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Andreas Franz

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Beschreibung

Der 20. Fall für Frankfurts Kult-Kommissarin Julia Durant von den Bestseller-Autoren Andreas Franz und Daniel Holbe - und ihr persönlichster. Die Frankfurter Kommissarin Julia Durant wird nach München gerufen. Der Grund: Ihr Exmann wurde ermordet. Sein letzter Wunsch: Julia soll zu seiner Beerdigung erscheinen. Nur widerwillig bricht sie auf. Denn ihr Ex hat sie seinerzeit durch endlose Affären in die Scheidung und in eine neue Stadt, ein neues Leben getrieben. Und ausgerechnet ihr Lebensgefährte Claus Hochgräbe möchte sie begleiten. Er möchte die Stadt wiedersehen, ein paar Freunde besuchen. Nur widerwillig lässt Julia ihr Team allein, das sich gerade mit dem Mord an einer Frau herumschlägt. Noch bevor die Kommissarin zurückkehrt, geschieht ein weiteres Verbrechen, und das ausgerechnet in Julias Bekanntenkreis. Als kurze Zeit darauf eine frühere Kollegin ermordet wird, wird Julia stutzig. Treibt ein Serienmörder sein Unwesen? Und geht es bei all diesen Verbrechen in Wahrheit um sie selbst? Noch nie war Julia Durant emotional so an der Aufklärung eines Falles beteiligt – atemberaubend spannend bis zum Ende!

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AndreasFranz / DanielHolbe

Der Flüsterer

Julia Durants neuer Fall

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Der 20. Fall für Frankfurts Kult-Kommissarin Julia Durant von den Bestseller-Autoren Andreas Franz und Daniel Holbe - und ihr persönlichster.

Die Frankfurter Kommissarin Julia Durant wird nach München gerufen. Der Grund: Ihr Exmann wurde ermordet. Sein letzter Wunsch: Julia soll zu seiner Beerdigung erscheinen. Nur widerwillig bricht sie auf. Denn ihr Ex hat sie seinerzeit durch endlose Affären in die Scheidung und in eine neue Stadt, ein neues Leben getrieben. Und ausgerechnet ihr Lebensgefährte Claus Hochgräbe möchte sie begleiten. Er möchte die Stadt wiedersehen, ein paar Freunde besuchen.

Nur widerwillig lässt Julia ihr Team allein, das sich gerade mit dem Mord an einer Frau herumschlägt. Noch bevor die Kommissarin zurückkehrt, geschieht ein weiteres Verbrechen, und das ausgerechnet in Julias Bekanntenkreis. Als kurze Zeit darauf eine frühere Kollegin ermordet wird, wird Julia stutzig.

Treibt ein Serienmörder sein Unwesen? Und geht es bei all diesen Verbrechen in Wahrheit um sie selbst?

Inhaltsübersicht

Prolog

Montag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Epilog

Leseprobe »Todesruf«

Prolog

Der kalte Abendwind trieb ihn vor sich her. Von überall drang Sprühregen zwischen seine Kleidungsstücke. Er zog die Nase hoch und rückte sich die Schirmmütze mit dem Logo der San Francisco 49ers tiefer in die Stirn.

Im Dämmerlicht der Straßenlaternen erreichte er die Hans-Sachs-Straße. Unauffällige Fassaden, herabgelassene Rollläden. Hinter den Fenstern und Türen der Mehrfamilienhäuser blieb man für sich. Hier und da flimmerte hinter Gardinen das Licht eines Fernsehers.

Er nestelte den Schlüsselbund aus der Manteltasche, fluchend, weil er um ein Haar an einen breiten Wagen gerempelt wäre, der viel zu weit auf dem engen Gehweg stand. Sein Ziel hatte er nicht erreicht. Nicht vollständig. Er hatte sich beruhigen wollen. Ein Tapetenwechsel, eine Brise Sauerstoff. Etwas anderes sehen als die ausgeblichene cremefarbene Tapete mit dem Blumendekor, dem traurigen Mief seiner Wände entkommen, der ihm gleich wieder entgegenschwappen würde.

Er trat sich die Füße ab, energisch, wie immer. Der Schmutz spritzte auf die Kacheln des Treppenhauses. Sollte er doch. Das gesamte Haus war heruntergekommen. Der Eigentümer interessierte sich mehr für die Fassade als für das Innenleben. Hauptsache, er konnte den Bewohnern auch noch das Letzte aus den Rippen pressen. Das Leben in der Stadt war teuer, und es war deprimierend.

Der schwere, süßliche Duft und das Radio, aus dem Schlagermusik an sein Ohr drang, erinnerte ihn, weshalb er das Weite gesucht hatte. Er reihte die Schuhe ins Regal und tappte in die Küche. Griff in die Manteltasche, förderte eine Flasche Bacardi zutage und stellte diese auf den Küchentisch. Breitete den Mantel zum Trocknen über den Lehnen zweier Stühle aus und öffnete den Rum. Der kräftige Geruch schreckte ihn ab, übertünchte aber wenigstens die andere Süße, die sich während seiner Abwesenheit durch die gesamte Wohnung verbreitet hatte. Er nahm eine Flasche Cola aus dem Kühlschrank, ebenso zwei Gläser aus dem Hängeschrank über der Spüle.

Ein Teil Bacardi, vier Teile Cola. Sein Gesicht verzog sich nach dem ersten Schluck. Mehr Rum, entschied er. Und nachdem er beide Gläser gefüllt hatte – hohe, schlanke Longdrinkgläser –, begab er sich in Richtung Wohnzimmer. Eben wurde eine leiernde Schnulze von Truck Stop abgelöst, und der Mann mit den Drinks in beiden Händen musste lächeln. Manche Songs würde man vermutlich bis zum letzten aller Tage spielen.

Wobei dieser letzte Tag schneller kommen konnte, als es manch einem Menschen lieb war. Doch darüber entschied man ja gottlob nicht selbst.

 

Die Malerfolie auf dem Sofa waberte unter jeder ihrer Bewegungen. Kalter Schweiß, der in ihren Kleidern saß, machte alles glitschig. Verlaufenes Make-up und Lidschatten verwandelten ihr Gesicht zu einer traurigen Karikatur ihrer selbst.

Sie hatten sich vor drei Stunden kennengelernt. In einer Bar, gar nicht weit von seiner Wohnung entfernt. Er hatte hinter einem grellblauen Cocktail gesessen und das Publikum taxiert. Hauptsächlich Stammgäste, wenige unbekannte Gesichter. Typisch für einen Werktag. Schließlich hatte sie den Raum betreten. Und auch wenn er es überhaupt nicht geplant hatte, stand sie plötzlich, einen Kir Royal in der Hand, vor ihm.

Der Rest war ganz schnell gegangen.

»Ich habe eine Wohnung in der Nähe«, lockte sie.

»Wo denn?«, raunte er zurück, sein Interesse nicht verbergend.

Sie nannte einen Straßennamen. Daraufhin gab er ihr zu verstehen, dass seine deutlich näher läge.

Zwei Drinks später bezahlte er, und die beiden verließen den Keller über die enge Treppe. Ein paar Schritte in der Abendluft, bestimmt fror sie unter ihrem dünnen Mantel. Die langen Beine nur in Strumpfhosen, die Füße in wackelnden Stöckelschuhen. Viel zu wenig Textil für einen kühlen Oktoberabend.

Viele Worte wechselten sie nicht mehr. Er schob sie in das dunkle Stiegenhaus, die Beleuchtung war seit Monaten defekt. Erste Etage, in die Wohnung. Blickte sich kurz um, ob auch niemand ihn gesehen hatte. Dann drückte er die Tür zu und hängte die Kette ein.

Er griff in die Garderobe, wo sein Nudelholz lag.

Bevor sie etwas sagen konnte – eben noch stolperte sie bei dem Versuch, sich halbwegs erotisch aus ihrem Mantel zu schälen –, traf sie die Walze am Hinterkopf. Sie taumelte, benommen nach dem Türrahmen greifend, er stieß mit einem gezielten Handgriff nach, sodass sie der Länge nach auf den Flurteppich fiel.

Der sensible Moment war damit überwunden. Wenn sie erst einmal bewusstlos waren, spielte er stets dasselbe Programm mit ihnen ab. Einzig die Sekunden zwischen Treppenhaus und Wohnungsflur waren von einer unberechenbaren Dynamik.

 

Der Rest war Routine. Er schleifte den Körper in Richtung Wohnzimmer, wo ein Dreisitzer aus schwarz glänzendem Kunstleder wartete. Er hob sie an. Der Körper wirkte massiver, als man es bei einer schlanken Frau erwartet hätte. Bald waren seine Hände überall, auch dort unten. Ein heißkalter Schauer überlief ihn, dann ließ er von ihr ab.

Die Routine, mahnte er sich.

»Spürst du den Feuersturm?«

Sie wollte schreien. Oh, wie musste es sich in ihrem Inneren wohl anfühlen? Als brächen Lavaströme durch ihren Leib? Als würden Magen und Darm von tausend Glassplittern durchbohrt?

Seine medizinischen Kenntnisse reichten aus, um zu wissen, was das Gift in ihrem Körper anrichtete. Als er es zum ersten Mal erlebt hatte, war er schockiert gewesen. Hatte nicht mit den übermenschlichen Kräften gerechnet, die ein Körper im Todeskampf freisetzen konnte. Ob die Einnahme psychedelischer Drogen das Erlebnis verstärkte? Er neigte den Kopf und dachte kurz nach. Dann leerte er das erste der beiden Gläser, stellte es neben sich auf den Boden, griff das zweite Glas und lehnte sich zurück.

Sie blickte ihn panisch an. Das Klebeband, welches ihr mehrfach um den Kopf geschlungen war, hielt den Gummiball zuverlässig in der Mundhöhle gefangen. Erstickte Schreie, manchmal schrill, manchmal wimmernd, mischten sich unter Michael Holms Mendocino.

