Der Fluch der Aargauer Knochen - Saskia Gauthier - E-Book
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Der Fluch der Aargauer Knochen E-Book

Saskia Gauthier

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Beschreibung

Kanton Aargau. Mitten im Wald liegt ein Toter. Ein tragischer Unfall - oder etwa Mord? Lisa Klee, seit kurzem Assistenzärztin des Rechtsmedizinischen Zentrums Aargau, stößt bei der Beurteilung des Todesfalls an ihre Grenzen. Wie kam der Mann ums Leben? Und welche Rolle spielen die alten Knochen, die der Mann kurz zuvor unter seiner Hecke gefunden hat? Zusammen mit ihrer Freundin Cynthia Smith und Staatsanwalt Ben Graf beginnt sie zu ermitteln, während ein Mörder im Freiamt sein Unwesen treibt.

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Saskia Gauthier

Der Fluch der Aargauer Knochen

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Bei Fragen zur Produktsicherheit gemäß der Verordnung über die allgemeine Produktsicherheit (GPSR) wenden Sie sich bitte an den Verlag.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Satz/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Andrii Shepeliev / iStock.com

ISBN 978-3-7349-3278-6

Widmung

Für Sven, den besten Bruder der Welt

Prolog

Der Mann keucht. Wieder und wieder schlägt er den Spaten in die Erde. Dumpf hallt das Geräusch durch die Nacht. Langsam beginnt die Grube Formen anzunehmen. Bald ist es geschafft, dann wird sie groß genug sein. Viel braucht es ja eh nicht, denkt er bitter. Schweiß rinnt ihm den Rücken hinab. Wieder treibt er den Spaten mit voller Kraft in den lehmigen Boden. Es gibt ein klirrendes Geräusch, als er auf einen großen Stein trifft.

Der Mann hält erschrocken inne. Hat ihn jemand gehört?

Überdeutlich vernimmt er seinen eigenen Atem. Auch sein Herz pocht viel zu laut in seinen Ohren. Doch im Garten scheint alles still. Nur die Bäume raunen leise im Wind.

Doch dann, ein Rascheln. Blätter, die sich bewegen. Das Knacken dünner Äste auf dem Boden.

Der Mann fährt herum. Späht angestrengt in die dunkle Ecke, die dort hinten so gut verborgen ist vom Licht des abnehmenden Mondes.

Zu gut verborgen.

Bewegt sich da nicht etwas, dort, bei der kleinen Eibe?

Beinahe hätte er laut aufgelacht. Nur ein Igel auf der Suche nach Nahrung. Gemächlich trottet er seinen Weg durch den Garten, die spitze Nase hier und da in kleine Erd- und Laubhaufen steckend. Der Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn, erschaudert, als ihn ein kühler Luftzug trifft. Er wirft einen Blick neben sich, auf die reglose Gestalt auf dem Boden. Nur schemenhaft kann er ihre Silhouette im Mondlicht erkennen. Die langen braunen Haare, die sich so weich in seine Hände geschmiegt haben. Die nun so voll und schwer sind mit ihrem Blut. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den hohen Wangenknochen, dem Muttermal auf der linken Wange, den schönen vollen Lippen. Ein Schluchzen entfährt ihm, als er begreift, dass es vorbei ist. Dass es kein Zurück mehr geben wird.

Für einen Moment wünscht er sich nichts mehr, als neben ihr zu liegen.

Bleich, kalt und tot.

Aber er kann nicht. Nicht jetzt. Nicht hier.

Er muss weitermachen. Weiterleben. Als ob nichts geschehen wäre. Als ob es sie nie gegeben hätte. Als ob er sie je vergessen könnte. Er hebt den Spaten wieder. Jagt ihn mit der Kraft der Verzweiflung in die Erde. In seinen Handinnenflächen haben sich Blasen gebildet. Er spürt sie kaum.

Eine Eule ruft im nahen Wald. Einmal. Zweimal. Nebelschwaden steigen von der Reussebene herauf. Bald wird auch das silbrige Licht des Mondes vom grauen Mantel des Nebels erstickt worden sein. Auf seinen Lippen schmeckt er bereits den feuchten Moder der Nebelnacht vermischt mit dem Geschmack der Erde, in der er nun schon eine geraume Weile gräbt.

Nur noch ein bisschen.

Und dann wird sie für immer verschluckt sein.

Kapitel 1

Womit hatte ich das verdient?

Nervös schaute ich auf mein Navigationsgerät, das mir noch fünf Minuten bis zum Ziel anzeigte.

Fünf Minuten. Nur noch!

Unwillkürlich nahm ich den Fuß vom Gas, um das Tempo ein wenig zu drosseln. Als ob sich dadurch etwas ändern würde. Als ob es einen Unterschied machen würde, ob ich noch fünf, sechs oder sieben Minuten brauchen würde. Neben der Straße graste eine Schafherde, auf der anderen Seite stocherten ein paar Störche nach Wirbellosen. Der Graureiher zwischen den Störchen wirkte seltsam deplatziert.

Vor mir tauchten die ersten Häuser auf. Eine verschlafene Gegend. Ruhig und idyllisch.

Fast alles Einfamilienhäuser, umgeben von unterschiedlich großen Gärten, die allesamt sehr gepflegt wirkten. Ich setzte den Blinker und folgte gehorsam den Angaben des Navigationsgeräts, das mich aufforderte, in 50 Metern links abzubiegen. Die Straße stieg nun leicht an. Ich passierte Vorgärten, in denen sich das leuchtende Gelb der Forsythien mit den noch kahlen Ästen der blühenden Korkenzieherhaselnusssträucher und dem schütteren Grün von ehemals dichten Ligusterhecken abwechselte. Hier und da hatte es Beete voller Narzissen, die ihre Köpfe zwischen Blausternen, Primeln und Christrosen in den Himmel reckten. Nach einer Kurve erhaschte ich einen großartigen Blick auf die noch mit Schnee bedeckten Alpen und die Reussebene.

In Gedanken versuchte ich noch einmal zu rekapitulieren, was ich eigentlich wusste.

Aber das war verdammt wenig. Sozusagen praktisch nichts.

Noch einmal abbiegen, einer sanften Kurve folgen, und schon kündigte mir die blecherne Stimme des Navigationsgeräts an, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Das hätte ich allerdings auch so unschwer an den zwei Polizeiautos erkannt, die dicht hintereinander am Straßenrand geparkt waren.

