Verborgene Schreie am Vrenelisgärtli - Saskia Gauthier - E-Book

Verborgene Schreie am Vrenelisgärtli E-Book

Saskia Gauthier

5,0

Beschreibung

Eigentlich soll sich Lisa Klee eine Auszeit in den Glarner Alpen nehmen, um sich von den schrecklichen Ereignissen des letzten Sommers in Zürich zu erholen. Doch der Fund eines Leichnams in einem Bergsee zerstört jäh die traumhafte Idylle. Ein tragischer Unfall - oder treibt ein Mörder sein Unwesen? Durch einen Bergrutsch von der Außenwelt abgeschnitten, nimmt die ehemalige Rechtsmedizinerin völlig auf sich allein gestellt die Ermittlungen auf und ahnt nicht, wie sehr sie sich damit selbst in Gefahr bringt.

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Tessa003

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Lisa Klee, die junge Rechtsmedizinerin, soll sich eine Auszeit von den Ereignissen im letzten Buch gönnen. In den Schweizer Bergen, ganz ohne Kontakt zur Zivilisation, in einem schönen Resort mit Yoga-Wandern. Durch einen Erdrutsch sind sie komplett ohne Möglichkeit ins Tal zu gelangen. Als im Gletschersee ein Toter gefunden wird untersucht Lisa den Körper, und stellt einen Unfall in Frage. Dabei wollte sie ja Abstand von ihrem Beruf bekommen. Mir gefällt Lusa Klee als Hauptcharakter, sie ist sehr natürlich und ich brauchte nur ein paar Seiten um in der Geschichte drin zu sein. Ich kann das Buch wärmstens empfehlen. Man kann das Buch auch ohne den Vorherigen gelesen zu haben lesen. Beide sind sehr gut und ich hoffe das es weitere geben wird.
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Saskia Gauthier

Verborgene Schreie am Vrenelisgärtli

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Atmo Photo / Unsplash

ISBN 978-3-8392-7720-1

Widmung

Meinen Eltern

Prolog

Früher

Sie hat Angst. Zögernd geht sie die schmale Treppe zum Dachboden hinauf. Alles in ihr wehrt sich dagegen. Doch Schritt für Schritt, als würde eine unsichtbare Macht sie dirigieren, gehen ihre kleinen Füße weiter. Nun ist sie schon fast da. Wie ein Tor zu einer anderen Welt lauert die Luke über ihr. Ihre Hände zittern, als sie sie ausstreckt, um den Haken zu lösen.

Langsam, mit einem leisen Knarren, schwingt die Tür nach unten auf.

Ein kalter Lufthauch berührt ihr Gesicht. Der Geruch nach Moder, Staub und Mottenkugeln schlägt ihr entgegen. Sie zögert. Noch könnte sie die Luke einfach wieder schließen. Nach unten gehen. So tun, als wäre nichts geschehen. Das neue Buch lesen, das sie in der Schule bekommen hatte. Oder an dem schönen Bild weitersticken, das sie ihrer Tante zum Geburtstag schenken möchte.

Schon fast erleichtert dreht sie sich um. Aber dann riecht sie es. Ein würziger, leicht herber Duft. Es ist nur eine Spur, kaum wahrnehmbar im modrigen Mief des Dachbodens. Nun zögert sie keine Sekunde mehr. Sie geht weiter, rennt nun die letzten Tritte hinauf und klettert durch die Luke in die Finsternis.

Für einen Moment ist es so dunkel, dass ihre Augen nichts erkennen können. Sie bleibt stehen. Sie versucht, sich den Speicher in Erinnerung zu rufen. Die Kommode, in der die Faschingskostüme aufbewahrt werden. Das Regal mit der alten Eisenbahn ihres Vaters. Der große Stoffschrank ganz hinten, in dem sie ihr acht Jahre älterer Cousin einmal eingeschlossen hatte, bis sie sich in die Hose gemacht hatte vor Angst. Vorsichtig tappt sie durchs Dunkle. Setzt behutsam einen Fuß vor den anderen, ängstlich darauf bedacht, nicht auf etwas Weiches zu treten. Vor ihrem inneren Auge tauchen grässliche Bilder von toten Mäusen und haarigen Spinnen auf. Von Trollen und Gnomen, die hier oben auf sie lauerten. Mit orangefarbenen Augen in einem Schrank darauf warteten, dass sie diesen öffnet.

Sie schreit auf, als etwas ihr Gesicht streift. Nur ein altes Spinnennetz. Sie tastet sich weiter nach vorne.

Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit, und der Dachboden beginnt, Konturen anzunehmen. Der würzige Duft wird immer intensiver. Aber in den Geruch hat sich auch eine faulige Note gemischt. Ein Geruch, den sie nicht zuordnen kann. Irgendwie nach Kompost und auch nach – ja, nach Scheiße. Sie lacht erstickt auf. Scheiße sagt man nicht. Sie weiß nicht, warum ihr das jetzt in den Sinn kommt. Zitternd geht sie weiter. War der Dachboden wirklich so weitläufig? Nun steht sie vor dem großen Stoffschrank, den ihre Eltern mitten in den hinteren Teil des Dachbodens gestellt haben. Der Reißverschluss ist offen. Sie zögert, hat Angst, überwindet sich und späht hinein.

Nichts als gähnende Dunkelheit. Warum hat sie auch nicht an die Taschenlampe gedacht, die sich immer in der Nachttischschublade ihres Vaters befindet?

Zögernd geht sie weiter, zwängt sich zwischen dem Stoffschrank und dem Regal an der Wand hindurch. Alles in ihr schreit danach umzukehren und wieder nach unten zu gehen. In die Sicherheit. Doch sie kann nicht. Sie muss weitergehen. Auch wenn sie tief in ihrem Innersten weiß, dass danach nichts mehr so sein wird wie zuvor.

Nun ist sie in dem kleinen Raum, der sich am hintersten Ende des Dachbodens befindet. Durch eine kleine Luke in der Wand fällt etwas Licht ein. Nicht viel, aber genug, um die Staubkörner in der Luft tanzen zu lassen. Auch genug, um die furchtbare Kokosnussfratze, die an einem Strick vom Dachbalken baumelt, lebendig aussehen zu lassen. Und genug, um den Körper, der vor ihr ist, in aller Klarheit zu beleuchten.

Sie steht regungslos da. Starrt mit weit aufgerissenen Augen auf das, was sie nicht sehen möchte. Realisiert, dass ihre schlimmsten Ängste Wahrheit geworden sind.

Und dann, endlich, beginnt sie zu schreien.

