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Thomas und seine Familie brechen zu einer ungewöhnlichen Urlaubsreise auf. Es ist ein Jahr, in dem sich auch viele andere auf den Weg machen, manche auf der Flucht vor Not und Verfolgung, manche auf der Suche nach einem besseren Leben, andere nach Sinn und Erfüllung ... oder gar nach einem Zipfel vom Paradies. Eine Erzählung vom Suchen und Finden, von Starre und Veränderung, von Wegen und Irrwegen. Eine deutsche Erzählung. www.michatheis.de
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Insel
Pfingsten
Am See
Epilog
Ich erzähle diese Geschichte nicht, weil sie einen ganz besonderen Stellenwert in meinem Leben gehabt hätte, zum Beispiel durch die Begegnung mit der ganz besonderen Person, die Theresa sicherlich war, oder weil sich mein Leben dadurch in einer völlig unvorhergesehenen Weise verändert hätte. Ich weiß nicht einmal, ob ich eine solche Geschichte überhaupt erzählen würde, wenn ich die Geschichten meines Lebens zwischen erzählenswert und nicht erzählenswert abwägen würde. Nein, ich erzähle diese Geschichte deshalb, weil ich finde, dass sie schlicht und einfach erzählt werden muss. Es gibt dafür keinen anderen Grund. Und wenn ich sie nicht erzähle, dann müsste sie von jemand anderem erzählt werden, der dabei gewesen ist. Doch dann ist sie vermutlich nicht mehr dieselbe Geschichte. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als sie aus meiner Sicht zu erzählen.
Sonntag, 10. Mai.
Er kann gar nicht sagen, was es genau ist, eine Stimmung, ein Gefühl, eine Intuition. Sie bedeutet ihm, dass sie diesmal nicht nur in einen Urlaub aufbrechen werden. Diese Reise hat einen Anflug von Grenzüberschreitung … oder auch: einen Hauch von Republikflucht! Normalerweise fahren sie in der Vorsaison nicht in Urlaub. Er hat das schon bei anderen beobachtet, das hat sich so schleichend eingebürgert: Jeder verreist, wann er will und wann es am billigsten ist; sofern man Kinder hat, nimmt man sie unter irgendeinem Vorwand aus der Schule, Studenten schwänzen ihre Lehrveranstaltungen. All dies ist ihm zuwider, genauer gesagt: Es widerstrebt seinem Pflichtgefühl. Und ist es nicht das Pflichtgefühl, was einem Leben Ordnung und Würde gibt? Man hält sich an die tradierten Regeln, auch wenn alle anderen sie verletzen, auch wenn sie durch den Zeitgeist schleichend aufgeweicht werden. ,Geiz ist geil‘, das ist genau so eine moderne Unart. Die billigsten Flüge, die günstigsten Angebote, die Sales, die Schnäppchen. Nennen wir das Kind beim Namen: Dekadenz. Und dennoch ist es auch ihm passiert. Er ist gerade dabei, über seinen Schatten zu springen.
Am Sonntag, dem zehnten Mai, steht frühmorgens um fünf das Taxi vor der Tür. Er hört es vorfahren, als er noch im Badezimmer ist, da wartet also schon jemand auf sie, es gibt jetzt kein Zurück mehr. Er beeilt sich, den andern etwas Beine zu machen. Dann geht er schon mal mit zwei Koffern vor die Tür und begrüßt die Taxifahrerin. Als sie sich endlich alle vier hineingezwängt haben und das Auto schon losfährt, blickt er noch einmal auf das Doppelhaus und spürt, dass diesmal etwas anders ist als in früheren Jahren, wenn sie in einen Urlaub aufbrachen: Dieser Urlaub wird anders sein. Es liegt in der Luft, es ist eine Stimmung, ein Gefühl, eine Intuition ...
Nur widerwillig hat Thomas der Urlaubsplanung zugestimmt. Es ist Mitte Mai, und es dürfte das erste Mal in seiner Berufstätigkeit sein (zumindest soweit er sich erinnern kann), dass er im Mai Urlaub genommen hat (seine Mails wird er allerdings unterwegs beantworten). Die Feiertage haben ihnen in die Hände gespielt, das hat ihm die Entscheidung zweifellos etwas erleichtert, so können sie die frühen Pfingstferien der Kinder noch etwas verlängern. Bedenklich: das Jahresurlaubsbudget wird damit stark belastet. Vier Flugtickets (auch wenn es Billigflüge sind), Vollpension für vier Personen (auch bei Vorsaisonpreisen), und Martinas Seminargebühr werden einen langen Schatten auf den nächsten Urlaub werfen. Aber er hat ihr den Wunsch nicht abschlagen können. Wie er ihr niemals einen Wunsch abschlagen kann. Was sie unbedingt haben will, setzt sie durch.
