Sterne haben Zeit - Robert Röhrig - E-Book

Sterne haben Zeit E-Book

Robert Röhrig

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Beschreibung

Ein Mensch entdeckt die Welt der Sterne und Planeten. Er möchte verstehen, was der Himmel schon unseren archaischen Vorfahren bedeutet hat, und wie sich die Sichtweise auf den Himmel im Lauf der Geschichte verändert hat. Er begegnet dabei dem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Esoterik, also der Kontroverse zwischen Astronomie und Astrologie.

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Seitenzahl: 240

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Dies ist kein astronomisches oder archäologisches Fachbuch, sondern eine Geschichte darüber, wie Sterne und Menschen über die Jahrtausende zusammen gelebt haben. Alles Fachliche wurde nach bestem Wissen und Gewissen ausführlich recherchiert. Da sich jedoch selbst die Fachleute mit Deutungen von Befunden schwer tun, bleibt vieles offen und ungesagt. Die Gedanken spielen zu lassen, ist dennoch gestattet, wenn man nicht vergisst, sich bei der Wissenschaft zu versichern. Tun Sie das bitte ebenfalls bei Bedarf. Wahrheit ist stets subjektiv und oft alternativ, so dass sich eigene Nachforschungen lohnen.

Inhalt

Aron

Mythos

Zeitreise

Menschheitsaufbruch

Aysun

Himmelskompass

Fundstücke

Ninive

Bär und Stier

Klima

Sternenzeit

Kreta

Horoskop

Anhang

Für Miriam und Olaf

Aron

Aron warf noch einen kurzen prüfenden Blick in das Innere seines Fahrzeugs. Es schien alles in Ordnung zu sein, sodass er die Tür mit einem nachdrücklichen Schwung in ihr Schloss fallen ließ. Die Betätigung des Funksignals erzeugte das vertraute Geräusch von Sicherheit, als sich die Verriegelung in ihre Position schob. Er ließ das Zuschlagen der Tür noch einen Moment in sich nachklingen, denn es klang, wie es klingen sollte. Der Klang der Karosserie bescheinige ihm, dass er das richtige Gefühl für den Schwung gefunden hatte, weder zu zaghaft noch zu aufdringlich, einfach satt und gekonnt.

Zufrieden schaute er sich auf dem nur spärlich besetzten Parkplatz vor seiner Laufstrecke um. Seine Kleidung war sportlich, auch wenn der Stil wie er selbst schon in die Jahre gekommen war. Er konnte sich sehen lassen. Seine Laufschuhe sahen so aus, als ob sie die vorgesehene Strecke von allein bewältigen könnten. Er bückte sich etwas, um im Rückspiegel die bereits leicht ergrauten Haare mit einem Griff in Form zu bringen, bevor er die Waldluft tief durch die Nase einatmete, um sich auf seinen Weg einzustimmen. Der Himmel zeigte sich bewölkt, aber das Licht würde ausreichen, um noch bei Helligkeit wieder zurück zu sein.

Die Strecke war ihm seit vielen Jahren vertraut. Manchmal begegnete er Rehen, die auf dem Weg standen und ihn zunächst misstrauisch beobachteten, dann aber blitzschnell zwischen den Bäumen verschwanden. Die Tiere, hatten ihn auf die Idee gebracht, sich gelegentlich sogar mit einem Klappmesser zu bewaffnen, weil er sich nicht sicher sein konnte, ob zwischenzeitlich auch Wölfe in der Gegend aufgetaucht waren. Das bedeutete ein kleines Abenteuer für die Phantasie, so lange die Bäume rechts und links an ihm vorbeizogen.

Der Gedanke an das vermutlich untaugliche Messer in der Tasche ließ ihn über seine eigene Naivität grinsen, wenn er sich ein Raubtier wie einen Wolf oder gar einen Bären vorstellte. Er hatte als Junge natürlich die Romane über einsame Fallensteller gelesen, die um ihr Überleben kämpfen mussten, und malte sich aus, wie es möglicherweise vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden allein im Wald gewesen sein muss. Dann horchte er in den Wald hinein, auf das Echo der Geräusche seines Laufschritts, das die Bäume ihm zurückschickten. Er wusste, dass ihm das Messer im Notfall nicht helfen würde, was gleichzeitig sein Tempo beschleunigte. So als ob er in einem solchen Fall eine Chance zu Flucht hätte. Trotzdem wollte er nicht auf dieses Spiel verzichten. Etwas Adrenalin musste sein. Mit anderen zusammen in einer Gruppe zu laufen wäre auch keine Lösung. Dann würde ihm genau diese Stimmung fehlen, und er wäre in den Konkurrenzkampf der Läufer untereinander verwickelt.

