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Der Fluch von Blaye E-Book

Maria Dries

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Beschreibung

Ça va, Madame le Commissaire?

Jedes Jahr im August reist Pierre mit zwei Freunden nach Blaye, wo am Ufer der Gironde ein Theaterfestival stattfindet. Doch schon kurz nach der Ankunft kommt er unter mysteriösen Umständen ums Leben. War es tatsächlich ein Unfall? Madame le Commissaire Pauline Castelot soll die Ermittlungen übernehmen und findet rasch heraus: Jemand hat Pierre getötet. Pauline ahnt schon bald, dass sie in der Vergangenheit der drei Freunde nach Spuren suchen muss. Was zieht die Männer auch nach so vielen Jahren noch nach Blaye? Pauline bleibt nicht viel Zeit, denn auch sie gerät ins Visier eines Attentäters ...

Ein Kriminalroman voller Spannung und echt französischem Flair.

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Über das Buch

Ça va, Madame le Commissaire?

Jedes Jahr im August reist Pierre mit zwei Freunden nach Blaye, wo am Ufer der Gironde ein Theaterfestival stattfindet. Doch schon kurz nach der Ankunft kommt er unter mysteriösen Umständen ums Leben. War es tatsächlich ein Unfall? Madame le Commissaire Pauline Castelot soll die Ermittlungen übernehmen und findet rasch heraus: Jemand hat Pierre getötet. Pauline ahnt schon bald, dass sie in der Vergangenheit der drei Freunde nach Spuren suchen muss. Was zieht die Männer auch nach so vielen Jahren noch nach Blaye? Pauline bleibt nicht viel Zeit, denn auch sie gerät ins Visier eines Attentäters ...

Ein Kriminalroman voller Spannung und echt französischem Flair

Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in Frankreich.

Im Aufbau Taschenbuch sind bisher erschienen: Der Kommissar von Barfleur, Die schöne Tote von Barfleur, Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel, Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague, Der Kommissar und der Tote von Gonneville, Der Kommissar und die Morde von Verdon, Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville, Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse, Der Kommissar und das Biest von Marcouf, Der Kommissar und die Toten von der Loire, Der Kommissar und die Tote von Saint-Georges und Das Grab im Médoc.

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Maria Dries

Der Fluch von Blaye

Bordeaux Krimi

Inhaltsübersicht

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Der Troubadour von Blaye

Prolog August 2017

28. August

29. August

30. August

31. August

1. September

2. September

3. September

4. September

5. September

Impressum

Für Achim

Der Troubadour von Blaye

Während des Mittelalters errichtete die Familie Rudèl auf der Anhöhe von Blaye eine Burg, deren Ruinen man heute noch in der Zitadelle besichtigen kann. Um dieses Château rankt sich eine romantische Legende.

Geoffroy, ein Troubadour aus dem 12. Jahrhundert, wurde dort geboren. Eines Tages kehrten Pilger aus Antiochia heim und erzählten ihm von Melisande, der Gräfin von Tripolis. Daraufhin verliebte er sich unsterblich in sie, ohne sie jemals gesehen zu haben. So sehr verzehrte er sich nach ihr, dass er eines Tages mit dem Schiff nach Tripolis aufbrach. Doch er erkrankte auf der Reise schwer und starb in den Armen der geliebten Melisande.

Heinrich Heine lässt Melisande in der Ballade »Geoffroy Rudèl und Melisande von Tripoli« einen Wandteppich für die Burg in Blaye sticken, der an den tragischen Tod des Burgherren erinnert. Auf diese Weise wird es den beiden Liebenden möglich gemacht, als Gespenster jede Nacht ihre Liebe zu zelebrieren. So können sich die Liebenden sagen:

Geoffroy! Mein totes Herz

Wird erwärmt von deiner Stimme,

In den längst erloschnen Kohlen

Fühl ich wieder ein Geglimme!

Melisande! Glück und Blume!

Wenn ich dir ins Auge sehe,

Leb ich auf – gestorben ist

Nur mein Erdenleid und -wehe.

Heinrich Heine (1797–1856)

Romanzero

Prolog August 2017

Über dem östlichen Steilufer der Gironde erhob sich stolz die Festungsanlage von Blaye. Erschaffen wurde sie von Sébastien de Vauban, dem Festungsbaumeister des Sonnenkönigs Louis XIV. Das monumentale Bollwerk aus dem siebzehnten Jahrhundert war dem Gelände optimal angepasst und hatte die Form eines halben Sterns. Es bildete mit dem Fort Médoc am anderen Ufer und dem Fort Paté auf einer Insel im Fluss einen Verteidigungsriegel für Bordeaux.

Die Sonne tauchte die alten Mauern und die wappengeschmückten Tore in goldenes Licht, bis sie schließlich hinter dem Horizont versank. Das strudelnde Wasser des Flusses, der dem Atlantik zustrebte, wechselte die Farbe von Jadegrün zu Ultramarinblau, auf seiner Oberfläche spiegelten sich dahinziehende schneeweiße Schafswolken.

Am schmalen sichelförmigen Strand brannte ein Treibholzfeuer, dessen Flammen scharlachrot in die Höhe fackelten. Es roch nach wildem Thymian und schlammigem Flusswasser. Eine Entenfamilie schwamm in Reih und Glied auf eine kleine Insel zu, auf der dichtes Schilf wuchs. Frösche quakten um die Wette.

Um das Feuer hatten sich drei Frauen und drei Männer versammelt, die heiterer Stimmung waren und feiern wollten: Nora, Juliette, Diana, Jérémy, Pierre und Christophe. Sie saßen auf dem warmen Sand, unterhielten sich und lachten.

