Der Fremde im Spiegel - Erika Kroell - E-Book

Der Fremde im Spiegel E-Book

Erika Kroell

4,5

Beschreibung

Das betagte Unternehmer-Ehepaar Hemmesfeld wird in der Neujahrsnacht in seiner Villa in Bad Neuenahr brutal ermordet. Ein neuer Fall für die Ermittlerinnen Flegel und Kraut. In derselben Nacht wurden außerdem in der Straße, in der sich das Verbrechen zugetragen hat, mehrere Einbrüche in Nachbarhäuser verübt. Sind die Diebe auch die Mörder der Hemmesfelds? Jenseits der deutsch-belgischen Grenze, in einem Waldstück bei Eupen, findet ein Jäger beim Spaziergang mit seinem Hund einen leblosen Mann, nur unzulänglich vergraben in der Walderde. Sein Gesicht ist völlig zerstört, und als er aus dem Koma erwacht, erinnert er sich an nichts. Als sich herausstellt, dass im Zusammenhang mit seiner Herkunft eine schwache Spur nach Bad Neuenahr weist, ist dies für die beiden Eifeler Ermittlerinnen endlich ein erster brauchbarer Hinweis im Fall ihres Doppelmordes.

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Erika KroellDer Fremde im Spiegel

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

Dunkle Schwestern

Irre

Erst eins, dann zwei

Du siehst mich nicht

Der Fremde im Spiegel

Erika Kroell lebt und arbeitet als Rundfunk-Journalistin und Schriftstellerin im Ahrtal. Sie hat mehrere Krimis und phantastische Romane verfasst und ist Autorin zahlreicher Kurzgeschichten in beiden Genres. Sie ist Mitglied im Deutschen Sherlock-Holmes-Club, bei MinD, im Syndikat und im Verband Deutscher Schriftsteller.

Erika Kroell

Der Fremdeim Spiegel

1. Auflage September 20112. Auflage Oktober 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Lektorat: Nicola Härms, Rheinbach

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-942446-22-8

E-Book-ISBN 978-3-95441-078-1

1. Kapitel

Heiligabend, eine Villa am Johannisberg, Bad Neuenahr

Das dumpfe Tappen vieler Füße auf den Eingangsstufen ließ Margret aufhorchen. »Die Weihnachtssänger sind da«, rief sie und drehte die Hitze unter der Suppe niedriger.

»Komm, Herbert!« Sie wischte ihre Hände an einem Küchenhandtuch ab, hängte ihre Schürze an den Haken und lief zur Haustür. Einige der Sänger, allesamt in rot-grüner Kleidung, klopften sich noch die schneebedeckten Stiefel an der untersten Treppenstufe ab, andere hatten schon die kleine Plattform vor der Haustür erklommen.

»Wie schön, dass Sie wieder da sind«, rief Margret ihnen entgegen und klatschte vor Freude in die Hände. »Darauf freue ich mich jedes Jahr ganz besonders.« Sie wandte den Kopf. »Herbert, nun komm schon.«

Die Sänger, drei Frauen und drei Männer, stellten sich in einem Halbkreis auf und stimmten Stille Nacht an. Margret lauschte mit einem Lächeln, das sich vertiefte, als sie Herberts Hand auf ihrer Schulter spürte.

Die Sänger ließen Leise rieselt der Schnee folgen, was tatsächlich der Wahrheit entsprach und Margrets Weihnachtsfreude noch steigerte, nahmen Beifall und zwanzig Euro entgegen und zogen wieder ab, um andere Menschen zu beglücken.

Margret wollte eben die Haustür schließen, als ein silberner Wagen in die Einfahrt rollte und vor der Garage stehen blieb.

»Die Kinder sind da!« Herbert strebte bereits seinem Sessel im Wohnzimmer zu, drehte aber wieder um und kehrte an die Haustür zurück.

»Frieder! Lissi! Ich bin ja so froh, dass ihr da seid. Jetzt feiern wir wie früher, als ihr noch klein wart. Ein richtiges Familienweihnachten!«

Die beiden jungen Leute ließen sich umarmen und versuchten, der überbordenden Begeisterung ihrer Mutter standzuhalten. Herbert begnügte sich mit einem Händedruck für Frieder und einem Küsschen auf Lissis Wange, brummelte irgendwas möglicherweise freundlich Gemeintes und trat den Rückzug ins Wohnzimmer an. Margret schob ihre Kinder hinter ihm her.

»Gleich kommen die Weihnachtssänger. Erinnert ihr euch noch daran? Sie kommen jedes Jahr und singen vor unserem Haus.« Herbert runzelte die Stirn und schüttelte leicht den Kopf.

Wenig später saßen sie um den großen Esstisch auf unbequemen antiken Stühlen mit geschnitzten Rückenlehnen und kämpften sich an einem Weihnachtsessen ab, das leicht ein kleines Dorf gesättigt hätte. Der große Weihnachtsbaum vor der Glastür zur Terrasse war reich geschmückt und strahlte, das Licht zahlloser Kerzen brach sich in den glänzenden Kugeln, aus dem CD-Player erklang leise Weihnachtsmusik, und Margret versuchte als Einzige, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, berichtete aus der Nachbarschaft und vom Geschäft, fragte nach den Fortschritten beim Studium und schelmisch, ob es neue Freunde gäbe, und nahm mit glücklichem Lächeln die kargen Antworten zum Anlass, die nächste Episode oder Frage anzuschließen. Herbert sagte kein Wort, blickte nur hin und wieder von einem zum anderen und hoffte um Margrets Willen, sie würde ihren Kindern nicht allzu sehr auf die Nerven gehen. Der Abend sollte nicht wieder im Streit enden.

Nach dem Essen packten sie ihre Geschenke aus. Lissi hielt ein beigefarbenes Twinset mit Kristallknöpfen in die Höhe. »Danke, Mama, das ist wirklich sehr schön«, kommentierte sie matt, gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und ließ Jäckchen und Pulli wieder in die Schachtel fallen, die sie niemals mehr verlassen würden, es sei denn in »Petras Lädchen« in Bad Neuenahr.