Ich stellte unseren Skoda hinter einem eleganten grauen Tesla ab.

Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und wünschte mir, dass dieser Tag ganz einfach schon vorbei wäre und damit die anstehende Untersuchung, bevor ich noch einmal tief durchatmete und ausstieg.

Es war einer dieser milden Vorfrühlingstage, an denen der Sommer schon in greifbarer Nähe zu sein schien. An denen man nach dem monatelangen Mief und der Dunkelheit des Winters das Gefühl hatte, aus einem langen Schlaf erwacht zu sein. Ein Tag, an dem man die Gartenstühle hinausstellte, den Grill unter seiner Abdeckung hervorholte und sich den ersten Sonnenbrand an den vom Winter blassen Schultern holte. Entsprechend viel war in der Gegend los. In einem Garten hüpften ein paar laut kreischende Kinder auf riesigen Trampolinen. Auf der verkehrsberuhigten Straße lieferten sich andere mit ihren Kickboards und Velos wilde Rennen, während sich ihre Eltern mehr oder weniger entspannt mit Kaffeetassen in den Händen über Gartenzäune hinweg unterhielten. Eine alte Frau saß dösend auf einem Stuhl an der Hauswand, das Gesicht in die Sonne gereckt, auf ihrem Schoß eine zusammengefaltete Zeitung, zu ihren Füßen eine zusammengerollte Katze.

Ich lief über die Straße, in der einen Hand meine Diensttasche, in der anderen den großen Fotokoffer, und steuerte auf das zugewucherte Riegelhaus zu, das ein wenig über der Straße thronte. Unter einer wuchernden Glyzinie, die ihre blauen Blüten vermutlich bald öffnen würde, konnte ich ein Klingelschild ausmachen. »R. u. H. Rutishauser« stand da in verblichenen Buchstaben.

Hier war es also!

Vom intensiven Duft der blau und violett blühenden Hyazinthen, die in Blumenkästen links und rechts neben der Haustür eingepflanzt worden waren, wurde mir fast übel.

Auf mein Klingeln hin öffnete mir eine große schlanke Frau, die vielleicht Ende 30 sein mochte. Die blonden Haare waren zu einer Art Messy Bun hochgesteckt und die Stirn über den perfekt gezeichneten Augenbrauen auffallend faltenlos. Ihrer Kleidung – Jeans, Sneakers, Pullover – konnte man ansehen, dass sie alles andere als billig gewesen war.

Sie musterte mich unfreundlich.

»Sie wünschen?«, fragte sie, und ich kam mir sofort ein bisschen vor wie einer dieser Hausierer oder Zeugen Jehovas, die früher gelegentlich bei uns an der Tür geklingelt hatten.

Kaum hatte ich mich vorgestellt, seufzte sie vernehmlich und schlüpfte in eine leichte Jacke.

»Kommen noch mehr von Ihnen?«, fragte sie, nachdem sie mehrmals nach links und rechts geblickt hatte.

Ich zuckte mit den Schultern. »Äh, keine Ahnung, ehrlich gesagt. Aber von uns nicht, also der Rechtsmedizin Aargau«, fügte ich noch an.

Sie verdrehte genervt die Augen. »Ist ein furchtbarer Auflauf hier. Polizei, Staatsanwaltschaft, irgendwelche anderen Leute, jetzt auch noch Sie! Heinz ist so schon völlig fertig, da braucht es jetzt nicht noch Hinz und Kunz, die da in seinem Garten rumtrampeln.« Vorwurfsvoll blickte sie mich an. »Aber jetzt kommen Sie mal mit.«

Sie trat aus der Haustür, woraufhin ein dezenter Hauch eines unglaublich fein riechenden Parfüms in meine Nase stieg. Kurz erwog ich, sie zu fragen, welchen Duft sie benutzte, ließ es aber in Anbetracht der Umstände lieber bleiben und folgte ihr stattdessen auf einem schmalen Fußweg zur Rückseite des Gebäudes zu einem weitläufigen, sehr gepflegten Garten. In der einen Ecke ein großer Teich mit Flusslauf, in dem das Wasser fröhlich plätscherte. Daneben eine schön angelegte Terrasse, auf der mehrere Terracottatöpfe mit Zitruspflanzen standen. Hier und da führten geschwungene Trampelpfade durch sorgfältig angepflanzte Gräser und Büsche, deren Knospen bereits erste Blüten zeigten. Blickfang war aber eine einzelne Magnolie, deren tulpenförmige Kelche in voller Blüte standen. Zum Nachbargrundstück hin war der Garten durch eine Thujahecke begrenzt, die schon deutlich bessere Zeiten gesehen haben mochte und überhaupt nicht zum ansonsten so verwunschenen Garten passen mochte. Ein Teil braun verdorrt, ein Teil ausufernd wuchernd, gab es gelegentlich klaffende Lücken in der Hecke, in der nur noch dürre Äste das ehemals immergrüne Buschwerk erahnen ließen. Der Garten war erfüllt von einem intensiv aromatischen Geruch, was an den kreuz und quer auf einem Haufen liegenden, teilweise zersägten Thujabüschen liegen mochte, die offenbar vor Kurzem aus dem Boden gerissen worden waren.

Und hier, um einen Haufen brauner zertrampelter Erde, hatte sich auch schon ein Grüppchen Menschen versammelt, das sich mit gedämpften Stimmen unterhielt. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, als wir uns näherten.

»Hier ist noch jemand von der Rechtsmedizin«, sagte Frau Rutishauser leise und sah sich mit gefurchter Stirn nach links und rechts um, als sei es eine äußerst peinliche Angelegenheit, die Rechtsmedizin im Garten zu haben. Danach drehte sie sich wieder um und lief schnellen Schrittes zurück, die Schultern hochgezogen, als hoffte sie, dass niemand sie sehen würde.

Alle Blicke wandten sich mir zu, und ich fühlte mich mal wieder wie die Neue in der Schulklasse. Meine Wangen fingen an zu brennen, und ich hatte eine gewisse Vorstellung davon, wie ich wirken musste, mit meinem roten Kopf, den strubbeligen blonden Haaren und der etwas zu großen bordeauxroten Dienstjacke. Unsicher stellte ich mich vor.