Kapitel 1

Mit einem Schrei fuhr ich auf. Herzklopfend und mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich um. Es war dunkel. Schemenhaft konnte ich einen Schrank erkennen. Daneben ein Stuhl, auf dem ein Bündel Kleider lag. Ein Fenster mit zugezogenen Vorhängen. Es roch nach Holz, abgebranntem Kaminfeuer und ganz leicht nach Bauernhof. Ein kaum wahrnehmbares Lüftchen zog an meinem Gesicht vorbei.

Als ich realisiert hatte, wo ich war, ließ ich mich wieder ins weiche Kissen fallen.

Mein Herz galoppierte noch wie wild in meiner Brust. Ich atmete tief ein und schloss die Augen. Sicherlich war es noch viel zu früh, um aufzustehen. Suchend tastete ich nach meinem Handy, das sich nicht, wie gewohnt, links neben mir auf dem Bett befand. Schließlich wurde ich rechts auf einem kleinen Nachttisch fündig und stöhnte auf, als mein Blick auf das Display fiel. Es war noch verdammt früh – erst kurz nach 5.30 Uhr. Unwillig brummend legte ich mein Handy wieder auf den Nachttisch und versuchte, wieder einzuschlafen. Nachdem ich mich noch ein paar Mal auf beide Seiten gewälzt hatte, beschloss ich nach einem erneuten Blick auf die Uhr – 6.02 Uhr – aufzustehen.

Draußen dämmerte es bereits. Ich öffnete das Fenster und sog die frische, klare Bergluft ein. Es roch nach Gras, feuchter Erde und irgendwie ein bisschen wie im Garten meiner Großmutter. Der Himmel schien wolkenlos. Die Gletscherfelder des Glärnisch schimmerten bereits rötlich in der Morgensonne.

Auf bloßen Füßen tappte ich zu meinem Rucksack, den ich am Abend achtlos an die Wand gelehnt hatte, und wühlte darin nach den Wollsocken, die mir meine Mutter zum Abschied mit einem fürsorglichen Lächeln in die Hand gedrückt hatte. Ich hatte die Augen verdreht, sie aber eingepackt, in der festen Überzeugung, dass ich ganz bestimmt nicht ökomäßig mit Wollsocken herumlaufen würde. Aber wie immer hatte meine Mutter recht behalten. Der Boden war eiskalt, und meine Füße froren bereits jetzt schon entsetzlich.

Kurz presste ich die Wollsocken an mein Gesicht und sog den vertrauten Geruch nach Chanel Nr. 5 und dem Rasierwasser meines Vaters ein, bevor ich sie dankbar über meine Füße zog. Nun sah ich zwar schrecklich alternativ aus, aber meine Füße schienen es mir zu danken.

Mit meinem Handy machte ich ein Foto, um es meiner Mutter zu schicken.

Ach, ich Trottel. Es gab ja im ganzen Resort keinen Handyempfang. Natürlich wurde das sogar mehrmals im Prospekt des Vrenelisgärtli Retreat Village erwähnt, aber offen gestanden hatte ich mir das nicht so recht vorstellen können. Schließlich waren wir ja nicht im finstersten Dschungel irgendwo in Südamerika, sondern in den Schweizer Bergen, und das noch nicht einmal auf schwindelerregenden Höhen. Irgendeinen Ort, wo man Empfang hatte, würde es schon geben, hatte ich mir gedacht.

Offenbar weit gefehlt. Missmutig schnalzte ich mit der Zunge und schmiss das Telefon aufs Bett. Das war ja wirklich ein schöner Käse. Nicht nur, dass ich jetzt zehn Tage hier oben ausharren musste, nein, ich konnte tatsächlich noch nicht einmal den Kontakt zu meinen Freundinnen aufrechterhalten. Meine geliebten Netflix-Serien und meinen Instagram-Account konnte ich so wohl auch vergessen. Frustriert beschloss ich nach einem Blick auf mein nutzlos gewordenes Telefon, mir mal den Rest des Häuschens anzuschauen.

Die Tür meines Schlafzimmers öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Durch einen schmalen Gang huschte ich in die kleine, aber gemütliche Wohnküche, in deren einen Ecke ein großer Schwedenofen stand. Gestern Abend hatte dort noch ein lebhaftes Feuer gelodert. Nun aber war es abgebrannt, wobei der Ofen noch immer eine leichte Restwärme ausstrahlte. Auf dem Küchentisch lag ein Prospekt des Resorts und eine Willkommenskarte neben einem kleinen Körbchen, in dem sich einige altbackene Weggli und eingeschweißte Brotscheiben befanden. Daneben standen ein paar Flaschen Elmer Mineral mit und ohne Kohlensäure sowie je eine Flasche Rot- und Weißwein aus hiesigen Weinanbaugebieten.

Hoffentlich gibt es hier wenigstens guten Kaffee, dachte ich missmutig.

In der Küche öffnete ich mehrere Schränke, bis ich eine silberne Espressokanne in den Händen hielt. In einem anderen Schrank fand ich ein Päckchen Kaffeepulver, das zusammen mit einigen Teebeuteln, kleinen Konfitüregläsern, Milch, Butter und etwas Käse zur Grundausstattung der Unterkünfte gehörte. Ratlos schaute ich auf die drei Herdplatten vor mir.

Oh nein!

Wie bediente man schon wieder einen Gasherd? Unschlüssig stand ich davor und traute mich nicht, an den Knöpfen zu drehen. Was, wenn ich da etwas falsch machte und dann die ganze Bude in die Luft sprengte? Aus Gewohnheit zückte ich mein Handy, um nachzuschauen, nur um es gleich wieder mit einem genervten Grunzen auf den Tisch zu legen. Okay. So war das also ohne Handyempfang. Schöner Mist. Genauso hatte ich es mir vorgestellt, nur dass es tatsächlich noch schlimmer war.

Dann hieß es also, entweder eine Anleitung finden oder auf den Kaffee verzichten. Und Letzteres ging natürlich gar nicht! In einer Schublade wurde ich dann zum Glück doch noch fündig. In einem recht zerfleddert wirkenden Heftchen stand ziemlich idiotensicher, wie man den Gasherd bediente und bei Bedarf auch die Gasflasche austauschen konnte. Erleichtert, dass ich doch nicht auf meinen heiß geliebten Cappuccino verzichten musste, machte ich mich dran, die Kanne mit Wasser aus einer der Flaschen zu füllen und den Herd anzuzünden. Schon bald züngelten kleine blaue Flämmchen unter meiner Espressokanne. Na bitte. Ging doch. Nun brauchte ich nur noch eine kleine Kanne für die Milch, und dann stand meinem Cappuccino nichts mehr im Weg.