Er stand kurz auf, um das Radio ein wenig lauter zu drehen.

Dabei mochte er keine Schlager.

»Bald wirst du die Engel singen hören.« Er schmatzte zufrieden, als er wieder saß.

Und dann lachte er.

Es klang wie der Teufel höchstpersönlich.

Montag

Montag, 9. September
Frankfurt

Die Sonne stand in ihrem Nacken, aber die Strahlen wärmten sie nicht mehr. Julia Durant ließ das Smartphone sinken und war heilfroh darüber, dass sie ein paar Meter abseits stand.

Sie ließ den Blick streifen. Wenige Meter entfernt kroch die Nidda an ihr vorbei. Auf einer abgeflachten Böschung, im Ufergestrüpp vom Weg aus praktisch nicht zu sehen, lag die Leiche einer jungen Frau. Einen Arm über den Oberkörper gelegt, als wolle sie ihre Nacktheit verbergen oder sich vor der Kälte schützen. Der zweite war hinabgerutscht. Ein junger, makelloser Körper. Lange, blonde Haare. Die Augen aufgerissen. Sie schienen voller Entsetzen in den Himmel zu starren. Warum, Gott, lässt du das mit mir geschehen? Warum muss ich auf diese Weise sterben?

Doch statt einer Antwort war das leibhaftige Böse über das arme Ding hereingebrochen. Durant schätzte das Mädchen auf höchstens siebzehn, auch wenn dieser erste Eindruck natürlich täuschen konnte. Noch wusste sie kaum etwas, denn sie war erst vor wenigen Minuten eingetroffen.

Durant hatte ihren Wagen in der Denzerstraße abgestellt, die Fahrstrecke von ihrer Wohnung im Nordend hatte über zehn Kilometer betragen. Vorbei am Palmengarten, am Messegelände, ein Stück Autobahn und dann über die Oeserstraße nach Nied, wo sich ein Siedlungshaus ans andere reihte. Noch vor zweihundert Jahren, wusste die Kommissarin, war hier nichts als Wiesen und Felder gewesen. Heute lebten in diesem Frankfurter Stadtteil an die zwanzigtausend Menschen. Viele von ihnen gern. Und es wurden immer mehr. Mit einer Ausnahme.

Kaum dass sie den knallroten Roadster abgeschlossen hatte, erreichte Julia Durant den Radweg am östlichen Nidda-Ufer. Für einige Sekunden schmeckte die Luft nicht nach Abgasen, und die Ohren nahmen das Plätschern des Flusses wahr. Dann überlagerte das monotone Rauschen der Fahrzeuge das Idyll.

Durant hatte den aus rotem Sandstein gemauerten Brückenbogen durchquert, kurz innegehalten und die karminrote Plakette gelesen. Der Text wies darauf hin, dass es sich mit gut hundertsiebzig Betriebsjahren um Hessens älteste noch genutzte Eisenbahnbrücke handelte. Dann tauchte bereits das Flatterband auf, die ersten Markierungen der Spurensicherung und jede Menge Kollegen in Schutzkleidung. In diesem Augenblick hatte die Kommissarin feststellen müssen, dass sie sich auf der verkehrten Uferseite befand.

»Hey, hier rüber!« Ihr Kollege Frank Hellmer war mal wieder als Erster an Ort und Stelle gewesen. Dabei hatte er von Okriftel aus eine deutlich längere Strecke zurückzulegen. Doch er fuhr einen Porsche 911 und hatte, im Gegensatz zu ihr, nur einen Bruchteil an Ampeln gehabt. Hellmer winkte ihr lächelnd zu, und sie hatte sich wieder umgewandt und den Weg über die Brücke genommen. Nun stand sie hier. Und das Lächeln war ihr vergangen. Es war, als habe der Tod mit seiner kalten Hand danach gegriffen und es für immer in die dunkle, eisige Nacht gezogen. Dorthin, wohin so viele Seelen bereits gegangen waren. Angefangen mit ihrer Mutter, Julia Durant war gerade fünfundzwanzig Jahre alt gewesen. Dann, kürzlich, ihr Vater. Und jetzt …

»Was ist denn mit dir los?«, erklang eine Stimme wie aus dem Nichts. Julia fuhr herum. Andrea Sievers, die Rechtsmedizinerin, war lautlos an sie herangetreten. Den Mundschutz unters Kinn gezogen, strahlten ihre wachsamen Augen und ein von Lachfältchen geziertes Gesicht. »Ist doch schön hier. So ein Picknick im Grünen …«

»Bitte. Jetzt nicht.« Durant kannte Andreas schwarzen Humor. Diese drahtige Frau, der man ihre viereinhalb Lebensjahrzehnte wahrlich nicht ansah, begegnete dem Leben mit einem Lächeln, obgleich sie tagtäglich mit den finstersten Varianten des Todes konfrontiert war.

»Hast ja recht«, kam es zurück, und in der nächsten Sekunde war Sievers’ Gesicht wieder unter dem Mundschutz verschwunden. Sie seufzte: »Armes Ding. Sie dürfte kaum achtzehn sein. Na ja, ich sehe mal zu, was sich rausfinden lässt.«

Die Rechtsmedizinerin stapfte davon, den schweren Lederkoffer in der Linken.

Mach das, dachte Julia Durant. Und schließ ihr bitte die Augen. Sie wusste nicht, weshalb ihr dieser Umstand ausgerechnet heute so zu schaffen machte. Doch was auch immer dieses Mädchen in ihren letzten Lebensstunden durchgemacht hatte, es war an der Zeit, dass sie ein wenig Würde bekam. Und ihren Frieden.

Im selben Moment flatterte auch schon die Decke zur Seite, die den nackten Körper bedeckt hatte. So viel zum Thema Würde.

Erst in diesem Augenblick begriff Julia, dass sie noch immer das Smartphone umklammerte. Als sei es ein Goldbarren und sie Dagobert Duck. Als wäre sie die Erste, die nach dem Verkaufsstart das neueste Modell eines iPhones in den Händen hielt. Dabei hätte sie das Gerät am liebsten im Fluss versenkt. Sie fragte sich, ob das nicht alles ein Traum war. Ob sie im nächsten Augenblick aufwachen würde, den Geruch von Toastbrot und Kaffee in der Nase, ahnend, dass ihr Liebster sie mit einem Frühstück verwöhnen würde.

Doch kein Erwachen, kein Frühstücksduft. Nur der modrige Geruch von Uferschlamm und eine drückende Schwüle, die ihr die Schweißperlen auf die Stirn trieb.

Es war ein Alptraum. Denn abgesehen davon, dass Julia Durant schon viel zu viele Fundorte wie diesen erlebt hatte, war da noch etwas anderes. Etwas Altes, etwas längst Vergangenes. Etwas, das schon so lange her war und ihr doch den Atem raubte.

Wie konnte es sein, dass es noch immer eine solche Kraft auf sie ausübte?

Wie konnte es sein, dass es sie nach all den Jahren noch immer derart aus der Bahn warf?

Der Anruf war von einer unbekannten Nummer eingegangen. Eine Vorwahl, die Julia immer vertraut bleiben würde, aber mit der sie immer weniger verband. München.

Seit dem Tod ihres Vaters und der Vermietung ihres Elternhauses gab es kaum mehr Kontakte in die alte Heimat. Immerhin war es dreißig Jahre her, dass sie der Stadt den Rücken gekehrt hatte. Anfang der Neunzigerjahre, nachdem sie hatte herausfinden müssen, dass ihr Ehemann Stephan, die große Liebe ihres Lebens, sie immer und immer wieder betrogen hatte. Und zwar derart dreist, dass sie sich als Kriminalbeamtin fast schämen musste, es nicht längst bemerkt zu haben. Und derart oft, dass sie jahrelang unter Komplexen gelitten hatte. Dabei war Julia Durant eine attraktive Frau, auch heute noch. Ihr kastanienbraunes Haar, ihr fester Busen, ihre Augen und Lippen – sie war nur wenigen Männern begegnet, denen kein Interesse anzusehen war, und sei es auch noch so unterschwellig. Trotzdem hatte das ihrem Mann nicht gereicht. Vielleicht hatte er ein krankhaftes sexuelles Verlangen? Wie oft hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen. Wie viele Nächte hatte sie geheult oder sich betrunken.

Doch in einer Sache war Julia Durant konsequent gewesen. Sie hatte unmittelbar darauf ihre Koffer gepackt und war nie wieder zu ihm zurückgekehrt. Hatte nie wieder etwas von ihm gehört.

Bis man sie, ausgerechnet am Einsatzort, zu den Füßen eines toten Mädchens, über Stephans Ableben informiert hatte.

Mittwoch

Mittwoch, 11. September, 14 Uhr
München

Julia Durant fühlte sich verloren.

Sie stand neben Pastor Aumüller, einem Kollegen und Freund ihres Vaters, auf einem der kleineren Friedhöfe in einem Außenbezirk.

»Julia!« So hatte der alte Mann sie begrüßt. Das knappe Dutzend Trauergäste, die sich hier offenbar kaum weniger unwohl fühlten, waren ihm mit den Blicken gefolgt. Der alte Pastor wankte auf sie zu, sichtlich unter Schmerzen. Durant kannte ihn als guten Freund ihres Vaters schon das ganze Leben. Er musste die achtzig längst hinter sich gelassen haben.

»Schön, dass du gekommen bist!« Er fasste nach ihren Händen. »Es ist ein Jammer. Aber trotzdem schön. Niemand sollte allein vor unseren Schöpfer treten.«

Allein war er ja nun nicht, dachte die Kommissarin.

Und sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie tatsächlich hier war.

Die Glocke der Friedhofskapelle schlug, ein heller, unangenehmer Klang. Fast so, als wolle er dem Gehirn noch einmal mit aller Deutlichkeit einbläuen, dass es einen Menschen weniger gab. Jemanden, dem man nachtrauerte. Den man geliebt hatte.