Eine hochgewachsene Polizistin mit kurz geschnittenem, lockigem grauem Haar musterte mich kurz von oben bis unten und streckte mir dann lächelnd ihre Hand hin, wobei sie eine Reihe gleichmäßiger weißer Zähne präsentierte.

»Erika Ruef, Kantonspolizei Aargau. Du bist also die Neue am Rechtsmedizinischen Zentrum Aargau«, sagte sie. »Ich habe schon so einiges von dir gehört«, fügte sie mit einem vielsagenden Lächeln hinzu, das ich überhaupt nicht einordnen konnte.

Stirnrunzelnd starrte ich sie einen Moment lang an. Was meinte sie denn damit? Hatten sich meine Erlebnisse aus Zürich und dem Glarnerland bereits bis zur Aargauer Polizei herumgesprochen? Sie zwinkerte mir zu und wandte sich dann wieder den anderen zu. Ich stellte mich reihum vor, wiederholte Namen, nur um sie gleich darauf wieder zu vergessen. Warum um Himmels willen war denn so ein Auflauf an Polizei da? Neben Erika Ruef, der Kantonspolizistin, die, ihrem Abzeichen nach, einen hohen Rang belegen musste, stand noch ein stämmiger Glatzkopf, dessen Wangen einen ungesunden Rotton angenommen hatten. Er hatte sich mit »Walther von der Kripo« vorgestellt. Ob das jetzt Vor- oder Nachname war, erklärte er nicht. Dann waren aber auch mehrere, ihren Abzeichen nach, deutlich rangniedrigere Uniformierte vor Ort und noch zwei junge Männer in Zivil, deren Namen und Funktionen ich nicht so ganz verstanden hatte. Zu guter Letzt trat eine schlanke braunhaarige Frau zu uns, die etwas entfernt mit dem Rücken zu uns gestanden und telefoniert hatte. Der dunkle Hosenanzug und die hochhackigen Pumps wollten nicht so recht zum ländlichen Ort und den erdigen Gegebenheiten hier passen. Ich wollte gerade die Hand ausstrecken, um mich vorzustellen, als ich ungläubig mitten in der Bewegung innehielt.

Kühle mandelförmige Augen schauten mich an und verengten sich belustigt, als sie mich erkannten. Die Haare waren etwas länger, als ich sie in Erinnerung hatte, und zum Mund hatten sich einige Falten gesellt, die vor drei Jahren noch nicht da gewesen waren, das Gesicht aber ganz sicher nicht freundlicher wirken ließen.

»Grüezi, Frau Klee«, sagte Staatsanwältin Brigitte Bühler mit einem spöttischen Lächeln. »Ich habe schon gehört, dass Sie jetzt im Aargau Ihr Unwesen treiben.«

Ich schluckte trocken. Oh nein! Nicht auch das noch! Das war ja noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte.

Brigitte Bühler war damals in Zürich maßgeblich daran beteiligt gewesen, dass ich mich zum absoluten Gespött bei den Ermittlungsbehörden und Kollegen gemacht hatte, nachdem ich bei einem assistierten Suizid auf einen Mord verdächtige Befunde festgestellt und dabei übersehen hatte, dass es eigentlich eine natürliche Erklärung für die Befunde gegeben hätte. Ich hatte gehofft, dass ich sie nie wieder würde sehen müssen.

Was, bitte schön, machte die hier im Aargau? Und warum musste ich ausgerechnet jetzt auf sie treffen? Wo ich doch keinen blassen Schimmer von dem hatte, was mir bevorstand? Ich starrte sie entsetzt an und war drauf und dran, irgendetwas Peinliches von mir zu geben, als eine heisere Stimme empört ausrief:

»Welcher Tubel hat jetzt da seine Taschen auf den Fundort gestellt?« Ich fuhr herum und sah in das Gesicht einer pausbäckigen Kriminaltechnikerin, die wutentbrannt auf meine Tasche und den Fotokoffer zeigte, die ich neben den Erdhaufen gestellt hatte.

Nun war definitiv der Moment gekommen, in dem ich am liebsten im Boden versunken und irgendwo am anderen Ende der Welt wieder aufgetaucht wäre. Frau Bühler lachte glockenhell auf. »Na, das geht ja mal wieder gut los mit Ihnen, Frau Klee.«

Kapitel 2

Leise Musik. Stimmengewirr. Gläser, die schepperten. Kinder, die aufgeregt miteinander flüsterten. Im Nachbarsgarten war einiges los. Immer wieder konnte ich neugierige Gesichter durch die Lücke in der Thujahecke spähen sehen.

Kantonspolizistin Erika Ruef schnalzte genervt mit der Zunge und gab einem ihrer Kollegen ein Zeichen, woraufhin er sich an die Hecke stellte.

»Neugierig bis zum Gehtnichtmehr«, murmelte Frank Walther kopfschüttelnd. Danach rieb er sich die Hände. »So, Frau Lisa. Wie sieht’s aus?«

Ich schluckte. Nun war es also so weit.

Die burschikose Kriminaltechnikerin, die sich als Ronja irgendwas vorgestellt hatte, hatte mit einem entnervten Grunzen meine Tasche und den Fotokoffer zur Seite gestellt und sich sichtbar einige vermutlich höchst unflätige Ausrufe verkniffen, als sie das Fundstück vorsichtig aufgehoben und auf eine Plane gelegt hatte. Ich hatte mit rotem Kopf neben ihr gestanden und ihr hilflos dabei zugeschaut. Noch selten war ich mir mehr fehl am Platz vorgekommen als jetzt. Und dabei war der Beginn im Rechtsmedizinischen Zentrum Aargau doch so vielversprechend gewesen. Obwohl sich meine Eskapaden aus Zürich und die Erlebnisse im Glarnerland sicherlich in der kleinen Rechtsmedizinerwelt der Schweiz herumgesprochen hatten, hatten mich die Kollegen in Aarau mit offenen Armen empfangen. Die Chefin schien nett und kompetent, und der Arbeitsweg von meinem Häuschen, nahe des Schachens in Aarau, war sogar mit dem Fahrrad ohne Probleme zu bewältigen. Die ersten paar Wochen hatte ich meine Chefin und Abteilungsleiter Gunnar im Dienst begleitet und mehrere Leichenschauen im ganzen Kanton Aargau unter ihren kritischen Blicken durchgeführt. Hinterher hatte ich jeweils ein großes Lob bekommen, und keiner im Team hatte wohl Zweifel daran, dass ich meinen ersten Wochenende-Pikett-Dienst über Ostern gut würde bewältigen können. Und doch stand ich nun da wie ein ausgescholtenes Schulmädchen und starrte konzeptlos auf das, was mir die pausbäckige Ronja in ihrem weißen Spurenschutzanzug schön säuberlich auf eine Plane gelegt hatte.

