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Du suchst nach dem perfekten Mann. Er sucht nach dem perfekten Opfer.
Sydney Shaw hatte immer Pech mit ihren Dates. Bis sie Tom traf. Tom scheint perfekt: Er ist charmant, attraktiv und arbeitet als Arzt in einem Krankenhaus. Dann erschüttert der brutale Mord an einer Frau die Stadt. Die Polizei vermutet einen Serientäter dahinter, der sich mit seinen Opfern zu einem Date verabredet, bevor er zuschlägt. Sydney sollte sich sicher fühlen. Schließlich hat sie Tom. Aber sie wird das Gefühl nicht los, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Jemand beobachtet sie auf Schritt und Tritt. Wenn sie der Wahrheit nicht schnell auf die Spur kommt, könnte sie das nächste Opfer sein …
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sydney Shaw wünscht sich nichts mehr, als endlich den Richtigen zu treffen. Ihr letztes Date war nicht nur ein Reinfall. Der Mann wurde auf dem Nachhauseweg auch noch zudringlich. Als er sie einen Tag später erneut belästigt, stellt sich ihre Freundin Bonnie ihm entgegen. Am nächsten Morgen macht Sydney eine grauenhafte Entdeckung: Bonnie liegt blutüberströmt und übel zugerichtet in ihrem Bett. Die Polizei vermutet, dass ihr Mörder die gleiche Dating-App verwendet hat, die auch Sydney nutzt. Und Bonnie war offenbar nicht sein erstes Opfer. Dann lernt Sydney einen Mann kennen, der ihr die Sicherheit und Geborgenheit gibt, die sie so lange gesucht hat. Aber sie wird das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmt.
Mit ihrer Gabe für überraschende Twists und packende psychologische Spannung ist der US-amerikanischen Ärztin und Bestsellerautorin Freida McFadden in kürzester Zeit der internationale Durchbruch gelungen. Nach dem phänomenalen Erfolg von Wenn sie wüsste stürmte sie mit ihren darauf folgenden Thrillern gleich an die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihre Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Mit ihrer Familie und einer schwarzen Katze lebt Freida McFadden in einem jahrhundertealten Haus mit knarzenden Treppen und Blick auf das Meer.
Die »Housemaid«-Reihe Wenn sie wüsste Sie kann dich hören Sie wird dich finden Weil sie dich kennt (Kurzgeschichte, E-Book) Die Kollegin Der Lehrer Der Freund
FREIDA McFADDEN
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe The Boyfriend erschien erstmals 2024 bei Poisoned Pen Press, an imprint of Sourcebooks, Naperville, Illinois.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Deutsche Erstausgabe 12/2025
Copyright © 2024 by Freida McFadden
© 2025 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR.)
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
unter Verwendung von © Stocksy.com (Mika Knezevic), iStockphoto (lukas_zb), FinePic®
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-33241-9V001
www.heyne.de
Vorher
Ich bin rettungslos bis über beide Ohren schmerzlich verliebt.
Sie heißt Daisy. Wir kennen uns, seitdem wir vier waren. Seit meinem vierten Lebensjahr bin ich in sie verliebt – so ein hoffnungsloser Fall bin ich. Zum ersten Mal sah ich sie auf dem Spielplatz, wo sie hungrige Eichhörnchen mit Brotkrumen fütterte. Ich hatte noch nie ein lebendiges Wesen getroffen, das so hübsch und so lieb war wie Daisy Driscoll. Ich war hin und weg.
Lange Zeit habe ich ihr nicht gesagt, was ich für sie empfinde. Ich konnte es nicht. Es schien unmöglich, dass dieser Engel mit den goldenen Haaren, blassblauen Augen und der Haut wie das Porzellan unseres Badezimmerwaschbeckens auch nur ein Zehntel dessen empfinden könnte, was ich für sie empfand. Deshalb schien es sinnlos, mich zu offenbaren.
Aber das hat sich in letzter Zeit geändert.
In letzter Zeit hat Daisy zugelassen, dass ich sie von der Schule nach Hause begleite. Wenn ich Glück habe, darf ich dabei ihre Hand halten, und sie schenkt mir das verstohlene kleine Lächeln ihrer kirschroten Lippen, bei dem ich weiche Knie bekomme. So langsam kommt es mir vor, als wollte sie, dass ich sie küsse.
Aber ich habe Angst. Ich habe Angst, dass sie mir dann eine Ohrfeige gibt. Ich habe Angst, dass sie mich mitleidig ansieht und mir sagt, sie empfindet nicht dasselbe wie ich. Ich habe Angst, dass ich sie dann nie wieder nach Hause begleiten darf.
Aber am meisten Angst habe ich davor, dass sie es zulässt, wenn ich mich vorbeuge, um sie zu küssen. Ich habe Angst, dass sie meine Freundin sein will. Ich habe Angst, dass sie mich in ihr Zimmer lässt, wenn ihre Eltern nicht zu Hause sind, und wir endlich allein sein können.
Und ich habe schreckliche Angst davor, dass ich in dem Moment, in dem ich allein mit ihr bin, meine Hände um ihren hübschen weißen Hals lege und alles Leben aus ihr herauspresse.
Gegenwart
Wer ist dieser Mann, und was hat er mit meinem Date gemacht?
Ich sollte um acht Uhr einen Mann namens Kevin zum Abendessen treffen. Na ja, eigentlich zu Drinks um sechs – von Drinks kommt man leichter weg –, aber Kevin hat mir auf der Dating-App Cynch eine Nachricht geschrieben, dass er sich wegen der Arbeit verspäten würde, und mich gefragt, ob wir uns um acht zum Abendessen treffen können.
Wider besseres Wissen habe ich zugestimmt.
Kevin schien sehr nett, als wir uns geschrieben haben. Und auf den Fotos sah er süß aus. Wirklich süß. Er hatte dieses jungenhafte Lächeln und ein Funkeln in den Augen, und seine hellbraunen Haare fielen ihm schön unordentlich in die Stirn. Er sah aus wie ein junger Matt Damon. Ich habe durch Cynch schon viele schlechte Dates gehabt, aber bei diesem Mann war ich vorsichtig optimistisch. Ich war sogar zu früh im Restaurant und habe die letzten zehn Minuten gespannt an der Bar darauf gewartet, dass er kommt.
»Sydney?«, fragt mich der Mann, der jetzt vor mir steht.
»Ja?«
Ich starre ihn an und erwarte zu hören, dass Kevin auf dem Weg zu unserem Date bei einem tragischen Autounfall getötet wurde, denn dieser Typ ist ganz sicher nicht Kevin. Stattdessen streckt er die Hand aus.
»Ich bin Kevin«, sagt er.
Ich rühre mich nicht von meinem Barhocker. »Wirklich?«
Okay, seien wir ehrlich – niemand sieht im wirklichen Leben so gut aus wie auf seinen Fotos für die Dating-App. Ich meine, wenn du darauf aus bist, ein Date zu ergattern, schießt du kein Foto von dir, wenn du verkatert aus dem Bett kommst. Du machst dich zurecht, fotografierst dich fünfzigmal aus jedem denkbaren Winkel und mit einem Dutzend verschiedenen Beleuchtungen und wählst dann das allerbeste Bild aus. Das sagt einem der gesunde Menschenverstand.
Und hey, vielleicht wurde das eine perfekte Foto vor zehn Jahren aufgenommen. Ich finde es nicht in Ordnung, aber ich verstehe, warum Leute es tun.
Dieser Mann jedoch …
Das ist unmöglich derselbe Typ wie in dem Profil bei Cynch. Nicht vor zehn Jahren – nie. Ich glaube es einfach nicht.