Sie hat nun mal den (scheinbar unwiderstehlichen) Wunsch, von Theresa zu lernen, und der Urlaub ist eher ein Vorwand, den sie mit allerlei guten Argumenten zu bemänteln weiß: dass sie alle sehr von dieser Frühjahrserholung profitieren werden, gerade er sei ja beruflich überanstrengt, die Kinder brauchten dringend die Erholung nach dem langen Winter und den vielen Erkältungen, die Flüge seien sensationell günstig, das würden sie zu dem Preis nie wieder bekommen, und überhaupt, die Insel habe den Ruf, ein wahrer Jungbrunnen zu sein, das Paradies auf Erden. Schon die alten Römer hätten das gewusst und in den dortigen Thermen gebadet … Das alles ist richtig, wer würde dem widersprechen. Doch nichts davon ist zwingend, es ist … ein Vorwand! Es geht ihr ausschließlich um Theresa.
Nun erhebt sich also das Flugzeug mit den vieren und landet zweieinhalb Stunden später bei der Stadt im Süden Europas. Den ganzen Flug über plagen ihn noch die Bedenken wegen dieser Reise, und sie verfliegen erst nach der Landung und dem Ausstieg aus dem Flugzeug. Zu heftig umfängt sie der hier schon fortgeschrittene Frühling mit seinem Licht und seinen milden Temperaturen.
Sie fragen sich zum Linienbus durch, der sie zum Hafen bringt, und dort fragen sie sich zum Fährhafen durch, an dem die kleineren Inselfähren anlegen. Zwischendurch huschen Ansichten einer großen Stadt an ihnen vorbei, Einblicke in eine Stadt im Süden, die gerade in den Tag startet, Straßenschluchten mit überfüllten Wohnhäusern, Abfall, der darauf wartet, abgeholt zu werden, Zeitungskioske, in denen jemand dabei ist, den Rollladen hochzuziehen.
Wie eine Karawane großer Reptilien ziehen sie mit ihren Rollkoffern durch die Hafenanlagen und gelangen schließlich zum Schaltergebäude, wo er vier Tickets für die Überfahrt kauft. Die Fähre wartet bereits. Als sie sie endlich betreten und auf dem Oberdeck Platz nehmen, ist Thomas sich bewusst, an diesem Morgen Grenzen überschritten zu haben, eine innere Grenze (des bisher Unzulässigen, der Sprung über den eigenen Schatten des Pflichtgefühls), auch äußere Grenzen (eine Staatsgrenze und eine Festlandgrenze). Nun gibt es kein Zurück mehr.
Die Fährfahrt hat eine befreiende Wirkung, noch befreiender als die Ankunft an dem Flughafen: das langsame Ablösen vom Festland, das dumpfe Rumoren der Maschine, das Zittern des gewaltigen Schiffsleibs, dem sie sich vollkommen ausgeliefert haben, die frische Brise am Oberdeck, die plötzlich endlos erscheinende Wasserfläche, das Spiel der Sonne auf den polierten Messingteilen und den lackierten Holzoberflächen … Ist es Befreiung oder die Illusion von Befreiung? Befreiung von was? Vom Alltag und seinen Anstrengungen, von Arbeit, Beruf, dem Stress der täglichen Besorgungen und Erledigungen? Der Stress würde ihn nach dem Urlaub wieder einholen. Doch jetzt … jetzt überwältigt ihn die Ästhetik der Fährfahrt. Und es beginnen zwei Wochen, in denen er sich einem anderen, einem neuen Gesetz unterwerfen wird. Dem Gesetz der Insel.
Er holt sich einen Espresso in einem winzigen Einmalbecher aus der Bar und schlürft ihn genüsslich, während die Mädchen aufgeregt von Backbord nach Steuerbord und von Steuerbord nach Backbord und vom Oberdeck zum Unterdeck und vom Unterdeck zum Oberdeck flitzen. Sie platzen fast vor Erregung, und auch Martina freut sich an der fiebrigen Ausgelassenheit der beiden.