Knochen. Ein einzelner, brauner krummer Knochen.

Offenbar hatte der Nachbar dieser Rutishausers, ein stämmiger Bursche Mitte 30, beschlossen, seine unansehnliche und ökologisch wenig sinnvolle Thujahecke durch eine heimische Mischhecke zu ersetzen. Der schöne Frühlingstag schien ihm perfekt dafür geschaffen, das Vorhaben endlich in die Tat umzusetzen, und so hatte er eine Gruppe Freunde zusammengetrommelt, die hoch motiviert, aber mehr oder weniger tatkräftig, bei Grillwurst und Bier mit angepackt hatten. Nachdem sie die ersten paar Büsche mit Hilfe einer Handseilwinde ohne größere Probleme unter lautem Gelächter und Geschrei aus der Erde hatten reißen können, hatten sie nicht schlecht gestaunt, als Labrador Buddy plötzlich diesen komischenknorrigenAst im Maul gehabt hatte. Seine Besitzerin hatte, wegen der giftigen Inhaltsstoffe der Thujapflanze höchst alarmiert, versucht, Buddy den Ast wegzunehmen. Buddy aber hatte gar nicht daran gedacht, seine Beute herzugeben. Eigentlich ein äußerst freundlicher und friedlicher Zeitgenosse, hatte er sich in eine zähnefletschende Bestie verwandelt und knurrend seinen Ast verteidigt. Nur mithilfe eines großen Stückchens Cervelat hatte er sich dazu überreden lassen, das Fundstück kurz fallen zu lassen. Die Gartenfreunde hatte dann relativ schnell bemerkt, dass der Ast mit den eigentümlichen Knubbeln auf beiden Seiten eher wie ein Knochen als eine Thujawurzel aussah. Nach einigem Hin und Her hatte man beschlossen, die Polizei zu rufen, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen.

Und nun stand ich da und starrte auf den Knochen, während ich versuchte, mir in Erinnerung zu rufen, was ich zu Hause noch hastig in Knochenfunde – alles andere als ein Hexenwerk – nachzulesen versucht hatte.

Vor mir lag ein Knochen, der aussah wie ein Oberschenkel, aber genauso gut auch von einem Oberarm stammen konnte. Er war braun, an manchen Stellen gelblich belegt und wies deutliche Zahnabdrücke des Hundes auf. Der Knochen erschien mir eher klein für einen Menschen, aber andererseits auch wieder etwas zu groß für ein Tier. Prüfend nahm ich ihn in die Hand und war erstaunt, dass er noch so schwer war. Wenn ich mich richtig erinnerte, war das eher ein Zeichen dafür, dass ein Knochen noch nicht so lange in der Erde gelegen hatte.

Mann, ich hatte einfach viel zu wenig Ahnung davon!

»Ist das der einzige Knochen oder gibt es noch mehr?«, fragte ich hoffnungsvoll in die Runde. Schließlich würde der Fund eines Schädels oder auch schon eines Gebisses zumindest die Frage beantworten, ob es sich um menschliche oder tierische Knochen handelte.

Zu meinem Bedauern schüttelte Kriminaltechnikerin Ronja den Kopf.

»Nein, auf den ersten Blick hin nicht. Ich habe aber auch nur ganz oberflächlich geschaut. Es kommt halt ein bisschen auf deine Beurteilung an, wie intensiv wir weitersuchen«, fügte sie zu meinem Schrecken hinzu.

»Genau. Wenn er menschlich ist und weniger als 30 Jahre lang hier gelegen hat, suchen wir logischerweise noch nach weiteren Knochen«, erklärte Frank Walther von der Kripo. »Wenn nicht«, er zuckte mit den Schultern, »können wir uns eine Menge Arbeit sparen.«

Zweifelnd drehte ich den Knochen in meinen Händen ein wenig hin und her, während ich verzweifelt versuchte, mich an die humanspezifischen Kriterien eines Knochens zu erinnern. Natürlich sollte man als Rechtsmedizinerin auch Knochenfunde beurteilen können, wenngleich das unter die Aufgabe der forensischen Anthropologie fiel. Aber ich hatte in meiner bisherigen Anstellung in der Rechtsmedizin in Zürich leider keinen einzigen Knochenfund erlebt, sodass sich mein Wissen lediglich auf das stützte, was ich kurz vor der Abfahrt noch nachgelesen hatte. Das korrekte Vorgehen wäre nun eigentlich gewesen, beim Hintergrund-Facharzt anzurufen und um Rat zu bitten. Hintergrunddienst hatte aber ausgerechnet meine Chefin, vor der ich mich nicht blamieren wollte. Außerdem wollte ich mir vor Frau Bühler und dem mich kritisch musternden Kripo-Glatzkopf keine Blöße geben. Vor allem nicht vor Frau Bühler. Die würde sonst zweifelsohne dafür sorgen, dass mein Ruf aus Zürich, den ich hier im Aargau um alles in der Welt nicht haben wollte, mir bei den Untersuchungsbehörden vorauseilen würde.

Stirnrunzelnd schaute ich mir die Enden des Knochens an. Auf der einen Seite hatte er eine Art eingedellte Walze, die zwischen zwei nach links und rechts ragenden Knochenvorsprüngen lag. Wenn ich nicht völlig danebenlag, dann war das hier der obere Teil eines Kniegelenks. Und damit musste es sich um einen Oberschenkel handeln. Vorsichtig strich ich über die aufgeraut wirkende Gelenkfläche, bevor ich den Knochen um 180 Grad drehte. Auf der anderen Seite wies der Knochen einen relativ homogenen Knubbel auf, der allerdings nicht mehr vollständig intakt zu sein schien. Die Oberfläche war aufgeraut, und an einer Stelle hatte es den Anschein, als ob ein Stück abgebrochen war. Beim menschlichen Oberschenkelknochen müsste hier eigentlich der schräg verlaufende Oberschenkelhals sein, auf dem der kugelartige Kopf thronte. Und der war hier nicht zu erkennen.

