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Lektion 1: Sobald du die Schule betrittst, traue niemandem.
Eigentlich hat Eve Bennett ein gutes Leben. Sie ist Mathelehrerin an der örtlichen Highschool und verheiratet mit Nate, der dort Englisch unterrichtet. Doch letztes Jahr wurde die Schule von einem Skandal erschüttert, in dessen Zentrum eine Schülerin stand. Und dieses Jahr ist diese Schülerin in Eves Klasse. Addie kann man nicht trauen, sie lügt und verletzt Menschen. Aber niemand kennt die wahre Addie. Niemand kennt das Geheimnis, das sie zerstören könnte. Und Addie würde alles dafür tun, dass es so bleibt. Ihr einziger Lichtblick in diesem Schuljahr: ihr neuer Englischlehrer Nate Bennett.
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2025
Eigentlich hat Eve Bennett ein gutes Leben. Sie ist Mathelehrerin an der Caseham Highschool und verheiratet mit Nate, der dort Englisch unterrichtet. Doch letztes Jahr wurde die Schule von einem Skandal erschüttert, in dessen Zentrum eine Schülerin stand. Und dieses Jahr ist diese Schülerin in Eves Klasse. Addie kann man nicht trauen, sie lügt und verletzt Menschen. Aber niemand kennt die wahre Addie. Niemand kennt das Geheimnis, das sie zerstören könnte. Und Addie würde alles dafür tun, dass es so bleibt. Ihr einziger Lichtblick in diesem Schuljahr: ihr neuer Englischlehrer Nate Bennett.
Mit ihrer Gabe für überraschende Twists und packende psychologische Spannung ist der US-amerikanischen Ärztin und Bestsellerautorin Freida McFadden in kürzester Zeit der internationale Durchbruch gelungen. Nach dem phänomenalen Erfolg von Wenn sie wüsste stürmte sie mit ihren darauf folgenden Thrillern gleich an die Spitze der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ihre Bücher wurden in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Mit ihrer Familie und einer schwarzen Katze lebt Freida McFadden in einem jahrhundertealten Haus mit knarzenden Treppen und Blick auf das Meer.
Die »Housemaid«-ReiheWenn sie wüssteSie kann dich hörenSie wird dich findenWeil sie dich kennt (Kurzgeschichte, E-Book)Die KolleginDer Lehrer
FREIDA MCFADDEN
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Astrid Gravert
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe The Teacher erschien erstmals 2024 bei Poisoned Pen Press, an imprint of Sourcebooks, Naperville, Illinois.
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Deutsche Erstausgabe 08/2025
Copyright © 2024 by Freida McFadden
© 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Lars Zwickies
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
unter Verwendung von © iStockphoto (JasonDoiy), FinePic®
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31638-9V002
www.heyne.de
Für meine Familie
Ein Grab auszuheben, ist harte Arbeit.
Mir tut alles weh. Muskeln, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie habe, schreien vor Schmerz. Jedes Mal, wenn ich die Schaufel in den Boden stoße, fühlt es sich an, als würde sich ein Messer in einen Muskel hinter meinem Schulterblatt bohren. Ich dachte, da gäbe es nur Knochen, aber offensichtlich habe ich mich geirrt. Ich spüre jede einzelne Muskelfaser in meinem Körper, und alle schmerzen. Sehr.
Ich halte einen Moment lang inne und lasse die Schaufel fallen, um meinen schmerzenden Handflächen, an denen sich Blasen bilden, ein wenig Linderung zu verschaffen. Mit der Rückseite des Unterarms wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Mittlerweile ist die Sonne untergegangen und die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen. Aber nach der ersten halben Stunde habe ich die Kälte schon nicht mehr gespürt – ich habe meine Jacke vor fast einer Stunde ausgezogen.
Je tiefer ich grabe, desto leichter wird es. Durch die erste Erdschicht zu kommen, war fast unmöglich, andererseits hatte ich da noch einen Helfer. Jetzt bin ich allein.
Na ja, ich und die Leiche. Aber sie ist keine große Hilfe.
Ich spähe in das finstere Loch. Es wirkt wie ein Abgrund, ist aber nicht viel tiefer als sechzig Zentimeter. Wie tief muss ich graben? Es heißt immer, einen Meter achtzig, aber ich nehme an, das gilt nur für offizielle Gräber. Nicht für namenlose Gräber mitten im Nirgendwo. Aber wenn niemand das entdecken soll, was hier begraben wird, ist tiefer vielleicht besser.
Ich frage mich, wie tief eine Leiche vergraben sein muss, damit die Tiere sie nicht wittern.
Ich zittere, als ein Windstoß den Schweiß auf meiner Haut kühlt. Mit jeder Minute, die vergeht, fällt die Temperatur weiter. Ich muss mich wieder an die Arbeit machen. Ich werde noch etwas tiefer graben, nur um sicherzugehen.
Als ich die Schaufel aufhebe, scheinen alle schmerzhaften Stellen in meinem Körper um meine Aufmerksamkeit zu konkurrieren. Im Moment sind meine Handflächen die klaren Gewinner – sie tun mehr weh als alles andere. Was würde ich für ein Paar Lederhandschuhe geben. Leider habe ich nur ein Paar gefütterte Stoffhandschuhe bei mir, und mit denen kann ich die Schaufel nicht richtig halten. Deshalb muss ich es mit bloßen Händen tun, Blasen und Schmerzen eingeschlossen.
Als das Loch noch flach war, konnte ich graben, ohne hineinzusteigen. Jetzt kann ich nur weiterarbeiten, wenn ich mich in das Grab stelle. Das fühlt sich an, als würde es Unglück bringen. Wir enden alle irgendwann in einem dieser Löcher, aber wir sollten das Schicksal nicht herausfordern. Leider ist es gerade unvermeidlich.
Während ich das Schaufelblatt wieder in die trockene, harte Erde stoße, spitze ich die Ohren. Bis auf den Wind ist es still hier draußen, aber ich bin sicher, etwas gehört zu haben.
Knack!
Da ist es wieder … Es klingt fast wie ein Ast, der entzweibricht, aber ich kann nicht sagen, ob es hinter oder vor mir war. Ich richte mich auf und spähe in die Dunkelheit. Ist da jemand?
Wenn ja, bin ich in sehr großen Schwierigkeiten.
»Hallo?«, rufe ich, aber es ist eher ein heiseres Flüstern.
Keine Antwort.
Ich halte die Schaufel fest in der rechten Hand und lausche, so gut ich kann. Ich halte den Atem an, um das Geräusch der Luft auszuschalten, die in meine Lungen strömt und sie wieder verlässt.
Knack!
Wieder ein brechender Ast. Diesmal bin ich ganz sicher. Und das Geräusch ist näher als beim letzten Mal.
Jetzt höre ich Blätterrascheln.
Mir zieht sich der Magen zusammen. Aus dieser Sache kann ich mich nicht herausreden. Ich kann nicht so tun, als wäre es ein Missverständnis. Wenn mich jemand sieht, ist es vorbei. Ich bin erledigt. Handschellen um die Handgelenke, ein Polizeiauto mit heulender Sirene, ein Leben im Gefängnis ohne Chance auf Entlassung – all das.
Dann sehe ich im Mondlicht ein Eichhörnchen auf eine Lichtung flitzen. Als es an mir vorbeihuscht, knackt wieder ein Zweig unter dem Gewicht seines kleinen Körpers. Nachdem das Eichhörnchen verschwunden ist, herrscht wieder tödliche Stille.
Immerhin war es kein Mensch. Es war nur ein wildes Tier. Was sich wie Schritte anhörte, waren nur dahinflitzende kleine Pfoten.
Ich atme auf. Die unmittelbare Gefahr ist vorüber, aber die Sache ist noch nicht vorbei. Ganz und gar nicht. Ich habe keine Zeit mich auszuruhen, sondern muss weitermachen.