Heute jedenfalls war alles wie immer. Der Puls klopfte bis in die Schläfen und die Muskulatur meldete ihm ihre Leistungsgrenzen zurück, nicht schmerzhaft, aber spürbar. Die Atemluft erreichte die letzten Winkel der Lunge, und als er wieder am Parkplatz ankam, klebte das T-Shirt auf nasser Haut. Das war ein angenehmes und befriedigendes Gefühl, so als ob er das Ergebnis seiner Anstrengung unmittelbar spüren könnte, was sich lebendig anfühlte. Es fühlte sich so frei an, dass er unwillkürlich noch einmal den Blick zum Himmel erhob. Dort wo diese Freiheit zuhause war.

Der Himmel hatte sich bereits dunkelblau gefärbt und die untergehende Sonne tauchte den westlichen Horizont in eine orangefarbene strahlenförmige Halbkugel. Das Blau erinnerte ihn an die Farbe des Himmels im Süden, wenn vor dem Einbruch der Nacht die Kirchtürme der Städte wie Zeigefinger in die beginnende Nacht hinauf ragten und das Erscheinen der Sterne ankündigen. Die Sterne waren im Moment auf dem Parkplatz noch nicht sichtbar, und doch fiel ihm auf, dass der Sonne zwei helle Lichtpunkte zu folgen schienen, die ihm in seinem bisherigen Leben nicht bewusst geworden waren.

Er wusste nicht, warum ihn der Himmel bis jetzt noch nicht wirklich interessiert hatte, und er wusste auch nicht, was ihn gerade jetzt dazu gebracht hatte, nach oben zu schauen. Möglicherweise war es die Verbundenheit zur Natur, die er während seines Laufes wahrgenommen hatte. Die beiden Lichter standen bewegungslos am Himmel, schienen aber in einer Spur der Sonne zu folgen. Es waren auch keine Flugzeuge, die sich sicher fortbewegt hätten. Der Mond schien sich irgendwo versteckt zu haben. So stand Aron eine Weile, bis er die unvermeidliche Spannung der Nackenmuskulatur spürte und die Geduld verlor. Der Blick zum Himmel kann auch eine Strapaze für das Genick sein.

Im letzten Moment, es war noch etwas dunkler geworden, bemerkte er, wie zwischen den beiden hellen Punkten ein zusätzliches Licht sichtbar wurde. Jetzt sah es so aus, als ob eine Prozession am Himmel stattfinden würde, die Sonne voraus und drei Gläubige auf demselben Pfad hinterher. Auch wenn im Moment alles noch bewegungslos am Himmel stand.

Der Eindruck dieser Lichterkette folgte Aron in seinen Gedanken lange nach. Sofia, seine Frau, bemerkte während des Abendessens seine geistige Abwesenheit. Als gebürtige Italienerin reagierte sie natürlich darauf und versuchte, ihn in die Realität der Familie zurückzuholen, indem sie ihn mit den Problemen der beiden pubertierenden Töchtern konfrontierte.

Aron wurde wie meist seiner Vaterrolle gerecht und vergaß für diesen Moment seine Beobachtungen und Fragen. Es war gerade auch kein Raum dafür, die eigenen Gedanken zum Thema zu machen. Er behielt es für sich, konnte sich aber nicht endgültig befreien. Er begab sich wenig später an das Dachfenster des Reihenhauses, um wieder zum Himmel zu schauen. Von der Sonne war wirklich nur noch ein schwacher Schein zu sehen, aber die drei folgenden Lichter waren heller geworden. Sie folgten der Sonne immer noch und bewegten sich dabei auf den dunkler werdenden Feuerball der Sonne zu. Er glaubte, sich an alte Mythen von einem Drachen zu erinnern, welcher die Gestirne und den Mond in seinem Feuer speienden Rachen verschlingen kann. Aber was sollte die heutige Wissenschaft mit solchen Geschichten zu tun haben?

Selbstverständlich gab es diesen Drachen nicht. Es waren natürliche optische Erscheinungen aus dem fernen Weltall und in der Atmosphäre, die eine vernünftige Erklärung haben. Erklärungen, welche den Generationen des Altertums nicht zur Verfügung standen. Vielleicht bestand die Prozession auch nur aus zufällig vorbeiziehenden großen Satelliten. Er spürte zu diesem Zeitpunkt noch kein Bedürfnis, diesen Fragen nachzugehen.

