Der folge mir nach - Micha Theis - E-Book

Der folge mir nach E-Book

Micha Theis

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Beschreibung

"Der folge mir nach" ist ein historischer Roman, der den Zeitraum 1940 bis 1977 umspannt und sich aus drei Teilen zusammensetzt. Die Handlung des ersten Teils umfasst die Jahre 1939 bis 1948 und thematisiert das Schicksal junger deutscher Soldaten während Frankreichfeldzug, Besatzungszeit und Kriegsgefangenschaft. Der zweite Teil schildert Lebenserfahrungen einer deutschen Familie vor dem Hintergrund der Wirtschaftswunderjahre bis zum Jahr 1963. Im dritten Teil schließlich stehen die Jahre 1968 bis 1977 im Fokus. Das Thema Verstrickung und Verantwortung, welches für Deutschland Ende der 60er Jahre prägend wird und bis heute andauert, dominiert das Leben des Protagonisten Erich Pfeifer bereits seit seiner Rückkehr nach Deutschland, da er unter schweren Schuldgefühlen leidet. Der junge Soldat Erich Pfeifer wird 1941 an der südlichen Atlantikküste stationiert und verliebt sich in eine dort lebende Französin, Martine Ribas. Von der Schwangerschaft Martines wird Erich nichts erfahren, denn nach einer Denunziation im Juli 1944 flieht Martine mit ihrem Schulfreund Antoine Leroux an das andere Ende Frankreichs, nach Grenoble. Eine Besonderheit ist Erichs Talent als Zeichner. Sein Sohn Thomas wird Jahrzehnte später in den Besitz von Erichs Skizzenheften kommen, es seinem eigenen Sohn zeigen und Erichs Lebensgeschichte daran noch einmal Revue passieren lassen. Erich kehrt 1948 nach Deutschland zurück, studiert Kunst und wird in der Kleinstadt Sobern an einem Gymnasium Kunst unterrichten. Im zweiten Teil des Romans kommt Erichs Tochter aus seiner Beziehung mit Martine, Catherine, als sechszehnjährige Austauschschülerin nach Sobern. Erich und Catherine begegnen sich, doch sie erfahren nicht, dass sie Vater und Tochter sind. Im dritten Teil rückt Erichs Sohn Thomas in den Fokus. Thomas lernt junge Franzosen kennen und mit ihnen eine Welt, die dem Heranwachsenden neue Perspektiven auf die Beziehung von Deutschen und Franzosen eröffnet. Der dritte Teil thematisiert überdies den kulturellen Umbruch, der mit der Bewegung der Achtundsechziger verbunden ist. Während einer Urlaubsreise nach Peru geraten Erich und seine Frau Inga schließlich in eine lebensbedrohliche Situation, durch die sie zur erlösenden Antwort auf ihre Fragen gelangen. www.michatheis.de

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Seitenzahl: 436

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Vorwort

Erstes Buch

Fußball am Strand

Erster Teil

Zweiter Teil

Zweites Buch

Pute du Boche – Deutschendirne

Erster Teil

Zweiter Teil

Drittes Buch

Kontinentaldrift

Erster Teil

Zweiter Teil

Epilog

Personentableau

Vorwort

Der Impuls zu diesem Roman geht auf eine reale Begegnung zurück, die Begegnung mit Robert und Catherine. Ihnen bin ich zu allergrößtem Dank verpflichtet, denn durch sie gelangte ich zu einem neutralen und sachlichen Bericht über einige Ereignisse in und um die Villa Rufus (auch wenn ich diesen Bericht aus nachvollziehbaren Gründen und in dichterischer Freiheit etwas , ausmalen‘ musste). Jahrzehntelang hatte ich mich mit der deutschen Besetzung Frankreichs beschäftigt und war dabei unter anderem auf die Tatsache gestoßen, dass aus den liaisons deutscher Soldaten mit Französinnen in den Jahren 1940 bis 1944 weit über zweihunderttausend Kinder hervorgingen, in aller Regel unehelich, und dass heute etwa eine halbe Million Franzosen einen deutschen Großvater haben. Dies kann kaum erstaunen, hielten sich doch in den besagten Jahren circa zwei Millionen Soldaten der Wehrmacht zeitweise in Frankreich auf, viele junge, gutaussehende Männer. Und sie gingen – auch wenn es ihnen verboten war, Beziehungen mit Französinnen einzugehen – auf ganz natürliche Weise mit der Kontaktsituation um … so, wie es alle jungen Menschen in diesem Alter tun. Der Titel des ersten Teils „Fußball am Strand“ steht für die Unbekümmertheit jener jungen Männer, die sich ihr Schicksal nicht ausgesucht hatten.

Das Schreibprojekt zu diesem Stoff verdichtete sich also nach jener denkwürdigen Begegnung mit Robert und Catherine (die ich in „Fußball am Strand“ so wahrhaftig wie möglich schildere). Für die historischen Hintergründe der „Kinder der Schande“ bin ich Picaper & Norz (2005) dankbar, Gaida (2014) für die Details zum Atlantikwall und Scherf (2016) zum Schicksal deutscher Kriegsgefangener am Atlantik. Über die Schlacht um die Festung Gironde-Süd konnte ich mich bei Dufourg & Mangé (1955) informieren.

Doch womit ich nicht gerechnet hatte, nachdem ich die letzte Zeile von „Fußball am Strand“ geschrieben hatte, war Folgendes: Ich bemerkte, dass mich Erich Pfeifer nicht mehr loslassen würde. Er nistete sich einfach in meiner Fantasie ein, weigerte sich, das Feld zu räumen, ja: bedrängte mich, ihn nun bloß nicht im Stich zu lassen. Ich gab seinem Drängen nach und begann die Arbeit an „Pute du boche, Deutschendirne“. Diesmal allerdings kehrte ich zusammen mit Erich in meine Heimat im Südwesten Deutschlands zurück, wo die Fäden mühelos und wie von selbst zusammenliefen: Sobern ist wie Soulac keine Erfindung. Der Stoff, der sich nun vor mir ausbreitete, war mir aus eigener Kindheit und aus den Erzählungen meiner Familie bestens bekannt. Die fünfziger und frühen sechziger Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs und auch eine Zeit großer Freiheit, großer Unbekümmertheit. Doch die Verschickung deutscher Soldaten innerhalb Europas hatte das Weltverständnis und Welterleben der Betroffenen für immer verändert. Sie hatten am eigenen Leib erlebt, dass es noch anderes gibt als die kleine Welt ihrer Heimat.

Kaum war der letzte Punkt in „Pute du boche, Deutschendirne“ gesetzt, bestand Erich wieder unbeirrbar auf einer letzten Fortsetzung. Ich wusste bereits, dass ich den Jahren achtundsechzig bis siebenundsiebzig nicht ausweichen konnte: Es war meine eigene Jugend! Also schrieb ich mich auch in diese verzwickten Jahre hinein, in denen die Unbekümmertheit wieder verloren ging und die „Kontinentaldrift“, das Auseinandertreiben der Generationen und Kulturen, Fahrt aufnahm.

Jedes Mal, zuerst bei „Fußball am Strand“, dann bei „Pute du boche, Deutschendirne“ und zuletzt bei „Kontinentaldrift“, nahm ich mir vor, eine autonome Geschichte zu erzählen, wenn auch im Falle der beiden letzteren chronologisch, thematisch und personell an die Vorgängererzählung anschließend. Ich stellte mir also ursprünglich drei separate Erzählungen vor. Doch gegen Ende des Schreibprozesses kam ich nicht umhin, feststellen, dass die Trennung unplausibel und ihre Vereinigung zwischen zwei Buchdeckeln plausibler war. Dies wiederum musste auf Grund der Länge und Komplexität unweigerlich das Format der Erzählung sprengen: Die Erzählung mutierte zum Roman.

Zuletzt: Erich Pfeifer. Erich zieht in den Krieg, doch er wird nicht zum Krieger, vielmehr entdeckt er die Liebe. Und er hat ein künstlerisches Talent, er kann zeichnen und malen … Er wird den Mut haben, dieses Talent zu seinem Beruf zu machen. So wie die allermeisten Menschen sucht und findet auch er seinen Platz in der Gesellschaft. Erich ist Ingas Ehemann und er ist vierfacher Familienvater. Inga passt sich exakt an seine und an die damaligen gesellschaftlichen Rollenerwartungen an. So weit so normal in jenen Jahren. Allerdings hat Erich seit den Jahren als Soldat in Frankreich ein Geheimnis, das sein Leben mitbestimmen wird. Wie weit auch dies einer erlebten Normalität entspricht, mag jeder Leser selbst entscheiden.