Schließlich muss ich diese Leiche begraben, bevor die Sonne aufgeht.
Die Leute sagen mir immer, wie glücklich ich mich schätzen könne.
Sie erinnern mich daran, dass ich ein schönes Haus und einen erfüllenden Beruf habe, außerdem bekomme ich permanent Komplimente wegen meiner Schuhe. Aber ich mache mir nichts vor. Wenn die Leute sagen, ich könne mich glücklich schätzen, meinen sie nicht mein Haus oder meinen Beruf oder meine Schuhe. Sie sprechen von meinem Mann. Sie meinen Nate.
Nate summt vor sich hin, während er sich die Zähne putzt. Erst nachdem ich mir fast ein Jahr lang morgens neben ihm die Zähne geputzt hatte, erkannte ich, dass es immer dasselbe Lied ist. »All Shook Up« von Elvis Presley. Als ich ihn darauf ansprach, lachte er und sagte, seine Mutter habe ihm verraten, dass dieses Lied genau zwei Minuten dauere. Also genau so lange, wie man sich die Zähne putzen sollte.
Ich habe angefangen, das Lied mit jeder Faser meines Wesens zu hassen.
In acht Jahren Ehe jeden Morgen dasselbe verdammte Lied. Ich könnte es umgehen, indem wir uns nicht jeden Morgen gleichzeitig die Zähne putzen, aber das tun wir immer. Wir versuchen, das Badezimmer morgens möglichst effizient zu nutzen, weil wir um dieselbe Zeit das Haus verlassen und zum selben Arbeitsplatz fahren.
Nate spuckt Zahnpasta ins Waschbecken und spült dann seinen Mund aus. Ich bin schon mit Zähneputzen fertig und sehe ihn an. Er greift nach der Mundspülung und gurgelt mit der scharfen blauen Flüssigkeit.
»Ich verstehe nicht, wie du das Zeug benutzen kannst«, bemerke ich. »Mundspülung schmeckt für mich wie Säure.«
Er spuckt wieder ins Waschbecken und grinst mich an. Er hat perfekte Zähne. Gerade und weiß, aber nicht so weiß, dass man wegsehen muss. »Es ist erfrischend. Sauberkeit geht vor Frömmigkeit.«
»Es schmeckt schrecklich.« Ich schaudere. »Küss mich bloß nicht, nachdem du damit gegurgelt hast.«
Nate lacht, und es ist wirklich lustig, da er mich ohnehin selten küsst. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, wenn wir uns morgens trennen, und einer, wenn wir uns abends begrüßen, und dann einer vorm Schlafengehen. Drei Küsse am Tag. Unser Sexleben ist ähnlich reglementiert – jeden ersten Samstag im Monat. Früher war es mal jeden Samstag, dann jeden zweiten, und seit zwei Jahren hat sich die gegenwärtige Routine eingependelt. Ich bin versucht, es in unseren gemeinsamen iPhone-Kalender als regelmäßigen Termin einzutragen.
Ich nehme den Föhn, um meine Haare zu trocknen, während Nate sich mit der Hand durch seine kurzen braunen Strähnen fährt und dann zum Rasierer greift. Wenn ich uns beide im Spiegel sehe, ist schwer zu leugnen, dass Nate der bei Weitem Attraktivere von uns beiden ist. Eindeutig.
Mein Mann sieht unglaublich gut aus. Wenn jemand einen Film über sein Leben drehen wollte, dann würde er für die Rolle bei den heißesten Hollywoodstars anklopfen. Kurze, dicke braune Haare, scharf geschnittene Gesichtszüge, ein hinreißendes schiefes Lächeln, und seitdem er sich die Gewichte zum Trainieren im Keller gekauft hat, ist seine Brust die reinste Muskelmasse.
Ich dagegen bin vollkommen unscheinbar. Ich hatte dreißig Jahre Zeit, um mich damit abzufinden. Und ich habe absolut kein Problem damit, dass meine schlammbraunen Augen nicht denselben verspielten Schimmer haben wie Nates, meine langweiligen braunen Haare immer schlaff herunterhängen und meine Gesichtszüge nicht die richtigen Proportionen haben. Ich bin zu dünn, habe überall kantige Konturen und keine nennenswerten Kurven. Wenn jemand einen Film über mein Leben drehen wollte … Aber es hat keinen Sinn, überhaupt darüber zu reden. Niemand dreht einen Film über Frauen wie mich.
Wenn Leute sagen, ich könne mich glücklich schätzen, meinen sie in Wirklichkeit, dass Nate eine ganz andere Liga ist. Aber wenigstens bin ich etwas jünger als er.
Ich verlasse das Badezimmer, um mich fertig anzuziehen, und er folgt mir, um dasselbe zu tun. Ich wähle eine weiße Bluse, hochgeknöpft bis zum Hals, und kombiniere sie mit einem hellbraunen Rock, denn in Neuengland kann man nur drei Monate im Jahr einen Rock tragen – vier, wenn man Glück hat. Nachdem ich eine Strumpfhose angezogen habe, schlüpfe ich in ein Paar hochhackige Pumps von Jimmy Choo. Als ich sie schon anhabe, bemerke ich, dass Nate mich beobachtet, während seine braune Krawatte ihm noch locker um den Hals hängt.
»Eve«, sagt er.
Ich weiß schon, was er sagen wird, und hoffe, dass er es nicht tut. »Hm?«
»Sind die Schuhe neu?«
»Die?«, frage ich, ohne aufzublicken. »Nein. Die habe ich schon seit Jahren. Ich glaube sogar, ich habe sie auch letztes Jahr am ersten Schultag getragen.«
»Oh. Okay …«
Er glaubt mir nicht, aber er blickt auf seine eigenen Schuhe hinunter – ein Paar braune Lederslipper, die tatsächlich jahrealt sind – und sagt kein Wort mehr. Er schreit nie, wenn er aufgebracht ist. Manchmal schimpft er wegen Dingen, die ich nicht hätte tun sollen, mit mir, aber selbst das tut er nur noch selten. Mein Mann ist bewundernswert ausgeglichen. Insofern kann ich mich wohl glücklich schätzen.
Während Nate die Manschettenknöpfe seines Hemds zuknöpft, wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr. »Bist du fertig? Oder willst du noch frühstücken?«
Nate und ich arbeiten an der Caseham High School, und heute ist der erste Tag des Schuljahres. Ich unterrichte Mathematik und er Englisch. Wahrscheinlich ist er der beliebteste Lehrer an der Schule, besonders jetzt, da Art Tuttle weg ist. Meine Freundin und Kollegin Shelly hat mir erzählt, dass Nate die Liste der fünf heißesten Lehrer an der Caseham High anführt, die die Oberstufenschülerinnen erstellt haben. Er hat erdrutschartig gewonnen.
Wir fahren morgens selten zusammen zur Arbeit. Es scheint dekadent, zwei Autos zu benutzen, um von derselben Stelle loszufahren und am selben Ort anzukommen, aber er bleibt meistens länger in der Schule als ich, und ich will dort nicht festhängen. Aber da heute der erste Schultag ist, fahren wir zusammen.
»Lass uns losfahren«, antworte ich. »Ich hole mir in der Schule einen Kaffee.«
Nate nickt. Er frühstückt nie – er sagt, er bekomme davon Magenbeschwerden.
Meine Jimmy-Choo-Pumps klacken angenehm auf dem Boden, während ich zur Vordertür unseres zweistöckigen Hauses gehe. Unser Haus ist klein – wir müssen es mit zwei Lehrergehältern abbezahlen –, aber es ist neu und in vielerlei Hinsicht genau das Haus, von dem ich immer geträumt habe. Wir haben drei Schlafzimmer, und Nate redet davon, die anderen beiden in naher Zukunft mit Kindern zu füllen. Doch ich weiß nicht, wie wir das mit unserem gegenwärtigen Sexleben erreichen sollen. Ich verhüte seit einem Jahr nicht mehr, einfach um zu sehen, »was passiert«. Aber bis jetzt ist nichts passiert.
