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Nach einem Trauma entscheidet ein Mann, seine Sicht auf die Menschen zu erweitern. Er nimmt eine Abenteuerreise entlang eines Flusses auf sich, lässt sich führen und auf die Probe stellen.
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Episode 1
Episode 2
Episode 3
Episode 4
Episode 5
Episode 6
Episode 7
Episode 8
Episode 9
Episode 10
Episode 11
Episode 12
Episode 13
Episode 14
Episode 15
Episode 16
Für alle Suchenden
Die Wellen des Meeres schwappten Vitus unnachgiebig ins Gesicht. Im Rhythmus der Wellen konnte er entweder ein Stück des Himmels erkennen oder in das diffuse Licht unter den Wellen schauen. Das Wasser zog Schlieren über seinen Blick und in den Ohren dämpfte es die Geräusche seines Kampfes gegen die Elemente. Nur seine verzweifelten Atemzüge übertönten alles. Salzwasser hatte noch nie so salzig geschmeckt wie in diesem Moment.
Im Licht der aufgehenden Sonne begannen die Konturen des Horizonts und der Küstenlinie sichtbar zu werden. Immer wieder überrollte ihn eine Welle, sodass er für einen Moment vollständig untertauchte und sich der Blick in einer blaugrauen unscharfen Tiefe verlor. Er spürte eine Strömung auf seiner Haut, also schien er voranzukommen. Er beobachtete sich selbst, wie er mit automatischen Schwimmbewegungen das Wasser verdrängte und mit jedem Beinschlag eine kleine Bugwelle vor sich her schob. Wichtig war nur, dass er in Bewegung blieb. Er konnte sich vage erinnern, wo er an den Strand gegangen war und wusste, dass er die grobe Richtung zurück zum Strand einhielt, wenn die Sonne an seiner rechten Seite stand.
Vitus hatte keine wirkliche Vorstellung davon, wie er in diese Situation geraten war. Er konnte sich dunkel erinnern, wie er in der vergangenen Mondnacht mit seinem Boot ein Stück auf die offene See gerudert war, um mit sich, der Natur und dem Himmel allein zu sein. Vielleicht hatte er auch einfach das Weite gesucht. Irgendetwas schien ihn verführt zu haben, seiner Sehnsucht nach einer anderen Welt nachzugehen. Im Moment war jedenfalls der Wille zum Überleben stärker als alles andere. Das schmale Wolkenband kam ihm bekannt vor. Es stand oft in ähnlicher Weise am Himmel und zeigte ihm ebenfalls eine Richtung an. Auch wenn Arme und Beine schmerzten und lahm zu werden drohten, gab sein Stammhirn den Befehl durchzuhalten. Die Tiefe unter ihm schien keine Alternative zu sein. Keine Welt, der er sich kampflos überlassen wollte.
Während er glaubte, in einiger Entfernung das Ufer vor sich zu sehen, schob sich ein vages Bild in sein Gedächtnis. Er meinte, das näher kommende Geräusch eines schnellen Bootes zu hören, ohne eine Beleuchtung zu sehen. Er nahm in der Dunkelheit eine auf ihn zukommende Wand wahr und kurz darauf schien er durch die Luft zu fliegen. Die Einzelteile seines Bootes verteilten sich im Wasser um ihn herum, während er benommen versuchte, nicht in der Tiefe zu verschwinden. Die Wand verschwand mit einem leiser werdenden Motorgeräusch in der Dunkelheit. Er hoffte, sich an Trümmerteilen retten zu können, aber es war nichts mehr greifbar, was ihn halten oder tragen konnte.
Aus Ruhe und Träumerei war innerhalb einer Sekunde die Aussicht auf Untergang und ein anonymes Seegrab geworden. Vitus war geschwommen, ohne zu wissen wohin und mit welcher Energie. Im Moment schien die Kontur des Horizonts der ihm bekannten Landschaft ähnlich zu werden. Die Wellen glätteten sich in den Morgenstunden und das Bild der Küste wurde klarer. Der Körper funktionierte, ohne dass der Kopf noch an etwas anderes als an das Ziel denken konnte. Nach gefühlter Unendlichkeit fühlte er erleichtert den Sand des Strandes unter seinen Füßen. Erschöpft versuchte er zu stehen, die Beine waren verkrampft und obwohl er festen Boden spürte, konnten ihn die Wellen des Strandes noch als Spielball benutzen. Die vom Strand zurückfließenden Wellen schienen ihn mit ihrem Sog ins Meer zurückholen zu wollen. Der Blick über das Meer war trotzig und der Blick zur Sonne gab ihm Kraft, die letzten Meter zu bewältigen. Er setzte zunächst langsam einen Schritt vor den anderen und als das Wasser flacher wurde, wechselte er erschöpft auf Knie und Hände. Schließlich fiel er flach in den Sand, wo man ihn Stunden später entdeckte. Die Menschen hielten ihn zunächst für einen vom Vorabend übrig gebliebenen Säufer, der einfach seinen Heimweg nicht mehr gefunden hatte. Irgendjemand erkannte ihn und lieferte ihn bei Angela zu Hause ab.
