Der Frosch mit der Maske - Edgar Wallace - E-Book

Der Frosch mit der Maske E-Book

Edgar Wallace

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Beschreibung

Eine Verbrecherbande, genannt "Die Frösche", terrorisiert ganz London. Ihre Mitglieder zeichnet alle eine Frosch-Tätowierung. Hauptmann Richard Gordon und Sergeant Elk machen sich auf die Jagd. Ein spannender Klassiker der britischen Kriminalliteratur. Mit einem Aufsatz zu Leben und Werk des Autors. Bekannt ist in Deutschland die Verfilmung des Romans von 1959 mit Siegfried Lowitz, Joachim Fuchsberger und Eddi Arent - aber ohne Klaus Kinski. Null Papier Verlag

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Edgar Wallace

Der Frosch mit der Maske

Edgar Wallace

Der Frosch mit der Maske

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: Alma Johanna Koenig 1. Auflage, ISBN 978-3-954181-59-9

www.null-papier.de/wallace

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Alma Jo­han­na Koe­nig

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Alma Johanna Koenig

Die Über­set­ze­rin des Wer­kes, Alma Jo­han­na Koe­nig, war eine ös­ter­rei­chi­sche Ly­ri­ke­rin und Er­zäh­le­rin, die von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in ein Ver­nich­tungs­la­ger de­por­tiert und bei der An­kunft er­mor­det wur­de.

Ihr ist die­ses E-Book ge­wid­met.

1

Das Heiß­wer­den des Küh­lers traf mit dem Plat­zen ei­nes Au­to­rei­fens zu­sam­men. Und das nächs­te Zu­sam­men­tref­fen war, daß dies al­les in Nach­bar­schaft des May­tree-Hau­ses, auf der Land­stra­ße nach Hors­ham, ge­sch­ah. Das Land­haus war grö­ßer als die meis­ten die­ser Art. Es hat­te eine holz­ver­zier­te Fassa­de und ein Stroh­dach. Richard Gor­don stand vor der Gar­ten­tür still, um es zu be­wun­dern. Das Haus stamm­te noch aus der Eli­sa­be­tha­ni­schen Epo­che. Aber sein In­ter­es­se und sei­ne Be­wun­de­rung wa­ren nicht nur die ei­nes Al­ter­tums­lieb­ha­bers.

Nein – ob­gleich er als rich­ti­ger Blu­men­freund Blu­men lieb­te und die­ser wei­te Gar­ten wie ein Tep­pich dalag, war es doch nicht der Duft der Pro­vence­ro­sen, der ihn ge­fan­gen­nahm. Es war auch nicht das Ge­fühl von Ge­müt­lich­keit und Sau­ber­keit, das die­ser Ort aus­ström­te, nicht die­ser ge­scheu­er­te, mit ro­ten Zie­geln be­pflas­ter­te Weg, der zum Haus führ­te, nicht die schnee­wei­ßen Vor­hän­ge hin­ter den blei­ge­faß­ten Fens­ter­schei­ben.

Es war das Mäd­chen im rot­be­zo­ge­nen Korb­ses­sel, das sei­nen Blick fes­sel­te. Sie saß in­mit­ten ei­ner klei­nen Ra­sen­flä­che, im Schat­ten ei­nes Maul­beer­bau­mes, die wohl­ge­form­ten jun­gen Glie­der aus­ge­streckt, ein Buch in der Hand, eine große Schach­tel Bon­bons zur Sei­te. Ihr Haar hat­te die Far­be al­ten Gol­des, aber ei­nes Gol­des, das Le­ben und Glanz be­wahrt hat. Eine fle­cken­lo­se Haut und – als sie den Kopf in sei­ne Rich­tung wand­te – ein Paar grau­er fra­gen­der Au­gen, tiefer als grau und doch grau­er als blau. Sie zog die Bei­ne has­tig an sich und er­hob sich.

»Es tut mir leid, Sie zu stö­ren«, ent­schul­dig­te sich Dick, den Hut in der Hand. »Aber ich brau­che Was­ser für mei­nen ar­men Wa­gen.«

»Wenn Sie mit mir hin­ter das Haus kom­men wol­len, wer­de ich Ih­nen den Brun­nen zei­gen«, ant­wor­te­te sie. Die Schön­heit des Or­gans kam ihm so­gleich zum Be­wußt­sein. Es war ein Alt, auf den alle Ad­jek­ti­ve an­ge­wen­det wer­den konn­ten, die die Wär­me, Weich­heit, Klang­fül­le und Sü­ßig­keit ei­ner Stim­me zu kenn­zeich­nen ver­mö­gen. Er folg­te und hät­te ger­ne ge­wußt, wer sie war. Sie hat­te eine klei­ne pa­tro­ni­sie­ren­de Fär­bung in der Stim­me, die er wohl ver­stand. Es war der Ton ei­nes er­wach­se­nen Mäd­chens ei­nem Jüng­ling ih­res Al­ters ge­gen­über. Dick, der drei­ßig Jah­re alt war und mit sei­nem glat­ten Kna­ben­ge­sicht wie acht­zehn aus­sah, hat­te die­sen »Klei­nen-Jun­gen-Ton« schon frü­her ge­hört und war im­mer durch ihn be­lus­tigt wor­den.

»Hier ist der Ei­mer, und das ist un­ser Brun­nen«, sag­te sie. »Ich wür­de Ih­nen ein Mäd­chen zur Hil­fe schi­cken, aber wir ha­ben keins, ha­ben nie eins ge­habt und wer­den wohl nie eins be­kom­men.«

»Da ist aber ein ar­mes Mäd­chen um einen be­son­ders gu­ten Pos­ten ge­kom­men«, sag­te Dick, »denn ich fin­de es hier ent­zückend.«

Sie schwieg, und wäh­rend sie ihm beim Fül­len des Ei­mers zu­sah, hat­te er den Ein­druck der ver­schlos­sens­ten Gleich­gül­tig­keit von ih­rer Sei­te. Aber als er den Ei­mer zum Auto auf der Land­stra­ße trug, folg­te sie ihm. Sie ging um den großen gel­ben Rolls her­um und prüf­te ihn mit Neu­gier.

»Fürch­ten Sie sich nicht, einen so schwe­ren Wa­gen al­lein zu fah­ren?«, frag­te sie. »Ich wür­de mich zu Tode fürch­ten. Er ist so ge­wal­tig und so schwer zu hand­ha­ben.«

Dick rich­te­te sich auf. »Angst?«, rühm­te er sich la­chend. »Das ist ein Wort, das ich aus dem Le­xi­kon mei­ner Ju­gend ge­stri­chen habe.« Eine Se­kun­de lang war sie ver­wirrt, dann lach­te sie wie er.