Frieder wickelte das unvermeidliche Schreibset aus – Füllfederhalter, Kugelschreiber, Drehbleistift in edlem Dunkelgrün – und überlegte, schon während er sich artig bedankte, an wen er es diesmal weiterschenken würde. Walter, dachte er, der hat noch keins bekommen.

Jetzt griff Margret zu den Geschenken der Kinder und entblätterte ein großformatiges Acrylgemälde, das Lissi gemalt hatte.

»Das ist aber schön«, hauchte sie, platzierte das Bild auf einem Stuhl und betrachtete es aus einigem Abstand. Farbige Objekte, durchzogen von Linien, umrahmt von Schleifen, durchbrochen von Mustern. »Was stellt es denn dar?«

Lissi atmete tief ein und aus. »Es stellt nichts dar, Mama. Es ist abstrakt. Ich habe es Sommermorgen genannt.«

»Sommermorgen. Sehr schön. Vielen Dank, Liebes.«

Frieders Geschenk war kleiner und entpuppte sich als Buch mit dem Titel Abendrot. Margret drehte es etwas ratlos hin und her.

»Es ist eine Kurzgeschichte von mir drin«, erklärte Frieder. »Meine erste veröffentlichte Kurzgeschichte.« In seiner Stimme klang ein Hauch Stolz, aber auch Unsicherheit mit.

»Oh, das ist ja nett. Ich werde sie morgen lesen.« Margret legte das Buch beiseite und stand auf. »Jetzt mache ich uns Kaffee.«

Frieder griff nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, um ihnen eine mühsame Unterhaltung mit dem Vater zu ersparen. Doch Herbert schaltete das Gerät sofort wieder aus.

»Irgendwelche neuen Zukunftspläne?« Seine Sprache war knapp und hart und implizierte bereits die Enttäuschung, die die Antwort unweigerlich mit sich bringen würde.

Lissi straffte die Schultern und sah ihrem Vater in die Augen.

»Nun, Frieder hat seine erste Geschichte verkauft, also will er wohl immer noch Schriftsteller werden. Und mein Bild deutet darauf hin, dass ich nach wie vor male.«

Herbert nickte mehrmals langsam. Dann schaltete er kommentarlos den Fernseher ein und wandte sich ab.

Lissi warf einen Blick auf Frieder, doch der ballte die Fäuste im Schoß und starrte auf den Bildschirm.

»Ich helfe Mama in der Küche.« Sie erhob sich und verließ das Zimmer.

Obwohl die Stimmen einer Weihnachtsshow aus den Lautsprechern des Fernsehers schallten und die CD immer noch lief, wurde das Schweigen zwischen Frieder und Herbert immer drückender. Als Frieder schließlich glaubte, nicht mehr atmen zu können, schaltete Herbert den Fernseher wieder aus.

»Da weder du noch deine Schwester sich für das Geschäft interessieren, werde ich es verkaufen.« Frieders Kopf ruckte herum. »Verkaufen? Ist das dein Ernst?«

Herbert nickte. »Absolut. Deiner Mutter geht es gesundheitlich nicht allzu gut. Wir werden uns ein kleines Haus auf dem Land kaufen und uns zur Ruhe setzen.«

Frieder schluckte und versuchte abzuschätzen, was das für ihn und Lissi bedeutete. Doch die Frage blieb nicht lange unbeantwortet.

»Wir werden euch dann nicht mehr finanziell unterstützen können, aber …«, Herberts Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen, »… als Schriftsteller und als Malerin werdet ihr sicherlich ein gutes Auskommen haben.«

Die Kaffeemaschine blubberte leise. Margret stellte Tassen, Zucker und Milch auf einem silbernen Tablett zusammen. Lissi zog einen Stuhl vor und setzte sich.

»Frieder und ich verbringen Silvester mit ein paar Freunden auf einer Skihütte«, erzählte sie.

»Das ist schön, Schatz. Wann fahrt ihr denn?«

»Morgen.«

»Ihr übernachtet aber doch heute hier, oder? Ich hab eure Zimmer schon vorbereitet.«

»Nein, Mama. Nach dem Kaffee fahren wir wieder. Wir müssen noch packen.«

»Aha, na gut. Bring doch schon mal das Geschirr rüber.«

Lissi nahm das Tablett und trug es ins Wohnzimmer. Die Stimmung im Raum hatte sich verändert. Irgendetwas war in der Zwischenzeit zwischen Frieder und ihrem Vater vorgefallen. Prüfend blickte sie beide an. Frieder unterdrückte offensichtlich seine Wut, und Herbert schien auf unangenehme Weise zufriedener als vorhin. Schnell lief Lissi wieder in die Küche. Margret stellte Tassen und Untertassen auf einem Tablett zusammen. »Ah, Lissi, du kommst gerade recht«, sagte sie und lächelte Lissi freundlich an. »Bring doch schon mal das Geschirr ins Wohnzimmer.«

Verblüfft sank Lissi auf den Stuhl. »Ist alles in Ordnung mit dir, Mama?«

Margret wandte sich ihr zu. »Aber natürlich, Schatz, mir geht es blendend.« Sie nahm die Kaffeekanne aus der Maschine. »Ich hab übrigens eure Zimmer schon vorbereitet.«

Eine Stunde später setzte Lissi Frieder vor dem Haus in Bonn-Endenich ab, in dem er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock lebte, und steuerte den Wagen anschließend über verschneite Straßen zu ihrer eigenen Wohnung. Fröhliche Weihnachten, dachte sie.