Also eher tierisch?

Vielleicht ein Hirsch? Die sollte es doch südlich der Albiskette geben? Würde das von der Größe her passen?

Ronja kauerte sich neben mich. »Eher nicht menschlich, oder? Ich würde ja auf einen Hirsch tippen.« Sie richtete sich auf, drückte den Rücken durch und grinste mich schief an. »Aber ich bin ja nur von …«

»… der Kriminaltechnik«, beendete ich den Satz für sie und strahlte sie an.

Also ein tierischer Oberschenkelknochen oder sagte man da etwa Hinterlaufknochen? Nachdenklich drehte und wendete ich den Knochen noch ein paar Mal hin und her. Ich war mir mittlerweile fast sicher, dass es sich nicht um einen menschlichen, sondern um einen tierischen Oberschenkelknochen handelte. Und diese Ronja schien sich ziemlich sicher zu sein. Aber konnte ich meine Einschätzung wirklich so herausposaunen? Was, wenn ich falschlag? Ob ich nicht doch lieber Isabella anrufen sollte? Hatte ich mir nach meinen Erlebnissen in Zürich und im Glarnerland nicht vorgenommen, nie wieder auf eigene Faust vorzupreschen?

Ich legte den Knochen sorgfältig auf die Plane und wollte gerade einen meiner Handschuhe ausziehen, um das Telefon aus meiner Hosentasche zu kramen, als Frau Bühler meine Überlegungen unterbrach.

»Na, Frau Klee, wie sieht es aus? Wittern Sie – mal wieder – einen Mord?«, fragte sie mit einem spöttischen Unterton in der Stimme. Die Hände vor der Brust verschränkt, den Kopf schräg gelegt, musterte sie mich mit einem süffisanten Lächeln. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ronja stirnrunzelnd aufsah, während sich der Kripo-Rotkopf ein Grinsen verkniff.

Ich versuchte, ruhig durchzuatmen, mich nicht provozieren zu lassen. Aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Hände plötzlich anfingen zu zittern.

»Lass sie doch in Ruhe arbeiten, Brigitte«, sagte da Erika Ruef zu meiner Überraschung.

»Genau. Wir sind ja noch mitten in der Untersuchung«, meinte Ronja.

»Ich frage ja nur«, antwortete Frau Bühler pikiert und verdrehte die Augen.

»Nein«, sagte ich so ruhig wie möglich.

»Wie bitte?«

»Nein«, sagte ich. »Ich wittere ganz sicher keinen Mord.«

Frau Bühler sah mich überrascht an.

»Also, Frau Klee, jetzt erstaunen Sie mich schon ein bisschen. Wie können Sie sich denn da so sicher sein?«, fragte sie und blickte ungläubig lächelnd in die Runde.

Ich richtete mich auf und nahm den Knochen in der Hand. »Na, weil wir …«

Ich brach ab. Sollte ich nicht wirklich noch schnell meine Chefin Isabella anrufen? Was, wenn ich hier falschlag? Doch Frau Bühlers hohe Stimme unterbrach meine Gedanken schon wieder.

»Weil was, Frau Klee? Müssen Sie mal wieder erst noch Ihren Oberarzt anrufen? Oder dürfen Sie im Aargau schon ganz allein entscheiden? Sie überraschen mich einfach immer wieder.« Sie lächelte mich zuckersüß an.

Ich blickte in diese spöttisch funkelnden Augen, hörte diese ätzende hohe Stimme und verspürte jäh die unbändige Lust, dieser Frau den Knochen auf den Kopf zu hauen.

Stattdessen atmete ich tief durch und bleckte meine Zähne zu einem, wie ich hoffte, nicht minder süßen Lächeln.

»Wissen Sie, Frau Bühler, wir haben keinen Mord, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass Sie«, ich deutete mit dem Knochen auf sie, »bei einem Tier von Mord reden würden«, sagte ich mit fester Stimme und wandte mich in die Runde. »Wahrscheinlich ein Reh oder ein Hirsch. Aber darauf möchte ich mich jetzt noch nicht festlegen.«

Neben mir spürte ich, wie Ronja die Luft ausstieß. Erika Ruef schaute mich mit schräg gelegtem Kopf an.

»Sicher?«, fragte sie.

Ich schluckte. Nein, natürlich nicht, wäre eigentlich die richtige Antwort gewesen. Aber ich atmete tief durch und nickte.

Frank Walther klatschte erfreut in die Hände. »Prima, prima«, sagte er. »Vielen Dank, Lisa, für diese professionelle Einschätzung. Dann können wir den Garten ja wieder freigeben, oder was meint ihr?« Er blickte in Gesichter, denen man ansehen konnte, dass sie nicht unfroh über das jähe Ende ihres Einsatzes waren. Kurz darauf wuselten sie in alle möglichen Richtungen. Kleine Gläser mit Erdproben wurden wieder ausgeschüttet, die Plane zusammengefaltet und die Spurenschutzanzüge in Abfallsäcken verstaut. Frau Bühler war nach einem knappen »Adieu«, davongestakst, und nur ich stand noch da und schaute nachdenklich auf den Knochen, den ich noch immer in meiner Hand hielt.

Warum nur fühlte ich mich plötzlich alles andere als erleichtert?

Kapitel 3

»So, Lisa! Jetzt schauen wir uns deinen Hirsch mal an!«, sagte meine Chefin, Isabella Meier, mit ihrer rauchigen Stimme und haute mir kumpelhaft auf die Schulter, während wir durch den Spitalpark zum Obduktionssaal liefen. Es war bereits drei Tage her, seit der Knochen gefunden worden war. Zwar hatte ich am Dienstagmorgen Bilder davon gezeigt, doch da sich über Ostern mehrere andere und dringendere Fälle angestaut hatten und ein toter Hirsch nicht unbedingt das war, was alle brennend interessierte, war es Mittwoch geworden, bis Isabella nach dem Mittagessen in mein Büro gekommen war, um mit mir »auf die Pirsch zu gehen«, wie sie mit einem Lächeln gesagt hatte.

Das Lächeln fror ihr allerdings relativ schnell auf den Lippen ein, als sie den Knochen in die Hand nahm und eingehend studierte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, während der ich zunehmend unruhig von einem Bein aufs andere trat, seufzte sie tief und musterte mich eine ganze Weile lang mit schwer zu deutendem Blick.