Obwohl es ein abscheuliches Verhalten ist, hole ich mein Handy aus der Tasche, öffne die App direkt vor seinen Augen und vergleiche den jungenhaften, gut aussehenden Mann auf dem Foto mit dem, der vor mir steht. Ja – nein.
Mein Date heute Abend ist mindestens zehn Jahre älter als der Kerl auf dem Bild und knochendürr, beinahe mager. Ich glaube, er hat auch eine andere Augenfarbe. Seine blonden Haare werden am Ansatz bereits dünn, und was davon übrig ist, hat er zu einem ungekämmten Pferdeschwanz zusammengebunden.
Dies ist nicht derselbe Mann wie auf dem Foto. Dessen bin ich mir absolut sicher – sogar noch sicherer als der Tatsache, dass ich gerne lange Spaziergänge durch den Central Park mache und Netflix-Serien binge.
»Ja, das bin ich«, versichert mir der falsche Kevin. (Obwohl ja eigentlich der Mann auf dem Foto der falsche Kevin ist. Vielleicht ist es ja tatsächlich ein Bild von Matt Damon. Allmählich glaube ich, dass es so sein könnte.)
Ich bin schwer enttäuscht, dass er überhaupt nicht so aussieht wie auf dem Foto, aber gleichzeitig erscheint es mir oberflächlich. Wir haben uns auf Cynch geschrieben, und er scheint ein netter Kerl zu sein. Ich sollte ihm eine Chance geben.
Falls es nicht gut läuft, ruft mich meine Freundin Gretchen in zwanzig Minuten an, und ich kann eine Ausrede erfinden, um zu verschwinden. Ich gehe niemals zu einem Date, ohne einen rettenden Anruf zu vereinbaren.
»Es ist schön, dich im wirklichen Leben zu treffen«, sagt der Echte Kevin. »Du siehst genauso aus wie auf deinem Foto.«
Erwartet er, dass ich dasselbe sage? Ist es eine Art Test? »Hm«, entgegne ich.
»Komm«, sagt er. »Wir suchen uns einen Platz.«
Wir ergattern eine Nische in der Ecke des Restaurants. Mir fällt auf, wie weit Kevin mich überragt. Eigentlich mag ich große Männer, aber er braucht unbedingt mehr Fleisch auf den Rippen. Es kommt mir vor, als würde ich neben einem Besenstiel gehen.
»Ich freue mich, dass wir uns endlich mal sehen«, sagt Kevin, als er sich mir gegenübersetzt. Warum ist sein Pferdeschwanz so zerzaust? Hätte er ihn vor unserer Verabredung nicht kämmen können?
»Ich auch«, antworte ich, was nur eine kleine Lüge ist.
Sein Blick wandert anerkennend über mich. »Ich muss sagen, Sydney, jetzt, da wir uns persönlich kennenlernen, habe ich wirklich das Gefühl, dass du die perfekte Frau bist.«
»Oh.«
»Absolut.« Er strahlt mich an. »Wenn ich die Augen schließen und mir die perfekte Frau vorstellen würde, wärst du es.«
Wow. Das ist … süß. Vielleicht eines der nettesten Komplimente, die ich je bei einem Date bekommen habe. Danke, Echter Kevin. Allmählich bin ich froh, dass ich geblieben bin. Wie gesagt, ich mag große Männer, und auch wenn er ganz anders aussieht als auf seinem Profil, fühle ich mich ein winziges bisschen angezogen. »Danke.«
»Na ja«, fügt er hinzu. »Abgesehen von deinen Armen.«
»Meinen Armen?«
»Sie sind irgendwie schlaff.« Er rümpft die Nase. »Aber ansonsten, wow. Wie gesagt, du bist die perfekte Frau.«
Moment mal. Meine Arme sind zu schlaff? Hat er das wirklich gerade gesagt?
Schlimmer noch, ich sehe jetzt meine Unterarme prüfend an. Warum habe ich heute ein ärmelloses Kleid angezogen? Ich habe nur zwei davon im Schrank. Ich hätte etwas mit Ärmeln anziehen können, das meine anscheinend hässlichen Arme bedeckt. Aber nein, ich habe dieses gewählt.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«
Eine Kellnerin steht mit hochgezogenen Augenbrauen vor uns. Ich reiße den Blick von meinen schrecklichen Armen los und sehe sie an. »Ich … Ich nehme eine Cola light.«
»Eine Cola light?« Kevin wirkt beleidigt. »Das ist langweilig. Nimm doch einen richtigen Drink.«
Bei einem ersten Cynch-Date trinke ich nie Alkohol. Ich will nicht, dass mein Urteilsvermögen irgendwie beeinträchtigt ist. »Cola light ist ein richtiger Drink.«
»Nein, ist es nicht.«
»Na ja, es ist eine Flüssigkeit.« Ich starre ihn über den klebrigen Holztisch hinweg zornig an. »Ich würde es also einen Drink nennen.«
Kevin rollt mit den Augen, als er die Kellnerin ansieht. »Gut, ich nehme ein Corona und sie eine Cola light.« Dann zwinkert er ihr zu und formt mit den Lippen das Wort Sorry.
Ich werfe einen Blick auf meine Handtasche. Wann ruft Gretchen an? Ich brauche einen Notausgang.
Aber vielleicht bin ich auch unfair. Ich kenne den Echten Kevin erst seit ein paar Minuten. Ich sollte ihm noch eine Chance geben. Deshalb habe ich Gretchen schließlich gebeten, erst zwanzig Minuten nach Beginn des Dates anzurufen. Nach fünf Minuten urteilt man vorschnell. Wenn ich einem Mann nicht mehr als fünf Minuten gebe, werde ich die nächsten zwanzig Jahre nur erste Dates haben. Und da ich vierunddreißig bin, kann ich mir diesen Luxus nicht leisten.
»Verdammt heiß«, bemerkt Kevin, während sein Blick der Kellnerin folgt, als sie sich vom Tisch entfernt. »Sie hat wirklich nette Arme.«
Gretchen, wo bist du?
»Als neues Mitglied musst du erst mal zweitausend Dollar zahlen«, erklärt mir Kevin. »Aber für jeden Pauschalurlaub, den du verkaufst, bekommst du fünftausend Dollar Provision. Toll, oder?«
Ich ziehe eine Pommes durch eine Spur Ketchup auf meinem Teller. Das Date dauert schon fast vierzig Minuten, und ich bin unerklärlicherweise immer noch hier. Dumme Gretchen. Sie macht wahrscheinlich mit ihrem Freund rum oder so und hat mich vollkommen vergessen. Ich habe ihr sogar SOS geschrieben, und sie ruft trotzdem nicht an.
»Ich könnte bestimmt dafür sorgen, dass du in die Gruppe aufgenommen wirst.« Kevin kaut auf einem seiner Chicken Wings – er hat einen unglaublich gesunden Appetit für einen so dünnen Mann. Ich habe ihn eben darauf hingewiesen, dass ihm die Barbecue-Soße am Kinn herunterläuft, und er hat sie weggewischt. Aber jedes Mal, wenn er abbeißt, hat er sie wieder überall im Gesicht. »Soll ich Lois in der Unternehmenszentrale anrufen? Es ist eine tolle Gelegenheit, Sydney. Du hast Glück, dass du mich getroffen hast.«
»Nein danke«, sage ich.