Tübingen, 2025

Quellen, u.a.:

Dufourg, Robert & Mangé, Geneviève (1955). La bataille pour la pointe de Grave. Revue historique de Bordeaux et du département de la Gironde, tome 4, 2, pp. 135-156. (doi : https://doi.org/10.3406/rhbg.1955.1750)

Gaida, Peter (2014). Der Atlantikwall in Aquitanien. Baumeister und Zwangsarbeiter im Dienste Hitlers. Wroclaw, Amazon.

Picaper, Jean-Paul und Norz, Ludwig (2005). Die Kinder der Schande. Das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich.

München und Zürich, Piper Verlag.

Scherf, Karin (2016). Spurensuche am Atlantik. Briefe aus französischer Kriegsgefangenschaft. Berlin, Verlag Neues Leben.

Erstes Buch

Fußball am Strand

Erster Teil

1

Es kommt vor, dass man als junger Mensch, ohne es zu wissen oder zu ahnen, Dinge erlebt oder Orte besucht, die man später nie wieder erleben oder besuchen wird, obwohl es durchaus möglich wäre, sie wieder zu erleben oder zu besuchen. Auch Erich dachte, als alles vorbei war, dass er diesen Ort vielleicht niemals wiedersehen würde.

Soulac, Ende Mai 1941.

Als der Wagen den Strand erreicht, stockt ihnen der Atem. So etwas Herrliches hat Erich noch niemals gesehen. Vor ihm erstreckt sich nach beiden Seiten ein schier endloser und hell leuchtender Sandstrand und dahinter der weite Ozean. Das Meer hat er schon einmal in der Normandie gesehen, aber das hier ist anders. Das Licht ist anders. Es verwandelt den Strand in ein einziges glitzerndes Band, auf das die Wellen mit sich wild auftürmender und ganz am Ende erst abflachender Brandung zurollen und das den Betrachter zu einem kleinen Punkt schrumpfen lässt, während sich das Gegenüber zu unendlicher Weite ausdehnt. Minutenlang stehen sie vor diesem Anblick, regen sich kaum, saugen sich mit Bildern voll. Mitten im Meer ragt der Leuchtturm von Cordouan empor, und als Erich sich einmal kurz umdreht, lugen die verzierten Giebel einiger Villen hinter der Düne hervor.

Was machen wir hier? Die Frage braucht nicht ausgesprochen zu werden, allein der Anblick des Meeres und der Dünen legt sie nahe. Ja, was machen sie nun hier? Aber wie immer im Krieg sind schon andere vorher gekommen, um Vorbereitungen zu treffen für die, die nachkommen. Aufklärungseinheiten und durchziehende Verbände waren schon da, dann kam die Garnison mit der Kommandantur. Der Quartiermeister hat Villen beschlagnahmt, genug, um auch das erwartete Flakbataillon einzuquartieren. Erich und zwei Kameraden beziehen ein Häuschen in der Avenue de la Pointe de Grave in unmittelbarer Nähe der Kommandantur und des Offizierskasinos.

Erich spürt, dass seit seiner Ankunft alle seine Sinne hellwach sind, so als ob er eine anregende Droge eingenommen hätte. Das Licht, die Luft, die Farben haben regelrecht Besitz von ihm ergriffen, und noch am Abend macht er einen kleinen Spaziergang mit dem Skizzenheft zum Strand. Er hat dieses Bedürfnis, in jeder freien Minute Skizzen und Zeichnungen anzufertigen, das macht er nun schon seit sieben, acht Jahren, als Dreizehnjähriger packte es ihn, er ist talentiert. Aber er ist auch kein Träumer, er begeistert sich für alles Praktische, vorausgesetzt, es spricht seine Sinne an. In der Schule mochte er fast alle Fächer, besonders aber Physik. Er liebte die Ästhetik der physikalischen Gesetze und ihrer Anwendungen. Oft fertigte er physikalische Zeichnungen an, ohne sich jedoch weitergehend damit zu beschäftigen. Es genügte ihm, die Ästhetik zu spüren und sie zu Papier zu bringen. Er ist kein Intellektueller. Selbst die Offiziersausbildung mit all ihren Strapazen war keine reine Quälerei für ihn, obwohl er in der Grundausbildung sehr geflucht hatte und kurz davorstand, sich die Offizierslaufbahn wieder aus dem Kopf zu schlagen. Blond und blauäugig, von hoher aufrechter Statur, entsprach er dem von den Nationalsozialisten favorisierten Phänotyp. Allerdings war er nur mäßig sportlich. Nicht sehr ausdauernd und weltanschaulich völlig desinteressiert. Immerhin, die Waffenkunde weckte seine Neugier, ja die Waffen hatten in seinen Augen (wie in den Augen vieler junger Männer) eine Ästhetik, das war es, was ihn faszinierte. Er war ein guter Schütze, hatte ein gutes Auge und eine ruhige Hand, und am Ende war es die Flak, die für ihn bestimmt schien. Weippert forderte ihn an und schaffte es, ihn ins Bataillon zu holen.

Sie teilen sich zu dritt das Häuschen. Es hat vier kleine Zimmer: unter dem Dachgiebel zwei kleine Schlafzimmer, im Parterre eine Art Arbeitszimmer und einen Wohnraum, eine kleine Küche. Reinhold und Erich schlafen unter dem Dach, Valentin bezieht das Arbeitszimmer, das eine ordentliche Schlafpritsche bekommt. Das Häuschen dient normalerweise irgendeiner Familie aus Bordeaux als Feriendomizil, es ist ohne Luxus eingerichtet. Die drei benutzen die Küche gar nicht, man isst im Offizierskasino, und um die Bettwäsche kümmert sich die Quartiermeisterei. Abends spielen sie Skat.

Reinhold Vetter ist ein großer, dunkeläugiger, schweigsamer Rheinländer, der Vater Volksschullehrer. Er ist nur ein Jahr älter als Erich, aber sein Haar beginnt sich bereits am Ansatz zu lichten. Er hat einen guten Kern. Valentin Hartmann ist noch ein Jahr älter, seine Eltern haben ein Bekleidungsgeschäft in Homburg. Valentin hat einen hintersinnigen Humor, eine gute Bildung und interessiert sich für Erichs Zeichnungen.

Du wirst mal ein richtiger Künstler, wenn das hier alles rum ist. Ich helf dir dann, Ausstellungen auf die Beine zu stellen.

Manchmal machen sie Pläne für die Zeit nach dem Krieg. Reinhold möchte studieren, Mathe, Physik, Chemie könnten ihn interessieren; aber eigentlich möchte er wie sein Vater Volksschullehrer werden. (Ist es wegen seinem Vater? Wohl kaum, Reinhold will Wissen weitergeben, das ist es …). Valentin wird wohl das Geschäft der Eltern übernehmen. Obwohl … Da kommen auch noch andere Optionen in Frage. So richtig will er nicht damit rausrücken, aber er spricht oft vom Reisen. Südamerika, Argentinien, Chile ... Träumen kostet ja nichts. Erich hat keinerlei Vorstellung von der Zukunft. Familie, ja, aber beruflich ...? Vom Zeichnen kann man jedenfalls keine Familie ernähren. Vielleicht als technischer Zeichner.

Erich lässt die Karten noch auf dem Tisch und schaut Valentin an:

Wie lange werden wir hier bleiben?

Meinst Du, wir hier in Soulac oder die Wehrmacht in Frankreich?

Such dir’s aus.

Kann ich in die Zukunft blicken?

Alle drei schweigen.

Valentin durchbricht als erster das Schweigen.

Erich, gefällt’s dir hier? Sag ehrlich.

Schon. Warum nicht. Eigentlich find ich’s hier sogar wunderschön. Aber wie lange wird der Frieden halten?

Reinhold schaltet sich ein:

Du meinst, bis sie uns aufs Haupt schlagen!

Genau.

Valentin muss dazu etwas sagen:

An sowas dürft ihr gar nicht denken. Bisher ist doch alles gutgegangen.

Es heißt, es geht gegen Russland.

Woher willst du das wissen?

Weippert hat’s mir gesagt, bevor er nach Potsdam beordert wurde. Ihr müsst mir versprechen, niemandem was zu erzählen.

Zum ersten Mal sagt auch Reinhold etwas:

Scheiße.