Nate setzt sich ans Steuer seines Honda Accord. Immer wenn wir zusammen irgendwohin fahren, nehmen wir sein Auto, und er fährt. Das gehört zu unseren Gewohnheiten. Drei Küsse am Tag, einmal im Monat Sex, und Nate fährt immer.
Ich kann mich so glücklich schätzen. Ich habe ein schönes Haus, einen erfüllenden Beruf und einen Ehemann, der liebevoll, sanftmütig und unglaublich gut aussehend ist. Während Nate auf die Straße biegt und Richtung Schule fährt, wünsche ich mir nur noch, dass ein Lastwagen ein Stoppschild übersieht, in den Honda rast und uns beide auf der Stelle tötet.
Ich würde alles dafür geben, wenn ich nicht aus diesem Auto steigen müsste.
Ich würde meine Haare abschneiden. Ich würde Krieg und Frieden lesen. Zum Teufel, ich würde mich anzünden, wenn ich nur nicht durch die Türen der Caseham High gehen müsste. Ich kann es nicht oft genug sagen. Ich will nicht zur Schule gehen.
»Da sind wir!«, sagt meine Mutter strahlend. Und vollkommen unnötig, denn ich kann sehen, dass wir direkt vor der Schule geparkt haben. Ich bin nicht so dumm, trotz allem, was letztes Jahr passiert ist.
Wahrscheinlich hat sie mich heute Morgen mit ihrem grauen Mazda zur Schule gefahren, weil sie wusste, dass ich wohl nie dort angekommen wäre, wenn ich wie die letzten zwei Jahre das Fahrrad genommen hätte. Also hat sie sich den Tag freigenommen – sie arbeitet als Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus –, um sicherzugehen, dass ich am ersten Tag auch wirklich in der Schule erscheine.
Ich werfe einen Blick aus dem Beifahrerfenster auf das vierstöckige Gebäude aus rotem Backstein, das in den letzten zwei Jahren ein bedeutender Teil meines Lebens geworden ist, und reibe mir die müden Augen. Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich an meinem ersten Tag an der Caseham High war. Mir gefiel die Highschool – ich war zwar nicht besonders beliebt, und meine Noten waren nur durchschnittlich, aber es war alles in allem nicht schlecht.
Bis sich das änderte.
Ich habe den ganzen Sommer über auf die Kinder unserer Nachbarn aufgepasst und verkündet, dass ich im Herbst nicht wieder zur Schule gehen würde. Aber es gibt nur eine öffentliche Highschool in Caseham, und die Privatschulen können wir uns nicht leisten. Ich könnte auf eine Schule in einer anderen Stadt gehen, aber das wäre mit dem Fahrrad zu weit, und ein Schulbus würde mich nicht mitnehmen. Meine Mutter hat es mir immer wieder mit nachlassender Geduld erklärt, wenn ich sie anflehte, noch einmal darüber nachzudenken.
»Vielleicht«, sage ich hoffnungsvoll, »könnte ich zu Hause unterrichtet werden?«
»Addie«, seufzt sie. »Jetzt hör aber auf.«
»Du verstehst nicht.« Ich umklammere meinen Rucksack vor der Brust und mache keine Anstalten, meinen Sicherheitsgurt zu öffnen. »Alle werden mich hassen.«
»Sie werden dich nicht hassen. Niemand wird sich überhaupt daran erinnern.«
Ich schnaube. Hat meine Mutter schon mal einen Highschool-Schüler kennengelernt?
»Ich meine es wirklich.« Mom stellt den Motor ab, obwohl wir in einer Zone stehen, in der es verboten ist auszusteigen. Wahrscheinlich wird jede Minute jemand kommen und uns anschreien, damit wir weiterfahren. »Teenager interessieren sich nur für sich selbst. Niemand wird sich daran erinnern, was letztes Jahr passiert ist. Es interessiert niemanden.«
Sie irrt sich. Sie irrt sich ganz und gar.
Natürlich hupt jemand. Zuerst ist es nur ein einzelnes Hupen, dann ein schwaches Hupkonzert, dann klingt es, als hätte sich jemand versehentlich auf seine Hupe gesetzt und würde so bald nicht wieder aufstehen.
»Ich kann woanders anhalten«, bietet Mom hilflos an, während sie den Motor wieder startet.
Was hilft es? Wenn wir woanders anhalten, wird sie mir nur Mut zusprechen. Aber ich brauche keine aufmunternden Worte. Ich brauche eine neue Schule. Und wenn das nicht passiert, ist das alles hier völlig sinnlos.
»Vergiss es«, murmele ich.
Meine Mutter ruft meinen Namen, als ich aus dem Auto springe, aber ich laufe weiter, ohne mich umzudrehen. Meine Mutter hat keine Ahnung. Was sie sagt, stimmt, aber letztlich muss sie nicht damit fertigwerden. Sie muss nicht die Konsequenzen dessen, was letztes Jahr passiert ist, tragen. Die Konsequenzen dessen, was ich getan habe.
Sobald ich aus dem Mazda gestiegen bin, spüre ich förmlich, wie mich alle anstarren. Viele Mädchen an der Highschool kleiden sich, um aufzufallen, aber ich gehörte nie dazu. Ich wollte immer in der Menge verschwinden. Heute trage ich unscheinbare Jeans und ein graues T-Shirt mit einem noch graueren Kapuzenpullover. An der Caseham High ist es verboten, Kleidung zu tragen, die am Hintern eine Aufschrift hat – eine Regel, die sehr viele Mädchen aufregt. Aber nicht nur mein Hinterteil ist frei von glitzernden Buchstaben, ich habe überhaupt keinen Schriftzug an mir. Nichts, was irgendwie Aufmerksamkeit erregen könnte.
Trotzdem sehen mich alle an.
Nur gut, dass meine Mutter gezwungen war wegzufahren. So bekommt sie die Blicke und das Flüstern nicht mit, während ich mit meinem Rucksack über der Schulter zum Haupteingang trotte. Ich wusste, dass es so sein würde. Niemand wird sich daran erinnern, was letztes Jahr passiert ist. Ja, klar. Auf welchem Planeten lebt meine Mutter?
Ich weiß schon, was sie sagen. Deshalb halte ich nicht an, um es mir anzuhören. Ich halte den Kopf gesenkt und die Schultern vorgebeugt, während ich gehe, so schnell ich kann. Ich vermeide Blickkontakt. Trotzdem höre ich sie murmeln.
Das ist sie. Das ist Addie Severson. Du weißt doch, was sie getan hat, oder? Sie ist die, die …
Ach, es ist einfach zu schrecklich.
Und dann habe ich es fast geschafft. Ich habe die Schule beinahe ohne Zwischenfall erreicht. Die Vordertür mit der abblätternden roten Farbe ist in Sichtweite, und niemand hat mir etwas Schreckliches ins Gesicht gesagt. Und dann sehe ich sie.
Sie ist Kenzie Montgomery. Das wohl beliebteste Mädchen in unserer Klasse. Unbestreitbar das hübscheste Mädchen in der Klasse. Anführerin der Cheerleader-Truppe, Klassensprecherin – der Typ. Sie sitzt auf den Stufen zur Schule und trägt einen Rock, der – da bin ich mir zu fast hundert Prozent sicher – gegen die Regel verstößt, dass der Rock oder die Shorts nicht kürzer sein sollte, als die Fingerspitzen reichen, wenn man die Arme seitlich hängen lässt. Andere Mädchen wurden wegen solcher Verstöße nach Hause geschickt, aber Kenzie werden sie es durchgehen lassen. Darauf kann man sich verlassen.