Kevin greift über den Tisch nach meiner Cola light. Als die Chicken Wings kamen, hat er sich beklagt, dass sie zu scharf sind, und innerhalb von fünfzehn Minuten zwei Bier getrunken. Und jetzt nimmt er sich einfach meine Cola. »Warum nicht? Warum willst du dir eine Gelegenheit entgehen lassen, eine sechsstellige Summe im Jahr zu verdienen?«
»Weil es ein Schneeballsystem ist?«
»Ein Schneeballsystem!« Kevin kichert. »Wie kommst du darauf?«
»Weil ich Buchhalterin bin und weiß, was ein Schneeballsystem ist?«
»Nein, du verstehst nicht«, beharrt er. »Hör zu, ich versuche, dir einen Gefallen zu tun, Sydney. Du hast diesen superlangweiligen Job, bei dem du jeden Tag mit Zahlen jonglieren musst. Würdest du nicht lieber ein paar Verkäufe im Jahr tätigen und dich den Rest der Zeit in deinem eigenen Luxusferienhaus entspannen?«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, also greife ich stattdessen nach meiner Handtasche. »Ich gehe auf die Toilette.«
Ich hoffe, die Toilette hat ein Fenster, durch das ich hinausklettern kann.
Als ich dort ankomme, stelle ich fest, dass der Raum leider kein Fenster hat. Also benutze ich die Toilette und betrachte mich anschließend zwei Minuten lang prüfend im Spiegel, besonders meine »schlaffen« Arme. Sie sehen gar nicht so schlimm aus, oder?
Oder?
Als ich gerade Übungen für straffe Arme auf meinem Handy googele, klingelt es. Gretchens Name erscheint auf dem Display, und ich presse die Zähne aufeinander. Endlich ruft sie an. Fünfundvierzig schreckliche Minuten nach Beginn des Abendessens. Ich wische übers Display, um den Anruf anzunehmen.
»Im Ernst, Gretchen?«, belle ich, ohne Hallo zu sagen. »Es ist das schlimmste Date, das ich je hatte, und das ist so ziemlich deine Schuld.«
Das ist nicht ganz fair. Mindestens fünfzig Prozent der Schuld für diesen schrecklichen Abend gehen auf das Konto des Echten Kevin. Aber ich bin wütend und muss es an irgendjemandem auslassen.
»Es tut mir so leid«, sagt Gretchen. »Randy und ich haben uns einen Film angeschaut und dabei die Zeit vergessen …«
»Ja klar.«
»Ich wollte den Film gar nicht sehen«, beharrt sie. »Randy hat versprochen, mich an den Anruf zu erinnern, aber dann, na ja, du weißt schon.«
Ich höre, wie Randy im Hintergrund sagt: »Hey! Sag ihr nicht, dass es meine Schuld ist!« Und dann kichert Gretchen, als würde er sie kitzeln oder so etwas. Ich beiße mir auf die Lippen, voller Neid, wie süß Gretchen und Randy zusammen sind. Als sie und ich Freundinnen wurden, war sie wie ich Single wie ich. Dann, eines Tages, als wir mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren, redete sie davon, wie süß der Hausmeister in meinem Gebäude ist. Und jetzt sind sie seit ungefähr sechs Monaten zusammen!
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich freue mich, dass meine Freundin ihren Traummann gefunden hat. Nur bin ich immer noch auf der Suche nach meinem.
»Wo bist du jetzt?«, fragt sie.
»Ich verstecke mich auf der Toilette, was sonst.«
»O Gott. Es tut mir so leid.«
»Schon gut«, knurre ich. »Du hast wahrscheinlich leidenschaftlichen Sex mit deinem Freund gehabt, während ich hier mit einem Mann festsitze, der versucht, mich zu einem Schneeballsystem zu überreden.«
»O nein, Syd! Im Ernst?«
»Das ist noch nicht das Schlimmste«, sage ich. »Seine Mutter hat ihn während des Essens angerufen, und er hat den Anruf tatsächlich angenommen. Ich musste Hallo zu ihr sagen! Zu seiner Mutter, Gretchen! Bei unserem ersten Date!«
»Es tut mir wirklich leid«, sagt sie, obwohl ich den Eindruck habe, dass sie sich das Lachen verkneift.
»Da bin ich mir sicher.«
»Wirklich, Syd. Ich bin die schlimmste Freundin. Muffins und Latte gehen morgen nach dem Yoga auf mich.«
Ich schätze, ich nehme die Entschuldigung an. Das Date ist ohnehin fast vorbei. Noch ungefähr fünf Minuten, und ich sehe den Echten Kevin oder den falschen Kevin nie wieder. Na ja, den falschen könnte ich wiedersehen, wenn ich mir einen Film mit Matt Damon anschaue.
Ich verabschiede mich von Gretchen, werfe noch einen letzten kritischen Blick auf meine Arme (die völlig in Ordnung sind, Kevin!) und mache mich dann auf den Weg zurück zum Tisch. Und siehe da, ein Wunder ist geschehen, unsere Rechnung liegt auf dem Tisch. Vielleicht komme ich hier schneller weg als erwartet.
»Du warst ewig da drinnen«, bemerkt Kevin. Er wischt sich mit der Rückseite seines Ärmels über die Lippen, der danach mit Soße beschmiert ist, aber inzwischen ist mir das egal. »Bist du reingefallen?«
Ich bringe ein kleines Lächeln zustande. »Danke fürs Abendessen.«
»Klar.« Kevin schiebt die Rechnung über den Tisch zu mir. »Dein Anteil beträgt achtunddreißig Dollar.«
Ich hätte nicht gewollt, dass Kevin mich zu diesem Essen einlädt, weil ich ihm nichts schulden will, aber ich kann mir nur schwer vorstellen, dass mein kleiner Salat und eine Cola light plus Trinkgeld achtunddreißig Dollar kosten. Die Buchhalterin in mir will die Rechnung überprüfen, aber die Frau in mir will nicht, dass das Ganze nur eine Sekunde länger dauert als nötig. Deshalb werfe ich zwei Zwanziger auf den Tisch.
Während Kevin aus der Tischnische klettert, ertönt der Song »Eye of the Tiger« aus dem Radio. Er grinst mich an und zwinkert. »Das ist mein Lieblingslied. Ist Rocky nicht der großartigste Film aller Zeiten?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
Kevin greift sich erstaunt an die Brust, als hätte ich ihm erzählt, dass ich zum Spaß Welpen töte. »Du hast ihn nicht gesehen?«
»Nee.«
»Na, dann wissen wir, was wir bei unserem zweiten Date machen.«
Ich beschließe, ihm nicht die Illusion zu nehmen, dass es ein zweites Date geben wird. Aber sobald ich hier raus bin, werde ich ihn bei Cynch blockieren. Meine richtige Telefonnummer kennt er nicht, also hat er keine Möglichkeit, mich zu kontaktieren.
»Und«, fügt er hinzu, »bei unserem dritten Date können wir Rocky II sehen. Und Rocky III bei unserem vierten Date!«
Als wir das Restaurant verlassen, plant er bereits unser siebtes Date (Rocky VI). Es ist Mitte August, die richtige Zeit, um ein ärmelloses Kleid zu tragen, das meine schrecklichen Arme zeigt, aber auch die Zeit, zu der in New York City die höchste Luftfeuchtigkeit herrscht. Trotz des Leave-in-Conditioners und meiner Bemühungen mit dem Lockenstab beginnen meine Haare sich zu kräuseln. Aber zum Glück könnte es mir nicht gleichgültiger sein, was mein Date über meine Haare denkt.
»Ich bring dich nach Hause«, sagt Kevin.