Valentin fällt nichts anderes ein als:

Wir können das schaffen.

Einen Moment lang herrscht absolute Stille. Dann versucht es Valentin noch einmal:

Denk mal an vierzehn, Tannenberg.

Und achtzehn war alles verloren.

Was soll die Schwarzmalerei. Sei jetzt kein Miesepeter, das verdirbt uns nur die Laune.

Sie nehmen das Blatt wieder auf. Achtzehn, zwanzig, …

Zum gleichen Zeitpunkt spricht einige Straßen weiter, im ersten Stock der Rue Courbet 15, Albert Ribas das Tischgebet. Familie Ribas bewohnt die vier Zimmer des ersten Stocks, im Parterre sind ihre Geschäftsräume. Nach dem Vaterunser dankt Albert Ribas dem Herrn dafür, dass die deutsche Besetzung bisher so glimpflich vonstatten gegangen ist. Immerhin, so wurde erzählt, hatten die armen Belgier und Nordfranzosen im Krieg vierzehnachtzehn Plünderungen und Vergewaltigungen über sich ergehen lassen müssen. Die Deutschen waren wie die Hunnen, kulturlos, Barbaren. Und mit Simone und Martine hat die Familie einfach ein schweres Los, zwei junge schutzlose Frauen inmitten einer Horde von Barbaren ... Das alles bedenkt Albert Ribas – insgeheim – in seinem Gebet.

Er hat den großen Krieg mitgemacht, als Achtzehnjähriger war er neunzehnhundertfünfzehn eingezogen worden. Sechzehn war er an der Somme schwer verwundet worden, Artilleriesplitter hatten sein rechtes Bein zerfetzt, man war drauf und dran gewesen, es zu amputieren, doch im letzten Moment hatte ein geschickter Feldchirurg das Wunder vollbracht und das Bein gerettet. Dafür hört Albert nicht auf, dem Herrn in seinen Gebeten zu danken, auch wenn er seitdem etwas hinkt. Nach dem Krieg hat er dann in Soulac in die Schreibwarenhandlung eingeheiratet. Das ist kein schlechtes Geschäft, sie verkaufen auch Presse und Bücher. Das Buchgeschäft hat sich mit der anwachsenden Zahl von Sommerfrischlern nach und nach ausgedehnt, ja im Grunde ist es neununddreißig (fast) die Säule des Geschäfts. Dazu kommt noch eine Konzession für Tabak und Briefmarken. Die ganze Familie arbeitet mit. Die Monate Mai bis September bringen natürlich das Geld in die Kasse, davon muss man über den Herbst und Winter kommen. Und mit seiner kleinen Versehrtenrente und etwas Geerbtem hatten sie ein Auskommen. Mit der Ankunft der Deutschen sind die Sommerfrischler allerdings ausgeblieben. Albert hat rasch reagiert und macht seitdem nebenbei bei einem lokalen Bauunternehmer die Buchhaltung. Dessen Geschäfte gehen gut, er arbeitet für die Deutschen, und sie zahlen gut und pünktlich.

Seltsam, den Einmarsch der Deutschen hatte er sich ganz anders vorgestellt. Plötzlich waren sie da, fuhren mit ihren Motorrädern mit Seitenwagen durch den Ort, sprachen mit dem Bürgermeister, ließen eine kleine Garnison da und verschwanden wieder. Nach kurzer Zeit kamen dann andere, die die Kommandantur in der Rue St. Philippe einrichteten, alle größeren Häuser beschlagnahmten, Schilder aufstellten und die Garnison vergrößerten. Sie benehmen sich alle korrekt, keine Übergriffe, keine Belästigungen. Man beobachtet sogar hier einen deutschen Offizier, der einer Dame im Schreibwarenladen höflich den Vortritt lässt und dort einen anderen, der einer alten Frau den schweren Korb vom Markt bis vor die Haustür trägt. Sie haben gute Manieren, einige sprechen auch etwas Französisch, und in den Cafés und den Restaurants sind sie gern gesehen, sie ersetzen ein wenig die Urlauber. Man spricht mit ihnen, sie zahlen ihre Rechnungen und geben sogar ein Trinkgeld. Was ist ihr Plan? Was führen sie im Schilde? Was wollen sie als Gegenleistung? Albert bleibt misstrauisch. Bei aller Freundlichkeit, es ist eine Besatzungsmacht, die Deutschen bestimmen alles.

Wenn nicht die Waren immer knapper würden und wenn nicht die Sommerfrischler ausblieben ... Die Schreibwarenhandlung leidet stark unter der Sperrzone.

Auch Simone und Martine haben letztes Jahr im Juni angstvoll die Ankunft der deutschen Truppen beobachtet, wie sie auf ihren Motorrädern mit Stahlhelm und umgehängtem Karabiner durch die Straßen fuhren, direkt vor ihrer Schreibwarenhandlung vorbei, sie hatten sie durch die gardinenverhangenen Fenster gesehen, und ja, natürlich hatte ihnen dieses Auftreten Angst gemacht ... zunächst. Diese Männer hatten nicht bemerkt, dass sie hinter Vorhängen beobachtet wurden, sie hielten sich auch gar nicht lange auf, prüften eigentlich nur, ob es Widerstand gab, dann waren sie wieder weg, und andere kamen nach.

Man hatte ihnen allerlei Dinge über die Deutschen erzählt, in der Schule und auch zu Hause, aber Deutschland war weit weg, das alles war weit weg, das war im großen Krieg gewesen, vor über zwanzig Jahren, la Grande Guerre, da waren sie noch gar nicht geboren. Und auch viele dieser Männer, die jetzt hier einmarschierten, waren damals noch gar nicht geboren. Nicht, dass ihnen das wirklich bewusst ist, aber wenn sie die Gesichter dieser jungen Männer sehen, die, die nachgerückt sind, vor allem, wenn sie die Helme ablegen, und das tun sie meistens, wenn sie also die Gesichter sehen, dann spüren die beiden jungen Frauen keinen Hass, dann spüren sie, dass sie es eben mit jungen Männern zu tun haben, mit nichts als jungen, gutaussehenden Männern in einer feldgrauen Uniform.

Simone ist siebzehn, sie ist die jüngere, Martine ist neunzehn, nicht ganz zwei Jahre älter. Die beiden ähneln sich, aus der Entfernung könnte man sie für Zwillinge halten, zumal sie beide kastanienbraunes Haar mit dem gleichen Schnitt haben. Aus der Nähe betrachtet fällt dann allerdings schon auf, dass Martine etwas reifer wirkt, sie hat auch etwas Verschmitztes, das Verschmitzte liegt in ihren funkelnden Augen und den Grübchen. Simone hat keine Grübchen, sie ist ... fast möchte man sagen: unscheinbar. Alle Augen sind immer zuerst auf Martine gerichtet, bevor irgend jemand Simone bemerkt. Das allerdings scheint Simone nichts auszumachen, die beiden verstehen sich ausgezeichnet, fast wie Zwillinge. Ist eine mal krank, dann leidet die andere genauso und ist erst wieder fröhlich, wenn die Schwester vollständig genesen ist. Beide arbeiten im elterlichen Geschäft mit, sie sind da hineingewachsen. Doch mit dem Sieg der Deutschen und der Besetzung des Landes ist eine völlig neue Situation entstanden. Man muss jetzt abwarten, alle müssen abwarten. Am Ende wird wieder einer siegen, und dann stellt man sich auf die Seite des Siegers. Bis dahin müssen alle abwarten.