Sie sitzt mit einer kleinen Clique von Freundinnen zusammen. Die Mädchen um sie herum repräsentieren das Who’s Who der beliebtesten Schülerinnen hier. Außerdem ist da jemand, der letztes Jahr noch nicht neben ihr gesessen hätte: Hudson Jankowski, der neue Star-Quarterback.
Kenzie und ihre Freundinnen versperren beinahe den Weg zum Schulgebäude, aber es ist noch ein bisschen Platz, um an ihnen vorbeizukommen. Doch als ich mich gerade durch die dreißig Zentimeter breite Gasse zwischen Kenzie und dem Treppengeländer schlängeln will, begegnen sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde, und sie wirft mir ihren Rucksack in den Weg.
Autsch.
Sie hat mir absichtlich ungefähr zehn Zentimeter Platz gelassen, um mich daran vorbeizuquetschen. Ich könnte umkehren und auf der anderen Seite hochgehen, aber das würde bedeuten, all die Stufen, die ich gerade hinaufgestiegen bin, wieder hinunterzusteigen und eine andere Treppe zu nehmen. Was ein bisschen lächerlich wäre, wenn man bedenkt, dass ich fast oben bin. Und es ist nicht eine Person, die den Weg blockiert, sondern nur ein verdammter Rucksack. Während Kenzie sich weiter mit ihren Freundinnen unterhält, versuche ich, mich an ihrem Lederrucksack vorbeizuschieben.
»Entschuldigung!«
Kenzies Stimme lässt mich innehalten. Sie sieht mit ihren großen blauen Augen, die von langen dunklen Wimpern gerahmt werden, zu mir hoch. Ich habe Kenzie in der Mittelschule kennengelernt, wo sie in meinem Geschichtskurs war, und dachte, sie sei der schönste Mensch, den ich je im wirklichen Leben gesehen hatte. Ich habe natürlich schon vorher hübsche Mädchen gesehen, aber Kenzie ist eine ganz andere Liga. Sie ist groß und schlank und hat lange, seidige goldblonde Haare. Alles an ihr ist hübscher als bei mir. Sie ist der lebende Beweis dafür, dass das Leben ungerecht ist.
»Tut mir leid«, murmele ich. »Ich habe nur versucht vorbeizukommen.«
Kenzies lange Wimpern flattern. »Könntest du vielleicht nicht auf meinen Rucksack treten?«
Kenzies Freundinnen beobachten unser Gespräch und kichern. Kenzie könnte ihren Rucksack ein Stück wegschieben oder ganz wegnehmen, damit ich vorbeikomme. Aber das wird sie nicht tun, und irgendwie finden es alle so schrecklich komisch. Ich blicke kurz zu Hudson, der schnell nach unten auf seine schmutzigen Sneaker sieht. Das hat er die letzten sechs Monate gemacht. Mich gemieden. So getan, als wäre er nicht seit der Grundschule mein bester Freund gewesen.
Eine Sekunde lang stelle ich mir eine Welt vor, in der ich es mit einem Mädchen wie Kenzie Montgomery aufnehmen könnte. In der ich auf ihren blöden Rucksack mit dem kleinen rosa Fellanhänger treten und sie anfauchen könnte: Was willst du dagegen tun?
Niemand stellt sich jemals gegen Kenzie. Ich könnte es tun. Ich habe nichts zu verlieren.
Stattdessen murmele ich eine Entschuldigung und steige die Stufen wieder hinunter, um einen anderen Weg ins Gebäude zu nehmen. Wie alle anderen. Ich ergebe mich Kenzie. Aber ehrlich gesagt, so schlimm es jetzt auch ist, es könnte noch schlimmer sein.
Ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr mein Kopf brummt, bis ich den ersten Schluck Kaffee trinke.
Mir bleiben noch ungefähr zehn Minuten, bevor ich in meine Klasse muss, und ich nutze die Zeit, um im Lehrerzimmer mit meiner besten Freundin Shelby zusammenzusitzen und zu entspannen. Nate hat seinen Kaffee ins Klassenzimmer mitgenommen, jedoch nicht ohne mir vorher den ersten meiner drei Küsse auf die Wange zu geben.
»Wie war dein Sommer?«, fragt Shelby mich, als hätten wir uns seit dem 4. Juli nicht unentwegt Textnachrichten geschickt.
»Nicht schlecht.« Ich habe die meiste Zeit Ferienkurse gegeben. Als ich Lehrerin wurde, habe ich mir vorgestellt, wie toll es wäre, den ganzen Sommer freizuhaben, aber so ist es nicht gekommen. »Wie war’s bei dir?«
»Toll.« Shelby seufzt, während sie die Beine übereinanderschlägt. Sie trägt dieselben grauen Nine-West-Pumps wie am letzten Schultag. Ich weiß bereits, dass sie die meiste Zeit des Sommers mit ihrem Mann, einem Tech-Genie, und ihrem dreijährigen Sohn auf Cape Cod verbracht hat. Ihre perfekt gebräunte Haut verrät es. »Es fällt schwer, wieder hier zu sein. Connor hat nicht aufgehört zu weinen, als ich ihn heute Morgen in der Vorschule abgegeben habe.«
»Es ist gut für ihn«, sage ich, obwohl ich keine Ahnung habe.
Shelby nimmt einen großen Schluck Kaffee aus ihrem Styroporbecher und hinterlässt einen Abdruck ihres roten Lippenstifts darauf. »Nate sieht gut aus. Hat er den ganzen Sommer trainiert oder so?«
»Wahrscheinlich.« Nate hat diesen Sommer einen Schauspielkurs für Schüler an der Highschool gegeben. Er hat keinen Abschluss in Schauspielerei, aber auf dem College Kurse darin belegt, und außerdem ist er ein Naturtalent. In einem anderen Leben hätte Nate der nächste Brad Pitt sein können. Aber an den Tagen, an denen er nicht gearbeitet hat, ist er in den Keller gegangen, um Gewichte zu heben. Ich vermute, er will seine Chancen, das zweite Jahr in Folge der heißeste Lehrer an der Caseham High zu sein, durch nichts gefährden.
»Ich wünschte, Justin hätte denselben Ehrgeiz«, lacht Shelby. »Er ist erst sechsunddreißig und bekommt schon einen Bauch.«
Ich frage mich, wie oft am Tag Justin Shelby küsst. Ob sie öfter als einmal im Monat Sex haben. Ich frage mich, ob sie nachts wach neben ihm im Bett liegt und wünscht, sie wäre mit jemand anders verheiratet oder überhaupt nicht verheiratet. Ich wünschte, ich könnte sie fragen. Ich war bisher nur mit Nate verheiratet – vielleicht gehören diese Gefühle zu jeder Ehe. Vielleicht ist es normal.
»Hast du Art gesehen?«, frage ich stattdessen.
Das Lächeln verschwindet aus Shelbys Gesicht. »Nein. Er hat offensichtlich gekündigt. Und ich habe gehört, dass er keinen neuen Job als Lehrer findet.«
Bis zum vergangenen Frühling war Arthur Tuttle Mathematiklehrer an der Caseham High und einer der am meisten geschätzten Lehrer in der Schule. Als ich hier direkt nach meinem Masterabschluss anfing zu arbeiten, nahm er mich unter seine Fittiche. Das war typisch für ihn. Er war wirklich der netteste Mensch, den ich je getroffen hatte. Er hatte immer ein tröstendes Wort oder einen der berühmten selbst gebackenen Brownies von seiner Frau parat. Und jedes Jahr bei der Weihnachtsfeier des Kollegiums verkleidete Art sich als Santa Claus, denn selbst ohne den roten Mantel ging er dafür durch.
Und jetzt ist er ruiniert.
»Ich frage mich, wie es ihm und Marsha geht«, murmele ich.