Mir wird ganz übel. »Nein, das brauchst du nicht.«
Er streckt das Kinn vor. »Ich bestehe darauf. Es ist dunkel. Was für ein Gentleman wäre ich, wenn ich dich im Dunkeln allein nach Hause gehen ließe?«
»Es ist in Ordnung. Wirklich.«
»Du könntest umgebracht werden, Sydney.«
Das halte ich für unwahrscheinlich. Auf jeden Fall bin ich bereit, es zu riskieren, um von diesem Mann wegzukommen. Aber er sieht entschlossen aus, und es ist wahrscheinlich das Einfachste, ihm seinen Willen zu lassen. Nicht dass ich mich wirklich von ihm nach Hause bringen lassen werde. Ich wohne ungefähr zehn Straßen von hier entfernt, und ich denke, nach drei oder vier Straßen werde ich auf irgendein Gebäude zeigen und ihm sagen, dass ich dort wohne. Dann bin ich den Echten Kevin für immer los.
»Gut«, knurre ich. »Lass uns gehen.«
Er grinst mich an. »Du führst.«
Es ist Dienstagabend, also sind die Straßen leerer als am Wochenende, wenn ich oft nach Einbruch der Dunkelheit noch allein unterwegs bin. Normalerweise bewege ich mich auch in einer belebteren Umgebung, und jetzt gehe ich durch eine Wohngegend, um das hier so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Die Wohngegenden sind stiller und riechen weniger nach Urin als die stärker bevölkerten Wege zu meinem Apartmenthaus. Es ist hier so verlassen, dass es nicht schlimm ist, Kevin als Begleitung zu haben.
Trotzdem werde ich ihm auf keinen Fall zeigen, wo ich wohne. Dann würde ich den Kerl nie wieder loswerden.
Ich bleibe bei einem Sandsteingebäude ein paar Straßen von meinem Apartmenthaus entfernt stehen und zeige auf das Geländer. »Hier ist es!«
Hoffentlich besteht er nicht darauf, mich ins Haus zu begleiten, da ich natürlich keinen Schlüssel dafür habe. Aber wie es scheint, will er nicht gehen.
»Ich fand’s toll, Sydney«, sagt Kevin.
Ich kann mich nicht überwinden, das Kompliment zurückzugeben, nicht mal aus Nettigkeit. »Hm.«
Er zieht einen Mundwinkel hoch. »Wie wär’s mit einer Umarmung?«
»Ähm …« Ich beäuge seine ausgestreckten Arme und die Schweißflecken, die sich in der feuchten Augustluft unter seinen Achseln gebildet haben. »Ich umarme niemanden beim ersten Date.«
»Oh.« Ich erwarte, dass er protestiert, aber dann sagt er: »Wie wär’s stattdessen mit einem Kuss?«
Hat er den Verstand verloren? Ich wollte nicht einmal, dass er mich umarmt, und ich will ganz bestimmt nicht, dass die schmierigen Lippen dieses Mannes meine berühren.
»Komm schon«, sagt er. »Ich habe dir ein Abendessen ausgegeben. Du willst mich wirklich nicht küssen?«
Er hat mir ein Abendessen ausgegeben? In welcher Welt bedeutet es, dass er mir ein Essen ausgegeben hat, wenn ich vierzig Dollar für einen Salat bezahlt habe? »Ich küsse und umarme niemanden beim ersten Date«, erkläre ich. Für den Fall, dass er vorschlägt, die Hüften gegeneinanderzuschwingen oder Gott weiß was, füge ich hinzu: »Da gilt bei mir: keine Berührung.«
»Im Ernst?«
Er tritt einen Schritt näher an mich heran. Obwohl er mich überragt, nehme ich den säuerlichen Biergeruch seines Atems wahr. Ich trete einen Schritt zurück und stoße gegen die kurze Treppe am Eingang des Gebäudes, das ich zu meinem Wohnhaus erklärt habe. Ich werfe einen Blick auf die Straße und stelle bestürzt fest, dass kein anderer Fußgänger zu sehen ist. Ich dachte, Kevin sei eine Lusche, habe ihn aber für harmlos gehalten.
Das war offenbar ein großer Fehler.
»Komm schon, Sydney.« Er macht noch einen Schritt auf mich zu und kommt mir dieses Mal unangenehm nahe. Kevin ist vielleicht dünn, aber er sieht stark aus. Stärker als ich, das ist sicher. »Du kannst mich nicht so auf die Folter spannen. Ich will nur einen Kuss, Herrgott noch mal.«
»Ich denke, dieses Date ist zu Ende«, sage ich entschieden.
»Sei keine Spielverderberin.« Er runzelt die Stirn, seine Gesichtszüge sind im trüben Schein des Straßenlichts verzerrt. »Ihr Frauen seid alle gleich. Du wirst nie einen Ehemann finden, wenn du einen Mann beim Date nicht mal küssen willst.«
Meine Gedanken rasen. Ich überlege, was vom Inhalt meiner Handtasche als Waffe taugen könnte. Gretchen hat mir eine Dose Pfefferspray gegeben, aber da sie ständig auslief, habe ich sie irgendwann aus meiner Handtasche genommen. Außerdem war ich noch nie in einer Situation, in der ich es vielleicht gebraucht hätte. Aber ich habe eine Sprühflasche Händedesinfektionsmittel. Würde es seinen Zweck erfüllen, wenn ich es ihm in die Augen sprühen würde? Dazu muss ich es in meiner riesigen Handtasche finden, die wahrscheinlich gerade voller zerknüllter Papiertücher ist.
Ich beschließe, dass es das Beste ist, mich an ihm vorbeizudrängen und wegzulaufen. Ein oder zwei Straßen weiter treffe ich wahrscheinlich auf einen anderen Menschen.
»Sydney«, sagt er.
Ich vermeide es, ihm in die Augen zu sehen, als ich versuche, blitzschnell an ihm vorbeizukommen. Aber Kevin ist schneller, als er aussieht. Seine Finger schließen sich um mein Handgelenk und drücken es gegen die raue Wand des Backsteingebäudes. Seine spindeldürren Finger schneiden mir ins Fleisch.
»Komm schon, Sydney«, sagt er. »Brich unseren Abend nicht vorzeitig ab. Der Spaß fängt doch gerade erst an.«
Kevin presst seinen Körper an mich. Der säuerliche Biergeruch ist fast nicht auszuhalten, und ich muss meinen Kopf wegdrehen, während ich versuche, mich zu befreien.
Er will mich nicht nur küssen. Er will mehr. Und er wird nicht aufgeben, bis er bekommen hat, was er will. Ich hätte niemals zulassen sollen, dass er mich begleitet.
Gott, wieso ist er so stark?
»Lass mich los!«, fauche ich ihn an.
»Ich hab dir gesagt«, zischt er durch die Zähne, »sei keine Spielverderberin.«
Sein Körper fühlt sich warm und bedrohlich an. Ich öffne den Mund, um zu schreien. Irgendjemand in den Gebäuden muss mich hören, auch wenn alle Fenster geschlossen sind und die Klimaanlagen drinnen laufen. Aber bevor ein Laut über meine Lippen kommt, dröhnt eine Stimme hinter mir: »Hey! Hey! Was machen Sie da?«
Kevins Griff um mein Handgelenk lockert sich, und er weicht einige Zentimeter von mir zurück. Ich nutze die Tatsache, dass ich mich wieder bewegen kann, halte mich an einem metallenen Mülleimer neben mir fest, hebe das rechte Bein und trete ihm mit dem Knie so kräftig in die Genitalien, wie ich kann.
Es ist befriedigend zu sehen, wie schnell Kevin zu Boden geht. Ich habe noch nie einem Mann in die Eier getreten, aber wow, es funktioniert wirklich gut. Er geht in die Hocke und hält sich die Genitalien, das Gesicht knallrot. Es ist ziemlich berauschend – bis ich das Gleichgewicht verliere, hinfalle und mir den Kopf an dem Mülleimer stoße.
