nach einer anderen Welt wider: einer Welt wie im paradiesischen Garten oder in seinem transportablen Abbild, dem persischen Teppich. Eine ruhige, friedliche Welt. Die Welt, die fällt, braucht einen Teppich, um sie aufzufangen: einen Teppich, der fliegen kann, um nicht seinerseits den Gesetzen des Falls zu unterliegen.

Wenn man sagt, dass die Welt alles ist, was der Fall ist, dann ließe sich ihre Geschichte etwa so erzählen: Schon im Morgengrauen der ersten Bewusstseinsdämmerung entwickelt der Mensch einen Sinn dafür, dass er fällt. Je heller es wird, je klarer er seine Situation begreift, desto mehr versteht der Mensch, dass sich an seinem Fall, dem Verlauf seines Lebens, nichts geändert hat. Der Mensch bekommt es mit der Angst zu tun. Denn er ist ein Lebewesen ohne Flügel, das sich im freien Fall befindet und darum weiß. Weder ist ihm klar, von wo aus er wirklich abgeworfen wurde, noch wie es zum Sturz kam. Sicher ist nur, dass alles, was ist, fällt – und er zusammen mit allem anderen. Noch hat ihm niemand einen rettenden Fallschirm gereicht. Das ist die schlechte Nachricht. Es gibt keinen Halt, keine Sicherung. Doch die schlechte Nachricht enthält paradoxerweise auch die gute: Es gibt keinen Boden. Niemals. Weil alles immer weiter fällt, gibt es auch keinen alles zerstörenden Aufprall. Die Welt ist einfach alles, was der Fall ist. Immer weiter.

Der Fall im Orbit

This is Major Tom to Ground Control

I’m stepping through the door

And I’m floating in a most peculiar way

And the stars look very different today

For here

Am I sitting in a tin can

Far above the world

Planet Earth is blue

And there’s nothing I can do

Though I’m past one hundred thousand miles

I’m feeling very still

And I think my spaceship knows which way to go

Tell my wife I love her very much she knows.

 

David Bowie, Space Oddity, (1969)

Die Erde fällt auf doppelte Weise durch den Raum. Zum einen dreht sie sich in 24 Stunden genau einmal um sich selbst. Wer 24 Stunden wartet, steht in Bezug zur Sonne wieder da, wo er war. Mit einfacher Schulmathematik kann man daher den Weg und damit auch die Drehgeschwindigkeit der Erde bestimmen. Der Weg, den ein Punkt auf dem Äquator in 24 Stunden zurücklegt, entspricht genau dem Umfang der Erde, der sich über U=2×πr leicht berechnen lässt, wenn man weiß, wie groß der Erdradius r am Äquator ist. Diese Größe wird, mit kleinen Schwankungen, mit 6378 Kilometern angegeben. Der Umfang der Erde und damit der gesamte Weg, den sie in 24 Stunden zurücklegt, beträgt also 40067 Kilometer. Teilt man diese Zahl durch die Anzahl der benötigten Stunden, so erhält man die in einer Stunde zurückgelegten Kilometer und damit die Geschwindigkeit: 1669 km/h. Doch das ist nur der erste Teil der Erdbewegung – die Drehung.

Während sich die Erde dreht, fällt sie gleichzeitig mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit von 29,78 km/s um die Sonne. In gewohntere Angaben übertragen, entspricht das einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 107208 km/h. Niemand bemerkt das, es sei denn, man ist gerade mit der Messung ebendieser Erdbewegung befasst. Tage, Jahre, Veränderungen des Lichts und des Standes der Sonne in den Jahreszeiten – all das hängt ebenso wie viele Wetter- und Strömungsphänomene in der Atmosphäre und den Weltmeeren mit dem Fall der Erde durch den Raum zusammen. Tatsächlich kann man es drehen und wenden, wie man will: Dass wir fallen, ist eine unbestrittene physikalische Tatsache. Wer sie leugnet, gerät in Widerspruch zum gesamten physikalischen Weltbild.

Und doch bleibt etwas seltsam an dieser Vorstellung. Warum fallen die Dinge – Satelliten, Weltraumtrümmer und vieles andere – nicht senkrecht zur Erde? Und warum bewegen sie sich wie die Erde selbst auf einer Kreisbahn? Zu diesem Problem gab es eine Reihe von Experimenten und Überlegungen. Galileo Galilei war einer der Ersten, der sich über Jahrzehnte hinweg systematisch mit den Fallgesetzen befasst hat. Auf ihn geht die bahnbrechende Idee zurück, Kugeln aus verschiedensten Materialien statt im direkten Fall zu untersuchen sie auf einer schiefen Ebene, und damit kontrolliert und wie schräg fallend, langsam herunterrollen zu lassen. Diese Versuchsanordnung erlaubte es ihm, das Verhältnis von Geschwindigkeit und Beschleunigung zu bestimmen. In Discorsi e Demonstrazioni beschrieb Galilei 1636 die Gesetze des freien Falls, wobei er – anders als wir Jahrhunderte später – davon ausging, dass diese Gesetze unabhängig vom Standort oder der Bewegung des Beobachters gelten. In Discorsi e Demonstrazioni änderte Galilei seine anfängliche Ansicht, dass Körper unterschiedlicher Dichte im luftleeren Raum unterschiedlich schnell fallen, und behauptete nun, dass, wenn man den Widerstand der Luft ganz aufhöbe, alle Körper gleich schnell fallen würden. Dass dies tatsächlich so ist, demonstrierten erst die Astronauten von Apollo 15 auf dem Mond mit einem Hammer und einer Feder.

Was den freien Fall angeht, gelang es erst Isaac Newton, Regeln und Gesetze des Falls als Auswirkungen der Gravitationskraft zu beschreiben. In seiner 1687 veröffentlichten Philosophiae Naturalis Principia Mathematica erklärte Newton die Gesetze des freien Falls durch das weiter gefasste Gravitationsgesetz, das allgemeine Prinzipien des Falls formulierte. Aufgrund dieser Prinzipien konnte Newton den »Fall« des Mondes um die Erde nicht nur berechnen, sondern auch seine Umlaufbahn bestimmen. Aber auch Newtons Theorie hatte keine Erklärung für die seltsame, der Intuition widersprechende Tatsache, dass alle Dinge im luftleeren Raum (d.h. ohne den unterschiedlich hohen Widerstand, den die Luft dem freien Fall entgegensetzt) völlig unabhängig von ihrer stofflichen Zusammensetzung oder Form völlig gleich fallen. Dieses Phänomen blieb trotz vielfacher Experimente von Newton und seinen Nachfahren ein ungelöstes Rätsel der Physik. Erst Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie lieferte eine befriedigende Antwort auf die Frage, warum alle Körper gleich schnell fallen und die Erde nicht einfach senkrecht auf die Sonne zustürzt, so wie ein Apfel senkrecht vom Baum zur Erde fällt. Tatsächlich fallen große Massen wie die Erde oder Sonnen Einstein zufolge nicht auf gerader Linie nach »unten« oder »oben« auf den sie anziehenden Körper zu, sondern drehen sich in Ellipsen oder Kreisbahnen um sie, weil sich der Raum, in dem sie fallen, krümmt.