Die Erinnerung daran verblasste, so wie mit dem neuen Tag auch die Sterne vom Himmel zu verschwinden scheinen. Die Prozession verschwand in der Ablage seiner grauen Zellen und musste dort auf weitere Bearbeitung warten. Er wusste aus der Schule und aus einigen Dokumentationen im Fernsehprogramm, dass die Erde als unbedeutendes Teil des ziemlich leeren Weltraums zusammen mit dem Mond um die Sonne kreist und dass wir Teil eines Planetensystems im Universum sind. Und er wusste zumindest mit dem Verstand, wie weit die Erde und die anderen Planeten in diesem Raum verloren sind. Das Bild der Erde als isoliertes Raumschiff hatte ihn schon immer beschäftigt.

Die Astronomen konnten sicher eine wissenschaftliche Erklärung für seine Beobachtung anbieten, aber für ihn als unbedarften Betrachter des Himmels bei Nacht sahen die Sterne unsortiert aus. Zunächst wirkt der Himmel wahrscheinlich auf jeden von uns wie das unaufgeräumte Schlafzimmer eines Chaoten. So groß das Bedürfnis auch sein mag, am Himmel zu erkennen, was andere möglicherweise schon erkannt haben, so sehr wehren wir uns auch gegen diese gedankliche Zumutung und Anstrengung, jedenfalls so lange es Wichtigeres zu tun gibt.

Die Sterne fordern ja nichts von uns, aber die Familie, der Job und die verschiedenen Hobbies, die wir uns ausgesucht haben. Arons Frau Sofia war ein Mensch, der von Natur aus Zentrum einer Familie ist, und sie sorgte dafür, dass alles am Laufen blieb. Die Töchter Thea und Lucy lernten gut von ihr, und hatten ziemlich genaue Vorstellungen davon, was ein Vater tun sollte, um seiner Rolle gerecht zu werden. Als kleinere Kinder waren sie dabei noch sehr charmant. Sie konnten Aron geschickt um den Finger wickeln, der ein stolzer oder gar der beste Vater aller Zeiten sein wollte. Das hatte sich jedoch mit der Pubertät verloren. Jetzt konnten sie eher zickig werden, wenn er nicht ausreichend zu ihrer Verfügung stand.

An diesem Abend nach seinem Waldlauf poppte noch während des Essens die Frage hoch, warum Lucy, die Jüngere, nicht auch wie ihre Schwester bis spät abends bei einer Party bleiben durfte. Der Vater würde Thea doch auch zu jeder Zeit mit dem Auto abholen, damit sie sicher nachhause kommt. Lucy konnte sehr unangenehm werden, wenn es um Fragen der Gerechtigkeit ging, und sie hatte kein Erbarmen, wenn Aron versuchte, ihr klar zu machen, dass ein Altersunterschied von zwei oder drei Jahren vielleicht auch unterschiedliche soziale Freiräume bedeuten könnte.

„Ja aber.....“ „Was ja aber?....“

„Thea darf bei ihren Freunden sein, und auch die Mädchen aus meiner Klasse dürfen alle abends schon so lange fortgehen.“

Aron runzelte die Stirn und schaute Lucy etwas mitleidig an. Der Blick zu seiner Frau half nicht wirklich weiter. Diese wollte es sich vermutlich mit ihren beiden Töchtern nicht verscherzen und machte durch ein Achselzucken und einen gespielt ratlosen Gesichtsausdruck deutlich, dass Aron allein die Rolle des Spielverderbers übernehmen sollte. Ihre Bemerkung: „Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich in deinem Alter auch um diese Freiheit kämpfen wollte“, war ziemlich neutral und ließ alle Interpretationen offen. Hatte sie nun gedurft oder nicht? Wollte sie zum Ausdruck bringen, dass sie Lucy Recht geben will, oder wollte sie damit sagen, dass sie damals mit diesem Wunsch leider ebenfalls gescheitert war? Schließlich hatte sie mütterliche Sorge um ihre Töchter, wollte aber auch nicht deren Autonomieentwicklung im Weg stehen. Für ein 13-jähriges Mädchen erscheint die Frage, ob sie dabei sein darf, eine existenzielle Bedeutung für das ganze Leben zu haben. Aron dagegen, der seine Töchter mehr liebte, als er zugegeben hätte, war in seinem Inneren nahezu verletzt über deren Drang, das Elternhaus hinter sich zu lassen und ihn nur noch als Chauffeur anzuerkennen. Jedenfalls kam es ihm so vor.