»Und den Kindern«, fügt sie hinzu. »Zwei sind jetzt im College, oder?«
Bei dem Gedanken an Arts Söhne wird mir ganz elend. Ein Teil von mir will ihn mit etwas Geld unterstützen, aber er würde es niemals annehmen. Im Übrigen haben wir nach Abzug der kräftigen Hypothekenraten nicht viel abzugeben. Zudem will Nate für das Kind sparen, das wir nie haben werden.
»Es ist so ungerecht«, murmele ich. »Er hat nichts Unrechtes getan, und sie …«
Shelbys dünne Augenbrauen schießen nach oben. »Das wissen wir nicht genau.«
Ich versuche, meinen Ärger über die Bemerkung zu verbergen, indem ich noch einen Schluck Kaffee nehme. Es hilft nicht, Shelby deswegen anzufahren, besonders so früh am Morgen. Jedenfalls ist das der Grund, warum Art kündigen musste. Es spielt keine Rolle, was wirklich passiert ist oder nicht. Es zählt nur, dass Eltern die Schulleiterin angerufen haben, weil sie nicht wollten, dass ihre Kinder von diesem Mann unterrichtet werden. Art – der netteste Mensch, den es gibt, dem alles Böse vollkommen fremd ist – könne man nicht mehr trauen.
»Sie ist in meiner Klasse«, sage ich.
»Oh?«
»Sechste Stunde.«
Ich habe bisher nur ein Foto von ihr in der Schülerliste gesehen, das ungefähr vor einem Jahr für das Jahrbuch gemacht wurde. Darauf sieht sie schrecklich normal aus. Unscheinbar. Nicht viel anders als ich in dem Alter.
»Sei vorsichtig.« Ein Lächeln umspielt Shelbys Lippen, aber gleichzeitig ist ihr Blick warnend. »Das Mädchen ist gestört.«
Das muss sie mir nicht sagen. Von dem Moment an, als ich den Namen Adeline Severson auf meiner Liste sah, hatte ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. In den fast zehn Jahren, die ich nun unterrichte, habe ich nie darum gebeten, dass ein Schüler aus meinem Kurs entfernt wird. Aber diesmal hätte ich es beinahe getan.
Ich habe ein schreckliches Gefühl, was das Mädchen angeht.
Der Schultag ist okay. Bis zur Mittagspause.
Ich meine, es läuft nicht großartig oder so. Es ist nicht der tollste Tag meines Lebens. Aber es ist in Ordnung. Viele Schüler unterhalten sich miteinander, aber es ist nicht so, dass man mit anderen Schülern reden muss. Man geht in einen Kursraum, setzt sich hin und hört einem Lehrer vierzig Minuten lang zu. Dann geht man in den nächsten Kurs.
Es ist also in Ordnung, dass niemand mit mir spricht.
Aber in der Mittagspause ist es etwas anderes. Alle sitzen in Gruppen zusammen und unterhalten sich, und wenn man nicht mit anderen Schülern zusammensitzt, ist man eine Art Loser, mit dem niemand etwas zu tun haben will. Und das bin ich heute den ganzen Tag.
Nicht, dass ich vorher viele Freunde hatte. Fast während meiner ganzen Schulzeit gab es nur Hudson und mich. Wir versuchten immer, gleichzeitig Mittagspause zu haben, damit wir zusammensitzen konnten, denn er wollte ebenso wenig allein sein wie ich. Komischerweise war Hudson in der Grundschule ein größerer Außenseiter als ich. Er hatte einmal Läuse, das war natürlich fatal. Ich war einfach nur ein stilles Kind, das Probleme hatte, mit Kindern zu sprechen, die ich nicht kannte. Aber Hudson wurde von den meisten Schülern richtig gequält. Sie machten ihm das Leben zur Hölle.
Als ich heute an den verschmierten Bänke vorbeigehe und mein Tablett mit einem Hotdog, geriffelten Pommes, ein paar Päckchen Ketchup und einem Pack Schokomilch umklammere, weiß ich wirklich nicht, wo ich mich hinsetzen soll. Ich nehme Blickkontakt mit ein paar Schülern auf, zu denen ich ein freundschaftliches Verhältnis habe, aber sie sehen schnell weg.
Hudson ist natürlich auch hier. Doch er hat sich neben Kenzie gesetzt. Ins Gespräch vertieft, neigt er ihr den Kopf mit den zerzausten hellen Haaren zu. Hudson ist wirklich ihr neuer Toyboy. Er ist offiziell angekommen, doch er hat mich nicht mitgenommen auf die Fahrt. Ich kann es ihm nicht verübeln.
Aber ich wünschte, er würde zumindest wieder mit mir sprechen.
»Addie! Addie, hier!«
Ich wende den Kopf, um zu sehen, wer meinen Namen ruft. Es ist Ella Curtis, die ich nur kenne, weil sie mit mindestens fünf Kilo Abstand das dünnste Mädchen im elften Jahrgang ist. Ella und ich haben in den letzten zwei Jahren kaum ein Dutzend Wörter gewechselt, aber jetzt sitzt sie auf einer der Bänke und winkt mir lebhaft zu. Normalerweise würde ich nicht mit ihr essen, aber jetzt bin ich überglücklich. Ich lasse mich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen, stelle mein Tablett auf dem Tisch ab und ringe mir das erste Lächeln des Tages ab.
»Hey«, sage ich. »Danke.«
»Kein Problem.« Ella nimmt mit ihren spindeldürren Fingern eine Pommes und leckt das Ketchup ab, beißt aber nicht ab. »Du hast mir leidgetan, wie du da ganz allein gestanden hast, weil niemand neben dir sitzen will.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sie hat recht, doch es fühlt sich komisch an, es mir einzugestehen. Aber ich bin froh, dass es Menschen gibt, die noch mit mir sprechen. Vielleicht werden alle es irgendwann vergessen, und es wird keine große Sache mehr sein.
Ella wirft ihre langen, strähnigen braunen Haare über eine Schulter, während sie zu Kenzies Tisch hinübersieht. Als ich ebenfalls hinschaue, legt Kenzie gerade den Kopf auf Hudsons Schulter. »Hey, glaubst du, dass sie zusammen sind?«, fragt Ella.
»Weiß ich nicht«, murmele ich. Ich beiße von meinem Hotdog ab, der selbst für einen Hotdog künstlich schmeckt. Im Grunde wie Gummi.
»Hudson ist so heiß.« Sie hat die erste Pommes fertig abgeleckt und legt sie wieder hin. Nimmt eine andere und beginnt, daran zu lecken. »Sie geben ein schönes Paar ab.«
Als Antwort brumme ich irgendetwas, stimme ihr aber insgeheim zu. Sie sehen gut zusammen aus. Kenzies goldblonde Haare schmeicheln sogar Hudsons Haarfarbe – er ist weißblond.
»Warst du nicht letztes Jahr mit ihm zusammen?«, will sie wissen.
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
So war es nie zwischen uns. Hudson und ich wurden in der Grundschule Freunde, weil wir uns beide für unsere Väter schämten. Aber für ihn war es noch schlimmer – zumindest von außen betrachtet. Mein Vater lebt inzwischen nicht mehr, aber damals betrank er sich ständig bis zur Bewusstlosigkeit und lag in einem See von Erbrochenem in unserem Wohnzimmer. Doch zumindest sah es niemand aus der Schule. Hudsons Vater dagegen war der Hausmeister in unserer Grundschule, und man sah ihn häufig mit Wischmopp und Eimer in den Fluren, wo er wütend die Kinder auf Polnisch beschimpfte.
Wir beide hielten zusammen. Auch als wir auf die Mittelschule gingen, wo Hudsons Vater nicht mehr in der Nähe war und ständig unangenehm auffiel, blieben wir gute Freunde. Selbst als wir auf die Highschool kamen, wo Hudson schnell bei den Mädchen beliebt wurde und sich dann auch noch einen Namen beim Football machte, verhielt er sich loyal mir gegenüber. Bis zu jenem Tag …
Egal, ich will nicht darüber nachdenken.