2

Warum um alles in der Welt habe ich dich nie gefragt, was du eigentlich in den vielen Jahren dort getrieben hast. Am Ende stieß ich auf Roberts und Catherines Erzählungen, und die waren äußerst dürftig. Wie war es möglich, dass du mir gegenüber praktisch nichts über diese Jahre rausgelassen hast? Fast so, als hätte es sie nicht gegeben …

Ich kannte dich eigentlich immer nur als diesen bärtigen Schrat, ein Hippie, ohne je ein Hippie gewesen zu sein. Als die Hippies dann endlich kamen, auch nach Deutschland und auch in diesen verlorenen Flecken im Südwesten Deutschlands, da brauchtest du deine Haare und deinen Bart einfach nur noch ein wenig länger wachsen zu lassen, und schon hätte man dir den Hippie abgenommen. Der du – wie gesagt – ja gar nicht warst, noch nicht einmal ansatzweise (das wäre auch vom Alter her unwahrscheinlich gewesen, denn als die Hippies kamen, warst du schon über vierzig). Damit hattest du nichts am Hut. Ich vermute, dass du dich hinter deinem langen wilden Bart und den abgetragenen Klamotten verstecktest, niemand durfte je hinter diese Fassade schauen, nicht einmal wir, deine Kinder, ja vielleicht nicht einmal Inga, deine Frau, unsre Mutter. Aber da gehe ich dann vielleicht doch etwas zu weit. Was weiß ich schon von euren Geheimnissen …

Mitte der Sechziger, als ich in Sobern aufs Gymnasium kam, hattest du schon längst diese Verkleidung, und alle nannten dich den Rübi, eine Abkürzung für Rübezahl. So sahen sie dich also, so nannten sie dich in der einfachen und brachialen Schülersprache. Manche kannten nicht einmal deinen richtigen Namen. Und dass ich dein Sohn war, wenn sie in meiner Gegenwart vom Rübi sprachen, genierte sie auch nicht. Ich muss gestehen, dass mir das schon etwas ausmachte, das war hart, denn Rübi war ein Spottname, das war nicht etwa ein Künstlername oder ein liebvoller Spitzname wie Radi für den Radenkovic oder der Dicke für den Seeler, nein das war ernst gemeint, sie verspotteten dich auf Grund deines Äußeren. Dabei hatte sich keiner über dich zu beklagen, du gabst ohnehin nur Noten von eins bis drei, und du hast dich um jeden einzelnen bemüht, lobtest diesen und gabst jenem Tipps, was er oder sie noch verbessern könnte. Kein „So jetzt macht mal, malt mal ein Selbstporträt“ und dann die Zeitung raus und erst mal eine halbe Stunde lang die Zeitung lesen, mitten im Unterricht, während die Klasse Selbstporträts malte. Solche Lehrer gab es tatsächlich. (Bei dir hatte ich selbst nie Unterricht, das war ja ausgeschlossen. Man wusste diese Dinge einfach).

Ich bin also in einem Dilemma. Einerseits bin ich dein Sohn und du bist mein Vater, das heißt: Ich bin befangen. Andererseits bin ich Historiker, das heißt: jemand, der deine Geschichte unbefangen, mit dem unerbittlichen Blick des Wissenschaftlers lesen sollte, sezieren sollte. Noch dazu ist mein Schwerpunkt die Zeitgeschichte. Aber wenn es um die eigenen Eltern, die eigene Familie geht, dann schiebt sich so etwas wie ein Filter vor die Linse, und man sieht erst einmal alles in Pastellfarben, manches schärfer und manches wiederum völlig unscharf. So geht es mir, wenn ich versuche, mich an meine Kindheit zu erinnern und das Bild von dir in diesen Jahren zu schärfen. Ich versuche, an der Linse zu drehen, aber das Bild will einfach nicht schärfer werden. Und dass du wie ein Rübezahl, ein Schrat oder ein früher Hippie aussahst, war mir als Kind einfach nicht bewusst. Ich sah dich jeden Tag so, das war die Normalität, und du erschienst mir dabei keineswegs ungepflegt, das wäre ja auch bei einem Studienrat damals gar nicht denkbar gewesen, zumal in einem kleinen Hunsrückstädtchen wie Sobern, wo jeder jeden kennt … Die etwas längeren Haare und der lange Bart waren also für uns Kinder der normale Anblick, das sollte bei einem Kunstlehrer doch möglich sein, und ohnehin war es für uns auch normal, dass du unser Zuhause wahlweise in eine Art Gesamtkunstwerk, Atelier oder Museum verwandeltest. Du bemaltest zum Beispiel auch die Wände mit deinen Fresken, die Wohnzimmerwände wurden zu einem regelrechten Comic, in dem man lesen konnte, das war für uns ganz normal, das gehörte dazu, und im Nachhinein wundert es mich sogar, dass wir davon so gar nichts übernommen haben, keiner von uns zeigt besondere künstlerische Neigungen, wir sind alle eher etwas bieder geraten, und erst in der Folgegeneration gibt es dann wieder Ausschläge ins Künstlerische. Was mich betrifft, so hätte ich mir das sogar irgendwie vorstellen können. Doch der Impuls war nicht stark genug, dafür jedoch umso mehr das Interesse an der Vergangenheit, und so kam es, dass ich Geschichte studierte und mich für eine akademische Laufbahn entschied. Ich bin da allerdings der einzige von uns Kindern, mein Bruder studierte Chemie, promovierte und ging in die Industrie, meine Schwester studierte Grundschullehramt und unterrichtete jahrelang in einer Dorfschule ganz in der Nähe.

Doch zurück zum Thema. Ich erwähnte meine Vermutung, dass du dich hinter einer Art Verkleidung verstecktest, so konntest du auch vermeiden, dass dir jemand Fragen stellte, die du nicht beantworten wolltest. Du gabst den Geschäftigen, das fiel bei einer großen Familie nicht schwer, immer war etwas zu erledigen (der Rasen muss dringend gemäht werden, das Auto muss in die Werkstatt, die Frist für die Steuererklärung läuft ab), zu reparieren (Hannes Fahrrad hat einen Plattfuß, die Fußleisten im Wohnzimmer sind lose), einzukaufen (Wochenendeinkauf am Freitag, schnell noch frische Milch holen). Wenn du nicht gerade in der Schule warst – und da verbrachtest du wirklich sehr viel Zeit, wesentlich mehr als deine Kollegen – dann bereitetest du eben eine Ausstellung vor.

Niemals fiel der Name Soulac, kein Sterbenswörtchen. Vage war mal die Rede davon, dass du im Krieg irgendwo am Atlantik, im Südwesten Frankreichs gewesen warst. Und wie gesagt, keiner von uns fragte nach: Wo genau war denn das? Wie hieß denn der Ort? Mir ist rätselhaft, warum wir uns mit deinen vagen Hinweisen zufriedengaben.

Nach Soulac kam ich dann rein zufällig, vor zwei Jahren. Wir kamen auf den Ort, weil wir mal etwas direkt am Meer suchten, also nicht ein paar Kilometer im Hinterland, auch nicht ein paar hundert Meter hinter der Küste, nein: am besten sogar mit Meerblick, noch besser: direkt am Wasser. Es war also gar nicht der Ort selbst, der uns anzog, sondern ausschließlich die Strandnähe des Feriendorfs. Und da fiel unsre Wahl auf Soulac, weil es dort diesen Club gab, ein VVF-Feriendorf. Den Tipp mit den Feriendörfern hatte mir mal ein Kollege gegeben, VVF steht für village vacances famille, Dorf Ferien Familie. Diese Feriendörfer liegen immer sehr idyllisch, und es gibt Clubs für Kinder und Jugendliche, das hatte sich für uns bewährt, die Kinder sind in einer Gruppe Gleichaltriger und machen Spiele, die Eltern ruhen sich aus oder kümmern sich um das Essen. Wir hatten das schon ein halbes Dutzend Mal mit Erfolg ausprobiert, die Normandie am berühmten Omaha-Beach, D-Day, Landung der Alliierten 1944, auf der Ile-de-Ré, im Zentralmassif, in den französischen Alpen, am Mittelmeer. Und das village von Soulac lag nun mal direkt am Strand, das konnte man schon auf der Webseite erkennen. So kamen wir nach Soulac.