Er schien einfach ein großes Abenteuer erlebt zu haben. Angela, mit der er zusammenlebte, war aufrichtig froh, ihn wieder bei sich zu haben, sie schaute ihn zunächst nach seiner Erzählung erschrocken und ungläubig an, dann umarmte sie ihn eng und und schmiegte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie schaute ihn an und griff mit beiden Händen zärtlich an seine Haare, die sie mit den Fingern wie mit einem Kamm in Form brachte.
„Ich habe schon Angst gehabt, dich nie wieder zu sehen. Bei dem, was dir passiert ist, hätte ich vermutlich nicht einmal erfahren, wo du wirklich geblieben bist.“
Er war dankbar für ihre Zuwendung und ihr Bekenntnis. Angela hätte ihm auch bittere Vorwürfe über seinen Leichtsinn machen können. Je nachdem, wie sie mit ihrer eigenen Angst umgegangen wäre. Immerhin lag schon seit längerer Zeit eine Art von Schweigen zwischen ihnen, das eine Störung der früheren vertrauten Nähe anzeigte. In diesem Moment der realen Gefahr schien die Nähe wiederbelebt zu sein. Angela verwandelte sich zurück in diesen Engel, den er schon immer hinter ihrem Namen gesehen hatte. Eine gestandene Frau, die über ihre reale Ausstrahlung hinaus sich genau in diesem Moment wie ein Engel bewegte und eine heilende Stimme hatte. Das Salz des Meeres klebte noch an seiner Haut. Angela schmeckte es bei ihren Berührungen. Sie roch für einen kurzen Moment ein wenig von der Nacht und den Stunden, die er um sein Leben gekämpft hatte. Für sie war es der Geruch eines erfolgreichen Abenteurers und eine Art Beweis, dass dieser Mann auch darum gekämpft hatte, wieder bei ihr sein zu können.
Vitus und Angela lebten in Ladrum. Eine Stadt, die an der Mündung des Flusses Leina liegt, der seit Jahrhunderten den Schiffen den Weg vom Meer ins Landesinnere ermöglicht und sich deshalb zu einer ansehnlichen Hafenstadt entwickelt hatte. Phönizier, Griechen und Römer hatten schon diesen Weg genommen und ihre Spuren hinterlassen. Die Bewohner sind deshalb sowohl weltoffen als auch auf dem Hintergrund ihrer Geschichte zu pragmatischen Individualisten und Händlern geworden.
Die Kollegen klopften ihm anerkennend auf die Schultern und sagten so etwas wie „sportlich, sportlich“ und „konntest du tatsächlich nicht erkennen, welcher Idiot da ohne Beleuchtung durch die Nacht gedonnert ist?“ Sie hatten natürlich eine Ahnung davon, was er geleistet hatte, aber unter Männern war es keine Frage, dass man in einer solchen Situation den Kopf oben behält und kein Gerede veranstaltet. Man ging schnell zum Alltag über, der darin bestand, für die Touristenbüros der Stadt schöne Prospekte zu entwerfen und mit den ortsansässigen Restaurants, Museen und Parkplatzbetreibern zu verhandeln. Vitus hatte nicht mit mehr Beteiligung und schon gar nicht mit Mitleid gerechnet.
Ab und zu schreckte er noch im Schlaf auf, wenn im Traum Wellen über seinem Kopf zusammenschlugen, er in die Tiefe versank, die Wellen von ihrer Unterseite sah und der Druck der Tiefe seinen Brustkorb in die Presse nahm. Noch mit den Armen und Beinen rudernd wachte er auf und versetzte damit auch Angela in Schrecken, die ihn beruhigen konnte, bis beide wieder einschliefen. Eigentlich war alles in Ordnung, was wollte er denn? Ringsherum wurde er gelegentlich noch darauf angesprochen, wie glücklich er sein müsse, so ein Ereignis überstanden zu haben. Das konnte er sich selbst sagen, und trotzdem schob sich langsam so etwas wie eine durchsichtige Wand zwischen ihn und die anderen. Die Sache mit dem Haken schien nicht selbstverständlich zu sein.