»Sind Sie über Wel­ford ge­kom­men?«, frag­te sie. Er nick­te. »Dann ha­ben Sie viel­leicht mei­nen Va­ter auf der Stra­ße ge­trof­fen?«

»Ich bin nur ei­nem trüb drein­schau­en­den Herrn mitt­le­ren Al­ters be­geg­net, der den Sab­bat ent­weih­te, weil er einen großen brau­nen Kas­ten auf dem Rücken schlepp­te.«

»Wo sind Sie ihm be­geg­net?«, frag­te sie mit In­ter­es­se.

»Es war zwei Mei­len von hier, viel­leicht noch nä­her.« Und dann, als ihn Zwei­fel über­kam, füg­te er hin­zu: »Ich hof­fe, daß ich nicht Ihren Herrn Va­ter be­schrie­ben habe?«

»Ich glau­be schon, daß er es ge­we­sen ist«, sag­te sie ohne Ver­stim­mung. »Papa ist ein Na­tur­for­scher­fo­to­graf. Er nimmt Fil­me von Vö­geln und Din­gen auf, na­tür­lich als Ama­teur.«

Dick trug den Ei­mer nach dem Ort zu­rück, an dem er ihn ge­fun­den hat­te, und ver­weil­te noch zö­gernd. Er such­te nach ei­ner Ent­schul­di­gung für sein Blei­ben und glaub­te sie in dem Gar­ten zu fin­den. Wie weit er je­doch die­ses Ge­sprächsthe­ma hät­te aus­schöp­fen mö­gen, muß blo­ße Ver­mu­tung blei­ben, denn das Ge­spräch wur­de un­ter­bro­chen, ein jun­ger Mann trat aus dem Hau­stor. Er war groß, hübsch, ath­le­tisch ge­baut. Dick schätz­te ihn auf zwan­zig Jah­re.

»Hal­lo, Ella, ist der Va­ter zu­rück?«, be­gann er, und dann sah er den Be­su­cher.

»Mein Bru­der«, stell­te das Mäd­chen vor, und Dick Gor­don war sich des­sen be­wußt, daß er die freie und leich­te Art des Be­kannt­wer­dens sei­nem ju­gend­li­chen Aus­se­hen ver­dank­te. Als un­be­deu­ten­der Jun­ge be­han­delt zu wer­den, hat­te, wie es schi­en, sei­ne Vor­tei­le. »Ich habe ihm ge­sagt, daß man es jun­gen Bur­schen nicht er­lau­ben soll­te, so große Wa­gen zu len­ken«, sag­te Ella. »Erin­nern Sie sich noch an den gräß­li­chen Zu­sam­men­stoß bei der Nor­ham-Kreu­zung?«

Ray Ben­nett ki­cher­te. »Das ge­hört al­les mit zu eu­rer Ver­schwö­rung. Nur da­mit ich kein Mo­tor­rad be­kom­me! Va­ter glaubt näm­lich, daß ich da­mit je­man­den zu Tode fah­ren wür­de, und Ella denkt, ich wür­de selbst da­bei ver­un­glücken.«

In die­sem Au­gen­blick sah Dick den Mann, dem er auf der Land­stra­ße be­geg­net war, her­ein­kom­men. Groß, mit lo­cke­ren Glie­dern, grau und ha­ger von Ant­litz, blick­te er ihm, dem Frem­den, miß­trau­isch aus sei­nen tief­lie­gen­den Au­gen ent­ge­gen.

»Gu­ten Tag«, stieß er kurz her­vor. »Pan­ne ge­habt?«

»Nein, dan­ke. Ich hat­te nur kein Was­ser, und Fräu­lein…«

»Ben­nett«, sag­te der Mann. »Sie hat Ih­nen Was­ser ge­ge­ben? Nun also, gu­ten Mor­gen.« Er trat bei­sei­te, um Gor­don an sich vor­über­zu­las­sen, aber Dick öff­ne­te von in­nen her das Tor und war­te­te, bis der Be­sit­zer von May­tree-Haus her­ein­ge­kom­men war.

»Mein Name ist Gor­don«, sag­te er. »Ich dan­ke Ih­nen noch sehr für Ihre Gast­freund­schaft.«

Mit ei­nem Ni­cken ging der alte Mann, sei­ne schwe­re Last tra­gend, ins Haus. Und Dick wen­de­te sich, fast ver­zwei­felt dar­über, nun ge­hen zu sol­len, an das jun­ge Mäd­chen:

»Sie ir­ren, wenn Sie das Steu­ern des Wa­gens für so schwie­rig hal­ten. Wol­len Sie es ver­su­chen? Oder viel­leicht Ihr Bru­der?« Das Mäd­chen zö­ger­te. Aber der jun­ge Ben­nett sag­te eif­rig:

»Ich wür­de es sehr ger­ne ver­su­chen, ich habe noch nie einen star­ken Wa­gen ge­fah­ren!«

Daß er ihn zu fah­ren ver­moch­te, wenn die Ge­le­gen­heit sich bot, zeig­te er nun. Sie sa­hen zu, wie der Wa­gen um die Ecke glitt, das Mäd­chen mit ei­ner klei­nen Fal­te zwi­schen den Brau­en, Dick al­les au­ßer dem einen ver­ges­send, daß er noch ei­ni­ge Mi­nu­ten in ih­rer Nähe blei­ben konn­te.

»Hät­ten Sie ihn doch nur nicht fah­ren las­sen«, sag­te das Mäd­chen. »Es nützt ei­nem Jun­gen, der sich im­mer nach et­was Bes­se­rem sehnt, nichts, wenn man ihn solch ein schö­nes Auto steu­ern läßt. – Vi­el­leicht ver­ste­hen Sie mich nicht? Ray ist sehr ehr­gei­zig und träumt von Mil­lio­nen. So et­was bringt ihn im­mer ganz au­ßer sich.«

Ihr Va­ter kam in dem Au­gen­blick aus dem Haus, und sein Ge­sicht ver­fins­ter­te sich, als er die bei­den am Tore ste­hen sah. »Sie ha­ben ihn den Wa­gen fah­ren las­sen?«, frag­te er grim­mig. »Es wäre mir lie­ber ge­we­sen, wenn’s nicht ge­sche­hen wäre. Sehr nett von Ih­nen, Herr Gor­don, aber in Rays Fall eine ganz ver­fehl­te Freund­lich­keit.«

»Es tut mir leid«, sag­te Dick reu­ig. »Da kommt er.« Der große Wa­gen kam auf sie zu und hielt vor dem Tor.