Als der Himmel sich nachtblau verfärbte, und die ersten Sterne Diamanten gleich funkelten, entkorkte Pierre eine Flasche Champagner und füllte die Kristallgläser, die sie mitgebracht hatten, mit der schäumenden Flüssigkeit. Daraufhin stießen sie auf ihre Freundschaft an.

Christophe griff nach seiner Gitarre und begann mit seinem sanften Bariton ein Chanson von Michel Sardou zu interpretieren, Je vais t’aimer. Nora stimmte mit ein, und sie sangen abwechselnd die melancholischen Verse. Der Wind trug die Melodie über das Ufer und die Felsen bis zur Zitadelle hinauf. Juliette sah verträumt ins Feuer und hing ihren Gedanken nach. Pierre versuchte, ihren Blick einzufangen. Diana und Jérémy hatten die Arme umeinander geschlungen und küssten sich leidenschaftlich.

Niemand bemerkte die Person, die hinter einem Felsen kauerte und sie beobachtete.

28. August

Das Flüsschen Saugeron und die Eisenbahngleise trennten die Zitadelle vom eigentlichen Städtchen Blaye. Die »Auberge Aquitaine« mit ihren wasserblauen Fensterläden und der rot-weiß gestreiften Markise über der Eingangstür lag im Zentrum der Ortschaft in der Nähe des Rathauses. Auf der von Platanen beschatteten Terrasse saßen die ersten elegant gekleideten Gäste und nahmen einen Aperitif. Aufmerksam beobachteten sie die Geschehnisse auf dem Rondell vor dem Hotel. Ein Taxi fuhr vor, der Fahrer stieg aus und öffnete die hintere Tür des schwarzen Citroën. Nora Delavigne stieg aus. Die junge Frau mit den aparten Gesichtszügen und den schulterlangen blonden Haaren, die mit einem Band zurückgebunden waren, war der aufstrebende Star am französischen Filmhimmel. Sie wurde von ihren Fans geliebt und verehrt, manche sprachen bereits von einer zweiten Romy Schneider.

Vor der Auberge hatte sich eine Ansammlung von Menschen gebildet, die auf sie gewartet hatten und nun zu applaudieren und ihren Namen zu rufen begannen. »Nora! Nora!« Reporter, die für regionale und überregionale Zeitungen und Zeitschriften arbeiteten, richteten die Objektive auf sie. Sie wurde fotografiert und gefilmt. Dabei schenkte sie ihren Fans ein bezauberndes Lächeln, ihre blaugrauen Augen funkelten, dann stellte sie sich den Fragen der Journalisten.

»Wie fühlt es sich an, wieder zu Hause zu sein?«, fragte ein junger Mann mit einem Dreitagebart und einem Haarknoten.

»Wunderbar, ich freue mich, hier zu sein.«

»Sie spielen im Theater ›Le Chat Jaune‹ die Hauptrolle in dem Stück La Mission de Bernadette. Worum geht es, Madame Delavigne?«

»Ich spiele eine Pilgerin, die sich auf den Weg zu der Kapelle Sainte-Marie de Gironde macht, um Gott zu bitten, ihr ein Kind zu schenken.«

»Das hört sich ergreifend an.«

Sie lachte. »Das ist aufregend.«

Eine korpulente Frau, die eine Baskenmütze schief auf dem Kopf trug und Artikel für die Boulevardpresse schrieb, meldete sich zu Wort.

»Ihr neuer Film Un Amour au Sénégal ist bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden. Auch die ausländische Presse hat begeistert darüber berichtet. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem großen Erfolg! Dennoch spielen Sie hier Theater?«

»Ja, im Theater liegen meine Wurzeln, dort habe ich mit der Schauspielerei angefangen. Ich liebe es, auf der Bühne zu stehen und zu spielen. Dabei genieße ich den direkten Kontakt mit dem Publikum und die Nähe zu den Menschen. Das ist ein ganz anderes Gefühl, als vor der Kamera zu drehen, viel intimer.«

Eine platinblonde Frau mit grellrot geschminkten Lippen drängte sich vor und hielt das Mikrofon mit ausgestrecktem Arm. Nora erinnerte sich, dass sie für eine Frauenzeitschrift schrieb.

»Wie man so hört, haben Sie während der Dreharbeiten eine Liebesbeziehung mit Marc Gaspard, dem männlichen Hauptdarsteller des Films, begonnen. Können Sie das bestätigen?«

Nora reagierte professionell. »Kein Kommentar. Über mein Privatleben äußere ich mich nicht.«

Charmant lächelte sie in die Runde und hob die Hand, um weitere Fragen abzuwehren. »Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, Mesdames et Messieurs. Ich möchte noch eine Kleinigkeit essen und habe dann Probe. Die Premiere findet übermorgen statt, Sie sind herzlich eingeladen.«

Mit einer anmutigen Geste schlang sie sich den Chiffonschal um den Hals und ging durch eine sich bildende Schneise auf den Hoteleingang zu. Dabei schüttelte sie Hände, tauschte Wangenküsschen, wechselte mit dem ein oder anderen ein freundliches Wort und gab Autogramme. Der Taxifahrer folgte ihr mit dem Gepäck.

Im Foyer wartete bereits der Direktor des Hauses, Monsieur Duval, auf sie, elegant gekleidet in Anzug, Krawatte und weißem Hemd. Neben ihm balancierte ein Kellner ein silbernes Tablett mit zwei Kristallflöten, in denen Champagner perlte.