2. Kapitel

Silvester, eine Hütte im Schneein der Nähe von Schleiden in der Eifel

Okay, Leute, gleich ist es so weit!«

Walter hielt den Blick fest auf seine Armbanduhr gerichtet und begann zu zählen: »Zehn, neun, acht …«

Julia, Lissi und Frieder nahmen ihre Sektgläser vom Tisch und lauschten dem Countdown. Um Mitternacht stießen sie miteinander an und tauschten die üblichen guten Wünsche, dann schlüpften sie schnell in ihre warmen Jacken und gingen in den Schnee hinaus. Von hier oben genossen sie einen prächtigen Blick auf die kleine Stadt am Fuß des Berges, wo jetzt an vielen Stellen Feuerwerkskörper gezündet wurden. Laut schallten die Explosionen hundertfach zu ihnen hoch, die Funken stoben in allen Farben auf sie zu. Walter hatte ebenfalls mehrere Pakete Silvesterraketen mitgebracht und machte sich daran, sie in am früheren Abend eingegrabenen leeren Weinflaschen aufzustellen und zu zünden. Bald richteten alle vier die Blicke mal aufwärts, um Walters Raketen zu verfolgen, mal abwärts, um die Lichter aus dem Tal nicht zu versäumen.

Schließlich hatte Walter alle Raketen gezündet, und auch im Tal wurden die Explosionen weniger. Durchgefroren liefen sie in die Hütte zurück. Lissi griff nach ihrem Handy. »Ich ruf mal zu Hause an«, sagte sie und wählte eine Nummer. »Besetzt.«

Sie klappte das Telefon wieder zu. »Ich versuch’s später noch mal.«

Julia und Walter hatten mehr Erfolg und telefonierten beide kurz mit ihren Eltern.

Danach spielten sie ein Kartenspiel, dessen Sinn hauptsächlich darin bestand, dass der Verlierer einen Schnaps trinken musste. Alle verloren gern und oft, und bald tranken sie, auch ohne Karten zu spielen. Als Lissi irgendwann die Wahlwiederholungstaste an ihrem Handy drückte, äußerte Walter Zweifel, ob sie einen ordnungsgemäßen Neujahrswunsch überhaupt noch aussprechen könnte. Das Besetztzeichen ersparte ihr die Verlegenheit.

»Vielleicht sind die Leitungen überlastet«, mutmaßte Julia und verschliff die eine oder andere Wortendung, sodass Lissi auf den Nachhall der Worte in ihrem Kopf warten musste, um sie zu verstehen. Dann nickte sie.

»Oder sie schlafen schon und haben den Hörer ausgehängt, um nicht gestört zu werden. Egal. Morgen ist auch noch ein Tag.«

Sie schliefen bis in den späten Vormittag, unternahmen einen ausgedehnten Spaziergang durch die tief verschneiten Wälder rings um die Hütte und räumten anschließend auf. Den Müll und die leeren Flaschen verteilten sie gleichmäßig auf ihre beiden Wagen. Am späten Nachmittag brachen sie auf.

3. Kapitel

2. Januar, ein Wald beiEupen/Ostbelgien

Trotz des dichten Blätterdachs waren die Waldwege rund um den Stausee schneebedeckt. So viel Schnee wie in diesem Winter war lange nicht gefallen. Auch an diesem Morgen schneite es ununterbrochen. Rutger schritt gemächlich aus und hinterließ mit seinen schweren Stiefeln tiefe Abdrücke im Schnee, der ihm bisweilen an die halbe Wade reichte. Auch Ferdi, sein acht Monate alter Terrier, tat sich schwer, die für ihn bauchhohen kalten Hürden zu überwinden, doch seine Freude am Laufen und Springen ließ er sich dadurch nicht nehmen.

»Ferdi, bei Fuß!« Rutger wurde nicht müde, die immer gleichen Befehle zu geben und den Hund, wenn er denn gehorchte, was durchaus vorkam, zu loben, in der Hoffnung, seine Erziehungsmaßnahmen zeitigten Erfolg.

Diesmal beliebte es Ferdi, an Rutgers Seite zu schlüpfen. Obwohl Rutger den Verdacht hatte, dass der Hund sich nur ein wenig von der Mühsal des Rennens ausruhen wollte, tätschelte er ihm lobend den Kopf und sagte: »Brav, Ferdi. Gut gemacht.«

Rutger trug seine Jagdflinte geschultert, eine Franchi Alcione, doch mehr aus Gewohnheit als aus der Absicht, tatsächlich Wild zu schießen. Er litt noch unter der ausschweifenden Silvesterfeier und bezweifelte, irgendein bewegliches Ziel treffen zu können. Nicht heute.

Der Spaziergang in der kalten, klaren Winterluft tat seinem strapazierten Kopf gut. Mit jedem Atemzug spürte er, wie die Nachwirkungen des Alkohols hinauswehten und sich die hoffentlich nur geringfügig reduzierten Gehirnzellen wohler fühlten.

Ferdi hatte das vorangegangene Lob bereits Sekunden später vergessen und sprang wieder munter durch den Schnee. Hin und wieder schüttelte er den Kopf und nieste, wenn er beim Eintauchen in die weißen Flocken einige davon eingeatmet hatte.

»Ferdi, bei Fuß!«, sagte Rutger und widerstand der Versuchung, zur Bekräftigung an der Leine zu ziehen. Der Hund sollte aus eigenem Willen seinen Befehlen folgen. Eigentlich ein Widerspruch in sich, dachte Rutger, aber so läuft Erziehung nun mal.

Diesmal hatte Ferdi jedoch keinen Sinn für Erziehung und schlug sich stattdessen seitlich ins Unterholz. An einer Stelle zwischen hohen Buchen begann er, wie wild zu scharren. Schnee schleuderte nach allen Seiten, und Rutgers dicke Baumwollhose war bald bedeckt davon.

»Was ist denn los, Ferdi?« Rutger trat näher und begutachtete die Stelle, die das Interesse seines Hundes so sehr erregte. Unter dem Schnee tauchte Waldboden auf, verrottete Blätter und braune Erde, kleine Äste und einige Vogelfedern. Ein Vogelkadaver, vermutete Rutger und ließ den Hund graben. Sobald er den Kadaver freigelegt hatte, würde er sich wieder beruhigen.