»Er ist wun­der­voll!« Ray Ben­nett sprang her­aus und über­flog den Rolls mit ei­nem Blick, in dem Be­dau­ern und Be­wun­de­rung sich meng­ten. »Mein Gott, wenn der mir ge­hör­te!«

»Er ge­hört dir aber nicht«, fiel ihm der Alte ins Wort. Doch dann, als be­reue er sei­ne Hef­tig­keit: »Vi­el­leicht wird dir ei­nes Ta­ges ein gan­zer Wa­gen­park ge­hö­ren, Ray!« Dick trat vor, um sich zu emp­feh­len. Da frag­te der alte Ben­nett zu Dicks freu­di­ger Über­ra­schung: »Wol­len Sie viel­leicht blei­ben und eine ein­fa­che Mahl­zeit mit uns tei­len? Dann wer­den Sie mei­nem un­klu­gen Herrn Sohn auch er­zäh­len kön­nen, daß ein großes Auto zu be­sit­zen nicht im­mer die reins­te der Freu­den ist.« Dicks ers­ter Ein­druck war des Mäd­chens Er­stau­nen. An­schei­nend wur­de er un­ge­wöhn­lich ge­ehrt, was ihm, nach­dem John Ben­nett ge­gan­gen war, be­stä­tigt wur­de.

»Sie sind der ers­te Mensch, den Va­ter je zum Es­sen ein­ge­la­den hat. Nicht wahr, Ray?«, sag­te das Mäd­chen.

Ray lä­chel­te. »Va­ter hält nicht viel von Ge­sel­lig­keit, das stimmt«, sag­te er. »Ich bat ihn neu­lich, Phi­lo John­son zum Wee­kend ein­zu­la­den, aber er ver­warf die­se Idee, noch ehe sie ge­bo­ren war. Da­bei ist der alte Phi­lo­soph ein gu­ter Kerl und der Pri­vat­se­kre­tär des Chefs. – Sie ha­ben doch von den ›Ve­rei­nig­ten Mait­lan­d‹ ge­hört?«

Dick nick­te. Der Mar­mor­pa­last auf dem Strand-Em­bank­ment, in dem der mär­chen­haft rei­che Herr Mait­land sei­ne Bü­ros auf­ge­schla­gen hat­te, war ei­nes der Prunk­ge­bäu­de Lon­d­ons.

»Ich bin Wech­sel­be­am­ter in sei­nem Büro«, sag­te der jun­ge Mann. »Und Phi­lo könn­te sehr viel für mich tun, wenn mein Va­ter mit sei­ner Ein­la­dung her­aus­rücken woll­te. So aber bin ich wohl ver­dammt, mein gan­zes Le­ben lang ein klei­ner An­ge­stell­ter zu blei­ben.«

Die Hand des Mäd­chens leg­te sich auf sei­ne Lip­pen. »Es ist tö­richt, Papa zu ta­deln. Und du wirst si­cher­lich ei­nes schö­nen Ta­ges sehr, sehr reich wer­den.«

Der jun­ge Mann brumm­te un­ter ih­rer Hand und sag­te ein we­nig bit­ter: »Papa hat oh­ne­hin schon je­des ›Wie-wer­de-ich-reich?‹-Sys­tem er­probt, das Men­schen­ver­stand und Geist nur…«

»Nun? Und?« Die Stim­me klang rauh und beb­te vor Zorn. Nie­mand hat­te John Ben­netts Wie­der­kom­men be­merkt. »Du leis­test jede Ar­beit mit Un­wil­len, aber ich – ich ver­su­che seit zwan­zig Jah­ren mich em­por­zu­ar­bei­ten. Es ist wahr, ich habe je­den dum­men Plan er­probt – aber es ist um eu­ret­wil­len ge­sche­hen.« – Er stock­te plötz­lich, als er Gor­d­ons Ver­le­gen­heit be­merk­te. »Ich habe Sie ein­ge­la­den, und nun wa­sche ich die schmut­zi­ge Wä­sche des Hau­ses vor Ih­nen«, sag­te er mit reui­gem Hu­mor. Er nahm Dicks Arm und führ­te ihn den Gar­ten­weg zwi­schen den üp­pig wu­chern­den Buschro­sen hin­durch. »Ich weiß nicht, warum ich Sie zum Blei­ben ein­ge­la­den habe, jun­ger Mann«, sag­te er. »Vi­el­leicht aus Im­puls, viel­leicht auch aus schlech­tem Ge­wis­sen. Ich ver­schaf­fe den jun­gen Leu­ten zu Hau­se nicht all die Ge­sel­lig­keit, die sie ge­nie­ßen soll­ten, und ich sel­ber bin kein be­son­ders gu­ter Ge­sell­schaf­ter für sie. Aber es ist doch zu tö­richt, daß Sie Zeu­ge des ers­ten Fa­mi­li­enzan­kes sein muß­ten, den wir seit Jah­ren hat­ten.« Sei­ne Stim­me und sei­ne Ma­nie­ren wa­ren die des ge­bil­de­ten Man­nes. Dick hät­te von Her­zen ger­ne ge­wußt, wel­chen Be­ruf er hat­te.

Wäh­rend der Mahl­zeit saß Ella Ben­nett zur Lin­ken Dicks. Sie sprach we­nig, und wenn er sie ver­stoh­len an­sah, so hoff­te er heim­lich, es wäre um sei­net­wil­len, daß sie so ver­wirrt und in­ner­lich be­schäf­tigt schi­en. Sie be­dien­te selbst bei Tisch und hat­te eben das Obst auf­ge­tra­gen, als der Alte frag­te: »Ich kann Sie doch nicht für so jung hal­ten, wie Sie aus­se­hen, Herr Gor­don. Wie alt sind Sie wohl?«

»Ich bin schon furcht­bar alt«, sag­te Dick. »Ein­und­drei­ßig.«

»Ein­und­drei­ßig?«, rief Ella er­glü­hend. »Und ich sprach mit Ih­nen, als wä­ren Sie ein Kind!«

»Den­ken Sie, ich sei im Grun­de ein Kind«, sag­te er ernst. »Ob­wohl ich ein Ver­fol­ger von Die­ben und Mör­dern und schlech­ten Cha­rak­teren im all­ge­mei­nen bin. Ich bin Hilfs­di­rek­tor der Staats­an­walt­schaft.«

Das Mes­ser fiel klap­pernd aus Ben­netts Hand, und sein Ge­sicht wur­de weiß.