»Was genau hast du gesagt, was das ist?«

Mich beschlich eine böse Vorahnung. Also begann ich relativ ausführlich vom Fundort zu erzählen, wobei ich natürlich auch Frau Bühler und Kriminaltechnikerin Ronja nicht unerwähnt ließ. Als ich ihr dann erklärte, warum ich sicher war, dass es sich um ein Reh oder einen Hirsch handelte, verfinsterte sich Isabellas Miene zusehends. Doch erst als ich mich dann darüber ausließ, ob man nun Oberschenkel- oder Hinterlaufknochen sagte, hob sie die Hand.

Ich verstummte. Isabella nahm den Knochen in die Hand.

»Schau mal, Lisa. Beim Oberschenkel würde man doch hier den Oberschenkelhals erwarten, klar?«

Ich nickte eifrig. »Genau. Und deswegen …«

Isabella sah mich warnend an, und ich klappte meinen Mund schnell wieder zu. »Und da unten, diese Furche hier, ist nicht das Knie-, sondern das Ellenbogengelenk.«

»Aber …«

»Nichts aber. Hier oben hast du den Oberarmkopf, der in der Schulterpfanne sitzt. Und da unten, diese Kerbe da«, sie drehte den Knochen um, »ist Teil des Ellenbogengelenks. Beim Knie sieht die Gelenkfläche ganz anders aus, ist also breiter, tiefer und außerdem fehlt hier doch auch die Fläche für die Kniescheibe, oder nicht? Und damit haben wir einen …«

»Oberarmknochen«, brachte ich den Satz für sie zu Ende und wäre am liebsten im Boden versunken. Ich biss mir auf die Lippen und sagte erst mal nichts mehr. Das war nun aber wirklich sehr peinlich. Einen Oberarm für einen Oberschenkel zu halten! Aber gut, ich hatte noch nicht so viele Hirschknochen gesehen. Um genau zu sein, waren dies meine ersten. Von dem her konnte das ja passieren. Man konnte vermutlich auch nicht erwarten, dass ich auch noch die tierischen Knochen kannte. Ich hatte ja seit dem Anatomiekurs im fünften Semester auch keine menschlichen Knochen mehr … ich hielt in meinen Überlegungen inne, als ein Gedanke auftauchte, wie ein Jack-in-the-box.

Oh nein!

Ich sah auf. Isabella schaute mich einfach nur an. Wäre das Ganze nicht so entsetzlich peinlich für mich gewesen, so wäre mir bestimmt das belustigte Glitzern in ihren hellbraunen Augen aufgefallen. Ich schluckte.

»Es handelt sich doch um einen Hirsch, oder?« Meine Worte schienen einen Moment in der Luft zu hängen, wie ein Zeichentrickbösewicht, der nicht realisiert, dass er über den Abgrund hinausgelaufen ist. Wie hatte meine Mutter immer gesagt? Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Isabella seufzte. Sie hob eine Augenbraue an und schürzte die Lippen. Und dann schüttelte sie stumm den Kopf.

»Leider nein, Lisa. Der Knochen da ist menschlich.«

Und damit tat sich der Abgrund unter mir auf.

Kapitel 4

Nun ist es also so weit. Wer hätte das gedacht? Anfangs hatte ich fest damit gerechnet. War ständig auf der Hut gewesen, in der festen Überzeugung, dass sie auftauchen würde. Als das nicht passierte, suchte sie mich während des Schlafs heim. Wie oft war ich des Nachts hochgeschreckt aus grässlichen Albträumen, in denen sie, einem Monster gleich, in der Schlafzimmertür gestanden hatte? Die Augenhöhlen leer, die Haut ledrig und dunkel. Finger mit zu langen Nägeln, die nach mir griffen. Immer dann, wenn sie so nah war, dass ich ihren fauligen Geruch wahrnehmen konnte, die Maden, Ohrenkneifer und Tausendfüßler in ihrer Mundhöhle wimmeln sah, immer dann wachte ich auf, wohl wissend, dass alles nur ein Traum war. Und dennoch. Der Geruch nach feuchter Erde, faulen Eiern und Ammoniak zusammen mit einem Hauch des schweren Parfüms, das sie so sehr geliebt hatte, schien noch lange in meinem Schlafzimmer zu hängen. Danach war es fast unmöglich, wieder einzuschlafen. Zu sehr quälte mich der Gedanke an sie. Irgendwann, davon war ich fest überzeugt, würde sie mich holen kommen. Würde mich meiner gerechten Strafe unterziehen. Ob das denn schlecht wäre, würde sich hier manch einer fragen, der unsere Geschichte kennt? Nun, ich weiß es nicht. Schlimmer als jetzt kann es eigentlich nicht werden. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke. An ihr seidiges Haar. Ihr schräges Lächeln und an die blitzende Lebenslust in ihren braunen Augen, die viel zu früh ausgelöscht wurde.

Ausgelöscht durch mich.

Und jetzt, so viele Jahre später, ist sie wieder da!

Ich bin immer noch erstaunt, wie einfach es war, eine falsche Fährte zu legen. Ach, groß war meine Freude zu Beginn, als ich sah, dass mein Plan scheinbar aufging. Aber leider sind nicht alle so unerfahren wie diese junge Rechtsmedizinerin. Leider hat sie Vorgesetzte, die sich nicht hinters Licht führen ließen. Und jetzt muss ich selbst schauen, wie ich hier wieder rauskomme. Denn sie, so viel ist klar, sie wird mir nicht helfen!

Kapitel 5

»Vielen Dank auch für dein Verständnis!«, keifte ich in den Hörer, bevor ich entnervt das Telefonat beendete. Frustriert stampfte ich nach unten, kramte meine Laufschuhe aus dem Schrank und suchte nach meinen Jogging-Klamotten.