Ferdi grub und scharrte, als ginge es um sein Leben. Rutger beobachtete geduldig seine Fortschritte. Plötzlich sah er etwas Helles durch den Erdboden schimmern und zog Ferdi abrupt an der Leine zurück. »Bei Fuß!«

Der Hund gehorchte nicht, und Rutger zog ihn gewaltsam zurück und band die Leine an einem Baum in der Nähe fest.

Er hockte sich vor die Grabungsstelle und begann, mit seinen Händen die Erde wegzuschaufeln. Bald erkannte er helle Haut mit wenigen blonden Haaren darauf. Eine Männerbrust. Ein Arm an der Seite. Er grub weiter an der Stelle, an der er den Kopf vermutete. Die Erde ließ sich nicht so leicht abtragen wie über der Brust, also kratzte Rutger sie mit den Fingerspitzen weg. Seine Augen weiteten sich entsetzt, er wandte sich rasch ab und erbrach sich in ein Gebüsch. Das Gesicht des Toten war völlig zerschlagen, und in den Wunden haftete die Erde am geronnenen Blut. Rutger ließ sich hinterrücks in den Schnee fallen und versuchte, Atmung und Puls unter Kontrolle zu bekommen. Die Nebel der Silvesterfeier waren schlagartig verschwunden.

Ferdi sprang bellend auf und ab und versuchte, die Leine zu zerreißen. Offenbar war ihm der Blutgeruch in die Nase gestiegen.

Rutgers Magen beruhigte sich, und er versuchte, langsam und tief zu atmen, als er eine Hand an seinem Knie spürte.

Kreischend sprang er auf. Ferdi bellte hysterisch. Eine erdverschmierte Hand tastete wie eine verletzte Krabbe über den Waldboden auf der Suche nach Rutgers Bein. Rutger legte beide Hände auf seine Brust, bemüht, sein Herz zu beruhigen. Wenn er jetzt einen Schlag erlitt, waren sie beide verloren.

Endlich gelang es ihm, sich hinzuknien und die kalte Hand zu ergreifen. Die Finger schlossen sich sofort um seine. Mit der freien Hand wischte Rutger die Erde vom Mund des Mannes und hob dann seinen Kopf ein wenig an.

»Alles wird gut«, sagte er. Seine Stimme zitterte. »Alles wird gut. Sie sind gerettet.«

Er ließ die Hand los, zog schnell seine Jacke aus und legte sie auf den Boden. Dann fasste er mit beiden Händen unter die Schultern des Mannes und wuchtete ihn aus seinem Grab. Die Wunden in seinem Gesicht waren immer noch von Erde bedeckt, doch Rutger konnte sich nicht überwinden, noch einmal mit den Fingern in die Wunden zu fassen, um die Erde zu entfernen. Als er den Mann in seine Jacke gewickelt hatte, wühlte er eine Wasserflasche aus seiner Tasche und gab ihm einige Tropfen in den geöffneten Mund. Der Mann schluckte und hustete, seine Zunge fischte nach den Tropfen auf seinen Lippen, und Rutger träufelte mehr. Irgendwann öffnete der Mann die Augen und sah ihn an. Rutger bemerkte es zuerst nicht, weil das Gesicht unter der Walderde dick angeschwollen war, doch als er den Blick schließlich auffing, brach ihm fast das Herz. Selbst, wenn dieser Mann das hier überleben würde – was ihm geschehen war, würde er sicher nie verwinden.

Rutger wählte den Notruf und erklärte genau, wo im Wald man sie finden würde. Während er auf Hilfe wartete, wischte er mit seinem Taschentuch, so gut es eben ging, die Erde um Augen und Mund des Mannes ab und benetzte seinen Mund mit Wasser.

Nach zehn Minuten brachen zwei Sanitäter mit einer Trage durch die Büsche. Ein Notarzt und zwei Polizisten folgten ihnen auf dem Fuße. Ihre Fahrzeuge hatten sie am Waldrand stehen gelassen. Sie konnten nicht riskieren, sich auf dem verschneiten Waldboden festzufahren.

»Ach, du lieber Himmel«, flüsterte einer der Sanitäter, ein sehr junger Mann, beim Anblick des Verletzten.

Der Notarzt überprüfte Puls und Blutdruck. »Wir bringen ihn sofort ins Hospital. Hier können wir nichts für ihn tun«, sagte er. Die Sanitäter hoben den Mann auf die Trage und hasteten zum Rettungswagen. Der Notarzt telefonierte mit dem Krankenhaus und kündigte den Verletzten an.

Rutger saß erschöpft auf dem Boden, den Rücken an den Stamm einer alten Buche gelehnt. Der Arzt hockte sich vor ihn hin und griff nach seinem Handgelenk. »Wie geht es Ihnen?«

»Es geht«, antwortete Rutger matt.

»Wir nehmen ihn gleich mit«, sagte einer der Polizisten zu dem Arzt.

»Gut. Dann fahre ich jetzt ins Hospital.« Er klopfte Rutger leicht auf die Schulter und verschwand.

»Kommen Sie«, sagte der Polizist, reichte Rutger eine Hand und zog ihn vom Boden hoch. »Wir fahren in die Gendarmerie, sonst holen Sie sich noch den Tod. Mein Kollege wartet auf die Spurensicherung.«

4. Kapitel

2. Januar, eine Villa am Johannisberg,Bad Neuenahr

Wieder ein Jahr vorbei. Katharina stieg langsam die sieben Stufen zum Eingang der Villa Hemmesfeld empor und sann über das vergangene Jahr nach. Es war viel schneller verstrichen als das Jahr zuvor. Dasselbe hatte sie auch im vergangenen Jahr gedacht, als sie am 2. Januar diese Stufen hinaufgestiegen war. Die Zeit rast nur so an einem vorbei. Irgendwann in nicht allzu fernen Jahren wird sie in irgendeinem Altenheim sitzen und, im Rückblick auf ihr Leben, vor allem Gummihandschuhe und Putzlappen sehen. Und es wird kein herausragend gutes Altenheim sein, denn ihre Rente wird nur für ein einfaches reichen, und selbst da wird das Sozialamt noch dazuzahlen müssen. Ihre drei Kinder werden ihr nicht finanziell unter die Arme greifen. Das steht jetzt schon fest. Und sich persönlich um sie kümmern, werden sie erst recht nicht. Sie wird alt und einsam und arm sein.