»Gor­don! Richard Gor­don«, sag­te er hohl. Eine Se­kun­de lang tra­fen sich die Au­gen der bei­den Män­ner. Die kla­ren blau­en und die ver­blaß­ten.

»Ja, so heiß’ ich«, sag­te Gor­don be­herrscht, »und ich bin der Mei­nung, daß Sie und ich schon ir­gend­ein­mal zu­sam­men­ge­trof­fen sind!«

Die blas­sen Au­gen blink­ten nicht. John Ben­netts Ge­sicht war kalt wie eine Mas­ke. »Nicht be­ruf­lich, hof­fent­lich«, sag­te er, und es klang wie eine Her­aus­for­de­rung. Auf dem gan­zen Rück­weg nach Lon­don streng­te Dick ver­geb­lich sein Ge­dächt­nis an, aber er konn­te John Ben­nett von Hors­ham mit kei­nem Ge­scheh­nis in Zu­sam­men­hang brin­gen.

2

Die Ve­rei­nig­ten Mait­lands wa­ren aus ei­nem klei­nen Büro in ver­hält­nis­mä­ßig kur­z­er Zeit zu ih­ren jet­zi­gen pa­la­st­ähn­li­chen Pro­por­tio­nen her­an­ge­wach­sen. Mait­land war ein Mann in vor­ge­rück­ten Jah­ren, pa­tri­ar­cha­lisch im Aus­se­hen und knapp in sei­ner Rede. Er war ohne jede Pro­tek­ti­on nach Lon­don ge­kom­men und war groß ge­wor­den, be­vor Lon­don sei­ner Exis­tenz noch ge­wahr wur­de.

Dick Gor­don sah den Spe­ku­lan­ten zum ers­ten Male, als er in dem mar­mor­prun­ken­den Ves­ti­bül war­te­te. Ein Mann von mitt­ler­er Grö­ße, kräf­tig ge­baut, mit ei­nem Bart, der bis zur Brust reich­te, und Au­gen, die fast un­ter den dich­ten wei­ßen Brau­en ver­bor­gen la­gen. Mit schwe­rem Gang kam er lang­sam aus dem äu­ße­ren Büro, wo etwa zwan­zig Be­am­te un­ter ih­ren grü­nen Lam­pen­schir­men ar­bei­te­ten. Er sah we­der nach rechts noch nach links, stieg in den Lift und ver­schwand.

»Das ist der Alte, ha­ben Sie ihn schon je­mals frü­her ge­se­hen?«, frag­te Ray Ben­nett, der vor ei­nem Au­gen­blick her­aus­ge­kom­men war, um den Be­su­cher zu be­grü­ßen. »Er ist ein ver­eh­rungs­wür­di­ger al­ter Bur­sche, aber so dicht wie eine schall­si­che­re Tür. Sie kön­nen aus ihm kein Geld her­aus­zie­hen, nicht, wenn Sie Dy­na­mit ver­wen­de­ten. Phi­lo zahlt er ein Ge­halt, das man ei­nem durch­schnitt­li­chen Se­kre­tär nicht ein­mal an­zu­bie­ten wag­te, aber Phi­lo ist eine viel zu gut­mü­ti­ge See­le.«

Dick Gor­don fühl­te sich recht un­be­hag­lich. Sei­ne Ge­gen­wart in Mait­lands Haus war ver­wun­der­lich, sei­ne Ent­schul­di­gung für die­sen Be­such so schwach wie nur ir­gend mög­lich. Hät­te er dem ge­schmei­chel­ten jun­gen Mann, den er in den Ge­schäfts­stun­den auf­stör­te, die Wahr­heit of­fen­bart, so wür­de sie ge­lau­tet ha­ben: »Ich habe mich när­risch in Ihre Schwes­ter ver­liebt. Ich bin an Ih­nen selbst nicht be­son­ders in­ter­es­siert, aber ich be­trach­te Sie als Bin­de­glied, das mir zu ei­ner neu­er­li­chen Be­geg­nung ver­hel­fen kann. Des­halb be­nüt­ze ich mei­ne An­we­sen­heit in der Nach­bar­schaft als Aus­re­de für die­sen Be­such, und ich bin so­gar be­reit, Ihren Phi­lo ken­nen­zu­ler­nen, der mich si­cher von Her­zen lang­wei­len wird!«

Statt al­les des­sen aber frag­te er nur: »Wa­rum nen­nen Sie ihn so?«

»Weil er ein al­ter Phi­lo­soph ist. Sein rich­ti­ger Name ist Phil­ipp. Je­der­mann ist Phi­los Freund. Er ge­hört zu der Art von Men­schen, mit de­nen man leicht gut Freund wird.«

Die Tür des Auf­zu­ges öff­ne­te sich in die­sem Au­gen­blick, und Dick Gor­don wuß­te in­tui­tiv, daß der kahl­köp­fi­ge, in mitt­le­ren Jah­ren ste­hen­de Mann mit dem gut­mü­ti­gen Ge­sicht, der nun her­austrat, so­eben Ge­gen­stand ih­rer Dis­kus­si­on ge­we­sen war. Sein run­des, fet­tes Ant­litz wur­de von ei­nem gut­mü­ti­gen Lä­cheln über­strahlt, als er Ray er­kann­te; und nach­dem er ein Bün­del von Do­ku­men­ten ei­nem der An­ge­stell­ten über­ge­ben hat­te, kam er zu ih­nen her­über. »Das ist Gor­don«, stell­te Ray vor, »und das ist mein Freund John­son.«

Phi­lo er­griff warm die aus­ge­streck­te Hand. Warm war ein Wort, das wie kein an­de­res Herrn John­sons We­sen kenn­zeich­ne­te. So­gar Dick Gor­don, der nicht all­zu­schnell be­reit war, sich frem­den Ein­flüs­sen hin­zu­ge­ben, un­ter­lag dem un­mit­tel­ba­ren Ein­druck sei­ner Freund­lich­keit.

»Sie sind Herr Gor­don von der Staats­an­walt­schaft, Ray hat es mir er­zählt«, sag­te er. »Ich wür­de mich freu­en, wenn Sie ei­nes Ta­ges her­kämen, um den al­ten Mait­land ein­zu­ste­cken. Er ist von al­len Män­nern, de­nen ich je be­geg­net bin, si­cher­lich der­je­ni­ge, den Sie am ehe­s­ten ver­fol­gen soll­ten. – Ich muß jetzt ge­hen, er ist heu­te mor­gen in ei­ner schreck­li­chen Lau­ne. Man könn­te glau­ben, die Frösche hüpf­ten hin­ter ihm her.«

Der Spaß kit­zel­te Herrn John­son, er schi­en ge­neigt zu sein, über sei­ne ei­ge­nen Wit­ze zu la­chen.