Ja, verdammt noch mal, sie hatte ihn geliebt! Er war ihre erste große Liebe gewesen. Sie hatten eine wundervolle Zeit miteinander gehabt, sie hatten eine Traumhochzeit gefeiert. Doch in Julia Durant regten sich weder Trauer noch Liebe, zumindest nicht an erster Stelle. Alles, was sie spürte, wurde überlagert von einem lähmenden Gefühl von Enttäuschung. Und Wut.

Über viele Jahre hatte sie ihn nicht vergessen können, sosehr sie es sich auch gewünscht hatte. Sein Schatten schien über jeder Beziehung zu liegen, die sie eingegangen war. Schien sie zu vergiften, als wolle er noch immer die Kontrolle über sie ausüben. Auch wenn er es gewesen war, der alles vor die Wand gefahren hatte.

Jemand zupfte an ihrem Ärmel. Es ging los.

Pastor Aumüller nahm sie mit ins Innere der Kapelle. Von den wenigen Anwesenden hoben manche den Kopf. Vereinzelt nickte man Aumüller zu. Vorne, auf einem flachen Podest, wartete eine schlichte Urne. Zwei Blumensträuße, weiße Gerbera und rote Chrysanthemen, aufgelockert durch ein paar Efeuranken. Die Gebinde glichen sich bis ins Detail, ein goldener Aufkleber ließ auf die Blumenhandlung schließen. Allem Anschein nach hatte man nicht das teuerste Bestattungsunternehmen gewählt. Während ein junger, fremder Pastor sich eine gestelzte Totenrede abrang, hing die Kommissarin ihren Gedanken nach.

Ihr Gespräch mit Claus Hochgräbe vor ihrer Abreise lag ihr noch im Ohr.

»Ich kann doch jetzt nicht nach München fahren!«, hatte sie gerufen.

»Wenn es wichtig ist …«

»Wir haben ein unidentifiziertes totes Mädchen, so jung, dass da irgendwo verzweifelte Eltern sein müssen. Wahrscheinlich bangen sie seit Tagen. Das ist wichtig!«

Hochgräbe war der neue Leiter des Kommissariats 11, Gewalt-, Brand- und Waffendelikte. Auch er stammte aus München, hatte dort Karriere gemacht und wäre Julia, wenn sie der Stadt nicht vor langer Zeit den Rücken gekehrt hätte, ganz sicher auch begegnet. Stattdessen war sie vor Ewigkeiten fortgegangen, und trotzdem hatte das Schicksal sie zusammengeführt – vor einigen Jahren, im Zuge einer übergreifenden Ermittlung. Die beiden hatten sich danach mehrmals getroffen und waren einander nähergekommen. Hochgräbes Versetzung nach Frankfurt war also aus gegensätzlichen Gründen erfolgt als Durants Flucht aus der Bayernmetropole. Beides aber waren Beziehungstaten: Er war um der Liebe willen gegangen, sie war aus enttäuschter, verletzter Liebe geflohen. Es hatte Jahre gebraucht, bis Julia ihre Heimatstadt wieder halbwegs entspannt besuchen konnte, ohne hinter jeder Straßenecke ihn zu sehen. Oder, was noch schlimmer war, eine seiner dutzendfachen Eroberungen.

Julias Ex-Mann Stephan hatte so ziemlich jede Frau ins Bett bekommen, die er wollte. Und er wollte viele. Zuerst nahezu die gesamte weibliche Belegschaft seiner Firma. Und dann wahrscheinlich noch deren Schwestern und Cousinen, ja, und am besten auch noch deren Mütter.

»Wenn es doch sein letzter Wunsch gewesen ist.« Claus Hochgräbe war ruhig geblieben, während sie ihre Wut an einem Korb mit getrockneter Wäsche ausließ.

»Sein Wunsch!«, bellte sie verächtlich. Natürlich. Sein Leben schien ihr mal wieder diktieren zu wollen, was sie zu tun hatte.

Eine halbe Stunde später – sie hatte es aufgegeben, in dieser Rage T-Shirts zusammenzulegen – kauerte sie mit Claus auf der Couch. Er hatte einen Wein entkorkt und sie mehr oder weniger dazu genötigt, ein bisschen runterzukommen. In seinen Arm geschmiegt, saß sie da, dankbar, dass er ihr Verständnis und Geborgenheit schenkte. Etwas, wonach Julia Durant so viele Jahre vergeblich gesucht hatte. Doch nachdem sie das Vertrauen in Männer schmerzhaft verloren hatte, war Claus in ihr Leben getreten.

Natürlich wusste er über ihre Vergangenheit Bescheid.

Über die Hochzeit, die Pastor Aumüller gemeinsam mit ihrem eigenen Vater abgehalten hatte. Denn so gerne Pastor Durant den Gottesdienst alleine gehalten hätte, er wollte es sich nicht nehmen lassen, seine einzige Tochter zum Altar zu führen. So kitschig es auch war. Es war einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen, und das galt genauso für Julia. Bald aber hatte er sich den ersten Frust anhören müssen. Sorgen einer Ehefrau, die sich einsam fühlte. Die ihren dreißigsten Geburtstag nahen sah und sich Kinder wünschte. Die enttäuscht war über die endlosen Überstunden, die Wochenenden, die Geschäftsreisen ihres Mannes. Bot der Dienst bei der Münchner Mordkommission schon undankbare Arbeitszeiten – die ihres Mannes, der eine steile Karriere in einer Werbefirma hingelegt hatte, waren noch schlimmer. Insgeheim fragte sich Julia, ob man mit zwei solchen Jobs überhaupt an Kinder denken durfte. Denn sie hatte sich nichts mehr gewünscht als das. Irgendwann stellte sie diese Frage dann ihrem Mann. Der lachte nur, umgarnte sie mit seinem Charme und hielt sie mit einer Menge schillernder Versprechen über ihre gemeinsame Zukunft bei Laune. Und vögelte am selben Abend mit Karin, seiner Sekretärin.

Karin war eine seiner Langzeit-Affären gewesen, während er sich hier und da auch noch mit anderen vergnügte. Aber all das hatte Durant erst hinterher erfahren.

Aus der Traum, dass diese Ehe bis in alle Ewigkeit halten würde. An dem Abend, als Julia durch Zufall von allem erfuhr, hatte sie ihm rechts und links eine runtergehauen. Er wollte zurückschlagen, doch da trat sie ihm so kräftig zwischen die Beine, dass er sein bestes Stück danach mindestens einen Monat lang bloß zum Pinkeln benutzen konnte. Die weibliche Belegschaft seiner Werbefirma musste wohl eine Weile ohne ihn auskommen. Dann war sie eine Nacht lang durch die Kneipenwelt Münchens gezogen und hatte sich volllaufen lassen, bis sie nichts mehr spürte. Danach zwei Tage lang nur gekotzt und neben sich gestanden. Irgendwie schaffte sie es, ein paar Sachen zu holen und zurück in ihr Elternhaus zu ziehen. Dort heulte sie weiter – bis sie sich nach einer Woche aufrappelte und Bewerbungen an verschiedene Polizeidienststellen in ganz Deutschland schickte.

Das vernünftigste Angebot war aus Frankfurt gekommen.

Dorthin war sie geflohen. Und dort war sie geblieben.

All das wusste Claus Hochgräbe. Die beiden hatten keine Geheimnisse aus ihrer jeweiligen Vergangenheit gemacht; wieso auch? Und dennoch drängte er förmlich darauf, dass sie zu Stephans Bestattung nach München fuhr.

»Er ist tot«, sagte er. »Was soll dir schon passieren?«

»Da fällt mir so manches ein. Zum Beispiel, dass ich einem Dutzend seiner Betthäschen begegne.«

»Quatsch. Und wenn schon. Die erkennen dich doch gar nicht.«

»Claus. Das alles bringt mir doch gar nichts. Ich bin ihm zu nichts verpflichtet, verstehst du? Das ist ein halbes Leben her. Uns verbindet nichts mehr.«

Claus drückte den Arm noch fester um sie. »Ich verstehe das. Aber ich möchte nicht, dass du es irgendwann bereust. Fahr da hin und nimm Abschied. Sag ihm am Grab noch einmal alles, was du willst. Oder auch nicht. Aber es ist wichtig, dass du hingehst. Danach ist es vorbei. Endgültig und für immer. Glaub mir, es ist besser so.«

Julia Durant hatte nichts mehr gesagt. Sie wusste, dass Claus Hochgräbe seine Frau zu Grabe getragen hatte. Ein Schicksalsschlag, den er lange vor ihrem Kennenlernen erlitten hatte. Hochgräbe ging schon lange nicht mehr zum Grab. Er brauche das nicht, meinte er. Aber er hätte es sich niemals verziehen, eine Beerdigung zu versäumen.

Trotzdem hatte Julia Durant sich nicht überwinden können, die Reise anzutreten. Aber sie führte einige Telefonate. Zuerst noch einmal mit Aumüller, der sie über Stephans Ableben informiert hatte, als sie gerade am Ufer der Nidda stand und das tote Mädchen in Augenschein nahm. Sie hatte ihn abgewürgt, weil die Nachricht sie übermannt hatte. Hatte es auf den Tatort geschoben, doch tatsächlich wogte da viel mehr. Mittlerweile hatte sie sich gefangen, doch schon nahte der nächste Einschlag. Im Verlauf des Gesprächs verriet der Pastor Durant etwas, was ihr den Atem raubte.

Stephan war nicht auf natürliche Weise zu Tode gekommen.

»Wie genau ist er denn gestorben? Und warum ist die Leiche überhaupt zur Einäscherung freigegeben worden?«, wollte die Kommissarin jetzt wissen, während sie neben dem alten Mann hertrottete. Die Urnenwand kam bereits in Sicht, es waren nur noch ein paar Dutzend Schritte.