Katharina schüttelte sich, als sie auf dem kleinen Platz vor der Tür angekommen war. Was sollte das Selbstmitleid? Das Leben war nun mal so. Fertig. Sie war froh darüber, bei den Hemmesfelds eine gute Arbeit gefunden zu haben. Die Leute waren nett und zahlten einen gerechten Lohn. Und Katharina war rüstig genug, noch ein paar Jahre durchzuhalten. Viel mehr, das wusste sie inzwischen, konnte man vom Leben nicht erwarten. Zumindest nicht, wenn man Katharina Silbernagel war.

Sie schloss die Haustür auf und schrak sofort zurück. Ein entsetzlicher Gestank schlug ihr entgegen.

Sicher waren Hemmesfelds über die Feiertage weggefahren und hatten irgendwelche Lebensmittel vergessen, die nun auf dem Herd oder auf dem Tresen vor sich hingammelten. Obwohl das Frau Hemmesfeld wirklich nicht ähnlich sah.

Katharina stellte ihre Tasche neben der Haustür ab und lief schnell ins Wohnzimmer, um die Terrassentür zu öffnen und für Durchzug zu sorgen. Ihre Schritte knirschten, und als sie hinuntersah, stand sie in einem Scherbenfeld. Eine Scheibe der gläsernen Tür war zerbrochen, und ein etwa fußballgroßes Loch mit gezacktem Rand ließ kalte Luft herein.

»Na, was ist das denn!«, schimpfte Katharina und öffnete die Tür sperrangelweit. Frische Winterluft strömte in den Raum und vertrieb die stinkenden Schwaden verdorbenen Essens. Vermutlich hatte der Lümmel aus der Nachbarschaft mal wieder im Garten Fußball gespielt, als die Hemmesfelds nicht zu Hause waren. Kleiner Lausebengel. Herr Hemmesfeld würde seinen Eltern die Rechnung für die Reparatur der Scheibe schicken.

Das Wohnzimmer schien, abgesehen von den Scherben vor der Tür, ordentlich aufgeräumt. Das Haus war ganz still, und Katharina fühlte sich in der Annahme bestätigt, dass die Besitzer verreist seien.

Sie holte ihre Tasche an der Haustür, ließ die Tür aber noch offen. In der Küche entdeckte sie sofort die Übeltäter: Auf dem Herd standen mehrere Töpfe mit halb geöffneten Deckeln. Ein Blick genügte: Das Innere der Töpfe war mit grün-weißem Schimmel bedeckt, und aus allen schlug ihr heftiger Gestank entgegen.

»Mein Gott!«, schimpfte sie, nahm einen Topf, lief zum Bad und spülte den grässlichen Inhalt die Toilette hinunter. Als die Töpfe geleert, ausgespült und in der Spülmaschine untergebracht waren, besserte sich allmählich der Geruch im Haus. Katharina öffnete auch noch das Küchenfenster und zog eine Strickjacke über, um die Kälte abzumildern.

Während die Spülmaschine lief und die Winterluft das Haus neu belebte, wischte Katharina die Fußböden im Erdgeschoss, befreite die Außentreppe und den Weg zum Briefkasten von Schnee und Eis und goss die ausgetrockneten Blumen auf den Fensterbänken. Allzu lange würden die den Kälteeinbruch nicht mehr durchhalten. Deshalb drehte sie danach eine Runde durch das Erdgeschoss und schloss alle Fenster und Türen wieder. Es blieb nur das Loch in der Terrassentür.

Katharina griff nach dem Telefonbuch auf der Kommode in der Diele und suchte die Nummer eines Glasers heraus. Der Mann versprach, noch im Laufe des Vormittags vorbeizuschauen und die Scheibe auszumessen. Katharina suchte nach einer alten Zeitung und Klebeband und verschloss die Bruchstelle provisorisch.

Sie gönnte sich eine Tasse Kaffee am Tisch in der Küche, blätterte dabei die Zeitungen der letzten Tage, die vor der Haustür gelegen hatten, durch und rauchte eine Zigarette. Wäre Frau Hemmesfeld da gewesen, hätte sie natürlich nicht geraucht. Die Chefin mochte das nicht, und selbstverständlich respektierte Katharina das. Aber sie würde gleich noch mal lüften, und Frau Hemmesfeld würde nichts bemerken.

Ohnehin, stellte sie jetzt fest, würde sie nochmals ordentlich lüften müssen, denn die Bude müffelte schon wieder.

Nach der Pause füllte sie einen Eimer mit heißem Wasser und Putzmittel und zog in die obere Etage um, wo die Hemmesfelds ihr Schlafzimmer, zwei Kinderzimmer, ein Gästezimmer und zwei Bäder untergebracht hatten. Zwei Bäder und eine Gästetoilette mit Dusche im Erdgeschoss. Das musste man sich mal vorstellen!

Frau Hemmesfeld hatte Katharina ganz aufgeregt erzählt, dass ihre beiden Kinder über Weihnachten zu Besuch kämen. Deshalb sah sie zuerst in den Kinderzimmern nach, aber beide Räume waren tadellos aufgeräumt, die Betten gemacht, die Tische und die Papierkörbe sauber und leer.

Also ging sie weiter zum Schlafzimmer.