Mit fröh­li­chem Ni­cken eil­te er in den Lift zu­rück.

»Jetzt muß ich aber auch wie­der hin­ein­ge­hen«, sag­te Ray, und ein fast ängst­li­cher Blick aus sei­nen Au­gen traf Gor­don. »Ich dan­ke Ih­nen, daß Sie Ihr Ver­spre­chen wahr ge­macht und mich be­sucht ha­ben. Ja – ich möch­te gern ein­mal mit Ih­nen zum Lunch ge­hen. Mei­ne Schwes­ter wird si­cher­lich eben­so­gern da­bei­sein. Sie ist oft in der Stadt.«

Sein Ab­schied war has­tig und ein we­nig zer­streut, und Dick trat mit ei­nem Ge­fühl der Be­schä­mung auf die Stra­ße.

Als er in sein Amt zu­rück­kehr­te, fand er einen ver­stört aus­se­hen­den Po­li­zei­chef vor, der auf ihn war­te­te und bei des­sen An­blick Dick blin­zelnd die Au­gen zu­sam­men­kniff. »Nun?«, frag­te er. »Was ist mit Gen­ter?«

Der Po­li­zei­chef mach­te eine Gri­mas­se wie ein Kran­ker, der eine un­an­ge­neh­me Arz­nei her­un­ter­schlu­cken muß. »Sie sind mir ent­wischt«, sag­te er. »Der Frosch kam im Auto an, und dar­auf war ich nicht vor­be­rei­tet. Gen­ter stieg zu ihm ein, und weg wa­ren sie, be­vor ich mir über­haupt klar wur­de, was ge­sche­hen war. Ich bin nicht be­sorgt um ihn, denn Gen­ter hat einen Re­vol­ver, und er ist ein zä­her Bur­sche in schwe­ren Un­ter­neh­mun­gen, aber…«

Gor­don blick­te nach dem Mann und durch ihn hin­durch. »Ich glau­be, Sie hät­ten auf das Auto vor­be­rei­tet sein müs­sen«, sag­te er. »Wenn Sie Gen­ters Bot­schaft für wohl­be­grün­det hiel­ten und er den Fröschen auf der Spur war, wie Sie sag­ten, so hät­ten Sie das Auto er­war­ten müs­sen. Neh­men Sie Platz, Wel­ling­da­le.«

Der grau­haa­ri­ge Mann ge­horch­te. »Ich ver­su­che nicht, mich zu ent­schul­di­gen«, sag­te er. »Die Frösche ha­ben mich über­rum­pelt. Frü­her habe ich sie als einen Spaß be­trach­tet.«

»Es mag sein, daß wir klü­ger wä­ren, wenn wir sie auch jetzt noch als einen Spaß be­trach­te­ten«, mein­te Dick und biß das Ende sei­ner Zi­gar­re ab. »Sie mö­gen nichts sein als ein ver­rück­ter ge­hei­mer Ve­rein. Schließ­lich dür­fen so­gar Stro­mer ihre Ver­eins­lo­ka­le ha­ben, ihre Lo­sungs­wor­te, Grif­fe und Zei­chen.«

Wel­ling­da­le schüt­tel­te den Kopf. »Sie kom­men über den Re­kord der letz­ten sie­ben Jah­re nicht hin­weg«, sag­te er. »Es ist nicht nur die Tat­sa­che, daß je­der zwei­te Stra­ßen­räu­ber, den wir ein­fin­gen, den Frosch auf das Hand­ge­lenk tä­to­wiert hat­te. Das mag blo­ße Nach­ah­mung sein, und auf je­den Fall ha­ben alle Gau­ner von nied­ri­ger Men­ta­li­tät Tä­to­wie­rungs­zei­chen. Aber in die­sen sie­ben Jah­ren hat­ten wir eine Se­rie der un­an­ge­nehms­ten Ver­bre­chen. Zu­erst den An­griff auf den Char­gé d’af­fai­res1 von der Ge­sandt­schaft der Ve­rei­nig­ten Staa­ten, den sie im Hyde-Park nie­der­schlu­gen. Dann den Fall des Prä­si­den­ten der Nor­thern Tra­ding Co., der mit ei­ner Keu­le ge­tö­tet wur­de, als er aus sei­nem Auto in Park-Lane aus­stieg. Dann das große Feu­er, das Roh­gum­mi im Wer­te von vier Mil­lio­nen Pfund in Rauch auf­ge­hen ließ. Es war si­cher­lich das Werk von etwa ei­nem Dut­zend Bom­ben, denn die La­ger­häu­ser be­stan­den aus sechs großen Wa­gen­schup­pen, und je­der ein­zel­ne wur­de gleich­zei­tig an bei­den En­den an­ge­zün­det. Wir fin­gen zwei Leu­te aus der Gum­mi­af­fä­re. Bei­de wa­ren Frösche, bei­de tru­gen das To­tem ih­res Stam­mes. Sie wa­ren Ex-Sträf­lin­ge, und ei­ner von ih­nen gab zu, daß er In­struk­tio­nen ge­habt habe, uni die­se Ar­beit aus­zu­füh­ren; aber er nahm sei­ne Wor­te am nächs­ten Tag so­gleich wie­der zu­rück. Ich habe nie einen ge­ängs­tig­te­ren Mann ge­se­hen als ihn. Ich könn­te noch Dut­zen­de von Fäl­len an­füh­ren. Sie wis­sen, daß Gen­ter jetzt seit zwei Jah­ren auf ih­rer Spur ist. Aber was er in die­sen zwei Jah­ren hat er­dul­den müs­sen, das wis­sen auch Sie nicht. Er hat im Lan­de her­um­va­ga­bun­diert, hat hin­ter He­cken ge­schla­fen, hat sich mit je­der Art von Land­strei­chern be­freun­det und hat mit ih­nen ge­stoh­len und ge­raubt. Als er mir schrieb, daß er mit der Or­ga­ni­sa­ti­on in Ver­bin­dung ge­tre­ten sei und ein­ge­weiht zu wer­den hof­fe, dach­te ich, er sei jetzt nahe dar­an, sie zu fan­gen. Ich habe Gen­ter be­wa­chen las­sen, seit er in die Stadt zu­rück­ge­kom­men ist. Aber der heu­ti­ge Mor­gen hat mich ganz krank ge­macht.«