Drei Tage vor der Abreise erwacht der Historiker in mir und ich glaube, es meiner Profession schuldig zu sein, mich auch etwas für die Geschichte des Ortes zu interessieren. Ich stelle das Auto vor der Kirche Notre-Dame-de-la-fin-des-Terres ab, die Basilika aus dem frühen zwölften Jahrhundert stellt neben den deutschen Bunkerbauten aus dem zweiten Weltkrieg für mich sichtbar das bedeutendste historische Bauwerk dar, da sollte ein Historiker wohl anfangen. Ich schlendere auf das Hauptportal zu, wo eine Gruppe Erwachsener einer jungen Frau lauscht, ich vermute eine Stadtführung. Vielleicht kann ich ein paar Sätze aufschnappen. Unauffällig stellte ich mich ganz am Rand dazu. Die Führerin erklärt die Geschichte der Kirche, die einmal zu einer Benediktinerabtei gehörte, von Versandung ist die Rede und vom Wiederauftauchen der Kirche nach dem Weiterziehen der Düne. Das klingt abenteuerlich in meinen Ohren, eine Düne, die eine Kirche unter sich begräbt und dann weiterzieht … Es ist heiß, die Mittagssonne steht hoch, ich verlasse die Gruppe wieder und betrete das große Kirchengebäude, in dem es wie in den meisten Kirchen angenehm kühl ist. Als ich wieder rauskomme, ist die Gruppe weg. Ich sehe gerade noch, wie einige von ihnen in der Hauptstraße verschwinden. Passt schon, ich hab ja auch nicht für die Führung bezahlt, und ein wenig Herumschlendern kann ich auch ohne Führung. Vielleicht findet sich im office du tourisme ein Stadtplan, und ich finde tatsächlich ein Faltblatt, in dem auch die angeblich schönsten Soulacaises markiert sind, das sind die Villen aus dem neunzehnten Jahrhundert im Neokolonialstil. Durch die Hauptstraße geht’s nun zur Strandpromenade und von dort in ein paar Windungen wieder zurück in das alte Soulac. Ich orientiere mich an meinem Plan, eine Straße weiter soll es eine Villa Rufus geben, offenbar ein besonders schönes Exemplar dieser Soulacaises. Hier muss es schon sein, ich biege in die kurze Gasse ein … und treffe wieder auf die Stadtführerin mit ihrer Gruppe. Tatsächlich, sie halten vor der Villa Rufus, und die junge Frau erklärt gerade die Farbsymbolik bei der Fassadenbemalung. Charakteristisch für diese Villen seien nämlich nicht nur die ausschweifende Giebelgestaltung mit hölzernen Schmuckelementen, sondern auch die dafür gewählten Farben. Schließlich kommt sie noch auf den Krieg zu sprechen und erwähnt, dass diese Villa von den deutschen Besatzern als Offizierskasino genutzt wurde. Als die Deutschen neunzehnhundertvierundvierzig abzogen, hätten sie das Geschirr mitgenommen und überhaupt, sie hätten wie die Vandalen gehaust. Dann ist sie schon beim nächsten Thema, die Gruppe schickt sich an, weiterzugehen. Ich bin perplex, denn nach meinem Kenntnisstand gehörte es zum Reglement der deutschen Besatzungstruppen, sich in keiner Weise an fremdem Eigentum zu vergehen … Die Garnison in Soulac stand unter dem Kommando der Marine, die waren in dieser Hinsicht ganz besonders streng, und die Offiziere hatten doch wohl anderes zu tun, als sich fremdes Geschirr unter den Nagel zu reißen … Und dann war mir noch zu Ohren gekommen, dass es im April fünfundvierzig zu schweren Kämpfen um die Festungsanlage bei Soulac gekommen war, die Überlebenden waren alle gefangen genommen worden, wer sollte da irgendwelches Geschirr gestohlen haben … Eine seltsame Erzählung, die die junge Frau den Touristen hier aufgetischt hat.

Ich kehre wieder zum Auto zurück, es ist Zeit fürs Mittagessen, ich hatte gesagt, dass ich nicht lange wegbleibe. Die Villa Rufus geht mir allerdings nicht aus dem Kopf und ich überrede dich, morgen noch einmal mit mir hinzugehen. Morgen ist unser letzter Tag. Kurz vor Mittag stehen wir vor dem Haus und ich wiederhole, was ich von der Führerin erfahren habe. Auf einmal kommt ein älterer Herr aus der Tür und schaut zu uns herüber. Die Toreinfahrt ist lang, vielleicht zwanzig Meter, wir weichen trotzdem unwillkürlich etwas zurück, wollen ja nicht neugierig wirken. Der Mann spricht irgendetwas in unsere Richtung, es ist kaum zu verstehen, ich rufe zurück, dass wir nur mal einen Blick auf sein Haus werfen wollen, immerhin ist es im Stadtführer des office du tourisme markiert. Mehr ist es ja auch nicht, wenn nicht noch das Detail wäre, dass wir Deutsche sind und die Führerin gestern merkwürdige Dinge über die deutsche Besatzung während des zweiten Weltkriegs gesagt hat. Der Mann kommt langsam näher, seine Stimme ist jetzt deutlicher zu vernehmen, ich bemerke, dass er einen Morgenrock und Hausschuhe trägt, es ist kurz vor Mittag.

Vous êtes Allemands?

Sie sind Deutsche?

Ja, sieht man uns das an? Wir wollten nur mal einen Blick auf Ihr wunderschönes Haus werfen.

Ich krame mein allerbestes Französisch hervor, das sollte kein Problem sein.

Viele Deutsche kommen hier vorbei und schauen sich das an.

On a l’habitude

, wir sind das gewöhnt. Viele haben sich hier in

Soulac

sogar was gekauft und verbringen ihre Ferien hier. Unsere Nachbarin ist auch eine Deutsche (er zeigt zur anderen Straßenseite).

Entschuldigen Sie meine Kleidung (er lacht verschmitzt). Als Rentner nimmt man es nicht so genau. Und heute Morgen hatte ich zwei sehr lange Anrufe von meinen Kindern, da hatte ich noch nicht einmal Zeit, mich anzukleiden. Ich war gerade auf dem Weg zum Briefkasten, als ich sie entdeckte.

Inzwischen hat sich auch seine Frau genähert, ich schätze sie auf Ende siebzig, ihn etwas älter noch, Mitte achtzig.

Wissen Sie, gestern stieß ich hier zufällig auf eine Stadtführung, die Führerin erklärte das mit den Farben am Giebel, und dann sagte sie noch, dass Ihr Haus im Krieg von den Deutschen als Offizierskasino genutzt wurde.

Das stimmt.

Sie erwähnte, dass die Deutschen am Ende das Geschirr mitgenommen und sich wie die Vandalen aufgeführt hätten.

Sein Gesicht wirkt ernst.

Das ist falsch. Die Deutschen haben sich hier korrekt verhalten. Das Geschirr wurde tatsächlich gestohlen, aber nicht von den Deutschen. Die französischen Truppen, die Soulac im April fünfundvierzig zurückeroberten, waren es, die die ersten Verwüstungen in den leerstehenden Häusern anrichteten. Als sie abzogen, überließ man unser Haus zunächst den Obdachlosen. Viele Leute hatten bei den Bombardierungen ihre Häuser verloren. Später, nachdem wir unser Haus zurückerhalten hatten, fanden wir dann Geschirr und Möbelstücke verstreut in der Nachbarschaft wieder.

Er lacht dabei und zeigt mit der Rechten vage hierhin und dorthin in Richtung Nachbarschaft.

Nein, nein, die Deutschen haben nichts mitgenommen. Wie sollten sie auch. Sie zogen sich in ihre Bunker zurück, die Festung war völlig abgeschnitten, man bereitete sich auf den Endkampf vor. Und wer nicht getötet wurde, der geriet in Gefangenschaft.

Inzwischen ist seine Frau kurz im Hausinnern verschwunden und kommt nun mit einer großen Mappe zurück, darin bewahrt sie allerlei Dokumente zur Villa Rufus auf, wie sie uns erklärt. Ein Foto scheint es ihr besonders angetan zu haben, jedenfalls scheint es ihr wichtig zu sein, es uns zu zeigen. Lebhaft, ja energisch zeigt sie mit dem Finger darauf. Zwei gezeichnete Fußballspieler sind darauf zu sehen, die an Comicfiguren erinnern. Verschmitzt erklärte sie es uns:

Einer der Deutschen hat eine Wand im Salon damit bemalt. Das Fresko ist erst vor ein paar Jahren im Zuge von Renovierungsarbeiten wieder zum Vorschein gekommen. Nach dem Kriege ist es wohl übermalt worden. Der Mann muss ein Künstler gewesen sein.

Ihr Mann pflichtet ihr bei.

Ja, die haben damals am Strand Fußball gespielt, Deutsche gegen Franzosen.

Und wiederum fügt er lächelnd hinzu:

Er hat den Deutschen in Siegerpose gemalt, schauen Sie mal seine Züge. Und der Franzose wirkt auch eher schmächtig im Vergleich. Na ja, so ganz ausgereift war seine Technik wohl noch nicht. Das Bein wirkt auch ein wenig verdreht.

Als wir uns am nächsten Tag wiedersehen, einen Tag vor unserer Abreise, weil sie uns zum apértif eingeladen haben, erfahren wir von ihr, dass sie neunzehnhundertsechzig als Austauschschülerin ein Jahr in Deutschland verbracht hat, in einem ganz kleinen Städtchen im Südwesten. Ich frage sie, wo denn genau … immerhin komme ich selbst ja auch aus dem Südwesten. Ach, sagt sie, ein wirklich ganz kleines graues Städtchen: Sobern. Ich kann es nicht fassen: Ich bin in Sobern geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen. Wir schauen uns verblüfft an … Die Welt ist klein. Dann erzählt sie noch, dass sie in Saarbrücken Deutsch studiert hat. Auch meine Frau hat in Saarbrücken studiert, Germanistik …

3

Warum hast du eigentlich Geschichte studiert?