Angela versuchte mit ihm zu sprechen. Vitus hörte sie, aber konnte ihr nicht wirklich folgen. Es fühlte sich befremdlich an. Oft saß er lange auf einer Bank mit Blick auf das Meer, schaute hinaus auf das Wasser und hatte das Gefühl, ins Leere zu schauen. Gedanken huschten durch seinen Kopf, die er nicht festhalten und zu Ende denken konnte. Bis er aufstand und sich mutlos auf den Heimweg machte. Ähnlich erging es ihm, wenn er versuchte, die Zeitung oder ein Buch zu lesen, sodass Angela allmählich ihre Zuversicht verlor. Sie wurde zickig, wenn sie wieder einen Versuch gemacht hatte, ihn zum Lachen zu bewegen und er nur ein bemühtes Verziehen der Mundwinkel zustande brachte. Er bemerkte gleichzeitig eine merkwürdige körperliche Veränderung, die ganz im Gegensatz zu seiner sichtbaren Lethargie stand. Es war eine Art Überempfindlichkeit. Kaltes Wasser fühlte sich schneidend kalt an und Wärme brannte fast auf der Haut. Der Wind, der durch seine Bekleidung drang, hinterließ dort, wo er auftraf, für kurze Zeit eine Spur, als ob eine echte Berührung stattfinden würde, und ab und zu lief ein Kribbeln über den Körper, als ob eine Wolke Ameisen dort ihr Unwesen treiben würde.
Der Bewegungsdrang führte ihn eines Tages zu dem Kai am alten Hafen, wo Fischerboote und Motorjachten festgemacht hatten und die Besatzungen ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen. Das kam ihm hektisch und zugleich konzentriert, fast meditativ vor. Die Szenen berührten ihn und brachten ihn gleichzeitig zu innerer Ruhe, sodass er sich auf einen der alten Steine setzen konnte, in der Erwartung, irgendwie Teil dieses Trubels zu werden und sich selbst dabei vergessen zu können. In diesem Fall waren es die anderen, die beschäftigt waren, sodass Vitus zum Zuschauer werden konnte.
Er wusste um die Geschichte des alten Hafens, von welchem er ein Bild im Kopf hatte, wie man es von Zeichnungen und Gemälden der lokalen Künstler kannte. Er suchte mit den Augen und seiner Seele nach dieser Stimmung, in der Hoffnung, etwas Vertrautes zu finden. Aber an diesem Ort schaukelten nur die modernen Jachten und Ausflugsboote still und gelangweilt vor sich hin. Es war ein modernes Treiben. Ein Kommen und Gehen, Anlegen und Ablegen, bei dem die Dieselmotoren dicke Rauchwolken über das Wasser jagten und ihn zum Husten brachten. Ab und zu blieb jemand kurz in seiner Nähe stehen, wohl um zu sehen, ob mit ihm alles in Ordnung sei, und ging dann zögerlich, aber entschlossen weiter. Die Schiffsschrauben wühlten den Schlamm des Bodens an die Oberfläche und zeichneten Spuren von Luftblasen in das Wasser, die sich allmählich wieder in Nichts auflösten. Eigentlich nicht unbedingt wie erwartet, und doch wurde er von der Atmosphäre gefesselt. Sein Blick wanderte die Linie der Schiffe entlang und blieb überrascht an einer Szene unter dem Dach eines Pavillons hängen, der wohl als Sonnenschutz diente. Dort saß tatsächlich ein alter Fischer auf einem Hocker und schien ein Netz zu reparieren. Eigentlich ein anachronistischer Vorgang, wo man doch heutzutage defekte Netze einfach im Meer zurückließ und ein neues kaufte.
Mehr noch als der alte Mann zog ihn das Bild des locker zusammengelegten Netzes an. Und die Hände, die mit unendlicher Geduld einen Knoten nach dem anderen knüpften, um diesem Netz wieder eine Form und eine Funktion zu geben. Mit jeder Bewegung schien der Fischer die Größe seiner Maschen zu überprüfen und mit jedem Festziehen eines Knotens abzuschätzen, ob dieser dem Ansturm eines Fisches standhalten könnte, der seiner Gefangenschaft entkommen will.