»Die Ermittlungen haben wohl ins Leere geführt«, antwortete Pastor Aumüller und hob die Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht.«

Er hatte ihr am Telefon nur wenige Fragen beantworten können. Das Sterbedatum lag fast zwei Monate zurück. Ein Raubmord, möglicherweise ein Beschaffungsdelikt. In Stephans Wohnung fehlten das Portemonnaie, einige Wertgegenstände, die Schränke waren durchsucht worden. Der Spülkasten der Toilette war geöffnet, Klebereste unter der Küchenspüle deuteten darauf hin, dass dort etwas versteckt gewesen sein könnte. Kokain? Durant erinnerte sich, dass das unter Stephans Kollegen ein Thema gewesen war. Er selbst hatte ihr stets geschworen, dass er die Finger davon lasse. Aber was von seinen Gelübden zu halten war …

Doch all das lag Ewigkeiten zurück.

Zwei Telefonate mit den Kollegen der Münchner Kriminalpolizei hatten sie nur wenig weitergebracht. Der Fall war längst zu den Akten gewandert, auch wenn das natürlich keiner offiziell zugab.

»Aber was hatten Sie denn mit ihm zu tun?«, fragte die Kommissarin weiter.

Pastor Aumüller blickte sie aus friedfertigen Augen an. Er war einer der gütigsten Menschen, die sie jemals kennengelernt hatte. Julias plötzliche Trennung hatte auch ihn damals schwer getroffen. Noch immer schien Enttäuschung in seinem Blick zu liegen. Vielleicht aber auch nur darüber, dass sie und Stephan es nicht geschafft hatten, irgendwann wieder vernünftig miteinander zu reden. Oder bildete sie sich das ein? Längst bereute sie es, hier zu sein. Es war alles so anstrengend.

»Ich habe von seinem Tod auch erst vor ein paar Tagen erfahren«, verriet Aumüller. »Er hat mir Briefe zukommen lassen. Die Polizei hat sie mir zugestellt, aber das geschah mit gehöriger Verzögerung. Sie befanden sich vorher wohl bei der Spurensicherung. Ich vermute, man hat sie dort vergessen, aber das ist nur meine persönliche Theorie.« Er blieb stehen und atmete schwer. »Jedenfalls kam das für mich genauso überraschend wie für dich. Stephan bat mich darum, dass ich dich, wenn er einmal nicht mehr sei, zu seiner Beisetzung bitte. Er bat mich äußerst eindringlich. Diesen Wunsch konnte ich nicht übergehen, ich hoffe, du verstehst das.«

Sie schritten weiter. In wenigen Augenblicken würde die Beisetzung der Urne beginnen.

»Natürlich verstehe ich das«, versicherte Julia, auch wenn sie sich dadurch nicht wohler fühlte. Denn sie verstand Stephan nicht. Was brachte es ihm, wenn sie heute hier war? War es ein Machtspiel? Sie erreichten die Urnenwand und blieben abseits der anderen stehen. Sie fasste den Pastor an den Arm. »Hören Sie. Ich weiß noch sehr gut, wie Sie und Paps damals für mich da waren. Ihr habt nie etwas gesagt, aber ich habe es immer gespürt. Keinen Vorwurf vielleicht, aber diesen Gedanken: Was Gott verbunden hat, das soll der Mensch nicht trennen. Aber Stephan hat diese Verbindung zerbrochen, nicht ich. Ich finde nicht, dass ich ihm noch etwas schulde.«

Pastor Aumüller lächelte. Es war genauso warm und herzlich wie damals im Mai, als sie und Stephan einander die Ringe an die Finger gesteckt hatten.

»Er hat seinen Weg gewählt und du deinen. Ich hätte euch trotzdem gewünscht, dass das Ganze anders verlaufen wäre. Weniger schmerzhaft.«

Durant lachte bitter. »Er hat sich’s ja nicht allzu schwer gemacht.«

»Bist du dir da sicher?«

Die Kommissarin erinnerte sich noch gut. Es waren die Jahre nach der Wiedervereinigung gewesen, eine euphorische Zeit. Aber auch die Zeit neu aufkeimender Konflikte. Kuwait zum Beispiel. Und dann kam der Krieg in Jugoslawien. Angesichts einer aus den Fugen geratenen Welt und einer abscheulichen Mordserie in Frankfurt hatten die Briefwechsel mit dem Scheidungsanwalt beinahe schon banal gewirkt. Man redete nicht miteinander, daran hatte Julia kein Interesse gehabt, und offenbar war es ihrem Mann nicht anders ergangen. Das Trennungsjahr hatte unmittelbar nach dem Bekanntwerden seiner Fremdvögelei begonnen und war durch ihre Rückkehr ins Elternhaus und den folgenden Wechsel nach Frankfurt unstrittig. So nüchtern, wie das alles abgelaufen war, stach ihr nun dieselbe alte Frage, die ihr schon damals die Sinne geraubt hatte, mit feinen Nadeln in die Seele: Wie konnte das sein, nachdem man sich einmal derart innig geliebt hatte? Waren all die guten Zeiten, all die Gefühle, am Ende nur eine Illusion gewesen? Aber warum stand sie dann heute hier und heulte sich die Augen aus?

Hinter dem Tränenschleier nahm Julia Durant wahr, wie Pastor Aumüller nach vorne trat an das grauporige Schachbrett, in dessen Mitte ein offenes Fach mit der Urne ihres Ex-Manns wartete. Kurz darauf stand sie davor. Sie hatte keine Blumen, um sie hineinzulegen, sondern war aus dem Gruppenzwang heraus nach vorn getreten, unsicher, was sie sagen oder denken sollte.

»Mach’s gut«, war alles, was sie hervorbrachte.

Nach und nach löste sich die Versammlung auf. Kein Wort über einen Leichenschmaus, keine Belegschaft, keine trauernde Familie, keine Kinder.

»Wer sind diese Leute?«, raunte sie Aumüller zu. Als dieser sie nicht verstand, stellte sie ihre Frage lauter. Niemand war mehr in ihrer Nähe, der sie hören konnte.

»Ich weiß es selbst nicht«, gestand der Pfarrer mit trauriger Miene. »Stephans Eltern leben schon lange nicht mehr. Keine Familie, keine alten Freunde. Aber möchte man so seinen letzten Weg gehen?« Er hob die Schultern. »Ich habe mich im Ort umgehört, Zeit war ja genug. Ein paar Schulkollegen, ein paar Fußballer. Menschen, die seit dreißig Jahren nichts mehr mit ihm zu tun hatten, aber trotzdem …«

»Danke«, sagte die Kommissarin leise und unterdrückte ein Schluchzen. Offenbar war Stephan allein geblieben. Und ihr wurde bewusst, dass sie praktisch nichts mehr von ihm wusste. Wie lange das alles zurücklag … Ob es seine Werbeagentur überhaupt noch gab? Es hatte sie nie interessiert, und da sie sich schon von Berufs wegen der Nutzung von sozialen Medien verweigerte, hatte sie ihm auch nie im Internet nachspioniert. Zu tief saßen außerdem die Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte.

»Ich würde gerne gehen«, gestand sie und wischte sich mit dem Handrücken die Augenwinkel aus.

Pastor Aumüller nickte. Gemeinsam schlenderten sie über den Friedhof, irgendwann hakte er sich bei ihr ein. Nur noch ein einziges Mal blieb Julia Durant stehen, hielt für einige Sekunden inne und drehte den Kopf in Richtung Wand. Zum letzten Mal. Danach atmete sie tief durch und entschied, das Thema Stephan genauso zu behandeln wie die hiesige Polizei. Sie würde es zu den Akten legen, schon allein, um sich selbst zu schützen. Die Geister der Vergangenheit waren viel zu mächtig, und wenn die Kripo München einen zwei Monate alten Raubmord nicht aufklären konnte, was sollte sie dann tun?

Stephan war längst ein Fremder für sie, und sie würde nicht zulassen, dass er sich wieder in ihr Leben drängte.

Doch damit irrte Julia Durant ganz gewaltig.

14:30 Uhr
Frankfurt

Das rechtsmedizinische Institut befand sich in einem charmanten Sandsteinbau, dem man nicht ansah, wie düster es zuweilen in den unteren Geschossen zuging, dass dort die Leichen missbrauchter Kinder obduziert wurden, darunter auch totgeschlagene Säuglinge – mit Abstand das Schlimmste, was man als Ärztin zu sehen bekommen konnte. Alles in einer Wohlstandsgesellschaft, in der sich keiner mehr für seine Mitmenschen zu interessieren schien. Anders war kaum zu erklären, dass die Kindeswohlgefährdungen jedes Jahr zunahmen und die Nachbarn und Angehörigen meist aus allen Wolken fielen, wenn es zu Verhaftungen kam. Wenn es überhaupt so weit kam.

Dr. Andrea Sievers stand, die Arme in die Hüften gestützt, vor dem Metalltisch, der inmitten des gekachelten Bodens aufragte. Dort aufgebahrt war jene nackte Schönheit, die man am Flussufer in Nied aufgefunden hatte. Die Leichenschau war praktisch beendet, es gab nur noch ein paar Handgriffe zu erledigen. Auf der anderen Seite des Tisches trat Kommissar Frank Hellmer von einem Bein aufs andere.

»Können wir vielleicht hochgehen?«, drängte er. Sievers lächelte schmal. Sie wusste, was in seinem Kopf vorging. Frank dachte daran, dass es auch seine Tochter einmal treffen könnte. Jeder Vater hatte diese Ängste. Und er wollte außerdem eine Zigarette. Ein Bedürfnis, das Andrea ihm nachempfinden konnte.

»Klar«, sagte sie deshalb und ging Richtung Glaskasten, in dem sich ihr Büro befand. Sie wippte mit einer frischen Packung Lucky Strike und hob das Kinn in Richtung Treppe. »Unterhalten können wir uns auch in angenehmerer Gesellschaft.«

»Nichts gegen dich«, murmelte sie im Hinausgehen der Toten zu.