Duval strahlte über das ganze Gesicht, breitete die Arme aus und ging auf sie zu.

»Herzlich willkommen in unserem Hause, liebe Nora! Wir sind alle so stolz auf Ihren Triumph in Cannes. Ich habe mir das Meisterwerk im Kino angesehen. Großartig, einfach großartig. Die französischen Filme sind eben doch die besten.«

»Die besten und die anspruchsvollsten.« Sie lachten.

Dann beugte er sich vor und küsste ihre Hand. »Fühlen Sie sich wie zu Hause, wir werden Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen.«

»Merci beaucoup, Henri.«

Sie stießen an und tranken einen Schluck. Nora ließ ihre Blicke aufmerksam durch das Foyer wandern.

»Viel hat sich nicht verändert. Immer noch der gleiche elegante Charme, und überall Blumen.« Sie lächelte ihn an. »Kommen Sie zur Premiere?«

»Wenn es meine Zeit erlaubt, auf jeden Fall.«

»Ich werde eine Eintrittskarte für Sie besorgen und einen Platz in der ersten Reihe reservieren lassen.«

»Formidable.«

»Ich gehe jetzt auf mein Zimmer. Kann ich einen Salat und eine Karaffe Wasser bestellen?«

»Aber selbstverständlich, liebe Nora. Der Imbiss kommt sofort.«

***

Das kleine Theater, »Le Chat Jaune«, lag in der Rue Lamartine in der Altstadt. Der einstöckige Bau war zwischen einem Bistro und einem Antiquariat eingeklemmt und fliederfarben verputzt. Das Messingschild über dem Portal zeigte eine gelbe Katze. Nora betrat das Gebäude durch den Bühneneingang, begrüßte im Flur einige Kollegen, die bereits ihre Pilgerkostüme trugen, und suchte ihre Garderobe auf. Der beengte Raum wurde von einem goldgerahmten Spiegel beherrscht, den Strahler hell erleuchteten. Ringsum, hinter dem Rahmen, steckten Schnappschüsse von verschiedenen Aufführungen, bei denen sie mitgewirkt hatte. Valentin, der Maskenbildner mit dem wilden schwarzen Schopf und dem perfekt gestutzten Bart, wartete bereits auf sie. Sie begrüßten sich herzlich mit Wangenküsschen.

»Wir sind spät dran«, sagte er. »Nimm bitte Platz, Nora.«

Er zündete eine Zigarette für sie an und reichte sie ihr.

Während er ihre Haare zurückband und ihren Teint hell schminkte, plauderten sie über dies und das. Natürlich kam das Gespräch auf Un Amour au Sénégal.

»Ein wunderbarer Film«, schwärmte Valentin. »Ich habe ihn mir natürlich angesehen. Zweimal. Hast du dich in diesen Kerl verliebt? Wie heißt er doch gleich … Marc, nicht wahr?«

»Ja, es ist eine amour fou, völlig verrückt.«

»Ach, wie romantisch. Kein Wunder, der Typ sieht aus wie Robert Redford in ›Der große Gatsby‹. Du weißt, dass er verheiratet ist?«

»Ja.«

Er seufzte. »Ich warte immer noch auf die große Liebe.«

»Sie wird schon noch kommen, Valentin.«

»Wer weiß.«

Als er ihr Gesicht perfekt modelliert hatte, setzte er eine weiße Haube auf ihr hochgestecktes Haar. »Fertig, meine Schöne. Du siehst wundervoll aus.«

»Eher wie vom Leben gezeichnet.«

»Du spielst eine Pilgerin, die seit Wochen unter großen Entbehrungen unterwegs ist, damit Gott ihr ein Kind schenkt. In einer solchen Situation sieht man so aus.«

Sie lachte und erhob sich. »Du hast recht. Ich danke dir, Valentin. Reichst du mir bitte den Umhang?«

Er half ihr hinein, und sie verknotete die Kordel. »Los geht’s«, verkündete sie, klopfte dreimal auf den Holztisch und verließ die Garderobe. Valentin sah ihr lächelnd nach. Würde er nicht Männer bevorzugen, würde er versuchen, sie zu verführen.

Nora kam durch den Seiteneingang direkt auf die Bühne und wurde überschwänglich vom Regisseur begrüßt. Roger war ein Mann mittleren Alters mit einer plumpen Figur.

»Bonsoir, Nora. Ich bin so glücklich, dass du in meinem Ensemble spielst. Die Aufführung wird ein großer Erfolg, davon bin ich fest überzeugt. Wir fangen gleich an zu proben, die anderen sind auch bereit.«

Er kletterte über eine Holztreppe in den Zuschauerraum, setzte sich in die erste Reihe und schlug das Skript auf. Nora sah sich um. Sie hatte schon des Öfteren in diesem Kleinod gespielt und liebte es. Im Saal gab es zwölf Reihen mit vierzehn Sitzen und Notsitzen im Mittelgang, der blaue Teppich war abgewetzt. An den cremefarbenen Wänden waren Lüster befestigt, die bronzefarbenes Licht verströmten. Das Bühnenbild sollte das Innere einer alten Seemannskapelle darstellen. Die Ausstattung war karg, den Mittelpunkt bildete ein Altar, auf dem in einem silbernen dreiarmigen Leuchter Kerzen flackerten. Dahinter erhob sich ein schlichtes Holzkreuz. Der Vorhang war zweigeteilt und mit Seilen gerafft.