Ich hätte es wissen müssen! Es war doch immer dasselbe. Wann immer ich irgendeinen Frust hatte, lief das Telefonat mit meiner Mutter total aus dem Ruder. Und dabei wollte ich doch einfach nur ein bisschen gebauchpinselt werden. Hören, dass ich es gut gemacht hatte und alle anderen die Bösen waren. Natürlich war mir klar, dass das nicht der Wahrheit entsprach und ich mir, zumindest den aktuellen Mist mit den Knochen, ganz allein eingebrockt hatte, aber trotzdem wollte ich in meiner momentanen Verfassung die Wahrheit ganz einfach nicht hören. Und da stieß ich bei meiner Mutter leider auf taube Ohren. Ständig kam sie dann mit gut gemeinten Ratschlägen und konnte es ganz und gar nicht verstehen, dass ich die nicht hören wollte. Heute hatte sie so wunderbare Dinge von sich gegeben, wie »Jeder macht mal Fehler. Ist doch nicht so schlimm«, oder noch besser »Du bist noch jung und findest zur Not auch woanders eine Stelle«.

Da half nur eines: Laufen. Sport machen. Mich völlig auspowern. Wütend rannte ich aus meiner Tür heraus und bog ab in Richtung Wald. Der Westwind jagte dunkle Wolken über den Himmel, und die Luft roch nach aufkommendem Regen.

Das kleine Häuschen, in dem ich wohnte, lag nicht weit vom Aareufer entfernt. Bei diesem Wetter waren zum Glück nicht so viele Leute unterwegs, und ich konnte meinen Gedanken nachhängen, während ich in Richtung Schachen rannte.

Warum um alles in der Welt hatte ich Isabella nicht einfach angerufen? Ich war schließlich noch keine fertige Fachärztin und hatte keine Ahnung von irgendwelchen Knochen. Frau Bühler hin oder her. Da gab es eigentlich keine Entschuldigung.

Immerhin, und das rechnete ich Isabella hoch an, war ich nicht gekündigt worden, obwohl es ihr gutes Recht gewesen wäre. Schließlich war ich ja noch in der Probezeit. Aber ich musste ab sofort bei jeder Untersuchung noch vor Ort bei Isabella oder ihrem Stellvertreter, Gunnar Svensson, anrufen und Rücksprache halten, bevor ich der Staatsanwaltschaft eine rechtsmedizinische Einschätzung mit Empfehlung zum weiteren Vorgehen abgab. Und das erst mal auf unbestimmte Dauer. Wie eine Assistenzärztin ohne jegliche Erfahrung. Ich könnte immer noch heulen, wenn ich daran dachte, wie Isabella mich angeschaut und mir ruhig und bestimmt klargemacht hatte, dass sie nun erst mal Vertrauen aufbauen müsse. Am meisten geschmerzt hatte aber, dass sie der Meinung war, mich und meinen Wissensstand ganz offensichtlich gnadenlos überschätzt zu haben, wie sie sich ausdrückte. Isabella hatte weder gebrüllt noch geschrien, sondern war sachlich und ruhig geblieben, aber irgendwie hatte das alles viel schlimmer gemacht. Gunnar hatte an seinem Schnauz herumgezwirbelt und mich vorwurfsvoll aus seinen wässrigen blauen Augen angeschaut. Nur mit Mühe hatte ich mich beherrschen können, nicht in Tränen auszubrechen.

Wenigstens der Anruf bei Frau Bühler war mir erspart geblieben. Das hatte Isabella selbst übernommen. »Um nicht noch mehr Unbill hervorzurufen«, hatte sie gesagt. Der Typ in dessen Garten die Knochen gefunden worden waren, war wohl völlig ausgerastet, als man ihm gesagt hatte, dass man in seinem Garten nach mehr Knochen würde suchen müssen. Eigentlich wäre es nun meine Aufgabe gewesen, bei der Suche dabei zu sein, aber Isabella hatte Gunnar gebeten, das zu übernehmen.

Ich wich einer Rentnergruppe aus, die mit ihren Nordic-Walking-Stöcken gemächlich den Weg blockierten, und drosselte ein wenig das Tempo. Vermutlich hatte mein Kopf mittlerweile die Farbe einer überreifen Tomate.

Aber so langsam tat der Sport seine Wirkung, und ich begann, mich besser zu fühlen. So ein blöder Fehler würde mir nicht noch einmal passieren. Sobald ich daheim war, würde ich mich nach einer Fortbildung zum Thema Anthro­pologie umsehen. Sicherlich gab es da auch Online- oder Wochenend-Kurse. Und dann sollten mich die Knochen mal kennenlernen.

Wie um meine Stimmung aufzuhellen, kam just in diesem Moment die Sonne wieder hinter den Wolken hervor. Auf dem Sportplatz schrie gerade ein Trainer seine Jugendmannschaft an, deren Köpfe nur ein paar Nuancen weniger rot waren als meiner. Na, ich konnte immerhin selbst entscheiden, wie intensiv ich meine Sporteinheit gestaltete.

Nach einer Dreiviertelstunde verlangsamte ich mein Tempo und fiel in einen zügigen Schritt. Eine angenehme Schwere breitete sich in meinen Gliedern aus. Sport war doch immer wieder etwas Großartiges.

Vielleicht würde ich mir nachher noch meine heiß geliebte Pasta Lisa zum Abendessen kochen und danach in die Badewanne mit einem Buch. Und morgen war ein neuer Tag. Doch als ich mein Gartentörchen passierte, blieb ich wie angewurzelt stehen.

Eine Frau schlich um mein Haus herum, blieb vor einem der Fenster stehen und spähte hinein. Sie machte keine Anstalten, sich irgendwie zu verstecken. Schirmte sogar mit beiden Händen die Scheibe ab, um besser nach innen schauen zu können. Ging’s eigentlich noch?

»Hallo?«, rief ich, immer noch ein wenig atemlos. »Was machen Sie denn da?«

Die Frau drehte sich um, und ich blieb stehen wie vom Blitz getroffen.

»Hallo, Lisa«, sagte sie und grinste.

Kapitel 6

Hatte ich Halluzinationen? Verstohlen kniff ich mir in den Oberschenkel. Aber es half nichts. Sie stand immer noch vor mir und strahlte mich an, als sei ich das Christkind persönlich. Die lockigen Haare waren kürzer, als ich sie in Erinnerung hatte. Das Gesicht dafür ein wenig runder, und im Mund, der mich breit angrinste, schien noch immer zu viel Zahnfleisch vorhanden zu sein.

Ehe ich mich versah, fiel sie mir um den Hals und drückte mich so fest, dass ich beinah keine Luft mehr bekam.

»Cynthia! Was machst du denn hier?«, ächzte ich um Luft ringend. Sie roch noch immer so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ein süßliches, blumiges Parfüm vermischt mit einer dezenten Schweißnote.