Sofia schien ihm mit einer kleinen aufmunternden Geste zu signalisieren, dass sie ihm dankbar wäre, wenn er von sich aus einen Weg finden könnte, das Dilemma zu entschärfen. Das fühlte sich so an, als ob sie ihm einen Ausgleich versprechen würde, wenn er zur Großzügigkeit in der Lage wäre. Er wusste ja auch, zumindest theoretisch, dass in nicht allzu ferner Zeit die Freunde der Töchter sonntags mit am Frühstückstisch sitzen würden. Er warf Sofia ebenfalls einen Blick zu, der eine kleine Verschwörung besiegeln sollte.

„OK, ich bringe euch beide zu euren Veranstaltungen. Thea darf bis zehn Uhr bleiben, dann hole ich sie ab. Vorher hole ich dich um halb neun ab, einfach weil du noch etwas jünger bist. Ich warte unten im Auto ein paar Minuten. Wenn du dann nicht kommst, gehe ich in zu deiner Gruppe und hole dich dort persönlich ab. Wenn du das verhindern willst, musst du da sein.“

Lucy machte dicke Backen und ließ demonstrativ die Luft zwischen den Lippen entweichen.

„Was bist du denn für ein Diktator geworden? Keine Ahnung vom Leben heutzutage.“

Sie stand auf, ließ ihren Stuhl stehen, wie er stand und ging mit widerständigen Schritten in ihr Zimmer. Bevor die Tür ziemlich energisch von ihr geschlossen wurde, konnte Aron ihr noch nachrufen:

„Das war mein letztes Wort.“ Sofia zwinkerte ihm zu und schob leise hinterher: „Na also.“

Aron war an dem Tag der Partys als Chauffeur ziemlich beschäftigt. Als er später etwas zur Ruhe kam und sich in sein Bett verkriechen wollte, war Sofie schon eingeschlafen. Er suchte noch ein wenig ihre Nähe, konnte selbst aber nicht einschlafen. Er drehte sich zur anderen Seite, was auch nicht besser war. Schließlich lag er auf dem Rücken, starrte zur Decke und wurde immer wacher. Wenn er die Augen schloss, konnte er nicht verhindern, dass ab und zu das Bild des Abendhimmels nach seinem Waldlauf auftauchte. Im Grund hatte er doch genau jetzt die Zeit, der Sache nachzugehen. Irgendwann wurde der Gedanke so dominant, dass er die Decke zurückwarf und sich vor seinen Computer mit dem Internetanschluss setzte. Im Netz würde er bestimmt etwas finden.

Er gab einfach mal „Sternenhimmel“ ein und landete schließlich auf einer Seite, wo man sich Anrechte auf einen der Millionen oder Milliarden Sterne kaufen kann und dann diesem Stern seinen Namen gibt, oder jemand damit beschenken kann: „Jetzt ist ein Stern nach dir benannt.“

Dafür gibt es sogar eine Urkunde und soweit er sich erinnerte gab es einen Schlager, den man als Musikuntermalung einspielen könnte. Anscheinend sind wir schon so weit, dass nicht mehr nur die Götter und Helden im Himmel verewigt werden, sondern alle dort einen Platz bekommen sollen.

Auch wenn er etwas über diese Möglichkeit grinsen musste, zeigte ihm diese Entdeckung, dass die Sterne auch heutzutage noch eine hohe Attraktivität besitzen, allerdings dem modernen Konsum angepasst. Eigentlich eine pfiffige Idee, etwas zu verkaufen, das niemand verbrauchen kann, also ohne einen Schaden zu hinterlassen. Ein Gewinn für alle Beteiligten ohne Herstellungs- und Transportkosten. Vielleicht würde er irgendwann einen Stern Sofia taufen lassen. Das war aber nicht, was er eigentlich gesucht hatte.

Er gab „Sternbilder“ ein und folgte einigen Seiten, die entweder astrologische Inhalte vermittelten, also die Tierkreiszeichen beschrieben, oder sich mit einzelnen Sterngruppierungen beschäftigten, die den Astronomen als Orientierungshilfen dienen, um einzelne Sterne schnell zu finden. Die Astronomen sprachen oft schon gar nicht mehr von Sternbildern, sondern von Asterismen. Er fand private Homepages mit Geschichten über die griechische Mythologie, Seiten von Sternwarten, die beschrieben, was in diesem Monat so alles am Himmel passieren würde, oder er entdeckte Berichte über das Mittelalter, die Weltbilder der Kulturen mit mythischen Geschichten um Mond und Sonne.