»Du Miststück!«, keucht Kevin. »Was ist los mit dir?«
Während ich vorsichtig wieder aufstehe, blicke ich mit zusammengekniffenen Augen auf die Gestalt, die mich gerettet hat. Es ist zu dunkel, um deutlich zu sehen, aber es ist offenbar ein Mann durchschnittlicher Statur und Größe. Er blickt auf Kevin hinunter, der sich immer noch krümmt, und sieht dann mich an.
»Alles okay, Miss?«
»Halten Sie sich da raus!«, faucht Kevin ihn an. »Wir hatten ein Date, Arschloch. Wir haben uns großartig amüsiert.«
Der geheimnisvolle Mann sieht mich immer noch an und wartet auf meine Reaktion. Seine Augen sind dunkle Schatten.
»Mir geht’s gut.« Ich bürste Staub von meinem ärmellosen Kleid, das ich aus vielerlei Gründen wahrscheinlich nie wieder anziehen werde. Ich sollte es nach dieser Sache einfach wegwerfen. »Ich meine, jetzt geht es mir gut.«
»Dir geht es gut?«, stößt Kevin hervor. »Ich sollte dich wegen Körperverletzung verklagen!«
Der geheimnisvolle Mann schnaubt überrascht. »Ich habe gesehen, was Sie versucht haben. Ich würde am liebsten die Polizei rufen.«
Mit diesen Worten zieht er ein Handy aus der Tasche. Dann sieht er wieder mich an, als wollte er um Erlaubnis bitten, aber ich schüttele den Kopf. So soll dieser Abend nicht enden. Ich will einfach nur nach Hause und in der Badewanne abtauchen. Und Kevin bei Cynch blockieren. Ich kann ihn bei den Administratoren melden, denn sie haben alle persönlichen Informationen über ihn.
Zum ersten Mal sieht Kevin richtig besorgt aus. Mit Mühe richtet er sich auf. »Hey, hör zu, ich glaube, du hast einen falschen Eindruck bekommen. Ich wollte nicht …«
»Hau ab«, unterbricht ihn der geheimnisvolle Mann. »Jetzt. Bevor dein Date es sich anders überlegt, was den Anruf bei der Polizei angeht.« Er senkt die Stimme fast zu einem Knurren. »Und wenn du sie jemals wieder belästigst, werde ich gerne bezeugen, was ich hier gesehen habe. Weißt du, wie es Sexualstraftätern im Gefängnis ergeht?«
Kevin macht große Augen. Schließlich begreift er.
Ich beobachte, wie mein Date in die entgegengesetzte Richtung meines Apartmentgebäudes die Straße hinunterhumpelt. Erst als er außer Sichtweite ist, entspannen sich meine Schultern.
»Geht es Ihnen wirklich gut?«, fragt mich der geheimnisvolle Mann.
Ich drehe den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Er ist jetzt ins Licht der Straßenlaterne getreten, sodass ich ihn endlich richtig sehen kann. Und …
Wow.
Es gibt diesen kitschigen Spruch – dass man jemanden ansieht und sich fühlt, als wäre man vom Blitz getroffen. Ich dachte immer, das sei absolut lächerlich, bis ich vor ungefähr drei Jahren zum ersten Mal einen Mann traf, bei dem es mir so ging. Aber es hat nicht funktioniert, und ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dass es jemals wieder geschehen würde. Und jetzt ist er wieder da. Dieser verdammte Blitz.
Der geheimnisvolle Mann ist heiß, gelinde ausgedrückt. Er hat dicke schwarze Haare, und seine rabenschwarzen Augen sind von einer Intensität, dass es mich wieder wie ein Blitz durchfährt. Sein kräftiger Kiefer lässt ihn äußerst beherrscht und selbstbewusst erscheinen. Sein Gesicht ist vollkommen symmetrisch. Er trägt ein schwarzes T-Shirt, das seine schlanke Gestalt betont und seine schwarzen Haare und Augen noch intensiver wirken lässt. An seiner linken Hand glänzt kein Ehering.
Aber das Beste von allem ist die Art, wie er mich ansieht. Offenbar wurde er ebenfalls vom Blitz getroffen. Darauf würde ich mein Leben wetten.
»Es geht mir gut«, bringe ich hervor. »Ich bin nur … erschrocken.«
Der geheimnisvolle Mann blickt in die Ferne, um sicherzugehen, dass Kevin wirklich weg ist. »Ist er Ihr Freund?«
Ich schüttele den Kopf. »Wir haben uns heute Abend zum ersten Mal getroffen. Auf Cynch kennengelernt.« Mein Gesicht glüht. »Ich meine, offensichtlich nicht wirklich kennengelernt. Aber wir hatten heute Abend ein Date.« Unnötigerweise füge ich hinzu: »Es war schlimm.«
»Das habe ich mitbekommen.«
»Er weiß nicht, wo ich wohne.« Ich presse die Arme an die Brust. »Ich werde ihn bei der App melden. Sie nehmen so etwas ernst. Ich glaube nicht, dass er mich wieder belästigen wird. Aber … danke, dass Sie mir geholfen haben.«
Er wirft mir ein verschmitztes Lächeln zu. »Sieht so aus, als wären Sie selbst ganz gut mit ihm fertiggeworden. Er konnte kaum laufen.«
Bei der Erinnerung daran, wie es sich angefühlt hat, mein Knie in Kevins Eiern zu versenken, muss ich lächeln. »Danke.«
Der geheimnisvolle Mann starrt mich an, dieses leichte Grinsen noch auf den Lippen. Das Knistern zwischen uns ist spürbar. Manchmal weiß ich nicht, ob sich ein Mann für mich interessiert oder nicht. Aber aufgrund der Art, wie der geheimnisvolle Mann mich ansieht, weiß ich, dass er interessiert ist. Und obwohl ich von dem, was gerade passiert ist, noch erschüttert bin, würde ich ihm jetzt gerne meine Handynummer geben.
Was für eine außergewöhnliche erste Begegnung. Ich kann mir schon vorstellen, wie ich die Geschichte unseren Kindern erzähle. Dieser Mistkerl hat versucht, mich zu küssen, und so habe ich euren Vater kennengelernt, Kinder.
Okay, ich bin vielleicht ein bisschen voreilig. Aber wenn man sich sicher ist, ist man sich sicher.
»Kommen Sie von hier problemlos nach Hause?«, fragt der geheimnisvolle Mann.
Ich sehe mich um. In den letzten paar Minuten sind die Straßen belebter geworden. Sie wirken nicht mehr so verlassen wie eben, als Kevin mich gepackt hat.
»Kein Problem.«
»Gut«, sagt er.
Dann wendet er sich zu meinem Entsetzen ab und will gehen.
»Ähm, danke noch mal!«, rufe ich. »Ich bin Ihnen wirklich dankbar. Sie sind mein Held.«
Das entlockt ihm ein breites Lächeln. Und wenn er lächelt, sieht er sogar noch besser aus. Er muss Schauspieler oder Model oder so etwas sein. Meine Güte. »Das war doch selbstverständlich«, sagt er. »Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht.«
Wir starren einander noch einen Moment lang an, und ich stelle mir vor, dass er jetzt sagt …
Wäre es okay, wenn ich Sie mal anrufen würde?
Kann ich Sie Samstagabend ausführen?
Wollen wir heute Abend miteinander schlafen? Hast du Lust?
Aber er sagt nichts davon. Er fragt mich nicht mal nach meinem Namen. Er hebt nur die Hand und sagt: »Dann gute Nacht.«
Dann geht er.
Was. Zum. Teufel?
Vorher
Daisy.
Ich kann nicht aufhören, sie anzusehen.