Dick Gor­don öff­ne­te eine Schub­la­de sei­nes Pul­tes, ent­nahm ihr eine Le­der­map­pe und wen­de­te die Blät­ter um, die sie ent­hielt. Er stu­dier­te sie sorg­fäl­tig, als sehe er sie zum ers­ten Male. In Wahr­heit hat­te er die­se Ge­fan­ge­nen­pro­to­kol­le Jah­re hin­durch fast Tag um Tag ge­prüft. Es wa­ren Hand­ge­lenks­fo­to­gra­fi­en vie­ler Män­ner. Er schloß nach­denk­lich die Le­der­map­pe und leg­te sie in die Schub­la­de zu­rück. Ein paar Mi­nu­ten lang saß er still und trom­mel­te mit den Fin­gern auf den Rand sei­nes Schreib­ti­sches. Ein Schat­ten zog über sei­ne Stirn. »Der Frosch ist im­mer auf das lin­ke Hand­ge­lenk tä­to­wiert, im­mer ein we­nig schief, und im­mer ist ein klei­ner Punkt dar­un­ter ge­setzt«, sag­te er. »Scheint Ih­nen das ir­gend­wie be­mer­kens­wert?« Aber der Ober­in­ten­dant fand kei­nes­wegs et­was Merk­wür­di­ges dar­an.

Ge­schäfts­trä­ger im di­plo­ma­ti­schen Sprach­ge­brauch.  <<<

3

Es dun­kel­te be­reits, als zwei Land­strei­cher, die das Dorf Mor­by um­gan­gen hat­ten, wie­der auf die Post­stra­ße ka­men. Die Um­ge­hung des Or­tes war für sie ein mü­he­vol­les und an­stren­gen­des Un­ter­neh­men ge­we­sen, denn der Re­gen, der den gan­zen Tag hin­durch ge­fal­len war, hat­te die ge­pflüg­ten Fel­der in zähe brau­ne Moor­stre­cken ver­wan­delt, wo­durch die Fuß­wan­de­rung zu ei­ner Ge­dulds­pro­be wur­de.

Der eine der Land­strei­cher war groß, un­ra­siert, schä­big. Er trug den ver­schos­se­nen brau­nen Rock bis zum Kinn zu­ge­knöpft, den nie­der­hän­gen­den, ein­ge­drück­ten Hut auf den Hin­ter­kopf zu­rück­ge­scho­ben. Mit ihm ver­gli­chen, schi­en sein Ge­fähr­te nur von klei­nem Wuchs, ob­gleich er über mit­tel­groß und ein wohl­ge­wach­se­ner, breit­schult­ri­ger Mann war. Wäh­rend sie so auf der leh­mi­gen Land­stra­ße da­hin­stapf­ten, spra­chen sie kein Wort. Der klei­ne­re Mann blieb zwei­mal ste­hen und sah in der zu­neh­men­den Dun­kel­heit um­her, als ob er nach ei­nem Ver­fol­ger aus­spä­he. Und ein­mal er­griff er des großen Man­nes Arm und zog ihn hin­ter die Bü­sche, die die Land­stra­ße be­grenz­ten. Dies ge­sch­ah, als un­ter Ge­tö­se und Auf­sprit­zen des nas­sen Schlam­mes ein Auto an ih­nen vor­bei­ras­te. Nach ei­ner Wei­le bo­gen sie von der Stra­ße ab, über­quer­ten ein Feld und ka­men an den Rand ei­nes un­be­bau­ten Land­stückes, über den eine alte Wa­gen­spur führ­te.

»Jetzt sind wir bald da«, brumm­te der klei­ne­re Mann, und der an­de­re grunz­te sei­ne Zu­stim­mung. Trotz all sei­ner an­schei­nen­den Gleich­gül­tig­keit nah­men sei­ne Au­gen jede Ein­zel­heit der Sze­ne­rie auf: ein ein­sa­mes Ge­bäu­de am Ho­ri­zont, das wie eine Scheu­ne aus­sah Graf­schaft Es­sex, wie er nach der Num­mer­be­zeich­nung des Au­tos ver­mu­ten muß­te, die er ver­merkt hat­te, als der Wa­gen an ihm vor­beis­aus­te. Un­be­bau­tes Land, wahr­schein­lich zu ei­ner nicht mehr in Be­trieb ste­hen­den Lehm­gru­be füh­rend, oder war es ein Stein­bruch? Nahe dem Tor, durch das die Wa­gen­spur lief, war an ei­nem wack­li­gen Pfos­ten ein al­tes An­kün­di­gungs­brett be­fes­tigt. Es war zu fins­ter, um die ver­wisch­te In­schrift zu le­sen, aber er er­kann­te das Wort: »Kalk«. – Kalk­stein? – Es wür­de ein leich­tes sein, dies spä­ter zu er­grün­den. Die ein­zi­ge Ge­fahr für ihn be­stand nur in der mög­li­chen Über­zahl der Frösche. Un­ter dem Schutz sei­nes Über­rockes fühl­te er nach dem Brow­ning und ließ ihn in sei­ne äu­ße­re Ta­sche glei­ten. Hil­fe gab es nicht, und er er­war­te­te sie auch nicht. Car­lo hat­te ihn im Weich­bild der City in sein elen­des Auto auf­ge­nom­men und hat­te ihn kreuz und quer durch den Re­gen ge­fah­ren, in­dem er Ne­ben­stra­ßen folg­te und Städ­te und Dör­fer ver­mied, so daß Gen­ter, wäre sein Platz auch an der Sei­te des Fah­rers ge­we­sen, sich nicht hät­te zu­recht­fin­den kön­nen. Aber er war in die Fins­ter­nis des klei­nen Wa­gens ge­setzt wor­den und hat­te nichts ge­se­hen. Wel­ling­da­le und des­sen Beo­b­ach­ter, die ihn be­wacht hat­ten, wa­ren auf das Auto nicht vor­be­rei­tet ge­we­sen. Ein Va­ga­bund mit ei­nem Auto war eine Un­ge­heu­er­lich­keit. Er selbst, Gen­ter, war zu­rück­ge­zuckt, als der Wa­gen beim Geh­steig an­hielt, wo er war­tend ge­stan­den hat­te, und Car­los Stim­me zi­schel­te: »Steig ein!« Sie über­quer­ten nun den Kamm ei­ner mit Un­kraut über­wu­cher­ten An­hö­he. Un­ter sich sah Gen­ter ver­ros­te­te Ei­sen­kar­ren, durch­ein­an­der­ge­wor­fe­ne Ei­sen­bahn­schie­nen, da­zwi­schen tie­fe, re­gen­ge­füll­te Sprenglö­cher. Jen­seits, auf der schar­fen Li­nie des Stein­bruch­ran­des, stand eine win­zi­ge Holz­hüt­te, und zu die­ser lenk­te Car­lo sei­ne Schrit­te.