Sie öffnete die Tür und blieb wie erstarrt im Rahmen stehen. Der Gestank in diesem Zimmer war greifbar wie dicker Filz. Er legte sich auf Katharina wie eine schwere Decke, unter der sie fast zusammenbrach.

Schlimmer noch war das Bild, das sich ihr bot: Im breiten Ehebett lagen Herr und Frau Hemmesfeld, beide blutüberströmt. Katharina ließ den Putzeimer fallen, und Wasser und Reinigungsmittel ergossen sich über das Parkett und rannen bis unter das Bett, wo sie sich in der Vereinigung mit den Blutlachen allmählich rötlich färbten.

Erst die Türklingel erlöste Katharina aus ihrer paralytischen Starre. Sie rannte die Treppe hinunter, riss die Haustür auf und stolperte an dem erschrockenen Glaser vorbei die Treppe hinunter.

»Hier lässt es sich leben, was?« Kraut stand breitbeinig und mit verschränkten Armen am Rande der Terrasse und überblickte den parkähnlichen Garten der Villa Hemmesfeld. Die weiße Schneedecke ließ das Grundstück noch weitläufiger wirken, als es tatsächlich war. Die Sitzgruppe unter einer großen Trauerweide am Ende des Gartens schien kilometerweit entfernt zu sein.

Dani folgte ihrem Blick und nickte beeindruckt. »Das kann man wohl sagen. Allerdings scheint das Leben hier mit einem erhöhten Risiko einherzugehen.« Sie wandte sich um und sah zu den Fenstern im Obergeschoss des Hauses hinauf, wo die Kollegen der Spurensicherung seit über zwei Stunden zugange waren.

»Auch wieder wahr. Lieber arm und gesund als reich und tot«, kommentierte Kraut.

Sie setzten ihre Wanderung um das Haus fort, inspizierten das Gartenhaus und die Garage, ohne beides zu betreten. Auch da würde sich die SpuSi später noch umsehen. Die verschneiten und kaum sichtbaren Fußspuren auf der Terrasse und dem von dort zur Vorderseite führenden Plattenweg hatten die Kollegen bereits fotografiert und gesichert. Nur deshalb konnten die beiden Polizistinnen die Wartezeit mit einer Besichtigungstour verkürzen.

Vor dem Haus hatte sich inzwischen eine kleine Menschenmenge um die drei Streifenwagen versammelt. Nachbarn und zufällige Passanten, die sich der Faszination des Grauens nicht entziehen konnten. Die uniformierten Kollegen befragten die Leute, um Hinweise auf den Zeitpunkt des Verbrechens oder eventuell Beobachtungen, die von Interesse sein könnten, zu erhalten. Später würden Dani und Kraut die Ergebnisse dieser Gespräche mit den Kollegen durchgehen und entscheiden, welche der Personen sie selbst noch einmal ausführlich befragen würden. Doch das hatte erst einmal Zeit. Jetzt stand der Tatort im Mittelpunkt des Interesses.

Aus der offenen Haustür trat ein Kollege der Spurensicherung an die Treppe und winkte ihnen zu. Dani setzte sich auf den Beifahrersitz ihres Wagens und tauschte die High Heels gegen ein Paar kurze Gummistiefelchen. Kraut war wie immer eher praktisch als chic gekleidet. Ihre Füße steckten in schwarzen Schnürstiefeln mit Lkw-Reifenprofil, geeignet für jedes Gelände, wenn man vom Tanzparkett im Kurhaus mal absah.

Vor der Tür zogen beide Latexhandschuhe und blaue Plastikschuhe über und traten ein. Neben der Haustür war ein metallgerahmtes Zahlenfeld in die Wand eingelassen. Eine Alarmanlage, die anscheinend keinen Alarm ausgelöst hatte.

Seite an Seite durchstreiften sie die Zimmer im Erdgeschoss und versuchten, ein Gefühl für die Räume und die Menschen, die darin gelebt hatten, zu bekommen. Die Küche war aufgeräumt bis auf einige Tücher und eine Flasche Reinigungsmittel auf der Anrichte.

Leider hatte die Putzfrau der Opfer das Erdgeschoss bereits komplett gereinigt, bevor sie die Leichen im Schlafzimmer entdeckte. Kaum abzuschätzen, wie viele Indizien sie damit vernichtet hatte. Ein Gespräch mit ihr würde später vielleicht Hinweise darauf bringen, sofern sie vor ihrer Putzmission irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt hatte.

Dani warf einen Blick in den Kühlschrank, Kraut öffnete Schubladen und Schränke. Im Wohnzimmer betrachteten beide die silbergerahmten Fotos auf dem Kaminsims. Zwei Kinder, ein Junge und ein etwas älteres Mädchen, beide blond und blauäugig, dominierten die Ahnengalerie. Von links nach rechts konnte man ihr Heranwachsen verfolgen. Das letzte Foto zeigte sie als erwachsene Menschen. Mitte zwanzig, schätzte Dani.

Auf zwei Fotos war ein Paar in gekünstelter Pose zu sehen, die Eltern vermutlich. Auf einem trugen sie ihre Hochzeitskleidung und schienen jung und glücklich. Das zweite zeigte sie viele Jahre später, vielleicht bei ihrer Silberhochzeit. Er blickte sehr ernst in die Kamera, die Augenbrauen trafen sich fast in der Mitte, kantiges Kinn, schmale, fest geschlossene Lippen. Ein harter Mann. Sie dagegen weich und rundlich, ein seliges Lächeln auf den Lippen, der Blick irgendwie verwirrt. Keine Frage, wer in diesem Haus das Sagen hatte.

Vor der Terrassentür stand noch der Weihnachtsbaum, darunter lagen ein Buch und ein Gemälde. Ohne das fleißige Lieschen wäre beides wahrscheinlich mit Tannennadeln bedeckt, dachte Dani. Aus deren Zustand hätte man vielleicht auf den Zeitpunkt des Verbrechens schließen können. Sie kniff die Lippen zusammen.