Ella leckt jetzt die dritte Pommes ab. Es fasziniert mich. Sie benutzt die Pommes lediglich als Hilfsmittel, um Ketchup zu essen. Um ehrlich zu sein, habe ich das genauso gemacht, als meine Mutter mir Staudensellerie mit Erdnussbutter vorgesetzt hat. Welches Kind will schon Staudensellerie essen? Aber Pommes sind schließlich Pommes!
»Ich hasse den ersten Schultag«, sagt Ella. »Eigentlich die Schule überhaupt. Es ist so schwachsinnig, dass wir jeden Tag hierherkommen und Dinge lernen müssen, die wir nie wieder brauchen werden.«
»Wahrscheinlich.« Ich habe nichts gegen den Unterricht. Das ist nicht der Grund, warum ich heute nicht herkommen wollte.
»Zum Beispiel Trigonometrie.« Sie rümpft ihre sommersprossige Nase. »Alter, wann soll das jemals im Leben nützlich sein? Ganz im Ernst, es ist so eine Zeitverschwendung. Wen hast du in Trig?«
»Mrs. Bennett.«
Sie stöhnt. »Das ist so eine Bitch. Sie gibt Tonnen von Hausaufgaben, und ihre Tests sind unheimlich schwer. Das habe ich zumindest gehört.«
Toll. Und Mathe war schon immer mein schwächstes Fach. Dieses Jahr fängt wirklich gut an. »Und ich habe Mr. Bennett in Englisch.«
Das bringt sie zum Kichern. »Okay, das gleicht es vielleicht aus. O Mann, Mr. Bennett ist heiß. Es besteht eindeutig ein Riesenunterschied zwischen den beiden, was das angeht. Wie konnte er sie heiraten?«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich weiß kaum, wie diese beiden Lehrer aussehen.
»Aber vielleicht ist er nicht dein Typ.« Ella zwinkert mir zu. »Vielleicht bevorzugst du jemanden, der mehr wie Mr. Tuttle aussieht.«
Meine Zuversicht schwindet schlagartig. Das ist das Letzte, worüber ich reden will. »Eigentlich nicht.«
»Im Ernst.« Ella legt die Pommes hin, an der sie gerade geleckt hat, und beugt sich mit großen Augen über den Tisch. »Wie war es mit Mr. Tuttle? Es klingt gruselig.«
Ich senke den Blick, um ihrem neugierigen Blick auszuweichen. »Mit Mr. Tuttle ist nichts passiert«, murmele ich. »Ich habe nie etwas anderes behauptet.«
»A-ha.« Ihre Stimme trieft vor Sarkasmus. »Wie kommt es dann, dass er gefeuert wurde?«
»Das weiß ich nicht.«
Ich habe einen Kloß im Hals. Ich will nicht über diese Sache reden. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Schokomilch vor mir. Auf der Rückseite der Packung steht ein Witz. Was trägt eine Wolke unter ihrem Regenmantel?
»Ach, komm schon.« Sie zwinkert mir zu. »Du kannst es ruhig zugeben. Es wissen sowieso alle.«
Ich hebe die Schokomilch hoch, um die Lösung des Rätsels zu lesen. Donnerwäsche.
»Er ist so alt«, fährt sie fort, und ihre schrille Stimme durchdringt den Trubel um uns herum. »Er muss ungefähr fünfzig oder älter sein. Er sieht aus wie der Weihnachtsmann. Ich kann nicht glauben, dass du es mit ihm gemacht hast. Im Ernst, wie war’s?«
Mir wird plötzlich klar, dass Ella nicht meine Freundin sein will. Sie will mich nur aushorchen, um allen erzählen zu können, wie ekelhaft es ist, dass ich Sex mit Mr. Tuttle hatte. Ich wusste, es gab einen Grund, warum ich nie mit Ella befreundet sein wollte.
»Entschuldige«, sage ich.
Ich stehe vom Tisch auf und nehme mein Lunchtablett. Ich habe kaum etwas gegessen, aber ich habe ohnehin keinen großen Hunger. Und ich werde nicht hier sitzen, während Ella mich über etwas ausfragt, das nie passiert ist.
Ich lasse Ella am Tisch zurück und werfe mein Essen in den Müll. Sie macht nicht den geringsten Versuch, mich zum Bleiben zu überreden. Als ich weggehe, höre ich sie leise kichern.
Beim Verlassen der Cafeteria komme ich an Kenzies Tisch vorbei. Sie ist in ein Gespräch mit ihren Freundinnen vertieft, aber Hudson hat offenbar die ganze Interaktion mitbekommen. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnen sich unsere Blicke, dann wendet er seine blassblauen Augen ab, wie er es jetzt immer tut. Er hat offiziell entschieden, dass wir nicht mehr miteinander sprechen. Wenn er das nicht getan hätte, dann wäre vielleicht das mit Mr. Tuttle nicht passiert. Vielleicht wäre ich nicht die Außenseiterin in der Schule.
Jedenfalls stürme ich aus der Cafeteria, setze mich ganz allein an einen Tisch in der Bücherei und warte, bis die sechste Stunde beginnt.
Mein Mann hat eine andere Frau.
Wir sitzen beide in der Cafeteria für das Kollegium, aber wie immer an verschiedenen Tischen. Als wir anfingen, hier zu arbeiten, haben wir jeden Tag zusammen gegessen, aber Nate machte einen Witz darüber, dass wir einander überdrüssig werden würden, wenn wir so viel Zeit miteinander verbringen, und ich verstand den Wink. Heute sitze ich also bei Shelby und höre mit halbem Ohr zu, wie sie noch mehr über ihren wundervollen Sommer auf Cape Cod erzählt. Währenddessen isst Nate zwei Tische weiter mit Ed Rice, dem Sportlehrer, und einer neuen Lehrerin, die heute angefangen haben muss.
Die neue Lehrerin kommt offensichtlich direkt vom College. Ihr Gesicht hat dieses frische Aussehen, das acht Jahre Lehrtätigkeit in Mathe aus meinem verscheucht haben. Sie ist hübsch, auf eine jugendliche, kecke Art. Wenn sie Jeans und T-Shirt anhätte, könnte sie leicht für eine Schülerin durchgehen. Stattdessen trägt sie eine rosa Bluse und einen braunen Rock, dazu braune Slipper mit Absatz, die ich letzte Woche bei Target für fünfundzwanzig Dollar gesehen habe.
Ich stoße Shelby, die gerade von einem Restaurant schwärmt, wo sie die besten Garnelen servieren, mitten im Satz an. »Wer ist das?«
Shelby blickt durch die Cafeteria zu der jungen Frau, die sich gerade bei meinem Mann einschmeichelt. »Ich glaube, ihr Name ist Hailey. Sie ist die neue … hm, Französischlehrerin?«
Französischlehrerin. Es ist fast zu klischeehaft.
Shelby sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Du machst dir doch keine Sorgen, oder? Nate ist ein guter Junge.«
Ich würde es gerne glauben. Ich würde gerne glauben, dass die langen Arbeitstage letztes Jahr damit zu tun hatten, dass er Tests korrigieren oder freiwillige Kurse beaufsichtigen musste. Ich würde gerne glauben, dass unser eingeschränktes Sexleben damit zusammenhängt, dass er einfach eine schwache Libido hat.
»Ja«, sage ich schließlich. »Sicher hast du recht.«
Jetzt hat Hailey, die hübsche Französischlehrerin, eine Hand auf seinem Unterarm. Ich würde ihr am liebsten die Augen auskratzen. Das einzig Versöhnende daran ist, dass der ewige Single Ed Rice sich an sie heranzumachen scheint. Aber es ist klar, für wen Hailey sich entscheiden wird. Ed ist zwanzig Jahre älter als sie und bekommt eine Glatze.