»Ner­vös, was?«, frag­te er, und es klang wie Spott in sei­ner Stim­me. »Nicht sehr«, sag­te der an­de­re kühl. »Ver­mut­lich sind die Frösche in der Bude da drun­ten?« Car­lo lach­te lei­se.

»Es sind kei­ne da«, sag­te er. »Nur der Frosch al­lein. Er kommt vom Stein­bruch her­auf. Es ist da eine Trep­pe un­ter der Hüt­te. Gu­ter Ein­fall, was? Die Hüt­te hängt ge­ra­de über dem Ab­grund, und die Stu­fen kann man nicht ein­mal se­hen, wenn man sich auf dem Bauch vor­schiebt und über den Rand hin­un­ter­schaut. Ich habe es ein­mal ver­sucht. Die wer­den ihn nie fan­gen, nicht wenn sie Mil­lio­nen von Spit­zeln schi­cken!«

»Nun, und wenn sie den Stein­bruch um­stel­len wür­den?«, mein­te Gen­ter. Aber der Mann wehr­te ab.

»Du glaubst doch nicht, daß er es nicht weiß, wenn er ge­fan­gen wer­den soll? Er weiß al­les, der Frosch.« Er sah auf des an­dern Man­nes Hand her­ab. »Weh wird’s nicht sehr tun«, sag­te er. »Und es steht da­für. Du wirst nie mehr ohne Kol­le­gen sein, Har­ry. Wenn du in eine Pat­sche kommst, zieht dich der ers­te Ad­vo­kat ’raus. Wir su­chen sol­che Bur­schen, wie du ei­ner bist, es gibt so mas­sen­haft klei­ne Ha­lun­ken, die we­gen so ganz klei­ner Sa­chen sich schon ein­bil­den, daß sie zu uns ge­hö­ren. Aber du wirst große Ar­beit ma­chen, und wenn du für ihn et­was Be­son­de­res zu tun hast, setzt es Hun­der­te und Hun­der­te von Pfun­den für dich. Wenn du krank wirst, oder du bist hung­rig oder so, so wer­den die Frösche zu dir kom­men und dir hel­fen. Das ist doch schön, gelt?«

Gen­ter schwieg. Sie wa­ren jetzt etwa zwölf Schrit­te von der Hüt­te ent­fernt, ei­nem star­ken Ge­bäu­de, aus kräf­ti­gem Bau­holz ge­zim­mert, mit ei­ner Tür und ei­nem ge­schlos­se­nen Fens­ter­la­den. Der Mann, der sich Car­lo nann­te, mach­te Gen­ter ein Zei­chen, zu ver­wei­len. Er sel­ber ging vor­wärts und klopf­te an die Tür. Gen­ter sah, wie der Mann min Fens­ter trat und des­sen La­den um ei­nes Zol­les Brei­te sich öff­ne­te. Es schi­en ein lan­ges Ge­spräch im Flüs­ter­ton zu fol­gen, dann kam Car­lo zu­rück.

»Er hat ge­sagt, daß er Ar­beit für dich hat, die dir Tau­sen­de ein­brin­gen kann. Du hast wirk­lich Glück! Kennst du Ro­che-More?« Gen­ter nick­te. Er kann­te die­se Vor­stadt der Ari­sto­kra­ten.

»Es wohnt ein Mann dort, der um die Ecke ge­bracht wer­den soll. Er kommt jede Nacht mit dem 11:50-Zug aus sei­nem Klub und geht zu Fuß nach Hau­se. Er steigt eine dunkle Stra­ße an, und mit ei­nem Knüt­tel kann man ihn ganz ohne Mühe er­wi­schen. Bloß ein Schlag, und es ist aus mit ihm. Das heißt noch nicht tö­ten, ver­stehst du?«

»Wa­rum will er aber, daß ich das tu?«, frag­te der große Va­ga­bund neu­gie­rig. Die Er­klä­rung, die er er­hielt, war lo­gisch.

»Alle Neu­en müs­sen et­was tun, um ih­ren Mut zu be­wei­sen. Also was meinst du dazu?«

Gen­ter hat­te nicht ge­zö­gert. »Wird be­sorgt!«, sag­te er.

Car­lo kehr­te zum Fens­ter zu­rück und hieß sei­nen Ge­fähr­ten nach­fol­gen.

»Bleib hier ste­hen und steck den lin­ken Arm durchs Fens­ter«, sag­te er.

Gen­ter streif­te die Man­schet­te sei­nes durch­näß­ten Är­mels zu­rück und streck­te sei­nen nack­ten Arm durch die Spal­te. Sei­ne Hand wur­de mit fes­tem Griff er­faßt, und so­gleich fühl­te er, wie et­was Wei­ches und Nas­ses sich ge­gen sein Hand­ge­lenk preß­te. – Ein Gum­mi­stem­pel, dach­te er und wapp­ne­te sich ge­gen den Schmerz, der nun fol­gen muß­te. Er kam wie das schnel­le pri­ckeln­de Ste­chen von tau­send Na­deln. Dann ließ der Griff nach, Gen­ter riß sei­ne Hand zu­rück und starr­te ver­wun­dert auf die ver­wisch­te Zeich­nung von Tin­te und Blut, die der Tä­to­wie­ren­de auf sei­ner Hand zu­rück­ge­las­sen hat­te.

»Wisch es nicht ab!«, sag­te eine er­stick­te Stim­me aus der Fins­ter­nis der Hüt­te her. »Und jetzt kannst du her­ein­kom­men.«

Der Fens­ter­la­den schloß sich und wur­de von in­nen ver­rie­gelt, dann kam das Knar­ren ei­nes Schlüs­sels, der sich im Schloß dreh­te, und die Tür öff­ne­te sich. Gen­ter trat in die pech­schwar­ze Fins­ter­nis ein und ver­nahm, daß die Tür der Hüt­te von dem un­sicht­ba­ren In­sas­sen ver­rie­gelt wur­de.