Er wurde herumgeleitet in der Geschichte der Menschheit und den Taten von Göttern, die irgendwann einmal den Himmel bewohnt hatten. Ziemlich fesselnd, sodass er gar nicht aufhören konnte und sich in dem Urwald der Informationen verlor. Es wurde fast schon hell, als er beschloss, dass es vorläufig genug sei und er endlich schlafen sollte. Über seine Prozession der Lichtpunkte im Gefolge der Sonne hatte er eigentlich nichts erfahren. Das Internet erscheint wie eine unendlich weite Welt, aber gleichzeitig in der Tiefe begrenzt. Wahrscheinlich hatte er sich einfach verlaufen. Entscheidende Informationen hörten oft an der Stelle auf, wo man am Ende ein Buch kaufen sollte, um mehr zu erfahren.

Der folgende Tag war ein Sonntag, jeder frühstückte für sich allein und lungerte etwas gelangweilt und erholungsbedürftig auf der Couch oder in Sesseln herum. Aron erzählte von seiner langen Nacht, seiner erfolglosen Suche und seiner Beobachtung am Abendhimmel nach dem Waldlauf. Thea und Lucy waren sich schnell einig, dass sie schon in der Schule mit diesem Thema zu tun hatten. Es sei ziemlich kompliziert gewesen, aber der Lehrer hatte gesagt, dass jeder, der sich damit beschäftigen möchte, sich auch ins Internet auf die Homepages von Planetarien oder Vereinen begeben könnte. Es gäbe sogar für den Computer Programme, mit denen man zu Hause ein Planetarium simulieren und alle Sternbilder abrufen kann. Er solle doch einfach mal in eine Suchmaschine „Sternenhimmel heute“ eingeben. Da würde er die aktuelle Situation am Himmel anschauen können.

Sollte es sein, dass seine kleinen Mädchen plötzlich mehr wussten als er? Bisher war er ihnen immer um einiges voraus, vor allem bei technischen Belangen. Aber auf einer solchen Seite war er in der Nacht tatsächlich nicht gelandet. Er hatte einen gewissen Stolz, sich aus der sozialen Schicht seiner Ursprungsfamilie in seine jetzige Position als leitender Techniker eines Kommunikationsunternehmens hochgearbeitet zu haben. Eigentlich ließ er sich ziemlich ungern belehren. Aber nach einiger Zeit zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück. Die Neugier war größer als der persönliche Stolz, es war sogar Bewunderung für die Töchter dabei, die offensichtlich nicht nur Partys im Kopf hatten.

Nach der Eingabe „Sternenhimmel heute“ öffnete sich tatsächlich eine Liste mit Suchergebnissen. Er öffnete zuerst eine Seite, die den Himmel über Stuttgart versprach, einfach weil das relativ nahe war, und er sich nicht sicher sein konnte, wie unterschiedlich der Nachthimmel aus verschiedenen Standpunkten aussehen würde. Es erschien tatsächlich ein Bild des aktuellen Himmels. Ziemlich hell und ohne Sterne, weil es noch Tag war, aber er konnte die Uhrzeit verändern, und es wurde plötzlich frühe Nacht auf dem Bildschirm. Mit einem Blick erkannte er die Prozession wieder, die der Sonne nachzufolgen schien, welche am rechten Bildrand noch ihr letztes Licht verstrahlte, wie ein Leuchtfeuer, das den Weg hinter den Horizont weist.

Der hellste Punkt auf dem Prozessionsweg hinter der Sonne war der Planet Venus. Der zweite, relativ schwach leuchtende, sollte Saturn sein, und der letzte in der Reihe war der Planet Jupiter. Alle sortierten sich auf einer bogenförmigen Autobahn, die als Ekliptik bezeichnet war. Bei genauem Hinsehen war dicht über dem Horizont, etwas unterhalb der Ekliptiklinie noch ein dunkler Fleck zu erkennen, welcher der Mond sein sollte. Den hatte er auf dem Parkplatz gar nicht wahrgenommen, aber jetzt schien er sich als dunkler Neumond sogar zuerst in das Feuer der untergehenden Sonne zu stürzen.