Zum Glück klingelt es zur nächsten Unterrichtsstunde, bevor ich etwas tun kann, was ich bereuen würde.
Normalerweise stürmen Nate und ich nach dem Lunch aus der Cafeteria in verschiedene Richtungen. Aber diesmal gehe ich schnell zu ihm, wobei meine Absätze laut auf dem Boden klacken, und fasse ihn dort am Arm, wo Hailey ihn kurz zuvor berührt hat.
»Hey«, sage ich. »Wie läuft’s bei dir?«
Er blinzelt mich an, überrascht, dass ich ihn auf dem Schulgelände anspreche. Aber dann lächelt er schnell. »Glänzend. Wie sieht’s bei dir aus, mein Liebling?«
»Gut so weit.«
»Fantastisch.«
Er zieht eine Augenbraue hoch, ganz offensichtlich verwundert, warum ich mich ihm genähert habe. Ich bin mir nicht sicher, ob Hailey uns beobachtet, aber für den Fall greife ich nach seiner braunen Krawatte und ziehe ihn zu mir. Wenn ich eine Katze wäre, würde ich ihn anpinkeln, aber da ich ein Mensch bin, drücke ich einen Kuss auf seine Lippen, der deutlich leidenschaftlicher ist als unsere üblichen drei Küsschen am Tag.
Er wirkt überrascht, und wie immer ist er derjenige, der sich von mir löst. Anschließend wischt er sich mit dem Zeigefinger über die Unterlippe. »Also dann«, sagt er. »Das war eine nette Verabschiedung.«
Er lächelt, doch ich bin lange genug mit ihm verheiratet, um zu wissen, dass es kein echtes Lächeln ist. Aber Hailey weiß das nicht.
Mein Kursraum ist im dritten Stock, und ich erreiche ihn zwei Minuten vor dem Klingeln. Die neuen Schüler strömen ins Klassenzimmer und setzen sich hin, wo sie wollen. Ich muss sie umsetzen. Wenn ich Teenager nicht von ihren Freunden trenne, werde ich niemals ihre Aufmerksamkeit erhalten.
Aber bevor ich den Raum betrete, spricht ein Mädchen mich an. Es ist Jasmine Owens, die das ganze letzte Jahr in meiner Klasse war. Ich habe ihr in beiden Halbjahren eine Eins plus gegeben. Sie trägt am ersten Schultag eine hübsche Bluse zu ihren Jeans und hat die üblichen Sneaker gegen vorne geschlossene Sandalen getauscht, die mit Blumen auf den Zehen verziert sind.
»Mrs. Bennett«, sagt sie. »Es tut mir leid, dass ich Sie belästigen muss, aber ich habe gehofft, Sie zu erwischen, bevor Ihr Unterricht beginnt.«
»Was gibt’s, Jasmine?«
Sie wirft mir ein angespanntes Lächeln zu. »Ich bin gerade dabei, meine College-Bewerbungen zusammenzustellen, und ich habe gehofft, von Ihnen ein Empfehlungsschreiben zu bekommen.« Bevor ich antworten kann, fügt sie hinzu: »Sie waren meine Lieblingslehrerin von allen, die ich je hatte. Ich will einen Abschluss in Pädagogik machen und Mathelehrerin werden – wie Sie.«
Ich werde rot vor Freude, und der Ärger, den ich zuvor in der Cafeteria empfunden habe, verfliegt etwas. Jasmine war eine brillante Schülerin, deshalb überrascht es mich nicht, dass sie sich bereits um ihre College-Bewerbungen kümmert. Und es tut gut zu hören, dass ich im Leben einer Schülerin etwas bewirkt habe. Es gibt Tage, an denen es mir vorkommt, als würde ich die Jugendlichen in einem Fach unterrichten, das sie hassen und – seien wir ehrlich – wahrscheinlich nie wieder brauchen werden. Es ist schwierig zu argumentieren, dass Sinus und Cosinus im täglichen Leben nützlich sind.
»Natürlich«, sage ich. »Bitte schick mir eine E-Mail, und wir regeln das. Und lass es mich wissen, wenn ich dir sonst noch irgendwie helfen kann.«
Jetzt ist Jasmine auch rot geworden. »Danke, Mrs. Bennett. Ich weiß das zu schätzen.«
Diese Begegnung gibt mir den Auftrieb, den ich so dringend brauchte, und hilft mir weiterzumachen, selbst als die Schüler darüber jammern, dass sie umgesetzt werden. Nate lässt sie sitzen, wo sie wollen. Aber ehrlicherweise sind sie alle im Unterricht von seinem unwiderstehlichen Charme fasziniert. Diese spezielle Gabe habe ich nicht, trotzdem glaube ich, dass ich eine gute Lehrerin bin.
Als ich beim Buchstaben S ankomme, sehe ich schließlich den Namen, vor dem ich mich bereits seit Wochen fürchte.
»Adeline Severson«, sage ich laut.
Ein durchschnittlich großes Mädchen tritt vor, um den nächsten leeren Sitzplatz einzunehmen. Adeline Severson ist das unscheinbarste Mädchen, das ich je gesehen habe. Sie könnte problemlos in jeder Menge verschwinden. Ihre Haare haben die Farbe einer braunen Papiertüte, ihre Gesichtszüge sind symmetrisch, aber nicht bemerkenswert. Sie könnte hübsch aussehen, wenn sie es darauf anlegte, aber offensichtlich ist das nicht der Fall – überhaupt nicht. Ich beobachte, wie sie ihren Sitzplatz einnimmt und respektvoll die Hände vor sich auf dem Tisch faltet. Wenn ihr Name nicht Adeline Severson wäre, würde ich nicht auf den Gedanken kommen, dass dieses Mädchen mir auch nur einen Moment lang Probleme machen könnte.
»Addie«, sagt sie.
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
Sie kaut auf ihrem Daumennagel. »So werde ich gerne genannt. Addie.«
Ich mache mir eine Notiz, obwohl ich weiß, dass alle sie Addie nennen. So hat Art sie genannt, als er mir von ihr erzählt hat. Ich war nur nett zu Addie. Das arme Mädchen hat vor ein paar Monaten seinen Vater verloren, Eve. Ich hatte keine Ahnung …
Ich wollte sie nicht in meinem Kurs haben. Art ist der gütigste Mensch, den ich je die Ehre hatte zu kennen. Ein engagierter Lehrer, dem jeder einzelne seiner Schüler wichtig war. Wenn er nicht so wäre, dann wäre er überhaupt nicht in Schwierigkeiten gekommen. Und jetzt ist sein Leben wegen dieses Mädchens ruiniert.
Aber wenn ich wirklich darüber nachgedacht hätte, wüsste ich, dass es überhaupt keine Rolle spielt, ob Addie Severson in meinem Kurs ist. Worüber ich mir wirklich Sorgen machen muss?
Dass Addie auch im Kurs meines Mannes ist.
Der erste Schultag ist normalerweise gar nicht so schlecht. Ich meine, was Arbeit angeht. Die meisten Lehrer erzählen uns nur, was im Jahr durchgenommen wird. Ob sie übers Wochenende Hausaufgaben geben. Ob sie uns im Laufe des Semesters viele kleine Tests schreiben lassen oder einen umfangreichen am Schluss.
Und am Ende des Tages bekommt man nicht viele Hausaufgaben. Vielleicht ein paar leichte Aufsätze mit Themen wie Erzähl mir in fünfhundert Wörtern ein kleines bisschen über dich. Die Art von Aufgaben, die ich auf dem Sofa im Wohnzimmer erledigen kann, während ich fernsehe und mir Käseflips in den Mund stopfe.