Noch am Vorabend hatte man anhand einer Aufnahme, die mit den hessenweiten Vermisstenmeldungen abgeglichen wurde, einen Treffer erzielt. Das Mädchen hieß Laura Schrieber. Neunzehn Jahre alt, Friseurin im zweiten Lehrjahr. Sie war am Sonntagabend nicht wie vereinbart nach Hause gekommen, wo sie noch lebte, denn für eine eigene Wohnung reichte das spartanische Gehalt bei Weitem nicht. Peter Kullmer und Doris Seidel, das frisch verheiratete Dream-Team der Mordkommission, hatten die undankbare Aufgabe übernommen, Lauras Eltern zu befragen. Die wichtigsten Erkenntnisse dieses Gesprächs schienen zu sein, dass die Mutter ein Alkoholproblem habe, der Vater nur Lauras Stiefvater sei und die junge Frau sich hauptsächlich bei einer Freundin aufhalte. Schon über deren Namen war das Paar sich nicht einig. Kendra. Kira. Die Kommissare hatten daraufhin beschlossen, die Vernehmung am Tag darauf fortzusetzen.

Hellmer und Sievers erreichten den Vorplatz, der von der mehrspurigen Autotrasse, an der das Gebäude lag, kaum einzusehen war. Schotter knirschte unter ihren Sohlen. Andrea bot Frank ihre Zigaretten an, dieser lächelte schmal und schob sich einen der Filter zwischen die Lippen. Er revanchierte sich mit dem Feuerzeug, ladies first, dann nahmen sie auf einer niedrigen Mauer Platz.

»Ich habe sie von oben bis unten untersucht«, begann die Rechtsmedizinerin, und etwas ungewohnt Trauriges lag in ihrer Stimme. »Es ist ein Jammer.«

»Was genau?«

»So jung. So gesund. Das ist einfach nicht fair.«

»Hm.« Hellmer stieß eine weiße Wolke aus dem Mund. »Musste sie sehr leiden?«

»Ich glaube nicht. Sie hat schwere Schädelfrakturen, vermutlich schlug der Täter sie k. o., bevor er sie erwürgte. Was ich nicht beantworten kann«, Sievers stockte, »ist, ob sie es vorher gewusst hat. Ob sie Todesangst hatte, ob er es ihr gesagt hat.«

»Gibt es Fesselspuren?«

»Fehlanzeige. Keine Handschellen, keine Kabelbinder. Wenn überhaupt, kann er nur ein weiches Tuch verwendet haben. Es gibt keinerlei Blutergüsse, nichts, was darauf hindeutet.«

»Aber sie wurde nicht am Nidda-Ufer ermordet, oder?«

»Nein. Die Leichenflecken deuten darauf hin, dass sie bewegt wurde.«

»Was ist mit Transportspuren? Teppichfusseln, Textilfäden, irgendwas?«

»Bedaure. Wenn es etwas gäbe, hätten wir es gefunden.«

»Verdammt! Wir wissen so gut wie nichts über den Tathergang.«

»Das stimmt ja so auch nicht«, widersprach Andrea, und Frank drehte fragend den Kopf in ihre Richtung.

»Jetzt bin ich aber neugierig.«

»Die Kleine hatte kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr.«

»Freiwillig?«

»Sieht so aus. Es gibt zwar ein paar kleinere Risse und Verletzungen«, Andrea zog kräftig an ihrer Zigarette und pustete den Rauch mit demselben Elan wieder aus, »aber das muss nichts heißen. Schau dir diese jungen Dinger von heute doch mal an. Spargeldürr. So ein Becken hatte ich, als ich zwölf war! Ich frag mich, wie diese Generation mal Kinder gebären will.«

»Und deshalb muss der Sex freiwillig gewesen sein?« Hellmer kräuselte die Stirn.

»Na ja. Bei solch einem Becken ist es schnell passiert, dass es zu kleineren Verletzungen kommt. Es muss nur etwas wilder zugehen.« Sie stockte und verzog den Mund. »Mensch, Frank. Hast du gar keine Phantasie mehr?

Hastig winkte der Kommissar ab. »Ja. Danke. Schon kapiert. Gibt es Spuren?«

»Allerdings. Der Typ scheint nicht einmal versucht zu haben, sich zu schützen. Samenflüssigkeit, Hautschuppen und, soweit ich es überblicke, keine Spuren von Vaseline oder anderen Gleitmitteln. Das alles sieht mir nach sehr leidenschaftlichem, aber auch einvernehmlichem Sex aus.« Andrea Sievers legte den Arm um Frank Hellmer. »Ach, Frank«, sagte sie mit aufgesetzter Dramatik, »so viel Leidenschaft.«

»Hör doch auf!« Hellmer löste sich aus der Umarmung. Er wusste zwar, dass es nicht ungewöhnlich war, wenn sich Menschen, die sich tagein, tagaus mit dem Tod befassten, ein dickes Fell aus Sarkasmus zulegten. Doch Andreas Bewältigungsstrategien gingen ihm manchmal zu weit. Womöglich war er diesmal auch empfindlich, weil er in einem toten Teenager sofort seine Tochter sah. Das Los eines Vaters, vermutete er. Steffi mochte klug, unabhängig und tough sein, aber wer wusste schon, ob das sie gegen all die perversen Schweine dieser Welt schützen konnte. Er seufzte schwer und steckte sich eine weitere Zigarette an, obwohl er die erste kaum in den Sand des Aschers gedreht hatte.

Eine Weile verstrich, in der beide schwiegen.

»Sie wurde drapiert«, durchbrach Andrea schließlich die Stille.

Hellmer wusste, worauf sie anspielte, er hatte es mit eigenen Augen gesehen. Die Leiche war nackt gewesen, lediglich ihr Schambereich von einem Höschen bedeckt. Über den straffen, jugendlichen Brüsten lag ihr rechter Arm. Der andere war entweder hinabgefallen oder absichtlich zur Seite gestreckt worden. Als spielten die Finger mit den Uferwellen.

»Der Nagellack, an Fingern und Zehen, war frisch. Makellos. Entweder sie hat ihn selbst aufgebracht, das spricht für ein geplantes Rendezvous. Oder er hat es getan.«

»Er«, wiederholte Hellmer tonlos.

Sievers lachte trocken. »Na ja. Das Sperma in ihrem Unterleib stammt wohl kaum von einer Freundin.«

Doch Frank Hellmer ging nicht darauf ein. In seinem Kopf formte sich ein ganz anderer Gedanke, doch er musste ihn erst zu Ende denken. Es mochte eine Berufskrankheit sein, aber die vielen Dienstjahre und finsteren Abgründe, die diese Jahre mit sich gebracht hatten, waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.

Welche Rolle spielte der Stiefvater? Gab es einen Grund, weshalb Lauras Mutter sich dem Alkohol ergeben hatte? War diese Kendra oder Kira womöglich eine Erfindung der Tochter, um von jemandem abzulenken? Vielleicht hatte sie einen heimlichen Freund. Warum auch nicht, mit neunzehn Jahren? Und mit ihrem hübschen Aussehen? Doch vielleicht war das ihren Eltern aus irgendeinem Grund nicht recht. Oder zumindest dem Stiefvater.

Hellmer wusste, dass er den Mann nicht vorverurteilen durfte. Er wollte diese Gedanken auch überhaupt nicht denken. Vor allem jetzt noch nicht, denn er hatte ihn weder persönlich gesehen noch befragt. Aber es war schon verdammt schwer, sich die vergangenen Jahre aus dem Gedächtnis zu zwingen. Die vielen Missbräuche, die verbrannten Kinderseelen. Und schlussendlich seine eigene Rolle als Vater.

»Frank?«

Er zuckte derart zusammen, als habe man ihn mit dem Finger im Nutellaglas erwischt. Doch dann waren da bloß Andreas strahlende Augen. Beneidenswert, wie diese Augen leuchten konnten, nach all dem, was sie bereits sehen mussten.

»Kommt mir gerade so vor, als wärst du kilometerweit weg«, sagte sie verständnisvoll. »Wäre ja auch nicht das Schlechteste. Darf ich erfahren, wo genau du warst?«

Hellmer schob seine Gedanken beiseite, bis auf einen. »Doris und Peter haben die Eltern der Kleinen befragt. Es war die Rede von einer ominösen Freundin. Was, wenn sie überhaupt nicht vorgehabt hatte, nach Hause zu kommen? Was, wenn sie sich stattdessen mit einem Jungen getroffen hat?«

Andrea schlug sich die Hand vors Gesicht, was ziemlich komisch aussah, denn die Zigarette steckte noch zwischen Zeige- und Mittelfinger. »Skandalös!«, rief sie aus. »Und das ohne Trauschein?«

»Bleib doch mal ernst«, rügte der Kommissar, und die Rechtsmedizinerin signalisierte ihm, dass sie nicht weiter ulken würde.