Roger klatschte in die Hände. »Wir fangen an. Konzentriert euch. Ich hoffe, ihr habt euren Text gelernt.«

Die Pilger versammelten sich vor dem Altar, begannen inbrünstig zu beten und dankten der heiligen Marie dafür, dass sie sie auf ihrem langen Weg beschützt hatte. Die Brüder und Schwestern, die den langen Marsch nicht hatten bewältigen können und von denen einige bei der Überfahrt in maroden Nachen ertrunken waren, schlossen sie in ihre Gebete mit ein. Als sie die Zeremonie beendet hatten, drehte Nora sich um und wandte sich dem imaginären Publikum zu. Ein Lichtkegel ließ ihr blasses Gesicht und die Augen erstrahlen. Es war ein magischer Moment, der die Zuschauer in seinen Bann ziehen würde. Mit klarer, tragender Stimme begann sie von den Gefahren und Strapazen der Pilgerreise zu erzählen, die in Limoges ihren Anfang genommen hatte. Sie beschrieb Unwetter und Stürme, denen sie ausgesetzt waren, und schilderte die kargen bitterkalten Unterkünfte, in denen sie schlechtes Essen und durchgelegene Matratzen bekommen hatten. Der gefährlichste Teil ihrer Reise war die Überquerung der Gironde von Blaye zu dem Ort Lamarque gewesen, in dessen Nähe sich die Kapelle Sainte-Marie befand. Sie thronte direkt über dem Strom, der unbändig und wild dem atlantischen Ozean zustrebte. Bilderreich erzählte sie von der Überfahrt mit dem Nachen.

Roger unterbrach sie mit polternder Stimme. »Das war keine Luxuskreuzfahrt, Nora. Man muss die Angst spüren, die Todesangst, die du empfunden hast. Und den eisernen Willen, die Überquerung zu meistern, den festen Glauben, dass Gott seine schützende Hand über dich hält. Die Gefahr dieser Mission, die du auf dich genommen hast, um für ein lang ersehntes Kind zu beten. Okay?« Schnaubend ließ er sich in den purpurnen Plüschsitz zurückfallen.

Nora warf ihm einen wütenden Blick zu, biss sich jedoch auf die Lippen. Niemand sollte behaupten können, sie führe sich wie eine Diva auf.

»Okay, Roger.« Sie bemerkte den Blick von Michelle, die ihre Missgunst nicht ganz verbergen konnte, und ihr schadenfrohes Lächeln. Sie hatte die Hauptrolle der Bernadette nicht bekommen, obwohl sie Roger um den Bart gegangen war. Nora beschloss, ganz Profi, sich besser auf die Generalprobe am nächsten Tag vorzubereiten.

»Weiter«, kommandierte Roger. »Alain, du bist dran. Noch ein Patzer, und du fliegst raus. Ich bin mit meiner Geduld bald am Ende.«

***

Nach zwei anstrengenden Stunden beendete Roger die Theaterprobe.

»Wir machen Schluss für heute. Ihr wart gut, Leute, aber ihr könnt es noch besser. Wir sehen uns morgen Abend zur Generalprobe. Bonne Nuit!«

Nora suchte ihre Garderobe auf, zündete sich eine Zigarette an und begann sich abzuschminken. Dabei betrachtete sie kritisch ihr Gesicht. Es klopfte an der Tür, und Alain steckte den Kopf herein. »Ein paar von uns gehen noch was trinken, kommst du mit?«

Nora schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht, ich habe noch etwas vor.«

»Schade, dann bis morgen.«

»Bis morgen, Alain.«

Nachdem sie sich umgezogen hatte, knipste sie die Lichter aus und verließ das Theater.

***

Das Theaterfestival von Blaye fand jedes Jahr Ende August statt und erfreute sich beim internationalen Publikum größter Beliebtheit. Die Aufführungen fanden auf den Kleinkunstbühnen in der Stadt und auf der Zitadelle statt. Zur gleichen Zeit gab es auf dem weitläufigen Gelände einen Mittelaltermarkt, auf dem Ritterspiele ausgetragen wurden und Gaukler, Scharlatane und Magier ihren Geschäften nachgingen.

Das ehemalige Pulvermagazin wurde von Hunderten Kerzen erleuchtet. Auf den Bänken unter dem Gewölbe saßen die Zuschauer dicht gedrängt und beobachteten fasziniert die Geschehnisse auf der Bühne. Dort wurde eine tragische Liebesgeschichte erzählt, begleitet von den Klängen eines Cellos.

Über die Festungsanlage wölbte sich ein blauschwarzer Sternenhimmel, überall auf dem Terrain waren Fackeln in die Erde gesteckt worden, in Feuerschalen glühten Kohlen, in Eisenkörben loderten Buchenholzscheite. Die Mauern der Bastionen lagen in tiefem Schatten.

Ein Mann in einem goldenen Kostüm und einem golden geschminkten Gesicht jonglierte geschickt mit fünf Bällen. Einige Kinder sahen ihm fasziniert zu. Zwei Ritter, einen rotweißen Schild vor der Brust, fochten einen erbitterten Schwertkampf aus. Ihr Kriegsgeschrei hallte durch die Nacht. Zuschauer klatschten begeistert und feuerten sie an.

Wenige Meter entfernt wurde auf einem Tisch Mäuseroulette gespielt. Bei dem Spiel ging es darum, darauf zu setzen, ob die weiße oder die braune Maus zuerst den Weg durch das Schlupfloch finden würde, hinter dem Futter deponiert war. Die meiste Aufmerksamkeit jedoch zog der Feuerschlucker auf sich, der gewaltige gelbe Flammen ausstieß.