Mit fortschreitender Zeit war tatsächlich zu beobachten, wie sich der gesamte Sternenhimmel in Richtung Westen bewegte. Es war ein Erlebnis, die Geschwindigkeit der Bewegungen so regulieren zu können, dass man nicht ewig warten musste, obwohl das sicher den natürlichen Bedingungen entsprochen hätte. Ein Planet nach dem anderen folgte auf seiner Bahn dem Weg der Sonne, und da er noch das Bild vom Parkplatz im Kopf hatte, kam er sich fast wie ein Steinzeitmensch vor, der zum ersten Mal zu verstehen versuchte, was sich da am Himmel über ihm abspielte. Er spürte, wie ihn diese Szenerie am Himmel mitzureißen begann und sein Forscherdrang erwachte. Der Kosmos schien großartig genug, sich darauf einzulassen. Gleichzeitig aber auch endlos, sodass ein gehöriger Respekt vor dieser Aufgabe die Neugier bremste.

Der Himmel voller Sterne war für ihn bisher ein Chaos von Lichtpunkten, in welchem er nur mit großer Mühe nachvollziehen konnte, wie andere Menschen dort Bilder erkennen konnten. Und wenn es ihm gelungen war, eins der bekannten Bilder nachzuvollziehen, falls es ihm erklärt wurde, dann fand er es jedenfalls bisher garantiert nicht wieder.

Unser Himmel über Deutschland ist wirklich nicht der geeignete Ort für solche Beobachtungen. Die Sonne geht zwar unter, aber die Lichter der Städte machen den Nachthimmel so hell, dass viele dieser Sterne unsichtbar werden. Auch wegen der sich selten ganz öffnenden Wolkendecke waren die nächtlichen Ausflüge ins Freie vor allem von Frust begleitet. Allein schon die Planeten von Sternen zu unterscheiden war für ihn ein Buch mit sieben Siegeln, weil die Planeten offensichtlich, obwohl sie dauernd in Bewegung sind, beim Blick nach oben genauso unbeweglich aussehen wie der ganze Sternenhimmel. Also hatte er sich bisher davon abgewendet, und wieder mit anderen, vielleicht wichtigeren Dingen beschäftigt. Dass man Planeten von Sternen unterscheiden kann, auch wenn man die Bewegung der Planeten nicht erkennt, war eine Information, die ihn weiter brachte, so wie ein kleiner Erfolg jeden Schüler antreibt. Sterne flimmern wegen der großen Entfernung und Ablenkungen des Lichts auf dem langen Weg. Planeten leuchten eher gleichmäßig.

Bei dem Versuch, sich die Grundlagen vorzustellen, machte ihm ein eigentlich einfacher Sachverhalt ziemlich Probleme. Er war es gewohnt, den Aufgang und Untergang von Sonne und Mond auf den Horizont zu beziehen. So hatte er sich das bei Sternen auch vorgestellt. Das war auch ein Teil der Wahrheit, aber mit einer verwirrenden Alternative. Wenn morgens die Sonne aufging und es hell wurde, dann verschwanden natürlich die Nachtsterne vom Himmel, und das sollte er ebenfalls als Untergang verbuchen. Die Sterne stiegen natürlich unsichtbar zusammen mit der Sonne über den Himmel, aber der Aufgang der Sonne war gleichzeitig ihr Untergang. Die Sterne gingen also unter, wenn die Sonne morgens über dem Horizont aufging. Wenn ein Stern, der tagsüber unsichtbar am Himmel stand, am Abend mit dem Sonnenuntergang sichtbar wurde, dann war das sein Aufgang, obwohl der Untergang am Horizont möglicherweise schnell folgen würde. Das sollte nicht der einzige Umstand bleiben, der ihm das Gefühl gab, bei der Beschäftigung mit den Sternen Knoten in die Gehirnwindungen zu bekommen.

Er stolperte unvermittelt auch über den Sachverhalt, dass die Sonne, wie jeder weiß, einmal im Jahr durch alle Sternbilder läuft. Wenn man aber nur einmal im Jahr, zum Beispiel jeweils am Tag des Frühlings auf Sonne und Sternbilder schaut, dann braucht die Sonne ungefähr 2000 Jahre, um einmal durch ein einzelnes Sternbild zu wandern. Wir leben jetzt im Sternbild Fische, das etwa seit unserer Zeitrechnung andauert, und werden irgendwann in die Zeit des Wassermanns wechseln. Die Erdachse bewegt sich in einer Kreiselbewegung, sodass der Umlauf der Sonne durch alle Sternbilder, wenn man immer zum Frühlingspunkt schaut, ungefähr 26.000 Jahre dauert. Bei dieser Dimension musste Aron schlucken. Die Astronomen führten dies mit kühler Berechnung auf die sogenannte Präzession zurück. Für Aron war es wie der erste Schritt in eine Vorstellung über Unendlichkeit.