Schon bald erfüllte der unvergleichliche Geruch nach frisch gebrühtem Espresso den kleinen Raum. Ich nahm meine dampfende Tasse und ging auf die Terrasse.

Die Aussicht war schon toll, gestand ich mir widerwillig ein und nahm einen Schluck Kaffee, während ich mich umsah.

Mein Häuschen lag auf einem kleinen grasbewachsenen Plateau, etwa 200 Höhenmeter oberhalb des eigentlichen Zentrums des Resorts, das einmal ein kleiner Bergweiler gewesen war und im Rahmen einer aufwendigen Umbauaktion zu einer Art Ökoresort in den Bergen verwandelt worden war. So war auch mein Häuschen früher einmal eine Art Stall mit Unterschlupf für Ziegen und Hirte gewesen, war aber dann nach modernen Standards renoviert und in das Vrenelisgärtli Retreat Village Projekt eingebunden worden. Nun wurde es, wie die meisten Häuschen hier, an Touristen vermietet, die wie ich eine Auszeit brauchten oder, besser gesagt, auferlegt bekamen. Freiwillig hätten mich keine zehn Pferde in diese Einöde gebracht!

Ich war erst spät mit einem der letzten Helikoptertransporte angekommen. Meine Eltern hatten es sich nicht nehmen lassen, mich den langen Weg von Süddeutschland ins Glarnerland zu fahren, wobei meine Mutter nicht müde geworden war, uns mit begeisterten Kommentaren über die Umgebung zu beglücken. Am Walensee der ach so tolle Kontrast zwischen den schroffen Hängen der Churfirsten und dem Blau des Sees, das wegen der Wolken eher einem Grau glich, in Glarus diese sauberen bunten Häuser gegenüber des Volksgartensund an der Abzweigung zum Sernftal dann die spektakuläre Fahrt zum Helikopterlandeplatz, wobei sie mit jeder Haarnadelkurve und dem damit einhergehenden Blick über den steilen Abgrund neben der schmalen Straße stiller geworden war und sich irgendwann krampfhaft am Türgriff festgehalten hatte.

Mit der Tasse in der Hand lief ich durch den großen Umschwung, der meine Unterkunft umgab, auf der einen Seite an ein Waldstück grenzte und nach den zwei anderen Seiten hin jäh abfiel. Ein wenig vertrauenerweckender, aus groben Latten zusammengezimmerter Holzzaun sicherte den Abgrund, wobei man schon lebensmüde sein musste, um sich hier dagegen zu lehnen.

Vorsichtig beugte ich mich ein wenig über den Zaun.

Weit unter mir lag das Tal, noch im Schatten, durch das sich die Straße, auf der sich einzelne Autos von Spielzeugformat entlang schoben, ihren Weg bahnte. Wenn ich den Kopf ein wenig drehte, konnte ich den schneebedeckten Gipfel des Tödis erkennen, der sich unverkennbar in den stahlblauen Himmel reckte. Und natürlich war von meiner Bleibe aus das schroffe Kalkmassiv des Glärnisch mit dem Vrenelisgärtli zu sehen, nach dem das Resort benannt worden war.

Ein wenig neben meinem Häuschen plätscherte fröhlich Wasser aus einem kantigen Granitsteinbrunnen, aus dem ich auch Trinkwasser würde beziehen können, wie mir die freundliche Frau, die mich gestern in Empfang genommen hatte, versichert hatte. Ich lief mit der Tasse in der Hand zum Brunnen und hielt meine Hand unter den eiskalten Wasserstrahl.

Brr! Das war ja wirklich bitterkalt! Gab es hier eigentlich auch fließend warmes Wasser? Oder musste ich das kalte Wasser erst noch irgendwie erwärmen? Vor meinem inneren Auge tauchten Bilder altmodischer Waschzuber auf, in die man über dem Feuer erhitztes Wasser schütten musste … Nein danke! Nicht mit mir! Ich seufzte tief und fühlte mich plötzlich einsam und verloren. Und das, obwohl ich noch nicht einmal eine ganze Stunde auf den Beinen war.

Ich ging zurück in die Küche und blätterte lustlos durch den Prospekt des Vrenelisgärtli Retreat, in dem die wichtigsten Informationen zu finden waren – »jeden zweiten Donnerstag treffen wir uns zum Pizzaplausch bei Reto«und »gehen Sie niemals bei drohendem Gewitter wandern«. Danach überflog ich das kurze Willkommensschreiben. Demnach war um 10 Uhr ein »gemeinsames Willkommenheißen und Kennenlernen aller Neuankömmlinge durch die Mitarbeitenden und alteingesessenenGäste bei Kaffee und Gipfeliunten auf dem Dorfplatz vor dem Restaurant Zum Martinsloch – wo eidgenössische Küche Fernost trifft.« Ich verzog spöttisch die Mundwinkel. Das hätte auch auf dem Wochenprogramm des Altersheims meiner Großmutter stehen können. Aber nun gut. Zu dieser Veranstaltung würde ich gehen, mir all die Psychos anschauen, die außer mir hier eine Auszeit nahmen, und dann würde ich mich wieder zurückziehen. Zehn Tage waren schließlich keine Ewigkeit, auch wenn sie mir gerade so vorkamen. Wenn doch nur wenigstens noch eine Freundin dabei wäre. Dann wäre das hier um einiges besser auszuhalten. Sehnsüchtig dachte ich an Julia Zimmermann, eine junge Kriminaltechnikerin, mit der ich mich letzten Sommer in Zürich angefreundet hatte. Sie wäre natürlich sofort dabei gewesen, aber meine Therapeutin, der ich diesen ganzen Mist zu verdanken hatte, hatte das überhaupt keine gute Idee gefunden. Schließlich sollte ich hier Abstand zu den grässlichen Ereignissen des letzten Sommers finden. Julia sei da ganz klar kontraproduktiv. Da war meine Therapeutin ganz standhaft geblieben.

Ich sah auf die Uhr. Danach sah ich aus dem Fenster. Und dann wieder auf die Uhr. Unschlüssig stand ich einen Moment in meinem Wohnzimmer. Es war vielleicht noch ein bisschen früh, aber wenn ich hier oben eh nicht viel machen konnte, konnte ich mir genauso gut mal die Umgebung anschauen. Vielleicht gab es ja im alten Dorfkern, der zum Hauptteil des Resorts umgewandelt worden war, irgendwo ein Internetcafé oder so. Ich schnürte also meine nagelneuen Wanderschuhe und lief los.