An einer farbenfroh gestrichenen Bretterbude wurden ungespundetes Bier, Honigwein und Kräuterschnaps ausgeschenkt. Je weiter der Abend voranschritt, desto ausgelassener waren die Gäste. Nun wollte sich niemand mehr vom Barbier rasieren oder vom Medicus mit einem Aderlass behandeln lassen, man wollte feiern. Aus Lautsprechern dröhnte mittelalterliche Musik der angesagten Band »Oiseau de Feu«.

Über einem Holzfeuer drehte sich ein Spieß mit einem Spanferkel, dessen Speck knusprig glänzte, und das einen unwiderstehlichen Duft verströmte. Auf einem zweiten Metallstab steckten fette Kapaune. Um das Feuer hatten sich Besucher versammelt, tranken Bier und warteten hungrig darauf, dass die Köstlichkeiten gar wurden. Darunter befanden sich drei Männer, die die typische Kleidung von Zimmerleuten auf der Walz trugen: einen Zylinder, weite Schlaghosen aus Cord, eine Weste mit acht Perlmuttknöpfen für acht Arbeitsstunden am Tag, ein Jackett und ein weißes Hemd. Sie lachten, scherzten und ließen sich das Bier schmecken. Dazu kippte jeder ein Wasserglas Kräuterschnaps.

Einige Meter entfernt, im Schatten einer Festungsmauer, standen zwei Hexen dicht beieinander. Sie waren in weite schillernde Kleider gehüllt und trugen schaurige Masken mit gewaltigen Hakennasen, Warzen, dicken Augenbrauen und wie zum Schrei aufgerissenen Mündern. Unter den Röcken lugten derbe Stiefel hervor. Sie sahen zum Fürchten aus. Die Gestalten unterhielten sich und brachen unvermittelt in schrilles Gelächter aus, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Dabei ließen sie die drei Männer nicht aus den Augen.

***

Nora war nach der Probe in bequeme Jeans, einen Pullover und Sportschuhe geschlüpft und ging jetzt mit langsamen Schritten durch das Gassengewirr der Altstadt. Sie begegnete niemandem, offenbar hatten sich alle auf dem Festungsgelände versammelt. Sie hörte nur ihre eigenen Schritte und aus der Ferne den Trubel und die Musik des mittelalterlichen Festes. Der Weg führte sie an ihrem Elternhaus in der Avenue Haussmann vorbei, und sie hielt für einen Moment inne. Durch ein Gittertor konnte sie in den Garten sehen. Neben einem Feigenbaum plätscherte der alte Steinbrunnen. In der Luft lag der intensive Duft von Jasmin. Die Fenster im Haus waren dunkel. Sie waren bereits zu Bett gegangen.

Schließlich lief sie weiter und sah den angestrahlten Turm der Pfarrkirche von Blaye, Sainte-Romain, vor sich in den graphitschwarzen Himmel ragen. Über der Spitze ruhte die bleiche Mondsichel auf einem Wolkenkissen. Die Turmuhr schlug zwölf Mal, es war Mitternacht.

Während sie die Treppe zur Kirche hinaufstieg, die von antiken Laternen beleuchtet wurde, wanderten ihre Gedanken zu Marc. Sie hatte sich bei den Dreharbeiten zu Un Amour au Sénégal Hals über Kopf in ihn verliebt. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Vermutlich hielt er sich gerade in seiner Villa am Cap d’Antibes auf und trank ein Glas Wein mit seiner Frau. Diese Vorstellung versetzte ihr einen Stich. Alle ihre Liebschaften waren bisher unerfreulich verlaufen. Energisch schob sie den Gedanken beiseite, sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Die Aufführung von La Mission de Bernadette sollte ein großer Erfolg werden.

Ein Mann mit einem Hund kam ihr entgegen. »Bonsoir, Madame«, grüßte er höflich.

Sie erwiderte seinen Gruß und stieg weiter zur Kirche hinauf.

Der Mann drehte sich um und starrte ihr hinterher. Das war doch Nora Delavigne gewesen, ganz sicher! Das musste er sofort seiner Frau erzählen.

Noras Handy klingelte. Sie nahm den Anruf an und hörte zu. Nach wenigen Sekunden sagte sie »merci« und beendete das Gespräch.

Als sie die Anhöhe erreicht hatte, strich der laue Abendwind ihr über die Wangen. Neben der Kirche befand sich der Friedhof. Laubbäume, schwarzen Scherenschnitten gleich, reihten sich entlang der Mauer. Eine knorrige Zeder überragte das Kirchdach. Sie betrat die Gottesstätte durch ein weit geöffnetes schmiedeeisernes Tor und betrachtete die mit Moos überzogenen Gedenksteine, die verwitterten Kreuze und die marmornen Mausoleen. Auf vielen Grabplatten standen Kerzen und flackerten im Wind. Sie tauchten den Friedhof in einen rötlich schimmernden, tröstlichen Lichterschein. Außer dem Flüstern der Blätter war nichts zu hören. Als eine Eule einen Schrei ausstieß, fuhr Nora erschrocken zusammen.