»Wenn wir davon ausgehen, dass sie sich mit einem Freund getroffen hat«, fuhr er fort, »ihrem Freund also, dann könnte es doch sein …«

»… dass der Mörder und das Rendezvous zwei verschiedene Personen sind?«, vollendete Andrea Sievers seine Ausführungen. »Guter Gedanke! Das würde den einvernehmlichen Sex erklären und auch, weshalb er keine Vorkehrungen getroffen hat, damit sein Ejakulat nicht in ihrem Körper verbleibt. Jeder noch so Perverse weiß doch heutzutage, wie gefährlich ein DNA-Profil ist.«

Frank Hellmer nickte langsam. »Unser Problem ist nur, wie wir das Ganze beweisen.«

17 Uhr
München

Julia Durant kickte mit dem Fuß die Hotelzimmertür zu. Die Türkante schabte über den Teppichboden, den man offenbar erst vor Kurzem erneuert hatte. Unter den Arm geklemmt eine Papiertüte, in der sich eine Tüte Chips, eine Flasche Wein, zwei Brezeln und ein Stück Salami befanden. Es hatte zu regnen begonnen, auch wenn das sämtlichen Vorhersagen widersprach. Der Biergarten fiel daher aus. Und Julia verspürte nur wenig Lust, alleine in einem Wirtshaus zu sitzen. Die Blicke auf sich zu ziehen, von denen die meisten mitleidig wirkten, weil sie aussah wie eine vereinsamte Frau, die zum Essen ausging, um in ihrer Wohnung nicht depressiv zu werden. Dabei hatte sie schon unzählige Male in ihrem Leben genauso dagesessen. Bemitleidenswert. Aber gerade heute konnte sie das nicht gebrauchen, und das, obwohl sie in Wirklichkeit alles andere als einsam war. Im Gegenteil: Julia wurde geliebt, hatte einen erfüllenden Job (ja, sie fand ihn tatsächlich erfüllend, wie schrecklich er auch manchmal sein mochte), sie hatte Freunde und ein schönes Zuhause.

Depressiv allerdings wurde sie trotzdem. All der Ballast, der sich mit ihrer Vergangenheit an sie gehängt hatte. Dazu das triste Regengrau über der Stadt. Das Trommeln der Tropfen auf der Fensterscheibe. Zuletzt, als sie hinter einem Münchner Fenster gestanden und in das trübe Wetter gestarrt hatte, war ihr Vater gestorben. Wie sollte man da nicht depressiv werden?

Julia griff sich eines der Weingläser, die auf dem Schreibtisch ihres Zimmers bereitstanden. Das Hotel verfügte über wenige Einzelzimmer, sie hatte ein Doppelzimmer zur Einzelnutzung ergattert (und das auch noch mit Badewanne!). Auf einer Seite des Doppelbetts hatte sie die Einkäufe ausgebreitet, eine Minute später hatte sie den Wein entkorkt. Der Korkenzieher hatte sieben Euro gekostet, einen Euro weniger als der Rotwein. Rijo Vega, 2014, aus Navarra in Nordspanien. Nie gehört. Hoffentlich hielt der Tropfen das, was das Etikett versprach.

Das Badewasser schoss mit kräftigem Strahl in die Wanne. Julia Durant verteilte ihre Kleidung auf der Betthälfte mit den Einkäufen und nippte an ihrem Glas. Für 13,5% Alkoholgehalt schmeckte der Wein erstaunlich fruchtig. Mitsamt Glas und Flasche verzog sie sich ins Badezimmer. Dann fiel ihr etwas ein. Der Hauptgrund, weshalb ihre Stimmung so abgesackt war. Sie kehrte zum Schreibtisch zurück, wo ihre Handtasche über der Stuhllehne hing. Unentschlossen fingerte sie hinein, bis sie das Papier spürte. Ein Kuvert. Pastor Aumüller hatte es ihr in die Hand gedrückt, als sie sich am Friedhofsausgang Lebewohl sagten. Und damit ihren Vorsatz zunichtegemacht, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen.

»Er ist von ihm«, hatte er gesagt.

»Tatsächlich.« Etwas Besseres war ihr nicht eingefallen.

Sie hätte es ahnen müssen. Aumüller hatte im Plural gesprochen, von mehreren Briefen. Tatsächlich, so hatte er ihr auf dem Rückweg in behäbigem Tempo erklärt, waren es zwei gewesen. Und neben der Bitte, Julia über die Beisetzung in Kenntnis zu setzen, gab es eine weitere Anweisung. Nach der Beisetzung, unabhängig davon, ob sie nun anwesend sei oder nicht, sollte er ihr den Brief zustellen.

»Wie genau waren seine Anweisungen denn? Und gibt es irgendein Datum?« In ihrem Hinterkopf ratterten eine Menge Fragen. Hatte Stephan gewusst, dass Pastor Aumüller noch lebte? Es hätte ja durchaus die Möglichkeit bestanden, dass die Biologie ihm hier einen Strich durch die Rechnung machte. War er selbst schwer krank gewesen? Hatte er gar mit seinem eigenen Ableben gerechnet? Doch wie passte es dann ins Bild, dass er Opfer eines Raubmords geworden sein sollte? Und war die Polizei nicht längst all jenen Fragen nachgegangen? Julia verdrängte diese Stimmen, denn vieles in ihr wehrte sich dagegen, Stephan einen derart großen Raum einnehmen zu lassen.

»Glaub mir, es war sein Herzenswunsch«, bekräftigte der alte Pastor. »In seinen Zeilen war nichts als Reue. Was auch immer er dir damals angetan hat, er wollte sich dafür entschuldigen. Bei dir und bei mir. Und bei deinem Vater, aber dafür ist es ja leider zu spät.«

Julias Fäuste ballten sich. Dieses Arschloch! Sie hatte seine Entschuldigung damals genauso wenig gebraucht wie heute. Er hätte so vieles machen können, mit ihr reden, mit ihr streiten oder sich wieder scheiden lassen. Stattdessen vögelte er sich kreuz und quer durch die Firma. Und jetzt stand sie da. Genauso blöd wie damals. Und er war tot. Keine Chance, ihm seine Entschuldigung um die Ohren zu hauen.

Warum hatte er überhaupt schon ans Sterben gedacht? Stephan war gerade mal drei Jahre älter als Julia. Da rechnete man doch nicht mit seinem Tod! Andererseits: Was bedeutete schon das Alter in Zeiten, in denen der Krebs schon unter den jüngsten und gesündesten Menschen um sich griff. Dieser verdammte Teufel. Julia ertappte sich selbst auch hin und wieder bei düsteren Gedankenspielen um ihre eigene Sterblichkeit. Doch diese verpufften wieder. Stephan dagegen hatte sich an Aumüller gewandt. Passte das zu ihm? Vor allem, wenn er vorgehabt hatte, sein exzessives Leben ungebrochen fortzusetzen? Rauchend, trinkend und wer weiß was noch … Julia versuchte, die konkreten Vorstellungen zu unterdrücken. Es gelang ihr nur teilweise.

Sie trank einen weiteren großen Schluck Wein, bevor sie mit zitternden Händen den Brief entfaltete. Behutsam, damit der Schaumberg auf dem Badewasser das Papier nicht berührte.

 

Schon bei der Anrede stockte ihr der Atem.

Er verwendete ihren Kosenamen!

Eine Anrede, die Julia nie wieder jemandem gestattet hätte, nicht einmal in Gedanken. Vieles zwischen den Zeilen wirkte, als habe er den Brief schon vor Jahrzehnten geschrieben. Direkt nach dem großen Bruch.

Julia überflog den Brief (es handelte sich eindeutig um Stephans bogenreiche Handschrift), hielt kurz inne und las ihn dann ein zweites Mal.

 

Du wunderst Dich vielleicht, warum ich Dir schreibe. Warum ausgerechnet jetzt, warum überhaupt. Und ich hoffe und bete, dass Du den Brief nicht direkt zerrissen hast.

Was ich Dir jetzt sage, klingt vermutlich nach einem schlechten Film. Aber trotzdem: Wenn Du diese Zeilen liest, dann bin ich tot. Vielleicht hast Du mich längst vergessen – ich könnte es Dir nicht verdenken. Aber ich habe Dich nie vergessen. Auch wenn ich das Recht darauf verspielt habe, was wir hätten haben können.

Weißt Du noch, als wir »Zurück in die Zukunft« angeschaut haben? Ich bin wohl das, was man dort als »feige Sau« bezeichnet. Das hilft Dir jetzt nichts mehr, das weiß ich. Aber ich hatte nie die Chance (und nie den Mut), es Dir zu sagen. Ich wollte nicht, dass es so mit uns endet. Du musst mir das nicht glauben, denn dafür habe ich Dir durch mein Verhalten sicher keinen Grund gegeben. Aber ich weiß es trotzdem. Ich habe Dich mehr geliebt als jemals eine andere. Weder vor Dir noch danach. Ich habe ein paar einsame Jahre hinter mir. Mein Aussehen (Du hast mir immer gesagt, ich sei ein toller Hecht) ist im Laufe der Jahre nicht unbedingt besser geworden. Meine Firma wurde von der Konkurrenz geschluckt. Keine der Frauen – und ich schäme mich heute für jede einzelne – ist an meiner Seite geblieben. Das wollte ich auch nicht. Ich war von einer krankhaften Sexsucht besessen, anders kann ich es mir nicht erklären, warum ich eine Frau wie Dich verprellt habe.Julia, ich liebe Dich. Ich habe damit niemals aufgehört. Und auch wenn ich es nicht verdient habe, so wünsche ich mir nur eines: Behalte mich so in Erinnerung, wie ich vorher war. Wenigstens einen Moment, und wenn es nur ein Augenblick ist, in dem wir beide glücklich waren. Es gab davon eine Menge, und ich zehre, wenn ich auf mein Leben zurückblicke, nur von diesen Erinnerungen. Seit unserer Trennung ist mir wenig Gutes widerfahren. Mein Herz ist kaputt, vielleicht hat der liebe Gott das absichtlich gemacht, weil ich Deines gebrochen habe. Ich werde bald vor ihn treten. Und ich habe Angst davor. Nicht, weil ich besonders gläubig bin. Im Gegenteil. Weil ich allein bin. Und auch wenn ich nicht wiedergutmachen kann, was ich damals getan habe, so möchte ich Dir wenigstens gesagt haben, dass es mir aus tiefster Seele leidtut. Dass ich begriffen habe, wie bescheuert ich war. Was ich verloren habe. Und dass es einzig und allein meine eigene Schuld ist. Damit musste ich leben, und es ist nur fair, wenn Du von uns beiden das bessere Leben geführt hast.

Ich liebe Dich.

Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder.

Dein Stephan

 

Eine Sturmbö trieb dicke Tropfen an die Fensterscheibe.