Jetzt kam er sich jedoch vor wie ein Hund, der eine Spur gefunden hat, welcher er wie magisch folgen muss. Es schien eine alte Spur zu sein, die mit einer möglichen tiefen Erinnerung an das Leben der Steinzeitvölker, Babylonier und Griechen verbunden war, die nachts vermutlich in den Himmel schauten wie wir heutzutage in den Fernsehapparat. Auch mit lauter Fragen, die schwer zu beantworten waren. Es wäre doch faszinierend zu verstehen, welche Antworten man zum Beispiel schon in der Steinzeit gefunden hatte. Mindestens so spannend, wie eine vergrabene Kultstätte auszugraben und das Geschmeide eines alten Fürsten in die Hände zu bekommen. Archäologie und Archäoastronomie schienen Geschwister zu sein.

Aber es braucht einen Anfang des Fadens oder der Spur, um den Jagdtrieb weiter anzustacheln. Aron begann zu verstehen, dass der Moment auf dem Parkplatz ein solcher Anfang war. Er fand auch ein Werkzeug, das ihm weiter half. Die von den Töchtern erwähnte Software, mit der er aus seinem Computer ein kleines Planetarium machen konnte. Das hatte den Vorteil, den die Moderne mit sich bringt, nämlich unbehindert von Witterungsbedingungen und ohne Zeitverlust, alle Vorgänge am Himmel zu verfolgen. Oft rannte er dann noch in der Nacht nach draußen, um zu überprüfen, ob der Himmel dasselbe zeigte wie der Computer, aber er tat es, und mit der Zeit konnte Aron sich so in diese künstlich erzeugten Bilder vertiefen, als ob er eine Nacht auf einer realen Sternwarte verbracht hätte.

Im Moment war er aber noch bei seiner Prozession und dem Sturz in den Rachen des Drachens unter dem Horizont. Oft sah die untergehende Sonne tatsächlich so aus. Er konnte nachvollziehen, dass in unserem Planetensystem alle Planeten und der Mond sich annähernd auf eine Ebene um die Sonne drehten, und zwar alle auf einem schmalen Weg am Himmel, genau dort, wo die Hilfslinie der Ekliptik eingeblendet wurde. Nur der Mond sollte mal nach oben und mal nach unten etwas weiter vom Weg abkommen. Wenn man also an den Himmel schaute, sah man am Tag die Sonne auf dieser Bahn, und bei Nacht liefen auf demselben Weg die Planeten und der Mond. Das hatten die Menschen schon seit Jahrtausenden beobachtet, aber daraus natürlich andere Schlüsse als heute gezogen. Die konnten früher nicht nachprüfen, ob unter dem Horizont wirklich ein Drache sitzt oder nicht. Aber sie fanden wohl einen Weg, sich zu erklären, warum Sonne und Mond am nächsten Tag trotzdem auf der anderen Seite wieder aufgehen konnten.

Aron ging an diese Frage mit der Neugier der Vorfahren, aber mit dem Werkzeug der Gegenwart. Er blendete an seinem Bildschirm den Tag aus und konnte den Horizont so verändern, dass er hinter und unter die Horizontlinie schauen konnte.

Es war faszinierend zu sehen, dass der Sternenhimmel am Tag sich im Grund nicht von dem Himmel in der Nacht unterscheidet, wenn man das Licht der Sonne ausschalten kann. Er sah jetzt ganz deutlich die Sonne, den Mond, Venus, Saturn und Jupiter in Reih und Glied vor sich. Als er dann auf derselben „Autobahn“ weiter noch vorne blickte, bemerkte er in ziemlicher Nähe noch einen kleineren Planeten, das war der Merkur, und angeführt wurde die ganze Prozession von Mars. Aron wusste zwar, dass es noch mehr Planeten gab, aber er realisierte das kleine Wunder, zufällig alle Planeten des Altertums in einer Gruppe angetroffen zu haben. Das war nicht selbstverständlich, weil diese sich im Grund unabhängig voneinander vorwärts bewegten, aber auch manchmal scheinbar rückwärts zogen. Da die übrigen Sterne wie festgenagelt am Himmel standen, und dort auch wiedererkennbare Muster bilden, hatten die Planeten schon immer eine Sonderstellung am Himmel. Ihre Macht, sich von der Stelle zu bewegen, gab ihnen individuellen göttlichen Status, und da sie sich alle mit unterschiedlicher Charakteristik auf dieser Autobahn aufhielten, konnte man ihnen auch unterschiedliche Charaktere zuweisen.