»Gott sei Dank, ich dachte schon, du bist nicht zu Hause«, rief sie zufrieden aus. »Und was ist das denn für eine blöde Frage? Dich besuchen, natürlich! Und jetzt schließ bitte die Haustür auf. Ich muss nämlich ganz dringend … du weißt schon.«

Wie in Trance öffnete ich die Haustür und sah erst jetzt, dass davor ein großer Koffer und ein nicht minder kleinerer Rucksack standen, die Cynthia nun ins Haus wuchtete.

»Äh …«, stammelte ich und zeigte ihr das Gäste-WC im Eingangsbereich, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen.

Was bitte machte Cynthia Emilia Smith hier?

Die Klospülung rauschte, und schon stand sie wieder vor mir.

»Erst wollte ich mich anmelden, dich anrufen oder dir schreiben, aber dann habe ich mir gedacht, dass so ein Überraschungsbesuch doch viel schöner ist«, sagte sie freudestrahlend.

Cynthia kam eigentlich aus Cardiff, sprach aber fast akzentfrei Deutsch, weil, wenn ich mich recht erinnerte, ihre Mutter deutschsprachig war. Oder war es ihr Vater? Ich wusste es nicht mehr sicher, und es war ja im Grunde auch völlig einerlei. Wir hatten uns vorletzten Spätsommer im Glarnerland im Vrenelisgärtli Retreat Resort kennengelernt, wo ich mir auf Anraten meiner Therapeutin eine Auszeit hatte nehmen sollen. Was gut begonnen hatte, war bald durch eine schlimme Mordserie unterbrochen worden. Cynthia, die total scharf auf alles war, was in irgendeiner Art und Weise mit Mord, Totschlag oder Ähnlichem zu tun hatte, war regelrecht aufgeblüht und hatte mich mit ihren Hobbyermittlungen mehr als einmal an den Rand des Wahnsinns gebracht. Sie war, im Gegensatz zu mir, der festen Überzeugung, dass wir dicke Freundinnen waren. Kaum ein Tag war vergangen, an dem ich nicht eine WhatsApp oder eine Insta-Message mit irgendwelchen Belanglosigkeiten von ihr bekommen hatte.

Ich hatte sie allesamt ignoriert.

Ihre Kontaktversuche waren irgendwann zwar weniger geworden, aber nie ganz sistiert.

Was zur Hölle machte sie hier?

Mit einer bösen Vorahnung sah ich auf die zwei großen Gepäckstücke, die aussahen, als würden sie gleich aus allen Nähten platzen.

»Äh, Cynthia«, unterbrach ich ihren Redeschwall, in dem sie mir irgendetwas von ihrer Reise, einem Streik bei der Bahn und den Schwierigkeiten mit einem Schweizer Fahrkartenautomaten erzählte, »in welchem Hotel bist du eigentlich untergekommen?«

Strahlend sah sie mich an.

Oh nein! Nicht mit mir!

»Ach, Lisa. Du bist immer noch so lustig wie früher«, gluckste sie. »Hotel«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu und lachte wieder, als hätte ich den Witz des Jahrhunderts gerissen.

Entsetzt starrte ich sie an. Hatte ich tatsächlich gedacht, es könnte nicht mehr schlimmer kommen?

Kapitel 7

Die Serviette tanzte im Westwind. Drehte und wendete sich, vollführte kleine Sprünge und landete schließlich im Stadtbach in der Metzgergasse.

Cynthia Smith trat aus dem Tourismusbüro, seufzte zufrieden und schaute verzückt auf die bunten Häuser, die die Fußgängerzone Aaraus säumten. Aus einem Restaurant in der Nähe trat eine Kellnerin und blickte prüfend in den Himmel, bevor sie die Stühle von den runden Bistrotischen nahm und mit einem Lappen kurz darüberwischte. Cyn­thia bezweifelte allerdings, dass heute jemand draußen essen würde. Zwar schickte gerade die Sonne ihre hellen Vormittagsstrahlen auf Aaraus Innenstadt, doch es herrschte typisches Aprilwetter, und die dunklen Wolken am Himmel zeugten von nichts Gutem. In der Buchhandlung gegenüber räumte gerade eine Frau mittleren Alters ein paar Bücher in die Auslage vor dem Geschäft. Es war später Vormittag, und Cynthia begann, ein bisschen durch die mit Kopfstein gepflasterten Gassen zu spazieren.

Es war doch eine großartige Idee gewesen, hierher zu kommen. Erst war sie ein bisschen enttäuscht gewesen, als sie gehört hatte, dass Lisa gar nicht mehr in Zürich war, denn das Rechtsmedizinische Zentrum Zürich hatte eine Stelle für eine Humanpräparatorin zur Ausbildung ausgeschrieben. Da es keinerlei berufliche Voraussetzungen für den Job brauchte, würde Cynthia sich auf jeden Fall darauf bewerben und hatte sich schon ausgemalt, wie cool es wäre, wenn sie dann mit Lisa zusammen spannende Fälle würde untersuchen können. Andererseits war ja auch nicht klar, dass sie überhaupt eine Chance auf die Stelle haben würde. Außer ein paar angefangenen und abgebrochenen Studiengängen und mehreren Nebenjobs als Kellnerin konnte sie schließlich nicht viel vorweisen.

Aber dieses Aarau war wirklich cool. Nicht so riesig und doch mit allem ausgestattet, was man so in einer Stadt brauchte. Eine malerische Fußgängerzone mit lokalen und internationalen Geschäften und eine historische Altstadt, in der sich nicht nur zahlreiche hippe Bars, Restaurants und Cafés befanden, sondern sogar ein mittelalterlicher Turm mit einem echten Kerker. Zwar kein Zürichsee, aber dafür die Aare, an deren Ufer man gemütlich verweilen und in der man angeblich sogar schwimmen konnte. Die junge Frau in der Touristeninformation hatte mit leuchtenden Augen davon erzählt, wie sie im Sommer beinahe täglich etwa eineinhalb Kilometer flussaufwärts lief, um sich dann einfach in der Strömung wieder zurücktreiben zu lassen. Cynthia hatte sie skeptisch angeschaut. Doch die Frau hatte gelacht und Cynthia geraten, es doch einfach mal auszuprobieren.