Nach zwei Stunden Überfahrt schieben sich an Backbord, plötzlich, unerwartet, Felsvorsprünge und bewaldete Hänge an ihnen vorüber. Gebäude verdichten sich zu einem kleinen Hafen, an dem sie jedoch vorübergleiten, und endlich erscheint eine größere, festungsartig umbaute Bucht, auf die die Fähre geradewegs zusteuert. Sie sind offensichtlich am Ziel angekommen.
An der Treppe beginnen sich die Passagiere zu stauen, lange bevor die Fähre anlegt. Eine fiebrige Ungeduld hat sich der kleinen Truppe bemächtigt, die sich anschickt, das Schiff zu verlassen, sobald sich die großen Bugtore nach rechts und links öffnen. Und tatsächlich, sobald das Licht der Sonne durch die sich weitende Öffnung hereinfällt und sich die Rampe wie eine Zugbrücke auf die Molenmauer gelegt hat, stürmen die Vorderen los, während die Hinteren einander die Treppe hinunter und ebenfalls nach draußen schieben.
Auch die vier haben ihre Rollkoffer ergriffen und drängen mit der Masse auf die Mole. Auch das gehört offenbar zum Lernprogramm … sich mit der Menge treiben zu lassen, loszulassen. Auf der Mole angekommen folgen sie dem Strom in Richtung Stadtmitte, vorbei an wartenden Fahrzeugen aller Art, die hier schon für die nächste Überfahrt zum Festland parken. Ein kleiner Busbahnhof tut sich nach ein paar Gehminuten vor ihnen auf, und er fragt sich mit seinen paar Brocken Italienisch nach der Busverbindung zu ihrem Strand durch. Es ist die fünf, und sie wird in einer dreiviertel Stunde abfahren. So warten sie also noch einmal geduldig, und schließlich trifft der ersehnte Bus ein. Thomas hat vom Hotel die Auskunft bekommen, dass sie mit diesem Bus direkt zum Strand fahren sollen, wo man sie und ihr Gepäck abholen wird.
Nun vertrauen sie sich auch diesem letzten Verkehrsmittel an, das sich allerdings bedenklich gefüllt hat, so dass sie mit Mühe und Not noch Sitzplätze ergattern, ist es doch kein Bus ihnen bekannter Größe, sondern eine Art Minibus. Er windet sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit die engen Straßen hinauf, schwankend und ächzend wie eine Karavelle bei schwerer See, durch kleine und kleinste Ortschaften und frühlingshaft grüne Vegetation, bis oben auf den Pass, der ihnen einen denkwürdigen Anblick der ganzen Bucht darbietet. Das Meer schimmert und glitzert unter der frühen Nachmittagssonne. Und schon geht es wieder steile Serpentinen hinab, begleitet von einem gelegentlichen Sicherheitshupen. An der Endstation der Straße, die sich hier zu einem Wendeplatz öffnet, steigen sie aus, der Busfahrer, den er zuvor nach ihrem Strand gefragt hat, hat ihm ein entsprechendes Zeichen gegeben. Nun gilt es nur noch zu telefonieren und auf eine Person zu warten, die sie zum Hotel bringen wird. Und so geschieht es. Nach fünfzehn Minuten kommt ein kleines Kerlchen mit Schnauzer und lustig blitzenden Augen auf sie zu, nennt ihnen den Namen des Hotels, den sie nickend wie ein Codewort wiederholen, und führt sie zu einem kleinen Raupenfahrzeug, das einem größeren Rasenmäher gleicht und das er um die Ecke geparkt hat. Hier legt er ihr Gepäck ab, startet den Motor, und sie folgen ihm einfach. Es geht direkt zum Strand hinab. Sie stapfen auf dem Sand hinter ihm her, immer weiter Richtung Westen, an Strandbars vorbei bis zu einem Einschnitt, wo ein betonierter Weg vom Strand weg in eine Art Schlucht führt. Und tatsächlich, nach nur wenigen Metern wandelt sich das Bild, und vor ihnen zeichnet sich zur Rechten ein dreistöckiges ockerfarbenes Gebäude ab, von üppiger Vegetation umrankt und mit einem Schild über dem Eingangstor, das keine Zweifel aufkommen lässt: Hotel Palmetta. Sie sind am Ziel!
