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Ein Projekt zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts der Uni Tübingen startet wenige Monate, bevor die Corona-Pandemie einsetzt. Glücklicherweise kann die Datenerhebung just zu Beginn der Pandemie abgeschlossen werden. Im Verlauf seiner Analysen stellt der Projektleiter (und Erzähler) fest, dass es Parallelen zwischen bestimmten Phänomenen des zuvor beobachteten Unterrichts und den Reaktionen im Privaten sowie in Gesellschaft und Politik auf die Pandemie gibt. Eine kritische Betrachtung der Ereignisse 2020 bis 2022.
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Seitenzahl: 90
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Epilog
Tübingen, 06. März 2020
„Ein Tiefdruckzentrum zieht im Tagesverlauf von West nach Ost über Deutschland hinweg und sorgt für wiederholte Niederschläge, die mitunter kräftiger und örtlich länger andauernd ausfallen können. Der Wind frischt phasenweise böig auf und kann über exponierte Lagen für stürmische Winde sorgen. Je nach Intensität der Schauer können bei Werten von plus drei bis plus acht Grad und örtlich bis plus zehn Grad Schnee-, Schneeregen-, oder Graupelschauer bis auf tiefere Lagen herab niedergehen. Die Schneefallgrenze schwankt zwischen sechshundert und achthundert Meter.“
Ich denke, mit dem großen Schirm und festem Schuhwerk bin ich heute auf der sicheren Seite. Ich sag schon mal Tschüs, vor sieben bin ich heut Abend nicht zurück, könnt ruhig schon anfangen zu essen, sollte es bei mir später werden.
Ich brauche fünfunddreißig Minuten, zu Fuß zum Brechtbau, die meiste Zeit bergab. Den Kopf noch mal durchlüften, die Gedanken sammeln … Was ist Alltäglichkeit und warum ist das wichtig; warum ist das so wenig erforscht? Muss ich nachher als erstes mit Marcus besprechen, der Fokus muss auf dem Alltag liegen. Warum bin ich nicht früher draufgekommen? Vielleicht liegts an den Transkripten. Wenn man alles transkribiert, wirklich alles, auch die privaten, geflüsterten Sachen, kriegt man eine Vorstellung vom Alltag im Unterricht.
Die ersten Tropfen, wer sagts denn, Schirm auf und weiter. Unter der Stuttgarter Straße durch, Unterführung, das Studentenwohnheim liegt direkt an der Straße, die Zimmer liegen hintenraus, sollte kein Problem sein, vom Lärm her, möchte aber nicht mehr Student sein … Die kleine Brücke über den Bach, ganz schön angeschwollen … Das verlassene Haus da vorn, was haben die damit vor, abreißen? Oder wohnt da etwa noch jemand, vielleicht ganz alte Leute, nö, sieht verlassen aus … Über die Straße rüber, grad kommt keiner, zwanzig vor zwei, am Tennisplatz vorbei, die Ammer ist auch ganz schön angeschwollen, noch zwanzig Minuten, an der Mensa vorbei, da stinkts fürchterlich nach Öl und Fett, nicht viel los, Semesterferien, normal … um die Ecke zum Brechtbau. Möller, akademischer Rat, hat‘s eilig, will wohl zum Zug, wohnt in Augsburg.
- Grüß dich, auf dem Weg nach Hause?
- Ja, und du?
- Projektworkshop, heute und morgen.
- Ok! Dann viel Spaß noch. Tschüs, mach’s gut und schöne Ferien.
- Wünsch ich dir auch.
Raum dreihundertsieben, Treppe oder Aufzug? Aufzug, jeder Schritt hält fit.
- Hallo Marcus, grüß dich.
- Grüß dich.
- Hallo Larissa, hallo Dario.
Ich setze mich auf die Fensterseite. Die Macht der Gewohnheit. Ich mache diesmal den Anfang und stelle den anderen meine Analyse der Französischstunde in einer zehnten Klasse vor.
Plastikbecher, Holzverbrauch, Flugverkehr & Co.