Kapitel 2

Der Weg ins Zentrum des Resorts – »Sie brauchen etwa 30 bis 45 Minuten. Achten Sie auf gutes Schuhwerk. Die Steine können glitschig werden« – führte in sanften Kurven durch von Felsbrocken und Wäldchen durchzogene Berglandschaften mehr oder weniger steil nach unten. Hier und da waren kleine Schilder angebracht, auf denen Wissenswertes zu Flora und Fauna vermerkt war.

In der Ferne konnte man das stetige Rauschen von Wasser hören.

Ob das die berühmte Kärpfbrücke war? Meine Therapeutin war aus dem Schwärmen gar nicht mehr herausgekommen, als sie davon berichtet hatte, wie sie sich in jüngeren Jahren einmal durch den abenteuerlichen Tunnel gewagt hatte, den das Wasser des Niederenbaches durch den Kalk gegraben hatte.

Auch wenn ich überhaupt keine Lust auf diese ganze Auszeit-Geschichte hatte, so genoss ich den Spaziergang an der klaren Bergluft. Immer wieder konnte ich zwischen den Bäumen die Häuser des Resorts und das unglaubliche Blau des Stausees erblicken, der sich weit unterhalb des Resorts befand. Nachdem ich etwa 30 Minuten bergab gelaufen war, tauchten die ersten Höfe und Häuser auf. An gelbe Wanderwegweiser erinnernde Schilder wiesen den Weg zu den nach verschiedenen Glarner Gipfeln und Seen benannten Häuschen und den allgemein zugänglichen Gebäuden des Resorts.

Nun würde ich es gleich geschafft haben.

Ich spürte trotz meines Unwillens, hier zu sein, eine gewisse Neugierde darauf, was mich wohl erwarten würde. Nur wenige Menschen lebten dauerhaft hier oben mitten in den Glarner Alpen und waren dann in der einen oder anderen Form in das Vrenelisgärtli Retreat Village eingebunden. Die anderen waren, wie ich, Gäste des Resorts, das gänzlich ohne Internet oder Telefonie auskam – »Sinnkrise, Midlife-Crisis oder Schlimmes erlebt? Gönnen Sie sich eine Auszeit fernab der technologisierten Welt in der idyllischen Romantik der Glarner Alpen …«

Ich verdrehte noch immer die Augen, als ich daran dachte, wie entsetzt ich gewesen war, als mir meine Psychologin den Vorschlag gemacht hatte, hier eine Auszeit zu nehmen, »um die schrecklichen Erlebnisse des letzten Sommers zu verarbeiten«, um es mal in ihren Worten zu sagen. Ich war drauf und dran gewesen, ihr den Vogel zu zeigen und auf Nimmerwiedersehen aus der Praxis zu stürmen. Aber ich hatte mich beherrscht, bemüht gelächelt und mir gedacht, dass ich so einen Quatsch ohnehin nicht mitmachen würde. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne meine Eltern gemacht, die mich hinter meinem Rücken bereits hier angemeldet und den nicht ganz billigen Aufenthalt auch schon bezahlt hatten. Ich wurde immer noch wütend, wenn ich daran dachte, wie sie mich vor vollendete Tatsachen gestellt hatten.

Es sei die perfekte Gelegenheit, Abstand zu allem zu bekommen und meine traumatisierte Seele baumeln zu lassen.

So ein ausgemachter Blödsinn. Wenn ich nur daran dachte, regte ich mich schon wieder auf. Aber es half ja nichts. Nun war ich hier und musste das Beste draus machen.

Auf dem Weg passierte ich eine steinerne Kirche – »jeden Sonntag um 10 Uhr findet ein ökumenischer Gottesdienst statt« – bevor es dann über eine steile Treppe direkt nach unten auf den Dorfplatz ging.

Es war erst kurz nach 9 Uhr, und ich schlenderte ein wenig durch die Gassen und sah mir das Schaufenster des kleinen Ladens an, der neben den üblichen kitschigen Souvenirs auch Güter für den täglichen Bedarf anbot. »Vrenelis Lädeli« hing in schwungvoller Schrift über dem Eingang. Ich schmunzelte. Mit dem fast gleichnamigen Gletscher hatte der vollgestopfte Laden nun wirklich nichts gemein. Ein paar Häuser weiter amüsierte ich mich über das Werbeplakat des ortsansässigen Coiffeurs und setzte mich schließlich auf eine der zahlreichen Bänke, die rings um einen von eng aneinander stehenden, bunten Häusern angeordneten Platz standen. Gegenüber von mir befand sich ein großes, düsteres Haus, dessen Fassade einmal ein schönes Rosa gehabt haben mochte, nun aber abgeblättert war. »Zum Martinsloch« stand in altertümlicher ehemals goldener Schrift über dem ersten Stock. Daneben hing eine verblasste Fahne, die mich entfernt an einen Thai-Take-Away in Zürich erinnerte.

Was wohl außer mir hier für Leute waren? Der ganze Aufenthalt war nicht ganz billig, und vor meinem inneren Auge erschienen dürre Frauen so um die 60, die mit ihren bierbäuchigen Männern gemeinsam die zehnte Midlife-Crisis erlebten und bereits Porsche, Handicap drei und jede Menge Schönheitsoperationen hinter sich hatten. Hoffentlich konnte ich mich dann vor Sitzungen mit Diskussionen über Anti-Falten-Creme, Po-Lifting und Golflehrer drücken.

Ich schmunzelte in mich hinein, als ich mir eine Wanderung mit lauter überkandidelten Leuten vorstellte, die vor lauter Lifting und Schönheit kaum laufen konnten, als hinter mir eine helle Stimme ertönte:

»Ist da noch frei?«

Ich wandte den Kopf und sah in ein rundes Gesicht, aus dem mich zwei braune Augen abenteuerlustig anfunkelten, und ein Mund, in dem irgendwie zu viel Zahnfleisch vorhanden zu sein schien, breit angrinste.

Ich nickte und rutschte ein wenig zur Seite, um Platz zu machen.

»Thanks«, entgegnete die junge Frau, die etwa mein Alter haben mochte und ließ sich neben mir auf die Bank plumpsen. Ein Schwall aus Schweiß vermischt mit einem süßlichen Parfüm schwappte über mich, als sie ihre Arme hob, um sich Luft zuzufächeln. Ich musterte sie verstohlen von der Seite. Kleine Schweißbächlein rannen ihr seitlich neben den Ohren den Kopf herunter, wo sich ihr braunes Haar in der Feuchtigkeit kringelte. Sie war etwas größer als ich, mochte aber einige Kilo mehr auf die Waage bringen, und ich war ja schon alles andere als gertenschlank.

Als sie merkte, dass ich sie beobachtete, entblößte sie wieder ihr Pferdegebiss und streckte mir die Hand hin.