Ich kann’s dir sagen. Nach dem Abitur bestürmten mich Freunde und Geschwister, aus meinen guten Noten „unbedingt etwas zu machen“. Sie meinten, ich solle Medizin studieren. Ich bewarb mich also bei der Zentralen Studienplatzvergabe um einen Studienplatz in Medizin, aber lustlos, und zunehmend mit Bauchgrimmen. Vorausgegangen waren stundenlange Spaziergänge mit einem Freund, der ein Jahr zuvor Abitur gemacht hatte und schon seit zwei Semestern Medizin studierte. Er beschwichtigte meine Bedenken, erzählte begeistert von seinem Praktikum, alles machbar, auch die Lehrveranstaltungen, alles kein Hexenwerk, du musst dich ein bisschen reinknien, das ist alles. Mein Gefühl sagte mir etwas anderes, dass das nicht das Richtige für mich sei, dass ich eigentlich an ganz anderen Dingen hing, jedenfalls nicht an der Medizin. Meine Aversion gegen Ärzte kam allerdings erst voll zum Vorschein, als ich ein Krankenhauspraktikum machte. Ich fühlte mich wie ein Fremdkörper in dieser Umgebung … und sagte am Ende meine Studienwahl ab. Jemand anderes sollte sich über den Studienplatz freuen. Mein Herz hüpfte regelrecht, als ich die Entscheidung traf, ich fühlte meine Schultern von einer zentnerschweren Last befreit.

Und dann hast du dich in Geschichte eingeschrieben!

Nein. Das Wintersemester hatte schon angefangen, für eine Neuimmatrikulation war es zu spät. Vor allem: Ich hatte keinen Plan B.

Ich brauchte Bedenkzeit und fragte kurzentschlossen bei meiner ehemaligen Gastfamilie in Frankreich nach, ob sie vielleicht etwas für mich tun könnten, vielleicht könnte ich dort irgendwo ein paar Monate jobben. Und es klappte. Sie organisierten mir einen Aushilfsjob bei einer Baufirma, als Lagerhelfer, wohnen konnte ich bei ihnen. Der Job war hart, damals arbeitete man im Baugewerbe achtundvierzig Stunden die Woche, aber es half mir, meinen Kopf von der Last des guten Abiturs und allen aus Überreizung entstandenen Schlacken zu befreien und stattdessen auf mein Herz zu hören. Und da sollten die französische Sprache und Kultur eine gewichtige Rolle spielen. Aber fast noch gewichtiger sollte werden, dass ich eine fast unbändige Lust entwickelte, mich mit der Geschichte zu beschäftigen. In der freien Zeit las ich alles, was mir an Geschichtsbüchern und Büchern mit geschichtlichem Inhalt in die Hände fiel.

Damit klärte sich dann dein Studienwunsch.

Genau. Ich brauchte keine Beratungsgespräche mehr. Wenn ich allerdings heute an meine naiven Vorstellungen über das Geschichtsstudium zurückdenke, kann ich nur den Kopf schütteln.

Was meinst du damit?

Wir sehr wich das Studium doch von dem ab, was ich mir darunter vorgestellt hatte … Und wie sehr hat sich seitdem die Geschichtstheorie von dem wegentwickelt, was ich in meinem Studium kennengelernt hatte.

Mit was hast du dich denn genau beschäftigt?

Mit allem Möglichen. Ein Geschichtsstudium umfasst Alte Geschichte, Mittelalter und Neuzeit. Vielleicht sollte ich dir erzählen, dass ich meine Staatsexamensarbeit über das Thema der Volksfront in Frankreich und das Ende der zweiten Republik schrieb, also die Jahre neunzehnhundertsechsunddreißig bis vierzig. Im Zuge meiner Nachforschungen kam ich – eher als Nebenprodukt – zu zwei Erkenntnissen, die mich, als relativer Novize, damals verblüfften: erstens die Tatsache, dass es in ganz Europa, praktisch überall, anfangs der dreißiger Jahre starke links- und rechtsautoritäre Bewegungen gab, also nicht nur in Italien, Deutschland und Spanien, wo der Faschismus beziehungsweise Nationalsozialismus formell die Macht ergriff. In ganz Osteuropa herrschten autoritäre oder auch totalitäre Regime, und auch in Frankreich und England kam es zu allerdings erfolglosen Umsturzversuchen.

Und was war die zweite Erkenntnis?

Die zweite Überraschung für meinen damaligen Wissensstand war, dass es in ganz Europa auch einen verbreiteten Antisemitismus gab. Wenn man die Geschichte nur aus heutiger Perspektive betrachtet, dann übersieht man leicht, dass sich die europäische Öffentlichkeit nach dem zweiten Weltkrieg geeinigt hatte, Deutschland die Alleinschuld an den Verbrechen gegen die Juden zu geben.

Das war bequem.

Genau. Die antisemitische und autoritäre Grundstimmung vor fünfundvierzig wurde in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit zunächst ausgeblendet, ja teilweise unterschlagen, genauso wie auch die Kollaboration während des zweiten Weltkriegs. Manchmal frage ich mich, ob sich daran viel geändert hat.

An der antisemitischen und autoritären Grundstimmung?

Ich dachte an die Sicht auf die dreißiger und frühen vierziger Jahre. Aber du hast recht … was ist mit heute?

Wie ist Großvater denn nach Frankreich gekommen? Konnte er schon Französisch?

Wegen dem Krieg. Ob er Französisch konnte, weiß ich nicht. Vielleicht Grundkenntnisse. Er war Jahrgang einundzwanzig. Weißt du, was das heißt, Jahrgang einundzwanzig? Das heißt: den Krieg in voller Länge mitzumachen. Er hatte gerade mal das Abitur, neununddreißig, die hatten ja die Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt, damit die Abiturienten schneller als Offiziere zur Verfügung stünden. Das Abitur war übrigens etwas Besonderes, damals. Nicht wie heute. Weißt du, wie viele eines Jahrgangs damals Abitur machten? Gerade mal fünf Prozent.

Und er, wieso konnte er Abitur machen?

Sein Vater – mein Großvater – war Offizier der Reichswehr. Er hatte es im ersten Weltkrieg zum Leutnant gebracht, das ist ein Offiziersrang, und konnte danach während der Weimarer Republik als Ausbilder in der Garnison Konstanz verbleiben. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass ein Kind eines Offiziers, wenn es nicht auf den Kopf gefallen war, das Gymnasium besuchte und Abitur machte. Ja, und dann brach der Krieg aus.

Hätte er denn nicht studieren können?

Mein Großvater drängte ihn, Offizier zu werden. Das lag in der Familie, und, wie gesagt, die Wehrmacht brauchte Offiziere. Er selbst wollte lieber ganz was anderes machen, Kunst studieren. Vielleicht redete man ihm auch ein, er könne später noch mal was anderes machen und vielleicht auch Kunst studieren. Wie dem auch sei, die Frage stellte sich auf einmal gar nicht mehr, er erhielt seinen Musterungsbescheid und wurde eingezogen. Großvater hatte unglaublich viele Verbindungen, ein richtiges Netzwerk, und dazu zählte auch Weippert, sein bester Freund an der Front in Flandern. Nach der Grundausbildung nahm ihn Weippert unter seine Fittiche.

Vater schrieb zwar ein paar Briefe, aber nicht sehr viele, ich bin mehr auf seine Skizzen angewiesen und auf sein kleines Kriegstagebuch, in dem aber nicht viel drinsteht. Es scheint eher so eine Art Protokollheft seines Skizzenblocks gewesen zu sein. Der erste Eintrag datiert auf den 21. April 1940.

21. April 1940. Einquartierung im Hunsrück. Major Weippert hat mich nach dem Fähnrich direkt in seinen Stab genommen. Wir kommen bei strömendem Regen an. Weippert rechnet mit höchstens einer Woche.

Was ist los, Schmitt? Warum fahren Sie nicht?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir schon da sind.

Links ist der Bahnhof und rechts das große Haus. Sonst gibt es da doch gar nichts. Na los, fahren Sie da rein.