Was würde ein naiver Betrachter des Bildes sehen, ein Betrachter, der nicht weiß, dass es sich um den Französischunterricht einer zehnten Klasse im Computerraum handelt, der nicht weiß, dass diese Klasse gerade anfängt, Material für eine Präsentation zum Thema L’écologie et moi, die Ökologie und ich, zu recherchieren? Ein naiver Betrachter würde dazu etwa Folgendes sagen:
Das Bild zeigt eine helle nach hinten fliehende Tischreihe, vorn mittig eine schwarze Tastatur und darüber, leicht nach rechts versetzt, einen eingeschalteten schwarz gerandeten Bildschirm. Auf diesem wiederum sind etwas Text sowie zwei Bilder zu erkennen. Rechts neben diesem Bildschirm ist im Hintergrund ein weiteres, weißes elektronisches Gerät auf einem erhöhten Tisch zu sehen. Auf dem Tisch liegen rechts neben der Tastatur ein Buch, eine aufgeschlagene Mappe und ein Gegenstand aus schwerem Tuch. Vom linken unteren Bildrand weist ein unbedeckter Unterarm mit einem bedruckten weißen Armband zur Tastatur, die Hand ruht links neben der Tastatur auf einer Computermaus. Links neben der Hand liegt leicht nach hinten versetzt ein Weichplastikbehälter mit Reißverschluss. In der linken hinteren Bildhälfte sind mehrere sitzende Personen zu erkennen. Zwei davon schauen auf einen Bildschirm. Sie sitzen vor einem Fenster. Eine jugendliche Person sitzt neben bzw. hinter ihnen und schaut vor sich auf den Tisch. Zwei weitere, dunkel gekleidete Personen sitzen mittig und schauen vor sich. Einer stützt den Kopf auf seinen rechten Arm, die neben ihm sitzende Person neigt den Kopf in seine Richtung. Die Wand am hinteren Raum-Ende ist vermutlich holzverkleidet ebenso wie die obere Hälfte der rechten Wand, an der Zimmerdecke sind teilweise eingeschaltete Reihenleuchten zu erkennen. Die rechte Raumseite ist fensterlos, die linke weist große Fenster bis zur Decke auf. Zwei von drei Jalousien sind bis etwa zur Fenstermitte heruntergelassen.
Was der naive Betrachter nicht weiß: Das Bild ist seitenvertauscht und stammt aus einer Körperkamera, die die Lehrerin zu Forschungszwecken trägt. In der Analyse wird die Spiegelung des Bildes beibehalten. Was der naive Betrachter ebenfalls nicht weiß: Die Klasse hat den Auftrag, eine Internetrecherche zu einem selbstgewählten Thema zum Oberthema ,Umwelt‘ durchzuführen und eine Präsentation vorzubereiten. Die Lehrerin hat ein Internet- oder ein Lehrwerkdokument zum Thema der Unterrichtsstunde auf ihrem Schirm und scrollt gerade mit Hilfe der Maus durch das Dokument. Links neben ihrer Hand liegt ihr Mäppchen, aus dem ein Stift ragt, rechts neben dem Computer liegen weitere Lehrutensilien. Im rechten Hintergrund ist ein gerade nicht eingeschalteter Beamer auf einem erhöhten Gerätetisch zu sehen. Die Schüler sitzen vor Bildschirmen in Längsrichtung an der Fensterseite und an der fensterlosen Seite, in der Raummitte sitzen sie sich in einer Doppelreihe gegenüber.
Die Kameraprojektion entwirft in Brusthöhe und aus der Position der Lehrerin eine Sicht auf den Unterricht, bei der alle Fluchtachsen auf den Bildschirm hin fliehen. Der linke Arm der Lehrerin wird durch die Kameraperspektive stark vergrößert, ebenso das Mäppchen und die Lehrutensilien zur Rechten, während die Personen im linken Raumbereich verkleinert wirken. Die Lehrerin dürfte in Wirklichkeit ein deutlich erweitertes Blickfeld haben, auch auf die rechts sitzende Schülerreihe, die hier auf Grund der schwachen Belichtung nicht zu erkennen ist. Sehr deutlich wird hingegen, dass die Raumperspektive und -anordnung gegenüber der ansonsten in dieser Schule üblichen, gestaffelten Reihenanordnung, verändert ist. Alle sitzen und schauen auf Bildschirme, die direkt vor ihnen stehen. Die Lehrperson befindet sich zwar zentral, aber eben sitzend am Rande und nicht mehr frontal. Die Lehrer-Schüler-Frontstellung ist zugunsten einer Parallelstellung der Schüler aufgelöst, wobei die Lehrperson sowie die außen Sitzenden exzentrisch positioniert sind. Nur die Personen an den Mitteltischen blicken sich an. Da die Lehrerin zwar am Rand, jedoch gleichzeitig vor der Mittelreihe positioniert ist, kann sie das Interaktionsgeschehen im Raum immer noch weitgehend überwachen. Es entsteht insgesamt ein Bild isolierter Einzelpersonen, die nicht aufeinander reagieren, sondern über Maus und Bildschirm mit dem Computer interagieren.
Die Lehrperson ist über die Hand und die Maus unmittelbar mit dem elektronischen Gerät verbunden und der Bildschirm lenkt die Aufmerksamkeit bzw. den Augen-Blick zentral auf sich. Diese Aufmerksamkeitslenkung wird durch Rauf- oder Runterscrollen und damit verbunden eine Veränderung des Bildschirminhalts aufrechterhalten. Die übrigen Lehrutensilien wirken dagegen statisch und marginal.
- „Frau S.: Wie war denn eure Kurswahl, habt ihr euch alle für Französisch fünfstündig entschieden.