Julia Durant bebte. Ihre Tränen strömten in Richtung Badewasser. Sie konnte sich nicht bewegen, nichts sagen, nirgendwohin.

Dieser verdammte Scheißkerl. Dieses arme Schwein.

Sie hatte ihn so sehr geliebt.

Donnerstag

Donnerstag, 12. September, 7:20 Uhr

Am nächsten Morgen checkte die Kommissarin noch vor dem Frühstück aus.

»Aber Sie haben dafür bezahlt«, entgegnete die Asiatin an der Rezeption. »Ich kann das jetzt nicht mehr zurückbuchen.«

»Brauchen Sie auch nicht«, erwiderte Durant mit belegter Stimme. »Ich muss nach Frankfurt. Es eilt.«

Die junge Frau musterte sie mit Argwohn, nickte und nahm die Schlüsselkarte entgegen.

»Ein Snickers und eine Cola«, erklärte Durant, um der Frage nach der Minibar zuvorzukommen. Schob eine Zehneuronote über den blank polierten Stein und zwang sich zu einem Lächeln. »Stimmt so.«

»Danke. Und gute Heimreise.«

Die werde ich brauchen, dachte sie. Spätestens ab Würzburg würde der Verkehr unerträglich dicht werden, im Pendelverkehr ersticken. Ein Grund mehr, München so schnell wie möglich hinter sich zu lassen.

Fast so überstürzt wie damals. Als sie zum ersten Mal nach Frankfurt geflohen war.

Weg von Stephan.

Etwas stieß säuerlich in Julias Kehle auf.

Bloß weg.

Und dabei wusste die Kommissarin ganz genau, dass sie sich mit dem Ableben ihres Ex-Manns noch beschäftigen würde. Denn die Kripo München hatte die Sache mit dem kaputten Herzen entweder nicht gelesen oder nicht richtig beachtet.

Stephan schien krank gewesen zu sein. Er wusste, dass er in absehbarer Zeit sterben würde. Konnte sein Tod nicht doch ein Selbstmord gewesen sein? Oder war alles eine Verkettung unglücklicher Umstände? Waren ein paar Junkies der Natur zuvorgekommen?

Irgendwer musste das alles doch herausfinden.

Julia Durant hätte am liebsten geschrien und ins Lenkrad gebissen. Sie hasste den Gedanken daran, dass sie diese Person sein würde.

Ob sie nun wollte oder nicht.

9:42 Uhr
Frankfurt

Claus Hochgräbe saß an seinem Schreibtisch im vierten Stock des Polizeipräsidiums. Hinter ihm eine fensterlose Wand mit dem Foto des alten Präsidiums in der Friedrich-Ebert-Anlage, zwischen Messe und Hauptbahnhof. Der alte Prunkbau, gelber Sandstein mit Dutzenden Sprossenfenstern und einer Menge Ornamenten, sorgte seit Jahren für Streit. Mal ging es um die U-Bahn, die darunter verlaufen sollte. Mal um neue Hochhäuser, die an dessen Stelle errichtet werden sollten. Hochhäuser, die so massiv waren, dass sie keine Untertunnelung erlaubten. Und wieder einmal stritt man über die Notwendigkeit von noch mehr überteuertem Mietraum. Angeblich wollten die Stadt und der Investor, der sich den Gebäudekomplex gesichert hatte, behutsam mit dem großen Erbe umgehen. Was auch immer das heißen mochte. Julia Durant hatte ihren Lebensgefährten einmal hineingeführt, auf den Spuren ihrer ersten Dienstjahre in Frankfurt. Die Vergangenheit schien hier hinter jeder Tür weiterzuleben, auch wenn die Jahre des Leerstands und mancher illegaler Nutzung deutliche Spuren hinterlassen hatten.

Aus dem Fenster zu seiner Rechten konnte Hochgräbe die Eschersheimer Landstraße sehen. Eine zentrale Verkehrsader, umrahmt von Supermärkten und öffentlichem Nahverkehr. Zumindest strategisch hatte die Lage des neuen Präsidiums nichts eingebüßt. Hochgräbe blickte auf die Wanduhr, die oberhalb des verstaubten Gummibaums hing. Beides hatte sein Vorgänger ihm hinterlassen. Noch eine Viertelstunde bis zur Dienstbesprechung. Zeit genug für ein Telefonat mit Julia. Wenn sie es tatsächlich so früh auf die Autobahn geschafft hatte, dürfte sie mittlerweile schon irgendwo bei Nürnberg sein.

»Wo bist du?«, erkundigte er sich Sekunden später, nachdem sie Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hatten. Im Hintergrund rauschte es.

»Nähe Aalen. Ich fahre die A7 hoch.«

»Ach so. In Ordnung. Wie geht’s dir denn?«

»Reden wir nicht drüber. Ich musste einfach nur raus aus der Stadt, auch wenn ich tausend Fragen im Kopf habe.«

»Fragen wegen des Mordes?«

Julia bestätigte. »Wie kann es sein, dass man das schon ad acta legt? Warum wurde ich nicht früher verständigt? Wer ist dafür verantwortlich …«

Claus wollte etwas sagen, doch Julia lieferte die Antworten allesamt selbst. Ihre Scheidung lag eine halbe Ewigkeit zurück. Wer war denn noch auf dem Revier, der sich an sie erinnerte? Die meisten Kollegen gab es nicht mehr. Außerdem hatte sie den Kontakt damals weitgehend abgebrochen. Wenn überhaupt, dann war es Claus, der noch Verbindungen zu einigen Köpfen der Mordkommission hatte.

»Komm du mir erst einmal heil in Frankfurt an«, mahnte er. »Dann reden wir noch mal.« Vielsagend kichernd fügte er hinzu: »Du brauchst nicht in München nach Antworten zu fischen, wenn der beste Angler in Frankfurt sitzt und zufällig auch noch dein Chef ist.«

 

Zwanzig Minuten später, die Dienstbesprechung hatte gerade erst begonnen, ereilte die Mordkommission eine wichtige Nachricht. Auf einem der Ohrringe des getöteten Mädchens war ein Teilabdruck gefunden worden. Dieser hatte zu einem weiteren Treffer geführt. Niclas Kornmann, dreiundzwanzig Jahre alt. Gemeldet in einer Reihenhauswohnung in Griesheim, dem östlich angrenzenden Stadtteil von Nied. Eine Adresse, die jeder Polizeibeamte als Zentrum eines sozialen Brennpunkts kannte, auch wenn die Stadtväter alles versuchten, solche Stigmata loszuwerden. Es gab sie trotzdem. Und hatte man erst einmal ein solches Etikett, wurde man es nur schwer wieder los.

Frank Hellmer erklärte sich bereit, den ersten Kontakt zu Kornmann zu knüpfen.

War er die Person, die sich hinter Kendra oder Kira verbarg?

»Okay.« Claus Hochgräbe nickte. »Wen nimmst du mit?«

»Ich wollte es allein durchziehen.« Es war kein Geheimnis, dass Hellmer lieber alleine arbeitete, wenn seine enge Freundin Julia Durant nicht verfügbar war.

»Kommt nicht infrage«, widersprach Hochgräbe. »Du musst Fingerabdrücke und eine Speichelprobe nehmen, damit wir absolute Gewissheit haben. Entweder wir laden Kornmann erkennungsdienstlich vor, oder ihr übernehmt das zu zweit.«

»Ist ja schon gut.«

»Außerdem könnt ihr euch gleich noch den Friseur vorknöpfen. Da wird doch sicher eine Menge geredet.«

Hellmer wählte Peter Kullmer als seinen Partner.

Niclas Kornmanns Abdrücke waren wegen Raub mit Körperverletzung im System. Sein Konterfei deutete darauf hin, dass er ein Mann voller Testosteron war. Ein sehniger, muskelbepackter Schlägertyp, ohne Schulabschluss. War es die Perspektivlosigkeit, die Aussicht auf ein Leben, in dem er um alles und jedes kämpfen musste, die ihn dazu gemacht hatten?

Insgeheim fand Hellmer es nun gar nicht so verkehrt, einen Partner an seiner Seite zu wissen.

Einen Mann.

 

Im Lauf der Besprechung war das Gespräch auch auf Julia gekommen. Ihre Kollegen kannten den Grund, weshalb sie einst nach Frankfurt gewechselt war. Doris Seidel konnte es ihr aus eigener Erfahrung nachempfinden. Auch sie war einmal mit den Scherben ihrer Beziehung im Gepäck in die Stadt gekommen. Aus Köln. All ihre Stärke, ihre Durchsetzungskraft und ihr schwarzer Kampfsport-Gürtel hatten ihr nichts genützt. Das eigene Fell mochte noch so dick sein: Wenn eine Seele blutete, dann tat sie es auf unerträgliche Weise.

Doch Hellmer, Kullmer und Seidel wussten noch mehr: Julia Durant hatte ihre Vergangenheit hinter sich gelassen. München konnte ihr nichts mehr anhaben. Und selbst von dieser – schweren, unerwarteten – Reise würde sie zurückkehren. Stärker als zuvor. Und dann wäre das Thema für immer vorbei.

Dachten sie zumindest.

11:05 Uhr

Schon im Treppenhaus roch es nach kaltem Rauch. Beiden Kommissaren war klar, dass hier nicht nur herkömmlicher Tabak konsumiert wurde. Die Wände waren fleckig, überall Schmierereien und angeklebte Zettel. Einer davon, schon etwas verblichen, zeigte das Foto einer vermissten Katze. Der gelbstreifige Tintendruck bot einen gewissen Spielraum bei der Phantasie, wie das Tier in Wirklichkeit wohl aussehen dürfte. Und so verzweifelt der Text auch klang: Hellmer schätzte, niemand in diesem Haus würde sich ernsthaft an der Suche beteiligt haben. Denjenigen, die keine Tiere hatten, war es vermutlich gleichgültig. Und dann gab es die vielen Katzenhasser, die sich vielleicht insgeheim ins Fäustchen lachten, dass es nun ein Exemplar weniger gab. Denn spätestens, wenn man vor dem Haus in eines der Geschäfte trat, wuchsen Aggressionen. Hellmer dachte an Giftköder, die immer wieder auch die Polizei beschäftigten. Nicht die Mordkommission allerdings, denn bei Haustieren sprach man nur von Sachbeschädigung. Es war eine seltsame Welt.