»Cynthia Smith, hi«, sagte sie.

»Bist du neu hier?«, fragte sie mich in fließendem Deutsch mit englischem Akzent. »Dann musst du mit dem 19.30 Uhr Heli eingetroffen sein. Denn im 14 Uhr und dem 11 Uhr Heli warst du nicht, sonst hätte ich dich gesehen.« Sie erzählte mir, dass sie aus Cardiff komme, schon seit drei Wochen da sei und noch weitere drei Wochen bleiben würde. Dabei schwärmte sie in den höchsten Tönen vom tollen Eremitenleben hier oben, den super entspannenden Yoga-Sessions und den ach so freundlichen Menschen. Sie ging mir schon nach fünf Minuten gewaltig auf die Nerven und bestätigte meine Befürchtungen, hier nur irgendwelche merkwürdigen Zeitgenossen anzutreffen.

Zum Glück zeigte die Kirchturmuhr bereits 9.55 Uhr an.

»Komm«, rief Cynthia aufgeregt, »es geht los.« Sie zog mich am Ärmel hinter sich her in Richtung Zum Martinsloch.

Als wir durch eine schrecklich laut knarrende Tür in den Schankraum traten, brauchten meine Augen einen Moment lang, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Es roch nach einer eigenartigen Mischung aus kaltem Rauch, schalem Bier und frisch gebrühtem Kaffee. Um den Tresen herum standen schon ein paar Grüppchen verschiedenster Menschen beisammen, die sich leise miteinander unterhielten. Eine kleine dralle Frau mit asiatischen Gesichtszügen und einer Schweizer Tracht, die meinem eigenen Dirndl gar nicht unähnlich war, lief mit einem Tablett voller dampfender Tassen herum.

Hinter dem Tresen, an der Tür zur Küche, erblickte ich einen bulligen Mann, der seine aufgepumpten Arme in die Seite gestemmt hatte und aus kleinen Augen unfreundlich in die Menge starrte. Als die kleine Asiatin an ihm vorbeilief, gab er ihr einen Klaps auf den Hintern und grinste schmierig. Sie quittierte das mit einem bösen Fauchen.

Cynthia schnappte sich eins der Gipfeli, die zusammen mit in Plastik verschweißten Nussstangen in Körbchen auf dem Tresen lagen, und tunkte es in ihren Kaffee, bevor sie herzhaft hineinbiss. Ich mochte eigentlich keine Gipfeli, nahm mir aber auch eines, damit ich nicht so mit leeren Händen dastand. Der bullige Wirt rief etwas, woraufhin die kleine Asiatin mit einer Art Kuchen in der Hand aus der Küche trat, der mich entfernt an eine Blume aus Blätterteig erinnerte.

Eine elegant gekleidete, zierliche alte Frau schlug mit einem Löffel gegen ein Glas. Schlagartig verstummten alle.

»Willkommen im Vrenelisgärtli Retreat Village«, sagte sie. »Wir werden die nächsten zehn Tage hier zusammen verbringen!«

Dabei grinste sie spitzbübisch, so als sei ihr durchaus bewusst, dass dies auch bedrohlich klingen konnte. Mir jedenfalls lief ein kurzer Schauer über den Rücken.

»Wie Sie alle wissen, gibt es hier weder Internet noch Telefonie. Auch können Sie nicht allein ins Tal gelangen, es sei denn, Sie können fliegen.«

Gackerndes Gelächter unterbrach sie. Ein womöglich aus China stammender Mann hatte den Witz offenbar verstanden.

Die Frau wartete geduldig, bis das Gelächter verstummt war, und fuhr dann mit einem Seitenblick auf den Chinesen fort. »So lustig das auch klingen mag, es ist tatsächlich so. Ich habe Sie alle ja bereits im Vorfeld schon darüber informiert, dass der einzige Weg ins Tal letzten Monat durch einen Erdrutsch verschüttet worden ist. Wir hatten hier so viel Regen in einem einzigen Monat wie sonst im ganzen Sommer. Natürlich wird mit Hochdruck daran gearbeitet, dass der Weg wieder begehbar wird, aber durch den Einsturz der Brücke und das gewaltige Ausmaß des Erdrutsches wird das wohl noch eine Weile dauern. Das heißt, wir sind nun bis zum nächsten An- und Abreisetag in zehn Tagen auf uns allein gestellt, können aber jederzeit den Funkkontakt ins Tal herstellen.«

Sie machte eine kurze Pause und sah aufmerksam in die Runde.

»Natürlich müssen Sie sich keine Sorgen um Ihr Wohlergehen machen. Wir sind hier für alle möglichen Eventualitäten gerüstet, und auch fürs leibliche Wohl ist ausreichend gesorgt. Mein Name ist übrigens Helen Stöckli, und das hier«, sie deutete auf einen kleinen untersetzten Mann mit Nickelbrille und grauem Haarkranz, »ist Doktor Karl-Heinz Fricker, mein Stellvertreter.«

Wieder gackerte der Chinese los, obwohl dieses Mal ja nun wirklich nichts Witziges dabei war.

Helen Stöckli stellte noch eine Runde anderer Leute vor, und erklärte die verschiedenen Kursmöglichkeiten. Da gab es natürlich, wie könnte es auch fehlen, verschiedene Yoga-Kurse, unter anderem auch eine Yoga-Wanderung, bei der man während des Wanderns an besonders schönen Schauplätzen Yoga-Übungen durchführen würde. Ich beschloss, mir dieses Angebot auf jeden Fall einmal anzuschauen. Eine blasse Blondine, deren kerzengerade Haltung, die kräftigen Oberarme und die schmale Taille förmlich nach Yoga-Lehrerin schrien, winkte sanft und deutete eine kleine Verbeugung an.

Es gab aber auch noch so Sachen wie Brotbacken mit Sauerteig im Holzkohleofen, wir stellen selbst Alpkäse her, Klettertour am Chli Kärpf, geführte Wanderausflüge mit Alpakas oder Kritzeln auf Elmer Schieferplatten.

An- oder abmelden musste man sich nicht. Wer wollte, sollte einfach zur abgemachten Zeit hier unten beim Eingang des Martinslochs sein. Hier konnte man übrigens wie in einem Hotel zwischen Frühstück, Halb- oder Vollpension wählen, wobei es auch möglich war, ganz darauf zu verzichten.