Vitus stellte sich mit ein paar Schritten Abstand in die Nähe dieses Mannes, um den Prozess beobachten zu können. Obwohl er sich Mühe gab, wie ein Zerstreuung suchender Spaziergänger zu wirken, konnte er sehen, wie der Fischer fast unbemerkt auf ihn reagierte. Er verringerte die Geschwindigkeit seiner Arbeit. Er richtete sich auch etwas auf, sodass Vitus die Szene vorkam, als würde der Fischer für eine Kulturdokumentation posieren. Beide waren jetzt schweigend auf das Bild der Knoten fokussiert. Der Fischer knüpfte mit Betonung, als ob er die Worte einer Geschichte formulieren und in seine Aussage eine schauspielerische Dramatik legen wollte. Ab und zu wurde das Netz neu geordnet, nach Prüfung des Ergebnisses auf die Seite „erledigt“ geschoben und eine andere defekte Masche gesucht. Vitus wurde zum gebannten Zuschauer, welcher dieser Geschichte trotz ihrer unendlichen Wiederholungen mit Spannung folgte. Die Umgebung wurde zur Kulisse, ein Hintergrund ohne Bedeutung.
Das Spiel ging eine Weile so weiter, bis der Fischer sich etwas zur Seite drehte und Vitus direkt anschaute, den er bisher nur als diffusen Schatten wahrgenommen hatte. Seine Stimme unterbrach die beinahe andächtige Stimmung. Es klang tatsächlich wie nach Salz, rauem Wind und Gischt. „Sie denken bestimmt, ich bin der Letzte meiner Art", wobei er sich ein trotziges Lächeln abrang, bei dem sich im Moment eines Augenzwinkerns die gegerbte Haut um seine Augen zu lebendigen Krähenfüßen formte.
Vitus trat einen Schritt näher. Er war überrascht und konnte sich zunächst nur verlegen räuspern. Er kam sich wie ein Eindringling in ein fremdes Wohnzimmer vor, setzte sich dann aber wie selbstverständlich auf den harten Boden, als ob er eine Einladung erhalten hätte.
„Ich kenne so etwas tatsächlich nur aus Dokumentationen, aber jetzt bekomme ich Lust, selbst das Netz in den Händen zu spüren und zu verstehen, wie das gemacht wird. Wer kann das denn heute noch. Vielleicht die Hobbysegler. Früher musste doch alles irgendwie geknotet werden. Sonst hätte kein Schiff segeln können. Das ist bestimmt eine echte Kunst. Für jeden Zweck einen geeigneten Knoten, das ist interessant. Ein Beruf, der so praktisch ist und doch nicht mehr wirklich gebraucht wird.“
Der Fischer spürte das echte Interesse und es entstand eine freundschaftliche Atmosphäre.
„Ich gebe ihnen mal ein paar Schnüre und zeige Ihnen den Netzknoten. Vielleicht kann ich ja aus ihnen so eine Art Nachfolger machen.“
Vitus nahm den Scherz an und nach einigen ungeschickten Fehlversuchungen gelang es tatsächlich, so etwas wie stabile Maschen herzustellen. Eine Schlaufe mit einer Schnur, die von oben kam und eine Schlaufe im rechten Winkel dazu, die er durch die erste Schlaufe schlingen musste. Mehrere Schnüre, die er ineinander verschlingen konnte, ohne dass sich bei Belastung alles wieder auflöste. Am Ende ein anscheinend aus vielen Teilen bestehendes Gebilde, an welchem dennoch nur wenige Schnüre beteiligt waren. Nachdenklich betrachtete er sein Werk. Auch wenn er die Konstruktion eines Netzes interessant fand, konnte er sich mit der Vorstellung eines Lebens als Fischer nicht anfreunden. Der Fischer selbst war ihm jedoch in der kurzen Zeit sympathisch geworden. Jetzt schaute er seinen Lehrer direkt an, wobei in seinem Blick Dankbarkeit lag.
„Sie haben mir eine echte Freude bereitet. Mir war bisher nicht bewusst, wie viel Erfahrung und Tradition mit einem solchen Netz verbunden ist. Soweit ich weiß, konnten Archäologen nachweisen, dass die Menschen schon in der Steinzeit ihre Werkzeuge mit denselben Knoten hergestellt haben, wie man sie heute noch kennt. Also habe ich heute hautnah eine Verbindung zu unseren Urahnen bekommen.“
Als sich Vitus verabschiedete, schienen sowohl er als auch der Fischer irgendetwas gewonnen zu haben. Der Fischer war alt und und schien genauso froh zu sein wie Vitus. Immerhin hatte er das Gefühl, eine Art Erbe weitergegeben zu haben. Eine gute Erfahrung, in seiner alltäglichen Arbeit so etwas wie ein spiritueller Lehrer sein zu können.