- Adrienne: Ja klar. (Kichern)
- Frau S.: (Kichern) Auf jeden Fall (Kichern), kein Kommentar okay (unverständlich).
- Adrienne: Chill doch.
- Vera: hö was?
- Adrienne: (Pause) die Webseite (Pause) will ein pop-up Fenster ich hab bis heute noch nicht verstanden was ein verdammtes pop-up Fenster is (fünf Sekunden Pause) mehr als dreihunderttausend Becher jede Stunde (eine Sekunde Pause) voll gut.
- Vera: Zehntausende Tonnen Holz (eine Sekunde Pause) geil (eine Sekunde Pause) mit dem eine Kleinstadt versorgt werden könnte (eine Sekunde Pause) die Seite is gut, schreib dir die Seite auf (unverständlich) Punkt d e (vier Sekunden Pause) ähm Frau S.?
- Frau S.: ja?
- Vera: Wie lange muss denn diese Präsentation gehen?
- Frau S.: Zehn Minuten
- Vera: Okay
- Frau S.: Sagen wir mal so nicht länger als zwanzig.
- Vera: Okay
- Frau S.: Also zehn Minuten sind okay wenn ihr zu zweit seid und jeder hat ‘n Anteil von fünf Minuten (eine Sekunde Pause) is schon lang.
- Vera: Okay gut.“
Eine wissenschaftliche Analyse des alltäglichen Unterrichts sieht auf Grundlage dieses Transkripts zunächst eine Reformulierung des Gesagten in eigenen Worten vor: Die Lehrperson thematisiert die Kurswahl und fragt, wer sich für Französisch Leistungskurs entschieden habe. Eine explizite Antwort bleibt aus. Adrienne thematisiert ihr Nichtwissen bezüglich der Bezeichnung „pop up-Fenster“, und Vera findet sehr ergiebige Informationen zum Holzverbrauch. Anschließend fragt sie die Lehrperson nach der erwarteten Länge der Präsentation.
Im zweiten Schritt wird die Episode vom Forscher (das bin in diesem Fall ich) reflektiert: Nach einem zwanzigsekündigen Intervall, das mit anderen Themen gefüllt ist, kommen Vera und Adrienne wieder auf die Umweltthematik zurück. Adrienne spricht zwar zunächst ein technisches Thema bei der Arbeit mit den Webseiten an („die Webseite will ein pop-up Fenster ich hab bis heute noch nicht verstanden was ein verdammtes pop-up Fenster is“), allerdings keine weitergehende Bearbeitung. Nach kurzer Pause äußert sie dann eine Mengenangabe in Verbindung mit dem bereits zuvor bearbeiteten Thema der Wegwerfbecher („mehr als dreihunderttausend Becher jede Stunde voll gut“). Der bewertende Kommentar „voll gut“ könnte ironisch zu verstehen sein, ebenso wie der Redewechsel Veras, in dem sie den damit verbundenen Holzverbrauch anspricht: „zehntausende Tonnen Holz geil mit dem eine Kleinstadt versorgt werden könnte“. Das Thema wird aber sofort wieder verdrängt durch das technische Thema der Nützlichkeit für die Präsentation („die Seite is gut schreib dir die Seite auf (unverständlich) Punkt d e“). Das Thema wird vorläufig durch die Klärung der Frage nach der erwarteten Länge der Präsentation und die Antwort der Lehrperson abgeschlossen.
Ich muss noch gründlicher über den Begriff des Alltags und der Alltäglichkeit nachdenken. Vielleicht hilft eine assoziative Zusammenstellung von Gegensatzpaaren weiter: Routine (Gewohnheit?) versus Risiko, Experiment und Irritation; Normalität versus Bruch und Nonkonformität; Langeweile versus Kreativität … Wir werden das morgen diskutieren, wir werden das im Auge behalten.
Alltag und Normalität, Normalität und Alltag. Unter Alltag würde ich das Konstante, Routinehafte in einer bestimmten Lebenswelt oder einem bestimmten Milieu verstehen, und natürlich kann dieser Alltag auch mit anderen geteilt werden. So gesehen wäre Alltag ein soziologischer Begriff. Normalität ist zwar ebenfalls eine soziologische, allerdings auch eine statistische Bezeichnung für das, was eine Mehrheit teilt. Für die beobachteten Schüler gehört der Französischunterricht zum Alltag, sie teilen seit mindestens einem Jahr diese Routine miteinander und – in unterschiedlichen Rollen – mit ihrer Lehrerin. Normal ist für sie lediglich, immer zu genau dieser Stunde Französisch zu haben, kaum normal dürfte es dagegen sein, die Stunde im Computerraum zu verbringen und in Tandems eine Präsentation vorzubereiten. (Eine These? Worauf gründe ich sie? Das muss noch genauer recherchiert werden, dafür brauche ich mehr Informationen über den alltäglichen Französischunterricht in dieser Klasse.)