Ihr Weg führte sie zu einem Grab, auf dem Rosen und Lavendel wuchsen und einen süßen Duft verströmen. Auf dem Kreuz war die Porträtfotografie einer jungen Frau angebracht, die Nora ähnlich sah. Zwischen Rosen steckte ein namenloses kleineres Kreuz in der schwarzen Erde. In Gedanken versunken faltete Nora die Hände. Sie murmelte: »Bonsoir, meine geliebte Schwester. Ich wollte immer auf dich aufpassen, doch jetzt sind wir auf ewig getrennt. Du fehlst mir unendlich.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und starrte auf das Bild. Schließlich flüsterte sie: »Sie sind in der Stadt. Die Teufel sind zurück.«

29. August

Am nächsten Morgen stand Nora frühzeitig auf. Von ihrem Hotelfenster aus konnte sie in den Garten sehen. Der Himmel war azurblau, kein Lüftchen regte sich. Es würde ein heißer Tag werden. Ein Gärtner mähte den Rasen, sonst war niemand unterwegs. Auf der Oberfläche des Schwimmbeckens trieb ein Wasserball.

Sie bereitete sich einen Kaffee zu, setzte sich auf den Balkon und überdachte ihren Plan. Schließlich zog sie leichte Sportkleidung an, schnürte ihre Laufschuhe, verbarg ihre Haare unter einer Baseballkappe und setzte ihre Sonnenbrille auf. In ihren Rucksack packte sie Mineralwasser, eine Sonnencreme und Obst. Über die Treppe lief sie ins Erdgeschoss und spähte durch das verglaste Eingangsportal. Keine Reporter, dafür war es noch zu früh. Der Empfang war nicht besetzt. Sie schlüpfte durch die Hintertür ins Freie und stieß beinahe mit dem Hausmeister zusammen, der einen Werkzeugkasten in der Hand hielt. Er strahlte über das ganze Gesicht. »Bonjour, Madame Delavigne.«

»Bonjour, Albert.«

»Noch ist die Luft frisch und kühl. Viel Spaß beim Laufen.«

»Merci, Albert.«

Mit bewundernden Blicken sah er ihr nach. Was für eine schöne Frau, und so liebenswürdig!

Zum kleinen Fischerhafen war es nicht weit. Nora setzte sich auf die Terrasse des Café de France, zog die Kappe ins Gesicht und bestellte bei der mürrischen Kellnerin einen Café au Lait und zwei Croissants. Während sie frühstückte, betrachtete sie die Gironde, die sanft dahinfloss und in der Sonne glitzerte. Ein Schlepper zog vorbei, Kinder, die auf dem Oberdeck spielten, winkten. Zufrieden stellte sie fest, dass sie bisher offenbar niemand erkannt hatte. Neben ihr saßen drei Fischer um einen Tisch, die Café au Lait tranken und sich über die Politik der Regierung aufregten. Die einfachen Leute wurden immer benachteiligt, das war sonnenklar.

Nora sprach sie an. »Entschuldigen Sie die Störung, Messieurs. Darf ich Sie etwas fragen?«

Didier, der Jüngste der Fischer, ein stämmiger Mann mit einem Vollbart, sah sie an und setzte sofort sein charmantestes Lächeln auf. »Bien sûr, Madame.«

»Ich möchte über die Gironde fahren und suche einen Nachen.«

»Einen Nachen?«

»Ja, einen alten Kahn.«

»Ich weiß, was ein Nachen ist, ich besitze selbst einen.«

Er vollführte eine vage Kopfbewegung. »Da vorne liegt er.«

»Ich miete ihn für einen halben Tag. Sind hundert Euro angemessen?«

Didier verschlug es die Sprache. »Das ist zu viel, Madame. Aber darum geht es nicht. Was Sie vorhaben, ist gefährlich.«

»Der Fluss sieht ruhig aus.«

»Das täuscht, Madame.«

Der zweite Fischer, dessen Hemd sich über den gewaltigen Bauch spannte, beugte sich vor und mischte sich ein. »Es gibt unberechenbare Strömungen und heimtückische Strudel, das können Sie mir glauben. Wir kennen das Gewässer wie unsere Westentasche.« Umständlich zündete er sich eine Pfeife an.

Der dritte Fischer, ein rothaariger Hüne mit einem breiten Rücken, trank sein Glas aus und ergriff das Wort. »Diese Trichtermündung ist ein Ästuar. Wissen Sie, was das bedeutet? Der Strom ist den Gezeiten ausgesetzt, bei Flut drängt das Wasser in die Mündung, und der Pegel steigt. Bei Ebbe läuft das Wasser ab, und es entsteht ein gewaltiger Sog.«

Nora gab nicht auf. »Sie sind doch auch mit Booten auf der Gironde unterwegs.«

Didier schob seine Mütze in den Nacken. »Die meisten Leute fahren mit Motorbooten, das ist kein Problem.«

»Ich bin hier schon als Kind mit dem Schlauchboot gefahren.«

»Nehmen Sie doch lieber ein Motorboot, das ist sicherer.«

»Nein, es muss ein Nachen sein, das ist wichtig.«

»Also gut, wie Sie wollen. Fünfzig Euro für den Kahn, solange Sie wollen, meinetwegen den ganzen Tag.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »D’accord?«

Sie schlug ein. »D’accord.«

»Sagen Sie einfach im Café Bescheid, wenn Sie wieder da sind.«

Nachdem sie das Frühstück und die Miete für den Kahn bezahlt hatte, führte Didier sie zu seinem Boot, das im Schilf schaukelte.