Ich mache es zu offensichtlich. Irgendwann wird sie denken, ich sei ein Creep, wenn ich sie weiterhin aus fünf Meter Entfernung anstarre und nie einen Schritt auf sie zugehe. Aber es ist schwer, den Blick von ihr zu wenden. Sie sieht heute besonders gut aus, wie sie da, umgeben von ihren Freundinnen, vor der Highschool steht. Ihre Haare haben die Farbe eines Gänseblümchens in der Mitte, und in der Sonne glänzen sie beinahe wie Gold. Ihr eng anliegender kornblumenblauer Pullover betont die sanften Kurven ihres Körpers.
Hör auf sie anzustarren, Tom. Sofort. Sei kein Creep.
Sie sieht auf, und ich erstarre einen Moment. Erwischt. Ich warte darauf, dass sie ihre blauen Augen zusammenkneift, aber stattdessen breitet sich ein zögerndes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Ein paar ihrer Freundinnen bemerken, dass wir uns ansehen. Ich höre vereinzeltes Gekicher und verstehe die Worte »Tom« und »süß«, beide im selben Satz.
»Herrgott, Tom. Sei kein Feigling und rede endlich mit ihr!«
Mein bester Freund Slug beugt sich zu mir und flüstert mir diesen Rat ins Ohr. Sein Atem riecht nach Zigarettenrauch, trotz eines kräftigen Spritzers Mundspray, das er benutzt, um den Geruch vor seinen Eltern zu verbergen. Wenn sie nicht dumm sind, dann wissen sie, dass er raucht, und haben beschlossen, es zu ignorieren. Slug ist das jüngste von fünf Kindern, und soweit ich sagen kann, halten seine Eltern sich ziemlich aus allem raus. Solange er nicht von einem Gebäude springt, sind sie zufrieden.
»Ich rede mit ihr«, sage ich.
Aber ich rühre mich nicht. Meine Füße sind wie festgewachsen.
Slug verdreht die Augen so dramatisch, dass ich nur noch das Weiße zwischen seinen Lidern sehe. »Wenn ein Mädchen mich so ansehen würde wie Daisy dich, würde ich jetzt dranbleiben.«
Slug schmachtet jedes Mädchen in der Schule an, und sie finden ihn alle widerlich. Ehrlich gesagt ist er ja auch widerlich. Sein richtiger Name ist natürlich nicht Slug. Diesen Spitznamen hat er in der Grundschule bekommen, weil er damals Insekten aß – echte Insekten. In der Pause, wenn wir auf den Spielplatz gingen und alle anderen Kinder herumrannten oder Kickball spielten, aß er Insekten. Meistens Ameisen. Eines Tages fand er eine Nacktschnecke, die sich durch den Schmutz wand, brachte sie mittags mit in die Cafeteria und aß sie theatralisch vor den Augen der ganzen Klasse.
Danach wollten die meisten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Deshalb war er erstaunt, als ich mich eines Tages beim Mittagessen zu ihm setzte. Zehn Jahre später sind wir immer noch die besten Freunde. Er isst keine Insekten mehr, zumindest nicht vor anderen Leuten, aber er hat immer noch nicht viele Freunde.
Was soll man über einen siebzehnjährigen Jungen mit dem Spitznamen Slug sagen? Was sagt es andererseits über mich aus, dass er mein bester Freund ist? Mein einziger Freund.
Es erhöht auch nicht seine Chancen bei Mädchen, dass er nur ungefähr fünf Kilo zugenommen hat, seitdem er von einem Meter fünfzig auf gut einen Meter achtzig hochgeschossen ist. Er sieht aus wie ein wandelndes Skelett in Jeans und T-Shirt, und sein Gesicht ist voller Akne.
Er grinst mich höhnisch an. »Wovor zum Teufel hast du Angst? Du weißt doch, dass sie dich mag.«
Ich ziehe den Riemen meines Rucksacks über meiner Schulter strammer.
Seine Miene hellt sich auf. »Und wenn du mit ihr sprichst, leg ein gutes Wort bei Alison für mich ein.«
»Klar«, sage ich, um ihn glücklich zu machen, obwohl er größere Chancen bei einem Victoria’s-Secret-Model hat als bei Daisys bester Freundin.
Mein Herz pocht, als ich zu Daisy und ihrer Schar von Freundinnen hinübergehe. Die Mädchen stehen neben den Eingangsstufen vor ein paar Plakaten, die dort an der Wand angebracht sind. Direkt hinter Daisys Kopf hängt ein Plakat für das diesjährige Schulmusical, das in zwei Wochen zum ersten Mal aufgeführt wird – Grease –, und daneben ein Schwarz-Weiß-Foto von einem jungen Mädchen mit der Unterschrift VERMISST. Es handelt sich um Brandi Healey aus unserer Klasse, die am Anfang des Schuljahres von zu Hause abgehauen ist. Deshalb ist das Plakat auch schon recht zerknittert und verwittert.
»Tom!« Daisys Gesicht glüht, als ich in Hörweite komme. »Ich dachte, du gibst heute Nachhilfe!«
Ich schüttele den Kopf. Ich war immer gut in Mathe und Naturwissenschaften, deshalb gebe ich seit der neunten Klasse Nachhilfe. Letztes Semester habe ich das an drei Tagen die Woche getan, um etwas Geld zu verdienen, aber dieses Semester nur noch zweimal die Woche. Es freut mich, dass Daisy meinen Terminkalender kennt. »Habe ich sonst auch.«
Ihre Augen haben die Farbe des Pazifiks. Ich habe noch nie so ein klares Blau gesehen. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass irgendein anderes Mädchen so schön ist wie Daisy Driscoll.
Aber aus irgendeinem Grund wandert mein Blick von ihrem Gesicht zu ihrem schlanken Hals. Unter den Kieferwinkel, wo ihre Halsschlagader pulsiert. Die meisten Menschen haben einen Puls von ungefähr sechzig bis hundert in der Minute – ich frage mich, wie schnell Daisys Herz schlägt. Wenn ich sie eine Minute lang beobachten könnte, dann könnte ich ihren Puls schätzen.
»Dann hast du jetzt frei, was?«, sagt Daisy.
»Ja.« Ich kratze mich im Nacken. Daisys Freundinnen starren mich an und stupsen sich an. Es wäre nett von ihr, wenn sie sich ein Stück von ihnen entfernen würde, damit ich mit ihr reden könnte, ohne dass die anderen sich über mich lustig machen. Aber sie rührt sich nicht. »Würdest du … hm, hättest du was dagegen, wenn ich dich nach Hause begleite?«
Meine Frage sorgt für Gekicher auf den billigen Plätzen. Ein Mädchen hält sich mit der Hand den Mund zu, als wäre es das Lustigste, was sie das ganze Jahr erlebt hat.
»Psst.« Daisy dreht schnell den Kopf herum, um ihren Freundinnen einen strafenden Blick zuzuwerfen. Dann wendet sie sich wieder mit ernstem Gesichtsausdruck mir zu. »Ich würde gerne mit dir nach Hause gehen, Tom.«
Ich bin so glücklich, dass es mir sogar egal ist, wenn diese dummen Mädchen weiter lachen. Sollen sie doch lachen. Ich gehe mit Daisy nach Hause.
Aber bevor Daisy ihre Freundinnen verlassen kann, um mit mir zu gehen, hält das Mädchen mit den glatten braunen Haaren und der Brille, das neben ihr steht, sie am Arm fest. Es ist Alison – Daisys beste Freundin. Ich habe Slug, und sie hat Alison. Wahrscheinlich könnten wir es beide besser treffen.
»Daisy«, murmelt sie.
Mehr sagt sie nicht. Daisy. Was mich auf den Gedanken bringt, dass sie schon viele Dinge über mich gesagt hat. Und das eine Wort ist jetzt eine Erinnerung an die schrecklichen Dinge, die sie gesagt hat, als ich nicht direkt danebenstand.