Im Kopf von Vitus spannen die Gedanken neue Fäden, die über die Fischerei hinaus gingen. So ein Netz bedeutet für die gefangenen Fische das Ende ihres Lebens, wobei sie sicher keinen Trost darin finden können, etwas später als schön dekorierte Speise auf einem Teller zu landen und damit ein neues Leben im Stoffwechsel eines Menschen zu beginnen. Aber so ein Netz konnte doch viel mehr als Fische fangen und damit ein endgültiges Gefängnis sein. Es dient ja auch als Symbol für die vielfältigen Verflechtungen und Verbindungen der Menschen untereinander, als Netzwerk oder Verkehrsknoten. Und es gibt so etwas wie Netz und doppelten Boden. Dieser Gedanke gefiel ihm besonders. In der Verunsicherung nach seinem Überlebenskampf auf dem Meer spürte er die Sehnsucht, sich ohne Kampf in ein solches Netz der Sicherheit fallen lassen zu können. Sich fallen lassen, ohne darin gefangen zu sein.
Angela wollte ihm diese Sicherheit geben und konnte dies auch, aber es war nicht die Art von Grenzenlosigkeit und bedingungsloser Zuwendung, die er zu brauchen schien. Natürlich hatte auch sie ihre Grenzen und Bedürfnisse, aber diese genau so zu erfüllen, wie sie es sich vorstellte, war auch so etwas wie ein Gefängnis. Ein liebevolles Netz, aber doch aus Schlingen geknüpft. Er fand keine Lösung für die Frage, ob die Wand, die sich zwischen ihm und der Welt gebildet hatte, eine Wand aus sehr frühen Enttäuschungen war oder eine Mauer aus Angst, die ihn seit seinem Kampf mit dem Meer verfolgte. Wenn er versuchte, sich an seine Kindheit zurück zu erinnern, gab es dort schon immer eine Wunde, wie sie nach einem großen Verlust entstehen kann.
So in Gedanken versunken kam er mit mehr Fragen nach Hause, als er gegangen war. Das Netz ging ihm nicht aus dem Kopf. Das war wenigstens so etwas wie eine vage Antwort, aber noch keine Perspektive. Was würde er denn tun, wenn er sich real in so einem sicheren Netz wiederfinden könnte? Vermutlich würde er eine Zeit in den Himmel schauen, die Vögel oder die Zimmerdecke betrachten und dann eine tiefe Langweile spüren. Er wäre dann mit sich selbst allein. Würde diese Langweile dann bedeuten, dass er selbst der Grund für seinen Zustand ist? Was würde er denn überhaupt in seinem Inneren finden, das interessant sein könnte. Auch da war er sich unsicher. Bedeutete das, dass er als ganzer Mensch schon immer so etwas wie eine Leerstelle war? Müsste er also vor dieser Leere flüchten, wenn ihn irgendwann die Unruhe überfallen würde? Oder war da so viel Schwieriges in ihm, das er gar nicht sehen wollte.
Vielleicht könnte er in keinen Spiegel schauen, weil er sich vor seinem eigenen Spiegelbild fürchten würde? Bei dem Versuch sich dieses Spiegelbild vorzustellen, kamen ihm keine sympathischen Bilder. Er war niemand, der sich im Spiegel als Adonis betrachtet. Statt dessen schienen im Gedankennebel Monster vor seinen Augen zu tanzen, die er mit einer kleinen Daumenbewegung beiseite schob, wenn die Bilder deutlicher zu werden drohten. So wie er es auf dem Display seines Handys machte, wenn ihm die aktuelle Seite nicht gefiel.
Angela, die ihn liebevoll begrüßte und sich erkundigte, wo er überall gewesen ist, machte sich offensichtlich über ihn keine derartigen Fantasien. Sie nahm ihn in die Arme und schien sich weder vor ihm zu fürchten noch einen langweilenden Partner zu erwarten. Das blieb so, auch wenn man ganz alltäglich nur etwas zusammen trank und aß und schließlich in der Couch vor dem Fernsehapparat versackte. Die beiden saßen lange und kommentierten launig die Bilder, die der Bildschirm ihnen anbot. Vitus vergaß seine Grübeleien. Die Bilder vom Leben in einer Großstadt zogen an ihnen vorbei. Kultur und Kommunikation, Reichtum, Armut, Erotik und Einsamkeit nahmen ihren Raum ein und jagten die Zuschauer von einer Emotion in die andere. Ohne dabei wirkliche Geschichten zu erzählen. Ein atemloses Schauspiel, das die Fantasie binden konnte, letztlich aber nur emotionalen Schaum erzeugte.