Hellmer atmete schwer und beschloss, seine Gedanken zurück auf die menschlichen Abgründe zu richten.

»Ist alles klar bei dir?«, wollte Kullmer wissen, während sie langsam die Stufen hinaufschritten.

»Ist deprimierend hier«, antwortete Hellmer.

»Gib’s zu. Du machst dir Sorgen um den Porsche.« Kullmer lachte. Immer wieder zog er seinen Kollegen damit auf, dass er seinen 911er als Dienstwagen benutzte. Dennoch stieg er sehr gerne bei ihm ein.

»Blödmann«, konterte Hellmer. »Aber ich will ihn ohnehin loswerden.«

»Echt? Ein Grund mehr, dass es besser wäre, wenn nachher noch alle vier Räder dran sind.«

Hellmer bereute, sich auf das Thema eingelassen zu haben. »Wir sind da«, sagte er schnell und deutete auf eine mattschwarze Tür. Es sah so aus, als hätte sie jemand mit einer Farbrolle bearbeitet. Genau wie den umliegenden Türrahmen, allerdings ohne die umgebende Wand vernünftig abzukleben. Überall waren Kleckser und Streifen zu sehen. Auf Augenhöhe zogen bunte Aufkleber einer sogenannten Stickerbomb die Blicke auf sich, die den Türspion umringten, als wollten sie ihn in all ihrer Farbenpracht tarnen. Rauchende Skelette, Bikinifrauen, Superhelden und zwei eiserne Kreuze. Mit letzteren Symbolen ging die junge Generation nach Hellmers Erfahrung erschreckend arglos um.

Er fand den Klingeldrücker, umrahmt von Klebeband, offenbar war die gesamte Mechanik darunter lose. Etwas mulmig, weil er keine Lust auf einen elektrischen Schlag verspürte, drückte er behutsam mit dem Daumennagel auf den Knopf.

Im Moment, als die Türklingel ertönte, brach eine Orgie von Hundegebell los, die alles andere überlagerte. Dann eine wütende Männerstimme und der Einschlag eines Wurfgeschosses. Winseln. Stille.

Sekunden später wurde die Tür aufgerissen. Zweifelsfrei handelte es sich um Niclas Kornmann. Barfuß, schwarze Trainingshose, fleckiges T-Shirt. In der Rechten hielt er einen Baseballschläger.

»Was wollen Sie?«

Wenigstens konnte er sprechen. Siezte sie sogar.

Hellmer und Kullmer hielten ihre Ausweise hoch. »Kriminalpolizei Frankfurt.«

Hellmer richtete den Zeigefinger in Richtung Schläger: »Was soll das denn?«

Kornmann kniff die Augen zusammen. Graue Schatten deuteten auf einen Mangel an Schlaf und eine Überdosis an Videospielen hin.

»Man weiß ja nie«, presste er hervor und bugsierte den Schläger in die Ecke neben der Tür. Der vordere Bereich war fleckig. Hellmer fragte sich gerade, ob etwas davon menschlichen Ursprungs sein könnte, als Kornmann erneut fragte: »Was wollen Sie von mir?«

»Wir wollen zu Ihnen, das stimmt schon mal«, meldete sich Kullmer zu Wort.

Hellmer ergänzte: »Dürfen wir reinkommen?«

Zuckte der Mann zusammen? Falls ja, überspielte er jede Unsicherheit sehr gut.

»Was gibt es denn?« Noch machte Kornmann keine Anstalten, die Tür freizugeben.

»Wie gesagt, wir würden gerne rein«, wiederholte Hellmer.

»Wollen Sie das wirklich?« Kornmann bleckte die Zähne. »Mein Pitbull mag keine Cops.«

»Klang ja eben so, als hätten Sie ihn k. o. geschlagen.« Kullmer reckte betont neugierig den Hals. »Wo ist er denn?«

»Das war eine Flasche mit Kronkorken. Wirkt besser als Elektroschocks und Ultraschall.«

Wie ein Mann, der kürzlich seine Freundin umgebracht hatte, wirkte Kornmann nicht gerade, dachte Hellmer, bevor er sich räusperte. »Herr Kornmann, wir sind nicht wegen irgendwelcher alter Geschichten hier …«

»Ach nein? Weshalb denn dann?«

»… wir interessieren uns auch nicht für Ihren Kampfhund oder den Geruch nach Gras, der einem hier entgegenschlägt«, griff Kullmer den Faden auf.

»Es geht um Ihre Freundin«, schloss Hellmer.

»Meine Freundin.«

Dieser Typ war eine Wand. Er ließ alles an sich abprallen, vermutlich eine Überlebensstrategie. Wer nichts preisgab, machte sich nicht angreifbar.

»Kommen Sie.« Hellmers Ton wurde schärfer. »Sie sind doch kein Papagei. Ihre Freundin. Laura. Oder haben Sie mehrere?«

»Wie? Nein!« Kornmann schien allmählich zu begreifen, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, wenn die Kripo zu ihm kam, um sich nach seiner Freundin zu erkundigen. Auf der Stirn bildete sich ein glänzender Film. »Was ist denn mit Laura?«

Hellmer atmete schwer. Gab es im Leben eines Polizisten etwas Schwierigeres, als diese Frage zu beantworten? Überbringer einer Nachricht zu sein, die selbst das unnahbarste, dominanteste Gegenüber in ein Häufchen Elend verwandelte?

Und war es, taktisch betrachtet, wirklich eine gute Idee, schon zwischen Tür und Angel mit dieser Information rauszurücken? »Vielleicht sollten wir doch besser reingehen.«

Kornmann verschränkte die Arme. »Ich weiß doch, wie das läuft. Bin schon mal in so eine Sache reingeraten. Schickt Lauras Mutter Sie? Oder dieser andere Wichser?«

»Nein. Bedaure«, sagte Hellmer.

Kullmer gab sich einfältig: »Wollen Sie etwa behaupten, jemand anders habe damals diese alte Frau niedergeschlagen und ihr Geld und Schmuck gestohlen?«

Kornmann winkte ab und wandte sich an Hellmer: »Also. Es geht um Laura. Was ist mit ihr?«

»Es tut uns leid«, antwortete Hellmer, und er musste schlucken. »Laura ist tot aufgefunden worden.«

Der Boden unter den Füßen des Jungen schien nachzugeben. Er taumelte, griff nach dem Türrahmen, und sämtliche Reste von Farbe wichen aus seinem Gesicht.

Hellmer führte ihn ins Wohnungsinnere, Kullmer schloss die Tür. Ein wütendes Knurren ließ die Männer in ihren Bewegungen erstarren.

»Ist gut. Platz!«, befahl Kornmann mit einem Zittern in der Stimme. Sichtlich widerwillig gehorchte das Tier und ließ sich auf einer zerbissenen Decke nieder. Sein Herrchen befreite sich von Hellmer, räumte zwei Arme voll Kleidung von der Couch und ließ sich darauf sinken. Die Kommissare hockten sich neben ihn. Sessel gab es keine. Ein gigantischer Monitor an der gegenüberliegenden Wand war auf Standbild gestellt. Auf dem Tisch ein Controller. Kornmann musste bis zu ihrem Eintreffen gezockt haben.

Das Verhalten eines Mörders? Nein. Hellmer wusste nicht, was er von dem Jungen halten sollte. Doch andererseits, sagte er immer, hatte man auch schon Pferde kotzen sehen.

»Laura wurde am Nidda-Ufer gefunden. Nicht weit von zu Hause. Sie wurde ermordet«, fasste Hellmer das Nötigste zusammen und hielt kurz inne, bevor er fragte: »Waren Sie beide ein Paar?«

Kornmann zuckte mit den Schultern. »Und wenn?«

»Wir haben … Hinweise darauf gefunden, dass Laura …«

»… Geschlechtsverkehr hatte«, vollendete Kullmer den Satz. Hellmer sah ihn dankbar an und fragte sich, weshalb er sich heute so schwertat.

»Aha.« Niclas Kornmann schien wieder seinen Schutzpanzer aus Arroganz und Härte zu tragen. Sein Augenblick der Schwäche war vorbei.

»Ach, kommen Sie.« Kullmer sah ihn forschend an. »Eben wären Sie fast in die Knie gegangen, und jetzt tun Sie so, als wäre das alles scheißegal! Mensch. Laura war fast noch ein Kind!«

Seine Worte verfehlten nicht ihre beabsichtigte Wirkung.

»Was wissen Sie denn schon?«, fauchte Kornmann. »Laura ist … sie war … das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist. Seit dieser Sache damals« – zweifelsohne meinte er damit den Raub und die Körperverletzung – »hat es nicht mehr viel Gutes gegeben. Diese Gegend hier ist Dreck. Die Cops haben sie abgeschrieben. Und die Leute hier gehen jedem am Arsch vorbei. Laura war anders. Trotz ihrer Eltern.« Das letzte Wort sprach Kornmann derart verächtlich aus, als sei es pures Gift in seinem Mund. »Wir haben uns geliebt, begreifen Sie das? Geliebt!«

»Auch in der Nacht von Sonntag auf Montag?«, platzte es aus Kullmer heraus.

Kornmanns Kopf flog herum. »Was soll das denn jetzt? Sie …« Er nahm die Hand vor den Mund und riss die Augen auf. »Soll das heißen, ich bin verdächtig?«

»Zum aktuellen Zeitpunkt ist das wohl jeder«, erklärte Kullmer, doch Hellmer signalisierte ihm, etwas anderes sagen zu wollen.