Englisch ist mein Abschlusskurs. In dem Fach bin ich am besten. Es klingt vielleicht albern, aber mein Traumjob ist Schriftstellerin. Obwohl ich weiß, dass es kein richtiger Beruf ist, den man in diesem Jahrhundert ergreifen kann, und wahrscheinlich werde ich letztlich Krankenschwester wie meine Mutter. Dieses Jahr ist Mr. Bennett mein Englischlehrer. Alle lieben ihn, hauptsächlich die Mädchen, weil sie finden, dass er wahnsinnig gut aussieht. Aber ich mache mir normalerweise nichts aus solchen Dingen, auch wenn Ella das angedeutet hat.
Anders als bei Mrs. Bennett, die uns allen unsere Sitzplätze zugewiesen hat, herrscht in Mr. Bennetts Kursraum ein Gerangel. Die meisten Schüler wollen neben ihren Freunden sitzen. Da ich offensichtlich keine habe, setze ich mich ans Fenster in die zweite Reihe. Ich sitze in Englisch gerne am Fenster. Es inspiriert mich.
Eine Sekunde nachdem es geklingelt hat, erschüttert etwas meinen Stuhl. Ich brauche einen Moment, um zu begreifen, dass jemand gegen eines der Stuhlbeine getreten hat. Als ich aufsehe, erblicke ich Kenzie und eine ihrer Ergebenen.
»Das ist mein Platz«, sagt Kenzie.
Ich blinzele sie an. »Oh. Aber … es ist der erste Tag, und niemand saß hier, deshalb …«
Kenzies lebhafte blaue, mit dunkler Mascara umrahmte Augen durchbohren mich. »Hier sitze ich immer.«
Was? Heute ist der erste Schultag, und wir sind buchstäblich gerade erst hergekommen. Wie könnte es der Platz sein, an dem sie immer sitzt?
»Oh«, sage ich wieder. »Aber …«
»Bist du taub?«, faucht Bella mich an. »Kenzie hat gesagt, das ist ihr Platz. Steh auf.«
Ich sehe mich im Raum um. Die meisten der besten Plätze sind besetzt, nur der neben mir ist noch frei, da keiner mehr neben mir sitzen will. Vermutlich wird Bella dort sitzen, wenn Kenzie diesen Platz nimmt.
Da ich mir in meiner Situation Kenzie Montgomery nicht zur Feindin machen will, nehme ich meine Tasche und trotte hinüber zu einem der verbliebenen leeren Sitzplätze in der ersten Reihe. Ich sitze praktisch auf Mr. Bennetts Schoß. Toll.
Mr. Bennett sitzt hinter dem Pult und studiert die Liste. Auf dem Pult liegt ein Buch, und als ich einen Blick darauf werfe, sehe ich, dass es ein Gedichtband von Edgar Allan Poe ist, meinem absoluten Lieblingsautor. Es ist so ziemlich das Einzige an diesem ganzen Tag, was mich aufmuntert.
Nachdem es geklingelt hat, blickt Mr. Bennett von der Liste auf. Sein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln, und als seine Mundwinkel nach oben gehen, spüre ich ein leichtes Kribbeln. Ich bin Mr. Bennett schon ein paarmal auf dem Flur begegnet, aber bis zu diesem Moment, da ich ihn aus einem halben Meter Entfernung lächeln sehe, habe ich nicht bemerkt, wie wahnsinnig gut er tatsächlich aussieht. Ich kann nicht einmal sagen, warum genau. Seine herben Gesichtszüge und das Funkeln in seinen Augen haben einfach etwas.
Es gibt Schlimmeres, als im Englischkurs in der ersten Reihe zu sitzen.
Natürlich ist er schon unheimlich alt, Mitte oder sogar Ende dreißig. Und verheiratet natürlich, mit einer Frau, die uns am allerersten Schultag Hausaufgaben aufgegeben hat. (So unfair …) Aber ich kann nicht bestreiten, dass er heiß ist. Dieser Kurs wird keine Qual werden.
Mr. Tuttle sah nicht gut aus. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, ihn heiß zu nennen. Er war noch älter als Mr. Bennett und hatte einen dicken Bauch, der über den Gürtel hing. Aber darum ging es bei ihm auch gar nicht.
»Hallo.« Mr. Bennett steht auf, geht vor sein Pult und setzt sich drauf. »Willkommen zu Englisch im elften Jahrgang. Wer nicht hierhergehört, dem empfehle ich, jetzt schnell zu gehen, bevor es irgendjemand merkt.«
Niemand geht. Ich habe so ein Gefühl, dass selbst jemand, der hier falsch wäre, bleiben würde.
»Hervorragend.« Er trommelt mit den Fingerspitzen auf seinen rechten Oberschenkel. »Dann lasst uns anfangen. Dieses Jahr werden wir den Schwerpunkt auf Lyrik legen. Ihr werdet so viele Gedichte lesen, dass ihr noch im Schlaf reimen werdet.«
Als Mr. Bennett mit der Hand sein rechtes Knie reibt, bemerke ich, dass der Stoff der Hose über der Kniescheibe leicht abgetragen ist, und frage mich, wie viel er als Lehrer wohl verdient. Keines seiner Kleidungsstücke ist neu oder besonders teuer.
Mrs. Bennett dagegen hat Schuhe getragen, die aussahen, als kosteten sie ein Vermögen. Nicht, dass ich viel von Schuhen verstehe. Aber meine Mutter hat so ein Paar und will nicht, dass ich sie anziehe, weil sie zu teuer sind und ich sie angeblich ruinieren würde. Wahrscheinlich hat sie recht.
»Jetzt«, sagt er, »möchte ich, dass ihr mir eure Lieblingsgedichte nennt. Aber nur, wenn ihr tatsächlich ein Lieblingsgedicht habt. Ich will nicht, dass ihr euch eins ausdenkt, um mich zu beeindrucken. Ich werde es merken.«
Ein paar Hände schießen nach oben, denn natürlich ist jeder versessen darauf, Mr. Bennett zu beeindrucken. Besonders die Mädchen. Und wenn er sie anlächelt, kichern sie.
Nachdem ungefähr ein Dutzend Schüler ihre Lieblingsgedichte genannt haben, große Namen wie Angelou oder Dickinson oder Silverstein gefallen sind, wendet Mr. Bennett sich mir zu, obwohl ich mich nicht gemeldet habe. Ich habe mich heute noch nicht ein Mal gemeldet – dieses Jahr werde ich mich bemühen, unsichtbar zu sein. »Adeline?«, sagt er.
Ich hasse es, mit meinem vollen Namen angesprochen zu werden, denn es erinnert mich daran, dass ich in Schwierigkeiten stecke. »Addie«, korrigiere ich ihn.
»Addie.« Er nickt. Welches ist dein Lieblingsgedicht?«
»›Annabel Lee‹«, antworte ich, ohne zu zögern. Ich weiß, dass es in dem Gedichtband auf seinem Pult steht, aber deshalb habe ich es nicht gesagt. Ich habe das Gedicht immer geliebt. Es ist schön, traurig und romantisch, alles zugleich. Ich kenne jedes Wort davon auswendig.
»Ah, noch eine Liebhaberin des großen Poe!« Er sieht ehrlich erfreut aus. »Mein persönliches Lieblingsgedicht ist ›Der Rabe‹, aber ›Annabel Lee‹ enthält einige seiner bewegendsten Verse.« Er grinst mich an, und die feinen Linien um seine Augen werden zu Falten. »›So ruh’ ich bei Nacht, von der Reinen umwacht, der Einen, der Meinen, die ewig mir lacht, in dem Grab am Ufer allhie.‹«
Ein Schauer durchfährt mich, genau wie im Gedicht.
Der Blick aus seinen braunen Augen ruht auf meinem Gesicht, als sei ich die einzige Person im Raum. »Weißt du, wovon es handelt, Addie?«