»Sie setzen sich auf das Brett, strecken die Beine aus, und ziehen das Ruder kräftig und gleichmäßig durch das Wasser, einmal rechts, einmal links. Okay?«

»Okay.«

»Der Fluss ist an dieser Stelle etwa drei Kilometer breit. Das ist eine ordentlich Strecke, wenn man keinen Motor hat. Trauen Sie sich das wirklich zu?«

»Ja.«

»Dennoch! Falls die Kräfte Sie verlassen, lassen Sie sich von der Strömung treiben und steuern das Ufer an. Nehmen Sie sich vor Schubverbänden in Acht, die Steuermänner können Sie nicht sehen. Beachten Sie bei der Überquerung, dass Sie leicht flussaufwärts steuern, sonst werden Sie abgetrieben, und die Strecke wird immer länger. Halten Sie auf Fort Médoc zu.«

»Alles klar, Monsieur.« Sie begann den Nachen weiter in das Wasser zu schieben.

»Eins noch, Madame. Überlassen Sie mir bitte kurz Ihr Handy, dann gebe ich meine Nummer ein, und Sie rufen mich an, falls Sie ein Problem haben sollten. Mit dem Jetskiboot bin ich in wenigen Minuten bei Ihnen.«

»Ich habe kein Handy dabei.«

Ungläubig sah er sie an. »Nein?«

»Nein. Alles muss ursprünglich sein.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Das müssen Sie auch nicht. Stoßen Sie mich bitte an? Bis später.«

Er tat, worum sie ihn gebeten hatte, und sah zu, wie der Kahn in das tiefere Wasser glitt und sie geschickt das Ruder einsetzte. Sie kam rasch vorwärts und schaffte es, die Richtung zu halten. Didier blickte ihr noch eine Weile nach, dann zuckte er die Schultern und machte sich auf den Weg zurück zum Café zu seinen Kumpels. Dabei überlegte er, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte.

***

Nora tauchte das Ruder abwechselnd rechts und links des Bootes ins moosgrüne Wasser. Sie versuchte, es gleichmäßig durchzuziehen und ihre Kräfte einzuteilen. Ihr Ziel Fort Médoc behielt sie fest im Auge. Nach einigen Hundert Metern begannen ihre Armmuskeln und die Schultern zu schmerzen, und sie legte eine kurze Pause ein. Sofort trieb das Boot mit der Strömung nach Norden ab, und sie machte entschlossen weiter. Sie fuhr in der prallen Sonne, kein Wölkchen war weit und breit zu sehen, und sie begann zu schwitzen. Ein Schweißtropfen rann ihr ins Auge und brannte wie Feuer.

Wie in Zeitlupe näherte sie sich der Île-Paté, einer Insel ungefähr auf halber Strecke. Sie war von Bäumen, Büschen und Schilfgräsern überwuchert, und der Rundbau des Fort Paté war vom Wasser aus nicht zu sehen.

Als sie das winzige Eiland endlich erreichte, beschloss sie, eine Rast einzulegen und einige Minuten zu verschnaufen. Sie landete auf einem schmalen Sandstreifen, der vom Schatten einer Weide in flaschengrünes Licht getaucht wurde. Geschickt stieg sie aus, zog den Kahn weiter auf das Ufer und setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm. Durstig trank sie das Mineralwasser und aß einen Pfirsich. Dabei schlug sie immer wieder um sich, um die lästigen Bremsen, die sie penetrant umschwirrten, zu vertreiben.

Schließlich schloss sie die Augen und stellte sich Bernadettes Überfahrt vor. Die mutige Frau war zu einer unwirtlicheren Jahreszeit gereist, womöglich hatte es bei der Überfahrt geregnet, Nebel war aufgestiegen, und ein kühler Wind war durch das Flusstal gebraust und hatte an ihrer Haube gezerrt. Vielleicht hatte sie brackiges Brunnenwasser in einem Gefäß zum Trinken dabei gehabt, eventuell hartes Brot, gepökeltes Fleisch oder ein paar getrocknete Früchte für karge Mahlzeiten. Sie war bestimmt nicht alleine in dem Boot gewesen. Hatten sich die Reisenden gegenseitig Mut zugesprochen oder einander mit ihren Ängsten verrückt gemacht? Der Strom war ungestümer gewesen, sein Wasser eiskalt. Dennoch hatte die Gruppe die Gefahr auf sich genommen. Nora dachte daran, wie viele Pilger vom Treibsand in der Bucht des Mont-Saint-Michel erbarmungslos verschlungen worden waren.

Nach und nach vergaß sie ihre Umgebung, hörte das Wasser nicht mehr rauschen, die Blätter nicht mehr flüstern und die Vögel nicht mehr singen. Sie verschmolz mit Bernadette und wusste plötzlich genau, wie sie empfunden haben musste. Dieses Gefühl würde sie heute Abend bei der Generalprobe wunderbar abrufen können. Roger würde mehr als zufrieden mit ihr sein.

Gut gelaunt stand sie auf und schob den Nachen zurück ins Wasser, das jetzt pfauenblau glitzerte. Mit viel Kraft zog sie das Ruder durch und kam flott vorwärts. Sie bemerkte einen Schlepper, der zum Glück weit genug weg war.

Doch wie aus dem Nichts tauchte ein Sportboot auf und raste mit aufheulendem Motor an ihr vorbei. Der Kahn geriet heftig ins Wanken und kippte beinahe um. Verärgert sah sie dem Boot hinterher und hob die Faust. »Idiot!«, schrie sie. Das war knapp gewesen.