Ich fand, das tönte alles schon mal gar nicht so schlecht, vor allem, weil es keinerlei Kurszwang zu geben schien. Entweder man war da oder man war halt nicht da. Ich würde also eher erst mal nicht da sein. Cynthia hatte sich bereits mit einem glatzköpfigen Mann, dessen dichter grau-schwarzer Bart in einem seltsamen Kontrast zu seiner Kahlköpfigkeit stand, in ein Gespräch vertieft, und ich schaute mich ein wenig unter den Leuten um. Die meisten machten einen ganz normalen Eindruck. Sogar eine Familie mit drei Kindern war da.

»Willkommen. Sie müssen die junge Ärztin aus dem Berglimatthüsli sein.«

Es klang mehr wie eine Feststellung denn wie eine Frage. Ich drehte mich und schaute in das lächelnde Gesicht von Helen Stöckli. Als sie meinen überraschten Blick bemerkte, wurde ihr Grinsen noch ein wenig breiter.

»Hier bleibt nichts lange geheim, und ich verwalte ja die Häuser, daher habe ich Ihre Unterlagen gesehen. Gefällt es Ihnen denn?«

Bevor ich etwas entgegnen konnte, trat Karl-Heinz Fricker zu uns und musterte mich prüfend von oben bis unten durch seine Nickelbrille. Er mochte so um die 70 Jahre sein, trug ein kurzärmliges Hemd und wischte sich gerade den Schweiß von seiner Halbglatze, die von einem schütteren Kranz grauer Haare geziert wurde.

»Sie sind wohl die junge Kollegin. Willkommen im Vrenelisgärtli Retreat Village.«

Er schüttelte meine Hand und lief dann aber weiter, als ihm jemand anders auf die Schulter tippte.

»Der war mal ein ganz hohes Tier in irgendeiner Vereinigung der niedergelassenen Ärzteschaft von Zürich. Doktor Karl-Heinz Fricker«, raunte mir Helen zu. »Nun lebt er hier in seiner Hütte mit Whirlpool und Sauna und lässt es sich gut gehen. Gelegentlich spielt er sich furchtbar auf, der ehemalige Herr Doktor. Manchmal aber«, sie lächelte wieder verschmitzt, »ist es auch ganz praktisch, wenn man einen Arzt im Ort hat.«

Da hob Karl-Heinz Fricker aber schon sein Glas und rief laut: »Lasst uns anstoßen! Auf unvergessliche Tage in Vrenelisgärtli!«

»Auf Vrenelisgärtli!«, schrien ein paar zurück.

Just in diesem Moment schlug die Kirchturmuhr. Ich fiel nicht in das allgemeine Gejohle ein und versuchte, das Unbehagen, das mich bei seinen Worten plötzlich beschlichen hatte, zu ignorieren.

Kapitel 3

Er wachte auf, als ihn etwas an der Hand berührte. Es war dunkel. Er setzte sich langsam auf. Wo war er denn? Es roch so komisch. Ein bisschen wie im Streichelzoo, in den er mit seiner Mami schon oft gegangen war. Da konnte man für einen Dollar Ziegen- und Schweinefutter kaufen und es den Tieren hinhalten. Anfangs hatte er Angst gehabt vor den großen Mäulern und dem lauten Grunzen der Schweine. Aber seine Schwestern hatten ihm gezeigt, wie es geht, und dann hatte er es toll gefunden. Aber hier war nicht der Streichelzoo. Er lag auf einer Matratze am Boden. Die Wand neben ihm war kalt und feucht. Irgendwo tropfte Wasser. Stetig und gleichmäßig hörte er, wie die Tropfen zerbarsten. Er rief leise nach seiner Mami. Ob er in einer Höhle war? Hoffentlich war er nicht von einem Bären oder einem Wolf verschleppt worden. Seine Schwestern hatten ihm erzählt, dass so etwas manchmal vorkam. Gab es hier denn Wölfe und Bären? Ängstlich drückte er sich an die Wand, die neben seiner Matratze war, und versuchte, etwas zu erkennen. Sein Kopf tat ihm schrecklich weh, und er konnte sich partout nicht daran erinnern, wie er hier hergekommen war.

Gestern Vormittag waren sie doch bei den Alpakas, oder wie diese Lamas hier genannt wurden, gewesen. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sie gestreichelt hatte. Ganz weich war das Fell gewesen, und sie hatten so lustig dreingeschaut. Insgeheim hatte er gehofft, dass eines seine Schwestern anspucken würde. Das hätte sicher ein schönes Geschrei gegeben. Und seine Schwestern hätten ihn nicht wieder so saudoof rumkommandieren können. »Aaron mach das, Aaron mach jenes, komm jetzt sofort da weg, du machst dich schmutzig« und so weiter. Immer spielten sie sich auf, als wären sie die Chefinnen und er ihr Diener. Ihm war das zu blöd geworden, und er hatte sich irgendwann einfach versteckt.

Leise kicherte er in sich hinein, als ihm wieder einfiel, wie sie ihn gesucht und gerufen hatten. Die Stimme von Amy war am Schluss schon ganz schrill gewesen, und Alison hatte leise geweint.

Recht so.

Das hatten sie sich selbst zuzuschreiben. Sollten sie sich doch mal überlegen, dass man so nicht mit ihm umging. Danach hatte er noch eine Weile ausgeharrt, bis er plötzlich das Kätzchen hatte schreien hören. Neugierig war er dem Geräusch gefolgt. Dann musste er sich den Kopf angeschlagen haben, und es war dunkel geworden.

Und nun war er irgendwie hierher in diese Höhle gekommen. Vorsichtig tastete er sich an den Hinterkopf. Die Beule tat ordentlich weh. Hoffentlich war es nicht wie in einem dieser Märchen. Er hatte sich doch weggewünscht von Alison und Amy. Vielleicht war eine böse Fee gekommen und hatte ihm den Wunsch erfüllt?

Er bekam Angst. Wieder rief er leise nach seiner Mutter und lauschte ängstlich. Außer dem stetigen Tropfen konnte er nichts hören. Tränen stiegen ihm in die Augen. Aber dann erinnerte er sich an den Fernsehfilm, den er neulich heimlich zusammen mit seinen Schwestern angeschaut hatte. Da war auch so ein Typ in einer Höhle gefangen gewesen. Der hatte sich nicht wie ein Angsthase hingesetzt und geheult, sondern sein Messer gezückt, sich gegen Bären und Indianer verteidigt, und war dann ganz allein durch die Wildnis zurück in seine Heimat gegangen. Er tastete mit seiner linken Hand an seine Hosentasche und bemerkte zufrieden, dass sein neues Schweizer Taschenmesser noch da war, das ihm sein Papi für die Ferien hier gekauft hatte. Damit würde er sich auch gegen Wölfe verteidigen und zur Not etwas zu essen fangen können. Plötzlich hörte er das Trappeln kleiner Pfoten auf dem Boden und ein leises Fiepen. Igitt. Mäuse oder Ratten. Ob er sein Messer schon mal ziehen sollte? Ratten konnten riesig werden, das hatte ihm Alison neulich mal erzählt, und sogar kleine Kinder fressen. Nun bekam er doch wieder ein bisschen Angst. Wenn er doch nur nicht so Kopfweh hätte. Schwindelig und ein bisschen übel war ihm auch. Jetzt traten ihm doch die Tränen in die Augen, und er musste ein bisschen weinen.