Alison mag mich nicht und hat nie einen Hehl daraus gemacht. Und es ist nicht etwa so, dass sie mich nicht kennt und nicht versteht. Alison kennt mich. Tatsächlich sind wir dieses Jahr in Biologie Laborpartner. Wir verbringen viel Zeit miteinander. Und mit jeder weiteren Minute mag sie mich ein bisschen weniger.
»Psst«, sagt Daisy, diesmal mit mehr Entschiedenheit.
Alison lässt ihren Arm los, aber nicht ohne mir noch einen letzten bösen Blick zuzuwerfen. Wenn wir Tiere im Dschungel wären, würde sie mir jetzt die Augen auskratzen. Ich kann nicht glauben, dass Slug auf sie steht.
Aber es ist mir egal, denn im nächsten Moment winkt Daisy ihren Freundinnen zu, dann machen wir beide uns auf den Weg. Und als sie mich anlächelt, vergesse ich Alison. Alison wer?
Es ist wunderschönes Wetter heute. Die Sonne scheint, und nach dem längsten und kältesten Winter aller Zeiten brauchen wir endlich keine Jacken mehr. Ich kann nur noch an Daisy denken. Sie hat einen verträumten Gesichtsausdruck und hüpft beinahe neben mir. Ich kenne Daisy schon lange, und manchmal erinnert sie mich immer noch an das Mädchen mit Zöpfen, das ich auf dem Spielplatz angestarrt habe, als ich vier war. Damals konnte ich mir nur erhoffen, dass wir Freunde werden; aber selbst als ich vier war, wusste ich, dass ich Daisy Driscoll heiraten wollte.
Und irgendwann werde ich es.
»Lass mich deinen Rucksack tragen«, platze ich heraus.
Sie sieht mich erstaunt an. »Ich kann meinen Rucksack selbst tragen.«
Aber sollte das ein Junge nicht tun? Sachen für das Mädchen tragen? Ich will es nicht vermasseln. Daisy ist mir zu wichtig. »Ja, aber ich würde ihn gerne für dich tragen.«
Sie denkt einen Moment über mein Angebot nach. Schließlich gibt sie mir ihren violetten Rucksack. »Du bist so ein Gentleman, Tom.«
Ich lächle insgeheim – ich habe es gut gemacht. Zumindest lächle ich, bis ich mir ihren Rucksack über die Schulter hänge. Das Ding wiegt eine Tonne. Was zum Teufel hat sie da drin? Ziegelsteine? Meine Güte.
»Du … du hast da viele Sachen drin«, keuche ich.
»Ich habe gern alle meine Bücher bei mir.« Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Ist er dir zu schwer?«
»Nein. Nein. Natürlich nicht.«
Ich kann ihn ihr jetzt nicht zurückgeben. Man muss nicht Einstein sein, um zu erkennen, dass es mir keine Punkte bringt, wenn ihr Rucksack zu schwer für mich ist. Also leide ich still. Ich konzentriere mich darauf, vom Gewicht unserer beiden Rucksäcke nicht hintenüberzukippen, während wir weiter zu ihrem Haus gehen. Zum Glück ist es nicht weit. Wir leben in einer kleinen Stadt in Upstate New York, ungefähr neunzig Minuten von Buffalo entfernt. Hier gibt es nur eine Highschool, jeder kennt jeden, und in einer Stunde hat man den ganzen Ort durchquert.
»Du bist immer so still, Tom«, sagt Daisy.
Verdammt – diese Rucksäcke lenken mich ab. »Bin ich das?«
»Nicht im Unterricht«, ergänzt sie. »Im Unterricht meldest du dich immer.«
Ich bekomme heiße Wangen. Denkt sie, dass ich im Unterricht angebe? Das ist nicht meine Absicht. Ich will nur gute Noten bekommen. Nächstes Jahr bewerben wir uns fürs College, und ich will auf ein besonders gutes, damit ich irgendwann Medizin studieren kann. Ich will schon mein ganzes Leben Chirurg werden und denke viel daran. Ich habe ein ganzes Regal voll mit medizinischen Lehrbüchern, und ich habe sie alle gelesen.
Ich frage mich, wie es ist, mit einem Skalpell in einen Menschen zu schneiden. Zu fühlen, wie sich die Haut unter meiner Hand öffnet. Seine Eingeweide zu sehen.
Ich kann es kaum erwarten.
»Es stört mich nicht«, sagt sie. »Du bist klug. Es ist nichts daran auszusetzen, wenn jemand klug ist. Eigentlich«, sie lächelt mich an, »ist es sogar scharf.«
Das ist etwas Neues für mich. »Ist es das?«
Daisy bleibt stehen und legt den Kopf nach hinten, um mich anzusehen. »Du weißt, dass ich dich mag, Tom, oder?«
Ich denke nicht mehr an das Gewicht auf meinen Schultern. Stattdessen wandert mein Blick wieder zu ihrem Hals. Sie ist so schlank, dass ich den Puls dort gut sehen kann. Ich sehe sogar, wie er schneller wird, während sie meine Reaktion auf ihr Geständnis erwartet.
Die Halsschlagader ist die große Arterie, die Blut zum Gehirn transportiert, und sie befindet sich ungefähr zwei Zentimeter unter der Hautoberfläche. Die Durchtrennung der Halsschlagader führt innerhalb von zehn Sekunden zum Tod. Die Halsvene ist noch verletzlicher. Sie liegt direkt unter dem Kiefer und kann leicht mit einer scharfen Klinge durchtrennt werden.
Aber ich habe das Gefühl, dass Daisy belanglose Fakten über empfindliche Venen und Arterien in ihrem Hals nicht interessieren würden. Deshalb nehme ich ihre Hand.
Sie scheint darüber sehr erfreut. Vermutlich mehr, als wenn ich ihre Halsvene mit einem Messer durchtrennen würde.
Daisy redet unablässig, während wir gehen, erzählt von ihren Kursen und Freundinnen. Ich höre zu, nicke und stelle die richtigen Fragen an den richtigen Stellen. Hauptsächlich beschäftigt mich jedoch, dass meine Hand schwitzig geworden ist. Ich versuche, mir trockene Gedanken zu machen, aber es ist schwierig. Daisys Hand hingegen ist trocken, weich und perfekt.
So gerne ich mit ihr zusammen bin, es ist eine Erleichterung, als wir endlich ankommen und ich ihr den fünf Tonnen schweren Rucksack zurückgeben und ihre Hand loslassen kann. Ich wische meine verschwitzte Hand so unauffällig wie möglich an meiner Jeans ab. Als ob sie nicht bemerkt hätte, dass meine Handinnenflächen nass sind.
Daisys Haus ist hübsch – es hat drei Stockwerke und ist frisch gestrichen, blassblau wie Daisys Augen. Es ist eines der neueren Häuser in der Gegend, und anders als unser Haus muss es nicht dringend renoviert werden. Daisys Familie hat mehr Geld als meine, und ich wette, sie wacht niemals mitten in der Nacht auf, weil ihre Eltern sich anschreien und Geschirr gegen die Wand geschmettert wird.
»Ja dann«, sagt sie. »Danke fürs Nach-Hause-Bringen. Und danke, dass du meinen Rucksack getragen hast.«
»Das habe ich gerne gemacht.«
»Du bist so höflich.« Sie kichert, als wäre sie über meine Höflichkeit erfreut und amüsiert. Ich bin immer höflich, denn zu Hause hat es Konsequenzen, wenn ich es nicht bin. »Bist du immer so ein Gentleman?«
Ihr Ton hat eine leichte Schärfe, was mich auf den Gedanken bringt, dass sie vielleicht etwas von mir erwartet. Will sie, dass ich sie küsse? Wir haben die letzten zwanzig Minuten Händchen gehalten. Ein Kuss wäre der natürliche nächste Schritt. Aber es fällt mir nicht leicht. Ich hatte noch nie eine Freundin, und ich glaube, Daisy hatte noch nie einen Freund.