So weit so gut. Er hat sich also darauf eingelassen, zwei Wochen an diesem Strand zu verbringen, der im Moment noch so leer ist, wie ein Strand vor der Saison, ja vor der Nebensaison, leer sein kann. Scheinbar sind sie die allerersten Gäste, die dieses Jahr hier ankommen, das sieht man auch an den verrammelten Strandlokalen, überhaupt an dem (bei näherem Hinsehen tristen) Anblick des noch nicht gesäuberten Strandabschnitts mit allerlei Angeschwemmtem, am völligen Fehlen von Liegestühlen und Sonnenschirmen am gesamten Strand bis hierhin. Thomas ist ratlos.
Eine energische Stimme begrüßt sie vom Balkon des zweiten Stocks.
Familie, Familie!
Eine Frau mittleren Alters, blond gefärbtes Haar, winkt ihnen zu und verschwindet im Innern des Hauses, um gleich darauf durch eine Tür, die vom ersten Stock hinab zum Weg führt, wieder zu erscheinen. Sie kommt ihnen raschen Schrittes entgegen.
Herzlisch Willkommen. Wia haben füasie zwai Zimma im easten Stock neben dea Treppe reservieat. Kommen Sie, kommen Sie.
Sie führt sie zu den beiden Zimmern, die man über eine separate Treppe erreicht. Thomas muss schmunzeln, denn mit einem Mal wird ihm bewusst, dass sein Italienisch in ihren Ohren wohl ebenso krude klingen muss, wie ihr Deutsch in den seinen. Gabriella ist die Chefin des Hauses.
Als sie ihr Gepäck in den beiden zugewiesenen Zimmern abgestellt haben und wieder allein sind, öffnen sie die Fensterläden und strecken erst einmal alle viere auf den Betten aus. Sie haben es tatsächlich geschafft. Die Sonne drängt frisch und rein ins Zimmer herein und überzieht alles mit einem perligen Glanz. Die zwei Wochen Urlaub können beginnen.
Theresa wird morgen ankommen, nachmittags. Martina sagt, sie habe es von Gabriella gehört.
Sie haben Theresa vor zehn Jahren kennengelernt. Damals bereits (schon zehn Jahre, mein Gott, wie die Zeit vergeht!) hatte Martina ihn zu einem Seminar bei ihr überredet und es ihm als Familienurlaub schmackhaft gemacht. Sie waren damals zwei Wochen im Alpenhof gewesen, und auch damals hatte er sich wahlweise als ,Schlachtenbummler‘ oder als ,Zaungast‘ getarnt und nur gelegentlich an den Morgenterminen teilgenommen. Ansonsten hatte er sich um die Kinder gekümmert. Danach hatten sie zehn Jahre lang an keinem ihrer Seminare mehr teilgenommen. Das hatte Gründe. Auch jetzt möchte er sich am liebsten wieder als Schlachtenbummler oder Zaungast ausgeben, der Martina die Seminarteilnahme ermöglicht, indem er sich in dieser Zeit um die Mädchen kümmert. Er möchte Abstand wahren. Nicht dass ihn die Inhalte nicht interessierten, dies ganz und gar nicht, davon kann keine Rede sein. Es ist nur so, dass solche Seminare eine soziale Eigendynamik entfalten können, mit Verbindlichkeiten, mit Zwängen, mit einer Nähe auch, die er weder sucht noch braucht. Er hat seine Familie dabei, andere reisen allein. Das macht einen großen Unterschied. Manche haben auch keine eigene Familie.
Theresa wird in Begleitung von Lisa anreisen. Es heißt, Lisa sei in den letzten Jahren zu Theresas rechter Hand geworden. Lisa kümmert sich um alles Organisatorische, um das Seminarmanagement, die Flug- und Hotelbuchungen, die Absprachen mit der Hotelleitung bezüglich Mahlzeiten und Zimmerwünschen, sie organisiert die Materialien für das Seminar, Powerpoint-Folien und ausgedruckte Seminarunterlagen, und sie ist (vor allem?) Theresas ständige Begleiterin: Theresa kann sich nicht mehr allein fortbewegen. Ihre Knieprobleme haben sich in den zehn Jahren erheblich verschlimmert. Konnte sie sich damals noch ohne jede Hilfe frei bewegen, so dass man nur an ihrem etwas schwankenden Gang sah, dass sie Knieprobleme hatte, so benötigt sie jetzt eine Begleitung, auf deren Arm sie sich stützt. Für kürzere Entfernungen, etwa vom Hotel zum Strand, genügt auch ein Stock.