Schmitt fährt den BMW-Funkkraftwagen auf den Hof des großen wuchtigen Gebäudes. Als er den Motor ausgeschaltet hat und Weippert den Wagen verlässt, öffnet sich die Tür und ein Mann von Mitte fünfzig, schlank und mit glattem Gesicht tritt die drei Treppenstufen der Eingangstür hinab, um sie zu begrüßen.

Weippert. Sie sind Herr Stumm, vermute ich. Ich darf Ihnen Fähnrich Pfeifer vorstellen und meinen Fahrer, Hauptgefreiter Schmitt.

Ich grüße Sie, Major Weippert. In der oberen Etage stehen Ihnen und Ihren Männern zwei Zimmer zur Verfügung. Ich hörte, Ihr Bataillon wurde in den Dörfern verteilt.

Ich danke Ihnen. Ja, alle haben ihr Quartier bezogen. Wir hoffen, dass unser Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein wird. Es soll in Kürze losgehen.

Glaubst du, er hat damals schon den Hunsrück für sich entdeckt?

Unwahrscheinlich. Insgesamt waren sie zwei Wochen dort einquartiert, dann gingen sie schon in ihre Bereitschaftsstellungen. In den zwei Wochen hat er nicht viel gesehen. Aber vielleicht erinnerte er sich später wieder daran, als man ihm die Stelle als Lehrer anbot. Und du weißt ja, dass seine Mutter, also meine Großmutter, aus Koblenz stammte. Ich denke, er hat eher etwas über die Familie mitbekommen, bei denen sie einquartiert waren.

Hunsrück, April 1940.

Erich schaut sich in freien Momenten auf dem Anwesen um. Er hat seinen Skizzenblock dabei und wirft, ohne groß darüber nachzudenken, ein paar Eindrücke aufs Papier, eine Frontansicht vom Haus, eine Rückansicht mit den Kindern, eine Skizze von Herrn Stumm mit Mütze und Jacke vor dem Gewächshaus. Das Anwesen umfasst neben dem Hauptgebäude noch eine Strickerei, eine große Scheune und eben ein Gewächshaus. Herr Stumm ist offensichtlich bestrebt, seine Familie selbst mit dem Notwendigsten zu versorgen.

Was haben Sie denn da wieder gezeichnet? Zeigen Sie mal, Pfeifer!

Er reicht dem Major seinen Skizzenblock.

Ganz nett, aber dafür werden Sie bald keine Zeit mehr bekommen. Was mach ich bloß mit Ihnen Pfeifer? Mit Ihrem Zeichentalent gehören Sie eigentlich ganz woanders hin, jedenfalls nicht in ein Flakbataillon.

Jawoll, Herr Major, ganz woanders hin.

Erich antwortet mit einem breiten Grinsen, denn das war nicht ernst gemeint. Weippert hat seinem Vater versprochen, auf den Jungen aufzupassen, und Erich hat seinem Vater versprochen, bis zum Ende des Krieges durchzuhalten. Insgeheim hofft sein Vater vielleicht, mit der Zeit werde vielleicht doch noch ein brauchbarer Offizier aus ihm, obwohl er seinen Jungen doch so gut kennt, dass er seine Hoffnung eher im Reich der Träume ansiedelt. Erich hat einen guten Kern (zu gut für das Militär?), aber seine Fähigkeiten liegen eindeutig im Künstlerischen. Er, Weippert, muss gut auf ihn aufpassen.

Was denken Sie über den Krieg, Herr Stumm?

Ich bin Christ. Welche Antwort erwarten Sie von einem Christen?

Ich fürchte, an Jesus Christus denken im Moment nur wenige. Es geht um Deutschland, um unser Vaterland. Hat man denn nicht das Recht, sich zu verteidigen?

Jesus sagte: Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin …

Aber wer hat uns denn überhaupt auf eine Wange geschlagen?

Was war mit Polen?

Ich weiß nicht, was da genau war. Ich weiß nur: Es gibt keinen Grund, einen Krieg zu führen, außer man wird angegriffen. Und selbst dann. Der Einmarsch in Polen hat uns doch nur die Kriegserklärungen Englands und Frankreichs eingebracht. Und jetzt geht all das wieder von vorne los, wofür wir vor fünfundzwanzig Jahren schon gelitten haben. Man muss auch Verständnis für die Polen haben: Es gab die drei polnischen Teilungen, bei der letzten hat man ihnen nichts mehr übriggelassen, und Warschau gehörte zum Zarenreich. Diese Verletzungen konnten sie uns wohl nicht verzeihen.

Weippert wirkt nachdenklich.

Warum haben England und Frankreich eigentlich nur uns den Krieg erklärt und nicht auch Russland? Auch Russland hat Polen angegriffen.

Herr Stumm kann die Frage nicht beantworten, und Erich versucht, so zu tun, als habe er das Gespräch nicht mitangehört. Was für ein merkwürdiger Mensch, dieser Strickereibesitzer, der von Christus redet, wenn ihm der Major eine Frage zum Krieg stellt. Nicht von oben herab antwortet er, auch nicht unterwürfig, nein: geradeheraus, von Mensch zu Mensch. Diese Familie passt gar nicht so recht in dieses Dorf, das Haus wirkt eine Nummer zu groß, und die schwarze Limousine dürfte wohl das einzige Auto weit und breit sein. Dass sie Freikirchler seien, hat Weippert erwähnt, vielleicht um damit die Auffälligkeiten zu erklären. Erich kennt keinen Freikirchler, er kann sich nicht viel darunter vorstellen. Aber was macht das schon, wir glauben doch alle an denselben Gott. Solange sie sich nicht in die Politik einmischen, sollen sie es mit Gott halten, wie sie wollen.

Der Mann arbeitet hart, aber wenn er eine Pause macht, legt er sich in seinem Büro einfach auf den Boden und entspannt sich dabei. Das hat ihm eine von den Zwillingstöchtern erzählt. Die Kinder bewundern den Major mit seinen Männern und seinem Funkkraftwagen. Sie bewundern auch ihn, wenn er etwas in sein Skizzenheft zeichnet und es ihnen dann zeigt. So etwas haben sie noch nie gesehen, dass jemand so schön zeichnen kann. Erich würde sich gerne ein wenig für die Last der Einquartierung revanchieren, und daher schenkt er ihnen die Zeichnungen.

Nebel liegt über der Landschaft. Alles ist still, um diese Zeit. Noch nicht einmal die Hähne krähen, als die Soldaten aufstehen. Viele haben Armbanduhren, sie brauchen keine Hähne. Das Quartier im Hunsrückdorf endet abrupt. Der Angriffstermin steht jetzt fest, und das Bataillon ist auf dem Weg zu den Bereitstellungen an der belgischen Grenze. Um fünf Uhr brechen sie auf, der Strickereibesitzer hat Erich noch eine kleine Schrift in die Hand gedrückt, das Johannesevangelium. Warum gerade ihm? Er lässt es geschehen, steckt es in seine Uniform und bedankt sich. Auf der gerade fertiggestellten Hunsrückhöhenstraße herrscht bereits reger Verkehr, die Fahrzeuge reihen sich in langen Kolonnen aneinander. Als sich Weipperts Wagen nähert, ist man bemüht, ihn vorbeizulassen, was Schmitt bisweilen in Bedrängnis bringt, denn so breit ist die Fahrbahn nun auch wieder nicht, es ist ja keine Autobahn. Bei Cochem überqueren sie die Mosel, und weiter geht es durch die Eifel bis an die Grenze vor Malmedy.

Als sie ankommen, beginnt nach kurzem Aufenthalt schon der Feldzug … der nur wenige Wochen dauern wird. Das Schicksal ist den eigenen Truppen gewogen, denkt Weippert, und so denkt auch Erich. Wer soll Deutschland jetzt noch aufhalten? Das Bataillon wird von Verlusten verschont. Die Flak erfüllt ihren Auftrag, ohne dass auch nur ein einziger direkter Angriff auf die eigenen Stellungen zu verzeichnen wäre. Erich nimmt den Krieg wie durch einen Filter wahr, nicht wie ein reales Ereignis, sondern eher wie einen Film.