Um ehrlich zu sein, habe ich erst ein Mal ein Mädchen geküsst, und ich wollte es nicht mal. Sie hat mich geküsst. Aber die einzigen Menschen, die es wissen, sind sie und ich. Und jetzt nur noch ich.
»Tom?«
Sie hat den Kopf zurückgelegt und sieht zu mir hoch – sie will eindeutig, dass ich sie küsse. Ich fahre mit dem Finger ihren Kiefer entlang. Ihre Lippen glänzen vom rosafarbenen Lipgloss. Sie sind wahrscheinlich weich und glatt. Herrje, warum kann ich sie jetzt nicht einfach küssen?
»Hey, ist das nicht Tom Brewer?«
Beim Klang der dröhnenden Stimme, die von der Seite des Hauses kommt, springe ich ungefähr eineinhalb Meter von Daisy weg. Der Gedanke, dass ihr Vater mich dabei erwischt hätte, wie ich seine Tochter küsse, wenn ich nicht so feige gewesen wäre, erschreckt mich. Glück gehabt.
»Hi, Daddy.« Daisy wirft ihrem Vater ein unbeschwertes Lächeln zu. »Du bist früh zu Hause.«
Jim Driscoll tritt mit seinen eins neunzig vor uns. Er ist ein einziges Muskelpaket, und er hätte mir wahrscheinlich einen Tritt verpasst, wenn ich Daisy geküsst hätte. Daisy hat zwei ältere Brüder, beide sind schon auf dem College, also ist sie nicht nur das jüngste Kind, sondern auch das einzige Mädchen in der Familie. Ihr Vater passt gut auf sie auf.
Aber vielleicht hätte er mich auch nicht zusammengeschlagen. Er sieht eher amüsiert aus. Außerdem bin ich kein Punk. Es ist ja nicht so, als hätte er Slug dabei erwischt, wie er beinahe seine Tochter küsst.
»Ich habe heute Spätdienst«, erklärt er Daisy. »Ich bin nur nach Hause gekommen, um mich umzuziehen und deiner Mutter einen Abschiedskuss zu geben.«
Daisy zieht die Nase kraus. »Igitt, Dad. So genau wollte ich es gar nicht wissen.«
Ihr Vater lacht dröhnend. »Findest du das eklig? Ich glaube nicht, dass Tom küssen ekelhaft findet.« Er zwinkert mir zu. »Oder, Tom?«
Wenn ich jetzt im Boden versinken könnte, würde ich es tun.
Er klopft mir mit seiner großen Hand auf die Schulter. Ich bin mittlerweile fast eins achtzig, aber Daisys Vater überragt mich trotzdem. Genauso wie mein Vater. »Du solltest mal zu uns zum Abendessen kommen. Daisy spricht ständig von dir. Meine Frau und ich würden dich gerne näher kennenlernen.«
»Dad!« Ich weiß nicht, was besser ist – zu hören, dass das Mädchen, das meine Fantasie beschäftigt, ständig von mir spricht, oder zu sehen, wie beschämt Daisy aussieht, als er es ausspricht. Sie wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. »Das tue ich nicht.«
Er ignoriert sie. »Also, Tom?«
»Ja klar«, murmele ich. »Klingt gut.«
Daisys Vater zwinkert mir zu. »Sag meiner Frau, wann du Zeit hast, und sie bereitet ein Festessen. Du musst auch keine Krawatte umbinden – obwohl du natürlich zusätzliche Punkte sammelst, wenn du es tust.«
Daisys normalerweise blasse Haut hat einen wunderbaren Rotton angenommen. Als ihr Vater im Haus verschwunden ist, sieht sie mich kopfschüttelnd an. »Du musst nicht zum Abendessen kommen. Wirklich nicht.«
Ich bin froh, dass sie es gesagt hat, denn ich habe nicht die Absicht, mit der Familie Driscoll zu Abend zu essen. Obwohl ich jede Minute des Tages an Daisy denke, will ich ihre Eltern nicht kennenlernen und keine Zeit mit ihnen verbringen. Besonders nicht mit ihrem Vater. Ich wäre froh, wenn ich mich für den Rest des Lebens nie wieder mit Daisys Vater unterhalten müsste.
Je weniger Zeit ich mit dem Polizeichef verbringe, desto besser.
Gegenwart
Während ich zurück zu meiner Wohnung gehe, setzt die Niedergeschlagenheit ein.
Ja, ich hatte gerade das schlimmste Date meines Lebens. Der Kerl hat mich beinahe vergewaltigt. Und die ganze Sache hat mich zutiefst erschüttert.
Aber ich kann nicht aufhören, an den anderen Mann zu denken. Den geheimnisvollen Mystery Man.
Er hat mich gerettet. Es war niemand sonst in der Nähe, der mir hätte helfen können, aber er war da. Und als wir uns angesehen haben, war da ein Funke. Das hab ich mir nicht eingebildet. Es gab eine Verbindung zwischen uns.
Trotzdem hat er mich nicht mal nach meinem Namen gefragt. Oder mir seinen genannt.
Vielleicht ist es meine Schuld. Er hatte gerade erst gesehen, wie mich ein Mann angegriffen hat, und er wollte wahrscheinlich nicht so unsensibel sein, mich unmittelbar nach so einer Sache anzumachen. Vielleicht hat er es bewusst mir überlassen, den ersten Schritt zu tun. Ich hätte ihn bitten sollen, mich nach Hause zu begleiten. Was ist denn los mit mir?
Na ja, es hat keinen Sinn, weiter darüber nachzudenken. Es gibt Millionen Menschen in dieser Stadt, und ich werde Mystery Man wahrscheinlich nie wiedersehen. Ich habe es vermasselt.
Als ich bei meinem Apartmentgebäude ankomme, fühle ich mich richtig elend. Ich schließe die Eingangstür auf, froh, dass kein Portier da ist, mit dem ich Small Talk machen muss. Ich gehe durch den Postraum, wo meine Freundin und Nachbarin Bonnie auf einer Bank sitzt und ihr Handy anstarrt.
Bonnie wohnt ein Stockwerk unter mir, ist ein Jahr älter als ich und ebenfalls Single. Auch sie benutzt die Cynch-App und hat im Laufe der letzten zwei Jahre wahrscheinlich fünfzig Prozent aller männlichen Singles in New York City gedatet. Das ist eine vorsichtige Schätzung. Sie sagt, Online-Dating sei wie eine Lotterie, also geht Bonnie zu sieben Dates in der Woche, manchmal mehr. Schließlich kann man sich zum Mittagessen und zum Abendessen verabreden, und wer sagt denn, dass man sich nicht mit einem Mann auf einen Drink treffen und mit einem anderen zu Abend essen kann?
Aber trotz der vielen Dates und der Tatsache, dass Bonnie sehr hübsch ist – sie hat seidige blonde Haare, ein Gesicht wie eine Porzellanpuppe und eine tolle kurvige Figur –, ist sie noch Single.
»Hey, Bonnie«, sage ich.
Sie lächelt wegen irgendetwas auf ihrem Handy. Bonnie trägt hellroten Lippenstift und dunklen Lidschatten. Ihrem Aussehen nach hatte sie heute Abend auch eine Verabredung. Hoffentlich lief es bei ihr besser.
»Hey, Syd.« Sie sieht nicht von ihrem Handy auf. »Wie war dein Date?«
»Auf einer Skala von eins bis zehn? Minus eine Million.«