»Kiefernnadeln«, sagte Kraut. Überrascht sah sich Dani zu ihr um.

»Es ist eine Kiefer, keine Tanne«, erläuterte Kraut.

Dani klappte den Mund auf und gleich wieder zu. »Hab ich laut gedacht?«, fragte sie. Kraut wandte sich lächelnd ab, öffnete den CD-Player und holte die eingelegte Scheibe heraus. Kopfschüttelnd wandte sich Dani einem monumentalen Schreibtisch zu, zog die Schubladen auf und betrachte das Sammelsurium von Papieren, Kontoauszügen, Streichholzbriefchen und Schlüsseln, von denen vermutlich niemand mehr wusste, welches Schloss sie einst geöffnet hatten.

Das Loch in der geborstenen Scheibe der Terrassentür ließ wieder kalte Luft ins Zimmer. Die Kollegen hatten die provisorische Abdeckung entfernt und die zusammengefegten Glasscherben aus dem Mülleimer geborgen. Allmählich kühlte der Raum aus. Dani machte sich eine geistige Notiz, noch heute Kontakt mit dem Glaser aufzunehmen, den sie bei ihrer Ankunft, die aufgelöste Putzfrau im Arm, vor dem Haus angetroffen hatten. Da er nichts zur Erhellung der Situation beitragen konnte, hatten sie nur seine Adresse notiert und ihn gehen lassen. Katharina Silbernagel, schöner Name übrigens, dachte Dani, wurde derzeit im Krankenhaus versorgt. Sie stand unter Schock, und es war unklar, wann man sie würde vernehmen können.

Mit langsamen Schritten, den Blick über Wände und Stufen gleitend, stiegen sie in die erste Etage hinauf. Im Schlafzimmer war inzwischen ebenfalls ein Fenster geöffnet worden, sodass der üble Gestank abziehen konnte und das Atmen einigermaßen erträglich war. Auf einer schmalen Kommode im oberen Flur stand ein Telefon der altmodischen Sorte mit Wählscheibe. Der Hörer lag daneben.

In der Tür zum Schlafzimmer blieben sie stehen und betrachteten stumm und erschüttert die Szene. Das Ehepaar lag nebeneinander in einem breiten Bett, sie berührten einander nicht. Seine Hände lagen flach auf der Decke, sie war bis zu den Schlüsselbeinen zugedeckt. Nur ihre runden Schultern, bedeckt von einem blassgelben Stoff, waren sichtbar. Und natürlich ihre Gesichter. Zwei rotbraune, zerklüftete Abgründe in verwesendem Fleisch, wie Masken aus einem Horrorroman. Der oder die Täter hatten mit einem Hammer zugeschlagen. Wie oft, würde die Obduktion ergeben. Die Blutspritzer an der Wand über den Köpfen, an der Decke und seitlich auf dem Boden würden zeigen, aus welcher Richtung die Schläge gekommen und wie heftig sie gewesen waren.

Der Hammer lag an der Bettseite der Frau auf dem Boden, direkt neben der eingetrockneten Blutlache, die vom Gesicht der Frau über das Kissen und den Bettrand nach unten gesickert war. Neben dem Hammer lagen zwei ineinander verknüllte Latexhandschuhe.

Die Lage der Toten ließ darauf schließen, dass sie sich nicht gewehrt hatten. Sie waren wohl im Schlaf erschlagen worden.

In diesem Raum herrschte, anders als im Erdgeschoss, einige Unordnung. Schubladen waren halb geöffnet, Wäsche herausgezogen und zu Boden geworfen worden, Tiegel und Flakons auf der Kommode umgefallen. Dani und Kraut betraten den Raum und untersuchten ihn sorgfältig.

Die Spurensicherung hatte sämtliche Details im Zimmer und die mit Nummern markierten Fundstücke fotografiert. Später würden sie anhand dieser Fotos den Zustand des Raums jederzeit nachvollziehen können. Doch der direkte, unmittelbare Eindruck am Tatort war unverzichtbar. Manchmal fand man keine Anhaltspunkte, die der Lösung des Falles dienlich wären, doch hin und wieder reichte ein Eindruck, ein Gefühl, um auf die richtige Spur zu kommen. Intuition, nannte Dani es. Kraut sagte: Bauchgefühl.

»Wir müssen die Kinder benachrichtigen«, sagte Dani, als sie Stunden später mit Kraut zur Haustür ging. »Diesen Teil hasse ich besonders.«

Kraut nickte nur. Ihre empathischen Fähigkeiten hielten sich in Grenzen, und mit der Information Hinterbliebener kam sie im Allgemeinen ganz gut zurecht. Eure Leute sind tot. Das Leben geht weiter. Macht was draus.

»Die Kollegen haben ein Notizbuch sichergestellt mit Adressen und Telefonnummern. Da werden wir sie wohl finden«, sagte sie. »Aber weißt du was? Angesichts der vorgerückten Stunde schlage ich vor, dass wir unsere Bonner Kollegen sozusagen um Amtshilfe bitten und sie mit dieser unangenehmen Aufgabe betrauen. Und wenn wir morgen genauere Untersuchungsergebnisse haben, fahren wir selbst noch einmal hin.«

Dani war erleichtert. »Gute Idee«, sagte sie. »Rufst du in Bonn an?«

»Mach ich«, sagte Kraut und zückte ihr Handy. »Geh schon mal vor.«

»So, das wäre erledigt«, meinte Kraut, als sie Dani vor der Haustür einholte.

»Sollen wir im Krankenhaus nachfragen, ob die Putzfrau schon vernehmungsfähig ist?« Dani hatte sichtlich keine Lust mehr dazu. Es war Sonntag, und sie sehnte sich nach einem ausgedehnten Bad und einem gemütlichen Abend vor dem Fernseher. Herrgott noch mal, das Jahr hatte gerade erst angefangen, und schon ging das Elend wieder los.