Die sieben Planeten, die Aron jetzt wahrgenommen hatte, waren auch die sieben, die man schon immer mit bloßem Auge sehen konnte. Mond und Sonne als die größten, auffälligsten, schnellsten und unterschiedlichsten waren vermutlich gleichzeitig die frühesten Götter aller Kulturen. Je nach Kultur einmal männlich und das andere Mal weiblich. Soweit Aron das mit langen Recherchen nachvollziehen konnte, bewegte sich Venus immer in Nähe der Sonne, welche sie auf einer inneren Umlaufbahn umkreiste. Wie eine Geliebte, die ihrem obersten Gott treu ergeben bleibt. Merkur, der vielleicht deshalb Götterbote genannt wurde, weil er sich zwischen Sonne und Venus hin und her bewegt, und dort vielleicht für die Kommunikation der beiden zu sorgen schien.

Dann war da noch Saturn, der eher gemächlich wie ein Staatsoberhaupt in seinem Prunkwagen in 29 Jahren einmal über den Himmel zog, und Jupiter und Mars, die wie Kampfhähne auf dieser Bahn des Himmels etwas schneller im Kreis herumfahren, auch wenn Jupiter für eine Runde ungefähr 12 Jahre brauchte. Mars, wie für einen Kriegsgott würdig, in seiner auffällig roten Farbe. Er brauchte als dynamischer Gott nur knappe zwei Jahre für seine Runde um die Sonne. Mythologisch gesehen war er deshalb als Liebhaber der Venus gut aufgestellt.

Auf jeden Fall war in früheren Zeiten das Spiel der Götter am Himmel so beeindruckend, dass wir zum einen unsere heilige Zahl sieben daraus ableiten können, was zu sieben Wochentagen geführt hat und dazu, dass in unseren Wochentagen alle Namen dieser Planetengötter in den Namen unserer Wochentage erhalten geblieben sind. Eine Ausnahme machte wohl nur Freya (vielleicht auch Frija), die nordische Göttin der Liebe, die dem Freitag seinen Namen gab, während die romanischen Länder bei Vendredi blieben, der sich von der Venus ableitet.

Vermutlich hatte die Zahl sieben und die Woche sogar viel früher eine Bedeutung, nämlich im Zusammenhang mit den Mondphasen, die ja eine der auffälligsten Erscheinungen am Himmel sind. Der Mond durchläuft in etwa 28 Tagen alle seine Phasen, die in vier Hauptphasen eingeteilt werden können. Neumond, zunehmender Viertelmond, Vollmond, abnehmender Viertelmond. Zusammen ein Monat, aber jedes Viertel eine Woche von sieben Tagen. Ein Kalender, der es schon in der Steinzeit ermöglichte, sich über große Entfernungen tagesgenau zu verabreden. Das berühmte Buch mit den sieben Siegeln hat hier vermutlich auch seinen Ursprung.

Der Mond als solcher lässt sich relativ gut beobachten, aber die Sonne und die Sterne mit dem Mond zu einem einheitlichen Kalender zu verbinden hatte Jahrtausende gebraucht. Was da alles versucht wurde, das war im Moment für Aron nicht zu begreifen. Damit Mond und Sonne in ihrem Rhythmus einmal übereinstimmen, muss man über 18 Jahre warten. Und dann kommt noch die Erdrotation dazu, welche die Tageslänge bestimmt, und die sich gleichzeitig über die Jahrtausende allmählich zu verlangsamen scheint. Nichts scheint wirklich zusammen zu passen. Das ist heute noch ein Hin- und Hergeschiebe von Tagen, Wochen und Monaten, um auf unseren selbstverständlich hingenommenen Kalender zu kommen. Da müssen Zeiten eingeschoben oder weggelassen werden, damit die Illusion einer Harmonie entsteht.

Das, was Aron jetzt über seine Prozession der Planeten wusste, war vermutlich nur so etwas wie der Werbeprospekt für eine unbekannte verborgene Bibliothek. Auf jeden Fall reichte es, um ihn gefangen zu nehmen. Wie konnte die kalte und von der Welt abgekoppelte Himmelsmechanik über Jahrtausende so tiefe emotionale Geschichten und religiöse Gewissheiten in uns erzeugen?

Der Himmel war ihm näher gerückt, als er jemals erwartet hatte.

Mythos

N