Vitus öffnete irgendwann das Fenster, sog die kühle Luft der Nacht ein und schaute auf die leere Straße vor dem Haus. Es brannten ein paar Laternen und in der Nähe hörte er, wie aus einer anderen Wohnung dieselbe Stimme nach draußen drang, die auch aus dem eigenen Fernsehapparat kam. Einerseits hatte das etwas Verbindendes, denn da waren Menschen, die sich dieselben Sendungen anschauten, vielleicht sogar in ähnlicher Stimmung. Andererseits störte ihn die Vorstellung, anonymer Teilhaber einer Massenveranstaltung zu sein. Einer von mehreren Millionen, der unsichtbar in dieser Masse untergeht. Da war es wieder, das Meer, das Untergetauchte und das Namenlose. Wenigstens gehörte ihm in dieser Nacht die Wärme von Angela ganz allein.
In den kommenden Tagen zog ihn die Stadt immer stärker an. Ein Sog, dieser Stadt noch näher zu kommen. Auch den anonymen Menschen. Die unerwartete Begegnung mit dem Fischer hatte ihm Mut gegeben. Und das Knoten des Netzes hatte sein Interesse für die Kunst der Knotentechnik geweckt. Ja, es war wirklich eine Art Kunst, mit der sich Spezialisten beschäftigen. Auch wenn es eine ganz praktische Angelegenheit war. Was gab es denn in den archaischen Zeiten der Geschichte? Es gab Material, aus dem man Riemen oder Schnüre machen konnte, es gab Felle und vielleicht einfache Stoffe. Es gab Baumaterialien aus Holz, Stein und möglicherweise schon Lehm, mit dem einfache Wände gestaltet werden konnten. Aber alles, wofür man eine Verbindung brauchte, musste irgendwie geknotet werden. Auch die Werkzeuge mussten aus diesen Materialien hergestellt werden, vielleicht schon mit einer Art Klebstoff aus Harzen oder Teer.
Die Seefahrer waren in der Handhabung all ihrer Manöver und Beladungen fast bis in die Neuzeit auf die Knoten angewiesen. Es muss Knoten geben, mit denen man unterschiedliche Schnüre fest verbinden konnte, mit denen man Schlaufen binden konnte, die sich zuziehen ließen, oder solche, die so fest waren, dass sie sich weder öffnen noch schließen konnten. Es musste Knoten geben, mit denen man Schnüre an anderen Materialien befestigte oder solche, die das Durchschlüpfen eines Seils durch eine Öse verhinderten. Also für jeden Bedarf des Alltags eine eigene Technik, die wir heute im Grund nur noch als Seefahrerknoten kennen.
Auf seinen Wanderungen durch die Stadt hatte Vitus seither ein paar Schnüre in den Taschen. Anfangs musste er sich konzentrieren, um in dreidimensionalen Verschlingungen denken zu können. Die Schnur einmal vorne statt hinten vorbei zu führen brachte ihn so lange zum Scheitern, bis er den Fehler bemerkte. Es dauerte wohl Wochen und viele verzweifelte Flüche, bis sich eine Routine einstellte und er fast meditativ in eine Schnur einen Knoten nach dem anderen knüpfen konnte. Er musste am Ende nicht mehr bewusst entscheiden, welche Aufgabe und Funktion so ein Knoten erfüllen sollte. Das begann sein Unbewusstes vorzugeben. Wenn er sich schließlich blind an diesen Knoten entlang tastete, sagten diese ihm von sich aus ihre Struktur und ihren Namen, ob sie nun Palstek, Rollstek, Webeleinstek mit halbem Schlag, Staffordknoten oder Kreuzknoten hießen. Das Aneinanderreihen der Knoten wurde so zum meditativen Hintergrund seiner Gedankenwelt, während er vordergründig darauf konzentriert war, sich mit seinen Beobachtungen der Stadt zu beschäftigen.
Vitus hörte weniger, was die Leute sagten, sondern wie sie es sagten und welche Bedeutung sie ihren Gesten und Inszenierungen gaben. Alle Gespräche schienen im Grund zwei Botschaften gleichzeitig zu enthalten. Eine Aussage über den logischen Zusammenhang der verwendeten Worte und eine verborgene Mitteilung über die emotionale Absicht, die dahinter steht. Die wörtlichen Inhalte und das erkennbare emotionale Ziel stimmten oft nicht überein. Das geschäftige Treiben der Stadt wirkte dennoch lebendig, offen und vielfältig. Ein buntes Meer, das in Bewegung war und in das man regelrecht eintauchen konnte. Am lebendigsten war es auf dem Marktplatz. In Ladrum sah der Markt aus wie in jeder gewachsenen Stadt. Es wurde Ware begutachtet, kritisch abgeschätzt, wie anspruchsvoll der Verhandlungspartner sein könnte, es wurde verhandelt und eingepackt. Die Stände waren gut beschattet, etliche Reihen verschiedenster Pavillons, auf dem Boden einzelne Salatblätter. Menschen mit Körben und Plastiktaschen, die entweder ziellos über die freien Flächen schlenderten oder etwas Bestimmtes zu suchen schienen. Spaziergänger zogen von einem Stand zum nächsten, um Angebote zu vergleichen.