Nach weiteren hundert Metern bemerkte sie, dass Wasser in den Kahn eindrang. Es sickerte durch die Bohlen des Holzbodens. Die Nässe breitete sich aus, dann stieg der Wasserpegel stetig an, es drang offenbar an verschiedenen Stellen ein. Nora stellte das Rudern ein und versuchte, die undichte Stelle zu ertasten. Beunruhigt überlegte sie, wie sie das Leck verschließen könnte, und sah sich hastig nach etwas um, was sie dazu verwenden könnte. Doch sie hatte nichts bei sich. Wie erstarrt hielt sie inne und schaute zu, wie das Wasser immer höher stieg – es ging viel zu schnell. Panisch blickte sie sich um, ob jemand in der Nähe war, den sie auf sich aufmerksam machen konnte. Sie brauchte Hilfe, sofort. Doch da war niemand, um sie herum nur Wasser. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag in die Magengrube: Sie würde mit dem Nachen untergehen. Immer schneller füllte sich der Kahn, bis das eindringende Wasser den oberen Rand erreichte und er zu sinken begann. Panisch kämpfte Nora sich aus dem Boot und klammerte sich an seinen Rand. Sie schauderte. Das Wasser war kalt, und die Strömung zerrte an ihren Beinen. Irgendetwas streifte sie, und sie erstarrte für einen Moment. Verzweifelt sah sie sich nach Rettung um. Weit und breit war kein Schiff zu sehen, kein Motorboot, kein Kanadier, nichts. Es war wie verhext. Der Nachen glitt ihr aus der Hand und versank endgültig in den Tiefen der Gironde. Nora paddelte mit Armen und Beinen und dachte fieberhaft nach. Bei der Île-Paté hatte sie den point of no return überschritten, folglich musste sie nach Fort Médoc schwimmen. Kraftvoll begann sie zu kraulen, doch die Strömung war stärker als sie. Als ein Krampf durch ihr Bein fuhr, versank sie, bis nur noch die Arme aus dem Wasser ragten, dann waren auch sie von der Flut verschluckt worden.

***

Das Weingut Château de Montfort, ein alter Familiensitz, lag im Weinbaugebiet Entre-deux-Mers in der Nähe der Ortschaft Romagne. Es thronte auf einem Hügel inmitten von Weinbergen. Der ockerfarbene einstöckige Bau mit dem roten Ziegeldach hatte lavendelfarbene Fensterläden, die Fassade war mit Weinlaub überwachsen. Im Osten wurde es von einem Turm mit einem Schieferdach flankiert, das in der Morgensonne glänzte. Die Zufahrt war von alten Pappeln gesäumt. Die kleinere Domaine war bekannt für ihre hervorragenden Weißweine und Champagner.

Madame le Commissaire Pauline Castelot saß auf der Terrasse unter der weiß-grün gestreiften Markise und goss Kaffee und warme Milch in eine gelbe bol, auf der der Leuchtturm von Cap Ferret mit seiner roten Mütze abgebildet war. Es war ein Geschenk ihrer Tochter Sarah. Sie genoss den ersten Schluck und ließ den Blick über die Weinstöcke, die Waldparzellen, die Wiesen bis zum dunstigen Horizont wandern, wo sich die Silberküste bis zur spanischen Grenze und den Ausläufern der Pyrenäen erstreckte.

Ihr Lebensgefährte Dominic de Montfort, der Besitzer des Weingutes, hatte beim Bäcker Baguette geholt und trat auf die Terrasse. Beim Anblick von Pauline, die ihre dunkelblonden Haare zu einem Knoten hochgesteckt hatte und ein blaues Sommerkleid trug, das mit der Farbe ihrer Augen harmonierte, überzog ein Lächeln sein Gesicht. »Du siehst wunderschön aus, ma chérie.«

Sie erwiderte sein Lächeln. Seit vier Jahren wohnten Sarah und sie bei ihm, und sie hatte diese Entscheidung nie betreut. Sie liebte den großen kräftigen Mann mit den schwarzen Locken, der wie immer, wenn er in den Weinbergen arbeiten wollte, Jeans, ein schwarzes T-Shirt und Lederstiefel trug. So kurz vor der Lese gab es viel zu tun, und er hatte einen kranken Rebstock entdeckt. Jetzt machte er sich Sorgen, dass er andere Pflanzen angesteckt haben könnte.

Er setzte sich zu ihr an den wuchtigen Holztisch und begann das Baguette aufzuschneiden. »Pains aux raisins waren aus«, berichtete er. »Schade. Dafür gibt es pains au chocolat. Wo ist eigentlich Sarah?«

»Keine Ahnung, in einer halben Stunde fährt ihr Schulbus.«

Am Dienstag hatte nach den Sommerferien die Schule wieder begonnen. In diesem Moment stürmte das neunjährige Mädchen auf die Terrasse und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Sie grinste über das ganze sommersprossige Gesicht, die blauen Augen leuchteten, und der geflochtene Zopf wippte.

»Ich habe noch schnell mit Lise telefoniert«, erzählte sie. »Wir schreiben heute eine Probe in Naturkunde, und ich hatte vergessen, welchen Stoff ich lernen soll.«

Ihre Mutter hob die Augenbrauen und sah sie mit ernster Miene an. »Weißt du es jetzt?«

»Bien sûr, Lise schreibt alles in ihr Aufgabenheft.«

»Ja?«

»Heimische Waldpilze.«

»Also gut, wir haben noch eine halbe Stunde. Hol bitte dein Schulbuch. Ab sofort werde ich jeden Abend deine Hausaufgaben kontrollieren und dich abfragen.«

Sarah sah sie entsetzt an. »Aber Maman! Ich bin doch kein Kleinkind mehr. Nächstes Jahr komme ich ins Gymnasium.«

»Wenn du so weitermachst, bin ich mir da nicht so sicher. Denk nur an die letzte Matheprobe.«