Da hörte er wieder das leise Trappeln von Pfoten, und erneut berührte ihn ein kleiner Körper an der Hand. Nun schrie er laut auf. Kopfweh, Schwindel oder Übelkeit hin oder her. Er musste hier raus. Sofort. Vielleicht hatten sie ja noch gar nicht gemerkt, dass er weg war.

Mit einer Hand stützte er sich an der Wand ab. Sein Lager war klein. Wenn er die andere Hand auch ausstreckte, konnte er die Wand auf der anderen Seite berühren. Vorsichtig tastete er sich weiter die Wand entlang und kam an eine Tür. Er konnte grobe Holzbretter unter seinen Fingern fühlen. Der große Metallring, der als Griff diente, war nicht schwer zu finden. Zuerst zog er an ihm. Nichts passierte. Er rüttelte mit aller Kraft am Griff, aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Natürlich. Wie konnte er auch nur so blöd sein. Seine Schwestern würden ihn mal wieder auslachen. Wahrscheinlich musste man den Griff nur drehen. Warum war er immer so ungeschickt. Er klemmte die Zunge zwischen die Zähne und drehte am Griff. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Nun ergriff ihn nackte Angst. Hinter ihm hörte er wieder das Trappeln kleiner Füße. Er hatte das Gefühl, dass es lauter geworden war. Vielleicht bildeten die Ratten schon einen Halbkreis um ihn und warteten nur darauf, ihn anfallen zu können. Ängstlich schaute er sich um. In der Dunkelheit konnte er nichts erkennen. Er musste hier raus. Das musste doch klappen. Erneut rüttelte er am Türgriff, zog an ihm, stieß ihn nach außen und drehte ihn in alle Richtungen. Es half alles nichts. Die Panik befiel ihn nun mit ihrer vollen Macht. Er hämmerte gegen die Tür, rüttelte am Griff und schrie so laut er nur konnte. Es half alles nichts. Er war eingeschlossen. Er kam hier nicht mehr raus.

Kapitel 4

Der erste Tag war wie im Flug vergangen, und nachdem ich mit Cynthia und dem Glatzkopf, der übrigens Reto hieß, noch ein wenig durch die nähere Umgebung des Resorts gestreift war, hatte ich das Bedürfnis verspürt, den Tag allein bei mir auf der Terrasse mit einem Glas Wein ausklingen zu lassen. Eigentlich hatte ich mein neues Buch anfangen wollen, war dann aber an einem Band über Glarner Sagen hängen geblieben, der zur Grundausstattung meiner Unterkunft gehörte. Darin war natürlich auch die Sage vom Vrenelisgärtli. Ich schmunzelte beim Lesen über die übermütige Jungfrau, die angeblich auf den schroffen Hängen des Glärnisch einen Garten hatte anbauen wollen und dann, wie könnte es auch anders sein, eingeschneit wurde und noch immer unter dem Schnee liegen soll. Nach einer Weile ließ ich das Buch sinken und schaute versonnen auf die andere Talseite, wo ich das Vrenelisgärtli im Licht der untergehenden Sonne noch gut erkennen konnte. Dass es an schönen und idyllischen Orten auch immer irgendein Schauermärchen geben musste. Ich las noch ein paar andere Sagen und entfachte dann, als es irgendwann kühler wurde, ein Feuerchen im Schwedenofen. Der Riesling Sylvaner aus einem hiesigen Weinanbaugebiet war süffig, und durch die Wärme des knisternden Feuers erfasste mich eine wohlige Behaglichkeit. Vielleicht war das ja alles doch keine so blöde Idee gewesen mit dieser Auszeit. Die Leute schienen entgegen meinen Erwartungen ganz okay zu sein, wenn man das permanente Geplapper Cynthias ein wenig ausblendete, und hier, in diesem Häuschen, war es durchaus auch auszuhalten. Warmes Wasser gab es auch, das hatte ich vorhin getestet. Reto hatte mich spontan für den nächsten Morgen eingeladen. Er betrieb eine kleine Holzkohlebäckerei und würde frisches Brot verkaufen. Cynthia war nicht müde geworden, das feine Brot zu loben, wobei ich mich, ehrlich gesagt, gefragt hatte, ob es wirklich das Sauerteigbrot war oder ob es eher an Reto lag, den sie in einem fort anstrahlte. Nun gut, mir konnte es egal sein. Ich hatte kein Interesse an Reto, sondern nur an seinem Sauerteigbrot, wenn es denn so lecker war, wie Cynthia behauptet hatte. Versonnen ließ ich den Wein im Glas kreisen und dachte für einen Moment an Ben, den ich letzten Sommer in Zürich kennengelernt und in den ich mich heftig verliebt hatte. Wir hatten uns ein paar Mal getroffen, und was vielversprechend begonnen hatte, war zu jäh im Keim erstickt worden. Zu traumatisch waren meine Erlebnisse in Zürich gewesen, zu überstürzt letztendlich meine Abreise. Wir hatten uns ein paar Mal geschrieben, sogar ein oder zwei Mal per Videocall telefoniert, aber die Nachrichten waren mit der Zeit immer seltener geworden und irgendwann hatten sie ganz aufgehört. Nun vor der Romantik des knisternden Feuers verspürte ich regelrecht Sehnsucht nach ihm, nach seinem unvergleichlichen Charme, dem Blitzen seiner schönen blauen Augen und der Art und Weise, wie er mich immer wieder zum Lachen gebracht hatte. Seufzend stellte ich das Glas zur Seite. Vielleicht würde sich ja nach der Auszeit hier oben die Gelegenheit ergeben, den Kontakt zu ihm wieder aufzufrischen. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, wie wir gemeinsam vor dem flackernden Feuer saßen und uns tief in die Augen blickten.

Und mit diesen angenehmen Gedanken fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Als ich aufwachte, war es draußen bereits hell. Ich öffnete die Terrassentür und nahm ein paar Züge der noch kühlen Bergluft. In der Nacht musste es ordentlich geregnet haben, denn mein Garten war mit kleinen Pfützchen übersät, und es tropfte noch vom Dach der Veranda.