Theresa hat das Zentrum vor etlichen Jahren aufgebaut, und in den Neunzigern muss es wohl ein florierendes Unternehmen gewesen sein. Jedenfalls war dies ihren eigenen Erzählungen und denen ihrer treuesten Anhänger deutlich zu entnehmen. Sie hat wohl immer einen gewissen Hofstaat an Helfern und Bediensteten gehabt, manche davon dürfen dann auch mit auf die Insel kommen und zu den anderen Seminarorten, doch in den letzten Jahren und in dem Maße, wie sich Theresas Mobilität verschlechtert hat und sich andere, ältere Mitarbeiterinnen zurückgezogen haben, ist Lisa in die Rolle der Nummer eins hinter Theresa aufgerückt.
Theresas Seminarkonzept ist immer gleich (hat es sich in den fast fünfundzwanzig Jahren überhaupt verändert?). Morgens unterrichtet sie selbst, und den Abend zu gestalten überlässt sie den Mitarbeitern. Diese geben dann Kurse zur Ernährung und zu einzelnen Themen, die am Morgen nicht hinreichend vertieft werden konnten. Der Nachmittag ist frei, und wer will, kann eine Konsultation bei ihr nehmen. Bei anderen Seminaren finden die Abendveranstaltungen auch schon am Nachmittag statt, dann ist der Abend frei. Theresas Grundlagenvorträge streifen alle aus ihrer Sicht relevanten Aspekte für geistige und körperliche Gesundheit. Die Schulmedizin, so argumentiert sie, behandele auftretende Krankheiten mit dem Wissen, das ihr zur Verfügung steht, das heißt mit dem Wissen über physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten, andere Dinge klammere sie aus. Hier gelte es anzusetzen. Eine Krankheit sei ein Blumenstrauß Gottes, ist eine ihrer beliebten Metaphern, eine Einladung zur Arbeit an sich selbst, zur seelischen Weiterentwicklung. Leben und Sterben, Gesundheit und Krankheit sind bei ihr keine stofflichen Kausalitäten, sondern seelische Entwicklungsaufgaben: kein Heilungsversprechen, sondern Hilfe zur Selbsthilfe.
Nun ja, Thomas fühlt sich gesund, hat jedenfalls keinerlei nennenswerte Beschwerden, und hätte Martina ihn nicht zu Theresa geschleift, er hätte wohl nie von ihr erfahren. Es ist nicht sein dringendster Wunsch, sich mit dem Thema Krankheit und Gesundheit auseinanderzusetzen. Aber das braucht er auch gar nicht. Die Abmachung ist, dass Martina morgens das Seminar besucht und er sich in der Zeit um die Kinder kümmert. Das hat – theoretisch wenigstens – viele Vorteile. Er kann seine Distanz wahren, er hat Freiräume und auch Zeit für sich selbst, er kann sich entspannen. Die Zwillinge haben sich schließlich gegenseitig zum Spielen, und Martina wird ihm die Seminarinhalte berichten. Damals, vor zehn Jahren, hat das ganz gut funktioniert, warum sollte es heute nicht auch funktionieren … Allerdings, damals waren die Kinder noch sehr klein, da leuchtete das Konzept unmittelbar ein. Doch hatte er nicht damals schon den Zwiespalt wahrgenommen, dazuzugehören und doch nicht dazuzugehören …?
Zum ersten Abendessen im Hotel ruft sie das helle Klingeln eines Glöckchens. Sie können sich einen Platz aussuchen, sie sind die einzigen Gäste. Nicht ganz die einzigen: eine Frau um die vierzig sitzt an einem kleinen Tisch direkt am Fenster, man sieh sie nur von hinten, kurzes blondes Haar, dicke Brille, eher groß gewachsen. Sie setzen sich zwei Tische weiter, ebenfalls am Fenster.
Gabriella kommt nach kurzer Zeit selbst an den Tisch und nimmt die Bestellung auf.
Isch hätte Spaghetti mit Tomatensoße als Voaspeise und frischen Fisch, hiea aus dea Bucht. Morgen, wenn Theresa kommt, machen wia dann einen Plan füa die Woche. Einverstanden?
Er war schon immer ein Genießer. Die Aussicht auf Antipasti und frischen Fisch lässt ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Er gönnt sich noch ein Glas Weißwein della casa