Er beobachtete eine ältere Frau, die ihn an eine Touristin erinnerte. Wie würde die sich auf diesem Markt zurechtfinden? Sie erschien interessiert, aber doch unschlüssig. Das fiel offensichtlich auch einem der Händler auf, der sie zunächst mit den Augen verfolgte, bis sie in die Nähe seines Stands kam. Er hatte verschiedene Obstsorten anzubieten, griff in eine seiner Kisten und streckte seine Hand ein wenig in ihre Richtung. Die Feige, die er in der Hand hielt, wanderte langsam nach vorne, zunächst wie zufällig, dann jedoch zusammen mit einem direkten Blick in ihre Augen, während er aufmunternd lächelte. Es war ein verführerisches Angebot. Die Feige hatte er sicher mit Bedacht ausgesucht und Vitus hatte sofort eine Parallele zur biblischen Szene im Paradies im Kopf. Die Frau war bereit, sich verführen zu lassen. Ihre Kleidung unterschied sich von der Mode, die man in Ladrum erwarten konnte. Einfach etwas eleganter. Ein Faltenrock mit dazu passenden sportlichen Schuhen, eine weite luftige Bluse mit einem Blumenmuster und einem Kopftuch. Der Händler war sich vermutlich unsicher, in welcher Sprache er sie ansprechen sollte, weshalb er zunächst stumm blieb und ihr nur mit einem Kopfnicken deutlich machte, dass sie zugreifen solle. Sie ließ sich etwas Zeit, kam jedoch näher und bedankte sich wortlos mit einem Lächeln. Während sie ihren Blick über die Auslage seines Stands lenkte, biss sie vorsichtig aber genüsslich in die Frucht.
Sie hatte das Angebot angenommen und stand nun abwartend vor ihrem Gastgeber. Für ein Gespräch fehlten ihr vermutlich die richtigen Worte, und einfach so weiterzugehen war wohl auch nicht in Ordnung. Der Händler konnte natürlich von jeder Sprache ein paar Worte und versuchte es auf französisch: „est ce bon?“
Sie verstand die Frage, nickte mit dem Kopf, antwortete aber auf spanisch: „Si Si, bueno“, und betrachtete weiter die ausgelegten Früchte. Sie streckte schließlich zwei Finger ihrer Hand nach oben, zeigte auf die Feigen und sagte: „dos“. Der Händler überlegte einen Moment, stellte eine große Tüte auf die Waage und füllte sie mit Feigen. So etwa zwei Kilo, während sie bestimmt nur zwei Feigen für unterwegs haben wollte. Die Frau beobachtete das Ergebnis und ärgerte sich vermutlich, nicht konkreter gewesen zu sein. Aber da war wohl im Moment der Verführung ein Funke übergesprungen, den sie nicht rückgängig machen konnte und wollte. Die Atmosphäre einer unverhofften, wenn auch fast unsichtbaren Romanze sollte erhalten bleiben. Der Händler hatte ihr schon einen kleinen Zettel mit einer Zahl hingehalten. Sie nahm die Tüte wie selbstverständlich entgegen, öffnete ihre Geldbörse und hielt dem Mann einen Schein entgegen, der sicher mehr Wert war als die notierte Summe. Sie verzichtete auf das Rückgeld und machte ein Zeichen für „ist schon in Ordnung“. Ihr war die Irritation über den Verlauf anzumerken, und das hohe Trinkgeld schien irgendwie zur Wahrung ihres Stolzes beizutragen. Sie konnte auf diese Weise eine Form der Rache nehmen, indem sie letztlich Überlegenheit zeigte und vielleicht sogar eine kleine Illusion für einen kurzen romantischen Moment aufrecht erhielt.
Vitus hatte der Szene gebannt zugeschaut. Für ihn lief dies alles wie in Zeitlupe ab, weil er mit allen Sinnen auf die Details konzentriert war. Der Ablauf passte zu etwas, das ihm vertraut vorkam, sodass es im Grund eher wie eine Erinnerung wirkte, auch wenn ihm nicht zugänglich war, an was ihn der Vorgang erinnerte. Er ging nachdenklich durch die Gassen der Altstadt und seine Schritte fanden selbstständig den Weg nach Hause. Angela spürte, dass er für eine Unterhaltung an diesem Abend nicht zugänglich wäre und beschränkte sich darauf, ihm stille Gesellschaft zu leisten. Vielleicht würde er am nächsten Tag reden.