Schon als Jugendlicher hat er diese Fähigkeit, das Leben um ihn herum wie einen Film zu betrachten, in dem andere als Schauspieler auftreten. Er begnügt sich damit, die Szenen dieses Films als Zeichnungen auf Papier festzuhalten. Er erlebt sogar sein eigenes Leben mehr durch die Seiten seines Skizzenblocks als durch die Realität des Alltags. In der Kindheit fällt sein Talent noch kaum auf, kein Lehrer macht eine diesbezügliche Bemerkung, auch zu Hause verbringt er kaum Zeit mit dem Zeichnen oder Malen. Dies ändert sich – relativ abrupt – mit dreizehn, vierzehn. Das Talent packt ihn, er kann gar nichts dagegen machen. Nun spürt er ständig den Drang, seine Umwelt zu zeichnen. Seiner Mutter gefällt es, sein Vater nimmt es hin. Am Gymnasium wird der Kunstlehrer auf ihn aufmerksam, schaut sich seine Bilder an, gibt ihm Tipps. Erich macht sogar mit anderen eine kleine Ausstellung an seiner Schule. Zu Hause wird über andere Dinge gesprochen.

Warum soll i zur Wehrmacht?

Weil’s wieder a Krieg gibd. Und wenn du jedsch Offizier wirschd, kann i no ebbs für di tun, dameds ned zu dick kommt.

Woher willschd denn wisse, dass es wieder a Krieg gibd.

Das werde die ned zulasse, dass Deutschland wieder groß wird. Bisher habbe ma Glück gehabt, aber wenn d’Hitler zu weit gäht, kann es jäderzeit wieder losgähe. D’Amerikaner wird immer zu England halde, und wenn ma ned aufbasse, isch Deutschland sehr schnell wieder eiklemmt, wie vor dem ledschde Krieg.

Papa, i bin keu Soldat. Des liegt mir ned.

Des wois i. Deshalb muschd in d’Stab. Da bischd sicher. Glaubs mir, i hab nen Riecher für des, was si da zsammbraut. Nachher kannschd immer no Kunschd studiere oder was du dir vorstellschd. Als Offizier haschd immera solide Basis.

So oder ähnlich hat sich sein Vater atikuliert. Unter sich – mit dem Vater – sprechen sie meist Schwäbisch. Die Mutter kann kein Schwäbisch, sie spricht unbeirrt ihr Koblenzer Rheinisch und die Kinder wachsen dreisprachig auf: draußen das Alemannische, das man in Konstanz spricht, drinnen das Deutsch der Mutter aus Koblenz am Rhein, mit dem Vater (unter vier Augen) Stuttgarter Schwäbisch.

Erich hat eine zwei Jahre ältere Schwester, Elsa, doch nur Erich scheint in der Familie zu zählen. Für die Mutter, Irene, gilt nur der Sohn, seine Geburt wurde sehnlichst erwartet, die Tochter, immerhin die Erstgeborene, wird von ihr eher als nebensächlich betrachtet. Anders für den Vater, er liebt Elsa genauso wie Erich, macht keine Unterschiede, versucht, die allzu offensichtliche Bevorzugung des Sohnes durch die Mutter mit kleinen Großzügigkeiten der Tochter gegenüber auszugleichen. Doch es hilft nichts: Erich bekommt immer das Beste vom Essen, nur seine Wünsche werden beim Kochen berücksichtigt, wie von Zauberhand landet immer das größte Stück Kuchen auf seinem Teller, nur seine Schullaufbahn zählt. Elsa darf immerhin die Realschule besuchen, wenn auch nicht das Gymnasium.

Der Vater macht sich große Sorgen, und Erich liebt seine Eltern viel zu sehr, um ihnen Kummer zu machen. Er ist auch kein Rebell, nie würde er in scharfen Gegensatz zu seinem Vater treten (ein Gegensatz zu seiner Mutter besteht ohnehin nicht, sie betet ihn ja an. Allerdings: Liebe kann auch ersticken). Opposition trägt Erich nicht im Außen aus, gegen die Eltern gar oder die Lehrer. Er behält sie tief in seinem Innern und lässt sie irgendwann in einer Zeichnung wieder heraus. Das muss genügen. Und wie gesagt: Liebe kann auch ersticken. Erich spürt: die Wehrmacht ist eine Chance, vielleicht die einzige, aus der Umklammerung der Mutter herauszukommen. Als der Stellungsbefehl kommt, ist es fast wie eine Befreiung. Er wird eingezogen, macht die Grundausbildung und schließt sie als Offiziersanwärter bei der Flak ab. Es ist wie eine Flucht nach vorn, um der erstickenden Liebe der Mutter zu entkommen. Zurück kann er auch nicht mehr. Der Krieg ist ausgebrochen.

Weippert gelingt es, ihn in seinen Stab zu holen.

4

Bis zum Ende des Feldzugs werden die Skizzen seltener, gelegentlich Einträge ins Tagebuch. Am zweiundzwanzigsten Juni wird der Waffenstillstand unterzeichnet, ab jetzt finden sich wieder neue Skizzen im Skizzenblock.

Erster August. Feldflugplatz bei Falaise. Unsere Flak soll die Feldflugplätze gegen englische Überraschungsangriffe sichern. Weippert kontrolliert ständig die Batterien und nimmt mich dabei mit.

Du bist übrigens der erste, dem ich seine Skizzenhefte zeige. Dein Onkel und deine Tante und natürlich deine Oma kennen sie selbstverständlich auch. Aber ich glaube nicht, dass sie sonst noch jemand gesehen hat. Ich habe mir seine Zeichnungen genau angeschaut. Sie lassen ein auffallend geringes Interesse an Waffen und Technik erkennen, beispielsweise taucht niemals ein Flakgeschütz auf. Dabei interessierte ihn Waffentechnik doch eigentlich. Vielleicht gab es eine dienstliche Anweisung zur Geheimhaltung. Stattdessen zeichnet er zum Beispiel Männer des Reichsarbeitsdienstes, die einen Feldflugplatz in der Normandie planieren: Zwei junge Männer, vielleicht Anfang zwanzig, also genau in seinem Alter, halten jeder eine Schaufel, mit der sie Steine verteilen. Im Hintergrund schaut ein junger Wehrmachtssoldat zu, seine graue akkurate Uniform mit Koppel und Rangabzeichen am Kragenspiegel steht in Kontrast zu den Uniformen der Arbeiter. Einen Lastwagen hat er im Hintergrund angedeutet, der hat die Steine herangeschafft, der Fahrer sitzt in seiner Kabine und wartet.

Worauf?

Na, bis man ihm das Zeichen gibt, dass die Pritsche leer ist und er wieder losfahren kann, die nächste Fuhre zu holen. Die Arbeiter tragen die typischen gebleichten Uniformen ohne jedes Abzeichen. Sie tragen das schirmlose Käppi. Ihre Symmetrie ist auffällig, ihre Körper hat er in exakt der gleichen Bewegung des Schaufelhebens gezeichnet, ganz parallel.

Warum hat er gerade sie gezeichnet?

Weiß nicht. Jedenfalls entsteht unter seiner Hand ein Abbild des Arbeitsdienstes, des erzwungenen Dienstes … Menschen, die wie Maschinen eingesetzt werden.

Erich weiß selbst nicht, dass er nicht Menschen porträtiert, sondern den Reichsarbeitsdienst. Es fließt einfach aus seiner Hand.

Fécamp, 30.09.1940

Ihr Lieben,

seit gut drei Monaten sind wir nun schon hier in der Normandie. Unser Bataillon sichert Feldflugplätze. Mehr darf ich euch dazu nicht sagen, militärisches Geheimnis. Wie lange wir noch hier sein werden, wissen wir nicht.

Ihr schreibt, Elsa habe sich mit Walther verlobt. Darüber freue ich mich natürlich. Ihr wisst, dass ich Walther sehr schätze. Hoffentlich hat er ebensolches Glück wie ich, was den Dienst angeht. Wir haben hier ziemlich unsere Ruhe. Seine Einheit ist wieder zurück in Deutschland, wie Ihr schreibt. Wisst Ihr, wo er im Moment steckt? Man geht hier davon aus, dass der Krieg bald schon vorüber ist, und dann könnten viele von uns wieder demobilisiert werden. Etliche Offiziere wollen ein Studium beginnen, ich natürlich auch. Ihr wisst ja, was ich vorhabe.

Ihr braucht mir auch nichts zu schicken, wir sind bestens verpflegt. Es gibt sogar französischen Wein. Insgesamt ist das Verhältnis zu den Franzosen gut. Wir geben uns große Mühe, uns von der besten Seite zu zeigen, jedenfalls lauten so auch die Befehle. Aus dem letzten Krieg haben die Leute hier seltsame Ansichten mitgenommen, man hat