Kraut sah sie von der Seite an, prüfend und mit gerunzelten Brauen. »Ich denke, das hat auch noch Zeit bis morgen. Die Frau war echt fertig mit der Welt. Lassen wir sie eine Weile in Ruhe. Sie läuft uns ja nicht weg.«

Dani lächelte dankbar und folgte Kraut die Treppen hinunter in den Garten. Zwei Leichenwagen standen in der Einfahrt.

Dani zog die Plastikhüllen von den Füßen. »Ich hab nicht mal mehr Lust, meine Pumps anzuziehen«, seufzte sie und ließ sich erschöpft auf den Beifahrersitz sinken.

Kraut grinste. »Da wird Luki aber enttäuscht sein.« Sie schwang sich hinters Steuer und startete den Motor.

»Luki? Wieso?«

Kraut lenkte den Wagen aus der schneebedeckten Einfahrt auf die mit Schlaglöchern übersäte Straße.

»Ich hab eben mit ihm telefoniert. Er macht gerade einen Nudelauflauf für uns. Whisky und Cola im Kühlschrank. Sonst noch Wünsche?«

Lächelnd ließ Dani den Kopf gegen die Lehne sinken. »Danke, Schwester, das wär alles.«

Sie genoss die zehnminütige Fahrt nach Rech, wo Kraut und ihr Bruder Lukas wohnten, und rauchte eine Zigarette. Kraut hatte es längst aufgegeben, mit zur Schau getragener Missbilligung auf ihre Sucht Einfluss nehmen zu wollen, und beachtete sie nicht weiter.

»Die Sache mit den Kiefernnadeln«, sagte Dani, »hast du da etwa meine Gedanken gelesen?«

Kraut grinste sie an. »War nicht so schwer. Du hast den Baum betrachtet, dann die Geschenke, und dann hast du deinen Mund zusammengekniffen, wie du es immer machst, wenn du dich über etwas ärgerst. Da ich weiß, dass deine Kenntnis der Natur unterirdisch ist, war mir klar, dass ein Weihnachtsbaum für dich in jedem Fall eine Tanne ist und du dich über das Fehlen von Tannennadeln ärgerst. Alles klar?«

Dani runzelte die Stirn und kniff die Lippen zusammen.

»Und jetzt«, fuhr Kraut ungerührt fort, »denkst du gerade, dass du doch eigentlich der Klugscheißer in unserem Team bist und ich das primitive Muskelpaket.«

Dani schüttelte missmutig den Kopf und starrte aus dem Fenster. Kraut lachte herzlich und lenkte den Wagen über die Nepomukbrücke in Rech.

»Im Übrigen vermute ich, dass die Tat an Heiligabend oder am ersten Weihnachtstag passiert ist. Im CD-Player lag noch Weihnachtsmusik, und davon hat man gewöhnlich nach Heiligabend die Nase voll.«

»Da stimme ich dir zu, Sherlock.« Dani richtete sich auf. »Halt mal kurz an.«

Kraut zog die Augenbrauen hoch, stoppte aber brav an der Einfahrt zum Spielplatz. Dani stieg aus, ging zum Kofferraum und nahm ihre glänzenden schwarzen Pumps aus einer Tasche. »Huldigt dem Koch«, sagte sie und streifte die bequemen Gummistiefel ab.

Zwei Minuten später parkte Kraut den Wagen neben dem alten Fachwerkhaus, das sie mit ihrem Bruder bewohnte. Lukas hatte, vermutlich am Fenster auf sie lauernd, den Wagen bereits entdeckt und erwartete sie in der offenen Haustür. Kraut wurde herzhaft gedrückt und emporgehoben. Dani bekam ein züchtiges Küsschen auf die Wange und ein »Du bist so schön«.

Daran könnte ich mich gewöhnen, hatte Dani gedacht, als sie Lukas zum ersten Mal vor vielen Jahren begegnet war. Er hatte sich gleich in sie verliebt und bedachte sie seither mit Komplimenten, die einer Sophia Loren würdig waren. All die Jahre hatte Dani befürchtet, Lukas‘ Vernarrtheit könnte sich zu etwas auswachsen, mit dem sie nicht mehr fertig würde, doch bisher war er auf dem gleichen Level geblieben. Dem Level eines zwölfjährigen Jungen, der nie erwachsen werden würde. Lukas hatte das Down-Syndrom. Seit dem Unfalltod ihrer Eltern lebten Lukas und Kraut in ihrem Elternhaus in Rech zusammen und kamen gut zurecht. Während der Woche besuchte Lukas die Caritas-Behindertenwerkstätten in Sinzig, wo er sich sehr wohl fühlte. Dort wurde er entsprechend seiner Fähigkeiten und Vorlieben gefördert und gefordert. In den letzten Jahren hatte er seine Leidenschaft für Gartenarbeiten entdeckt, und mit den ersten Frühlingssonnentagen verlegte er seine Aktivitäten ins Grüne, was dazu führte, dass Dani und Kraut viel mehr gesundes Gemüse aßen, als sie jemals gewollt hatten. Und den ganzen Sommer über gab es frische Blumen in der Küche. Eigens für Dani hatte Lukas einen Rosenstrauch der Sorte Daniela Regina angepflanzt, eine strahlend weiße Rose mit kräftigen, dicht beblätterten Blüten. Im Sommer überreichte er ihr eine der Rosen, sooft sie sich trafen.

Jetzt deckte er den Tisch, während Dani und Kraut sich im Bad frisch machten und anschließend in bequeme Hausanzüge schlüpften. Schon lange hatte Dani einen Grundstock an Kleidung bei Kraut deponiert. In den Jahren ihres Zusammenarbeitens, anfangs nicht immer leicht, waren sie sich näher gekommen. Jetzt verbrachte Dani regelmäßig gemütliche und entspannte Abende bei den Geschwistern.

Lukas servierte Nudelauflauf und Gurkensalat, dazu frisch geröstetes Baguette und einen guten halbtrockenen Rosé, schön kühl.