Mitten in der Nacht wachte er mit einem seltsamen Gefühl auf. Es war der Ausklang eines Traumes, der ihn aufwühlte, obwohl kaum Handlung darin lag. Eine Situation, in der er vor einer Frau saß, die ein Kind auf ihrem Schoß und in ihren Armen hielt. Das Kind schmiegte sich voller Vertrauen an diese Frau, während er selbst und die Frau sich ohne Worte darüber einig waren, dass man das Kind in eine Folie einwickeln und damit ersticken würde. Das Irritierende dabei war die Gleichzeitigkeit dieser beiden Handlungen. Die Frau begann, eine Folie um das Kind zu wickeln, während dieses in seinem Vertrauen weiterhin ihre Nähe suchte. Die Liebe zu diesem Kind und der Schmerz über den eigenen Entschluss zerriss ihn innerlich. Wie kann man einen Menschen, der so vertrauensvoll Schutz sucht, gleichzeitig beseitigen wollen? Der Traum fand keine Lösung und hatte keine Fortsetzung. Eigentlich bestand er nur aus diesem Schmerz. Die innere Spannung machte den weiteren Schlaf unmöglich und ließ ihn aufwachen. Aber dieses Gefühl blieb erhalten. Auch nach dem Aufwachen rätselte er ohne Erkenntnis über die Botschaft aus der Tiefe seines Unbewussten.
In der Realität hatte er noch nie Ähnliches erlebt. Als er bei einem späteren Spaziergang am Ufer der Leina Angela von dem Traum berichtete, schaue diese ihn befremdet an. So als ob sie in seinem Gesicht lesen könnte, ob er noch normal sei. Wer könnte denn, wenn er normal ist, so etwas träumen? Vitus atmete einmal tief durch. Er konnte sich ihr gegenüber nicht wirklich erklären.
„Ich glaube gar nicht, dass dieses Bild etwas mit mir selbst zu tun hat. Vielleicht sagt es mir etwas im Zusammenhang mit meinen Beobachtungen in der Stadt.
Das Fischernetz und mein Erlebnis im Meer haben mir etwas über meine Sehnsucht nach Vertrauen und Aufgefangensein gesagt. Und gleichzeitig etwas über die Gefahr, die damit verbunden ist. Und diese Gefahr scheint nicht nur von der Natur auszugehen, sondern ist möglicherweise Teil des Schicksals, das uns auch in menschlichen Beziehungen treffen kann. Kann Fürsorge tödlich sein? Die Frage erinnert mich an zentrale Fragen der Religion. An die Gleichnisse, in denen Gott oder sein Sohn als Schäfer bezeichnet werden. Der Schäfer würde sich immer als der Hüter seiner Herde verstehen. Aber es gibt keinen Zweifel, dass er gleichzeitig bestimmt, welches Tier geopfert oder erlöst werden muss. Die Schafe sollen sich sicher fühlen und müssen gleichzeitig bereit sein, den Preis dafür mit ihrem Leben zu bezahlen. Die Tiefe eines religiösen Glaubens ist doch damit verbunden, auch im Tod einen Akt der Fürsorge eines Allmächtigen zu erkennen.“
Jetzt war es an Angela tief durchzuatmen.
„Ich glaube, dass dir dein Erlebnis im Meer einen Teil des Verstandes geraubt hat. Mach jetzt mal einen Punkt und komm zur Vernunft. Werde wieder so, wie du vorher warst. Ich will mit solchen Gedanken nicht leben. Ich will daran glauben, dass die Menschen, denen ich mich anvertraue, auch bis zum Letzten darum kämpfen, dass ich leben kann. Mir reicht es, wenn es möglicherweise einen Feind gibt, der mir das Leben nehmen will. Das will ich nicht von einem Menschen erwarten, der mir nahe steht. Und auch Gott ist dazu da, mich und alle anderen zu beschützen.“
Das klang so entschieden, dass Vitus es bedauerte, seine Gedanken mitgeteilt zu haben. Er hielt inne und schaute auf den Fluss, zuerst in Richtung Hafen, dann flussaufwärts.
„Weißt du, vielleicht hat mich das alles angeregt, mehr darüber zu wissen, was uns eigentlich als Menschen ausmacht. Dabei kann man schon mal ins Grübeln kommen und vielleicht auch an den Menschen verzweifeln. Aber einfach zu glauben, dass die Menschen so sind, wie sie uns das weis machen wollen, erscheint mir etwas naiv.“
Beide schwiegen eine Weile. Schließlich griff Vitus das Gespräch wieder auf.