Zögernd blieb ich einen Moment vor dem Kühlschrank stehen. Ob ich wohl doch noch eine Kleinigkeit essen sollte? Ich ging nicht gerne ohne Frühstück aus dem Haus. Meistens dauerte es dann nicht lange, und ich begann wie wild zu schwitzen und wurde zittrig. Für meine Mitmenschen war ich dann schon fast eine Zumutung, weil ich hektisch und latent aggressiv wurde. Mit Schrecken erinnerte ich mich daran, wie ich einmal auf Anraten meiner Frauenärztin Intervallfasten ausprobiert hatte. Anfangs war ich noch positiv überrascht gewesen, aber spätestens so gegen 11 Uhr war ich entweder weinerlich oder aggressiv geworden. Und den gewünschten Gewichtsverlust hatte ich damit auch nicht erzielt, ganz im Gegenteil. Das fehlende Frühstück hatte ich heißhungrig mit einem überdimensionierten Mittagessen kompensiert und natürlich prompt die Quittung dafür bekommen. Zwei Kilogramm mehr in zwei Wochen.

Intervallfasten – nein danke! Man muss ja nicht jeden Quatsch mitmachen, das hatte schon mein alter Reitlehrer immer gesagt, und wo er recht hatte, hatte er recht.

So beäugte ich sehnsüchtig das trockene Brötchen, das vom Vortag noch übrig geblieben war, und entschloss mich, es nach einem herzhaften Biss einfach mitzunehmen, dann hätte ich wenigstens eine Reserve dabei. Wer weiß, ob es bei diesem Reto wirklich feines Brot gab.

So stapfte ich in froher Hoffnung auf ein leckeres Frühstück los.

Retos Hof lag ein wenig außerhalb des Dorfes. Es musste in der Nacht wirklich stark geregnet haben, denn hie und da hatte sich der Weg sogar in einen kleinen Bach verwandelt. Meine Schuhe schmatzten im Schlamm, und ich ertappte mich dabei, wie ich beinahe mit kindlicher Freude in eine Pfütze gestampft wäre.

Arven, Fichten und Weißtannen standen in kleinen Waldgrüppchen beisammen. Hier und da flog gelegentlich laut krächzend ein Tannenhäher auf. Ich schmunzelte. Als Tochter eines Vogelliebhabers war ich gar nicht umhin gekommen, mir die Namen vieler Vogelarten zu eigen zu machen. Tannenhäher sah man nicht zu oft. Sie waren aber mit den Arven, die hier so zahlreich wuchsen, vergesellschaftet und trugen maßgeblich dazu bei, dass diese nicht ausstarben. Ich musste unbedingt versuchen, eine zu fotografieren. Mein Vater würde ausflippen. Schon bald kam ich zu den ersten Häusern, die, abgesehen von ein paar faul dösenden Katzen, verlassen wirkten. In der Ferne hörte man das unvermeidliche Gebimmel der Kuhglocken.

Hoffentlich fand ich Retos Hof überhaupt. Diese Sorge schien jedoch unbegründet, denn bevor ich zur kleinen Kirche kam, entdeckte ich einen Wegweiser, der aus einem geschnitzten Schild in Form eines Baguettes bestand. Kurz darauf erschnupperte ich auch schon den unwiderstehlichen Geruch frisch gebackenen Brots.

Also immer der Nase nach.

Ich bog um eine Ecke und erblickte einen kleinen, gepflegt wirkenden Hof. Skurrile aus Holz geschnitzte Skulpturen säumten den Weg zu beiden Seiten. Staunend blieb ich vor einer großen Schildkröte stehen, die aus einem abgesägten Stamm geschnitzt worden war. Hier war offenbar jemand mit viel Liebe vorgegangen. Nun war auch ganz deutlich Stimmengewirr zu vernehmen. Jemand lachte hell.

Ich war also offenbar nicht die Einzige, die Lust auf Holzofenbackwaren bekommen hatte. Auf der Rückseite des Hauses stand bereits ein kleines Grüppchen Menschen beisammen. Unter ihnen erkannte ich die kleine dralle Asiatin und den bulligen Wirt, der mit einem älteren bärtigen Mann eine erregte Unterhaltung mit leiser Stimme zu führen schien. Reto stand hinter einer Auslage, auf der mehrere appetitlich aussehende Brote angeordnet waren. Cyn­thia klebte an seiner Seite und redete wild gestikulierend auf ihn ein. Als sie mich erblickte, winkte sie ganz aufgeregt mit dem gestreckten Arm und rief laut nach mir, was natürlich zur Folge hatte, dass sich alle Blicke mir zuwandten. Prompt fühlte ich mich ein bisschen wie die Neue in der Schulklasse.

»Hoi, Lisa! Schön, dass du es geschafft hast«, sagte Reto und grinste mich an. Cynthia neben ihm strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

»Warte mal, ich bring gleich noch mehr Brot«, rief er und drehte sich zu einem kleinen Häuschen um, das ich erst jetzt als Pizzaofen erkannte. Mit einer Blechschaufel hantierte er vorsichtig im Inneren des Ofens und holte dann noch drei Brotlaibe hervor, die er zu den anderen auf die Auslage legte. Vom Duft der frisch gebackenen Brote lief mir das Wasser im Mund zusammen, und ich konnte es kaum erwarten, eine Scheibe davon zu probieren.

Offenbar sah man mir die Gier förmlich an, denn Reto entblößte eine Reihe gleichmäßiger weißer Zähne und hielt mir ein holzgeschnitztes Gefäß hin, in dem sich ein paar Scheiben Brot befanden.

»Bitte, Lisa. Bediene dich. Da vorne findest du Konfi, Butter und Honig.« Er deutete auf einen Klapptisch, auf dem sich ein paar Plastikteller und allerlei Leckereien befanden.

Wow! Das war ja besser, als ich es mir hätte träumen können. Ich biss in die Brotscheibe und musste die Augen schließen. Das Brot war himmlisch. Nicht einmal das meiner Großmutter war besser gewesen.

»Na, gut eingelebt?«

Ich drehte den Kopf und sah in die tiefblauen Augen Helen Stöcklis. Kauend nickte ich. Sie lachte. »Das freut mich. Hier oben duzen wir uns übrigens alle. Ich bin also Helen, wenn du nichts dagegen hast.«

Ich lachte und nahm ihre ausgestreckte Hand. Sie hatte einen erstaunlich festen Händedruck, den man ihr wegen ihrer zierlichen Gestalt gar nicht zugetraut hätte. Allerdings zeugte die Hornhaut an ihrer Handinnenfläche und die zahlreichen teils schon vernarbten Kratzer an den Armen von einem arbeitsintensiven Leben.