»Dei­ne Num­mer ist K 971«, sag­te die hoh­le Stim­me, »und wenn du sie in den Per­so­nal­nach­rich­ten der Ti­mes siehst, so be­rich­test du hier­her, wo im­mer du auch bist. Nimm das…«

Gen­ter streck­te sei­ne Hand aus, und ein Brief­um­schlag wur­de in sie ge­legt. Es war, als ob der ge­heim­nis­vol­le Frosch selbst in die­ser Fins­ter­nis zu se­hen ver­möch­te.

»Das ist dein Rei­se­geld und eine Land­kar­te der Ge­gend. Wenn du das Geld für dich ver­brauchst oder nicht dort­hin kommst, wo man dei­ner be­darf, wird man dich tö­ten. Hast du mich ver­stan­den?«

»Ja­wohl.«

»Du wirst wei­te­res Geld er­hal­ten, das du für dei­ne Aus­ga­ben ver­wen­den kannst. Hör mich jetzt an. In Ro­che-More, Nr. 7, Park Ave­nue, wohnt Hall­well Jo­nes, der Ban­kier.«

Er moch­te ge­fühlt ha­ben, daß der Neu­ling über­rascht zu­sam­men­fuhr. »Du kennst ihn?«

»Ja, ich habe vor Jah­ren für ihn ge­ar­bei­tet«, sag­te Gen­ter. Er zog sei­nen Brow­ning aus der Ta­sche und mach­te mit dem Dau­men die Si­che­rung los.

»Zwi­schen heu­te und Frei­tag muß er nie­der­ge­schla­gen wer­den. Du brauchst ihn aber nicht zu tö­ten. Wenn es ge­schieht, so macht es nichts aus. Aber ich ver­mu­te, daß sein Schä­del zu hart sein…«

Gen­ter hat­te nun fest­ge­stellt, wo der Mann stand, da sei­ne Au­gen sich an das Dun­kel zu ge­wöh­nen be­gan­nen. Sei­ne Hand griff plötz­lich zu und er­faß­te den Arm des Fro­sches.

»Ich habe eine Pis­to­le«, sag­te er zwi­schen den Zäh­nen. »Ich bin In­spek­tor Gen­ter von der Po­li­zei­di­rek­ti­on, und wenn du dich zur Wehr setzt, so töte ich dich.«

Eine Se­kun­de lang herrsch­te To­ten­stil­le. Dann fühl­te Gen­ter, wie die Hand, die die Pis­to­le hielt, mit schrau­ben­glei­chem Griff um­faßt wur­de. Er schlug mit der an­dern Faust zu, aber der Mann bück­te sich, und der Schlag fuhr in die Luft. Dann wur­de die Pis­to­le mit un­er­träg­li­cher Dre­hung aus Gen­ters Hand ge­wun­den, und er kam mit sei­nem Ge­fan­ge­nen in ein Hand­ge­men­ge. Da­bei be­rühr­te sein Ge­sicht das des Fro­sches. War es eine Mas­ke, die je­ner trug? Er spür­te die kal­ten Glim­mer­bril­lenglä­ser auf sei­ner Wan­ge. Dies er­klär­te die er­stick­te Stim­me. So kräf­tig Gen­ter auch war, er konn­te sich aus den ihn um­klam­mern­den Ar­men doch nicht be­frei­en, und sie schwank­ten in der furcht­ba­ren Fins­ter­nis hin und her. Plötz­lich hob der Frosch den Fuß, und um dem vor­aus­ge­se­he­nen Stoß zu ent­ge­hen, mach­te Gen­ter eine hef­ti­ge Wen­dung. Das Sp­lit­tern von ge­bro­che­nem Glas ward hör­bar, und ein schar­fer, kal­ter, durch­drin­gen­der Ge­ruch drang auf den De­tek­tiv ein. Er ver­such­te, tief zu at­men, aber er mein­te zu er­sti­cken, und sei­ne Arme fie­len schlaff und macht­los her­ab.

Der Frosch hielt die ge­beug­te Ge­stalt eine Mi­nu­te lang, dann ließ er sie zu Bo­den fal­len.

Am Mor­gen fand die Lon­do­ner Po­li­zei­pa­trouil­le In­spek­tor Gen­ter im Gar­ten ei­nes lee­ren Hau­ses lie­gend und rief die Ret­tungs­ge­sell­schaft an.

Aber ein Mann, der mit kon­zen­trier­ten Blau­säu­re­dämp­fen ver­gif­tet wor­den ist, stirbt schnell. Zehn Mi­nu­ten, nach­dem der Frosch den Glas­zy­lin­der, den er für ähn­li­che Not­fäl­le in der Hüt­te vor­be­rei­tet hielt, zer­bro­chen hat­te, war Gen­ter eine Lei­che.

4

Auf der gan­zen Welt gab es kei­nen De­tek­tiv, der we­ni­ger nach ei­nem Po­li­zei­of­fi­zier, und ei­nem recht klu­gen Po­li­zei­of­fi­zier, aus­sah als Elk. Er war groß und ha­ger, und eine et­was krum­me Hal­tung ver­stärk­te noch den Ein­druck sei­ner Küm­mer­lich­keit. Sei­ne Klei­der schie­nen schlecht zu pas­sen und hin­gen mehr an ihm her­un­ter, als daß sie ihn klei­de­ten. Win­ters und som­mers trug er einen schmut­zi­gen reh­far­be­nen Über­zie­her, der un­ver­än­der­lich zu­ge­knöpft blieb, und den glei­chen gelb­brau­nen An­zug trug er seit je­der­manns Ge­den­ken. Wenn Re­gen fiel, dann glänz­te sein schwar­zer stei­fer Hut vor Näs­se; aber Elk spann­te den Re­gen­schirm nicht auf, der schlecht ge­wi­ckelt und plump an sei­nem Arm hing. Nie­mals hat­te je­mand die­sen Ge­brauchs­ge­gen­stand ge­öff­net ge­se­hen. Elks lei­chen­far­bi­ges Ge­sicht trug un­ent­wegt den Aus­druck tiefs­ter Düs­ter­keit, und sei­ne Vor­ge­setz­ten fan­den sei­nen Ein­fluß de­pri­mie­rend, denn sei­ne Zu­kunfts­aus­sich­ten wur­den durch sein Miß­ge­schick bei der Be­för­de­rung be­ein­träch­tigt. Zehn­mal hat­te er sich zur Prü­fung ge­mel­det, und zehn­mal hat­te er un­wei­ger­lich bei dem­sel­ben Ge­gen­stand – Ge­schich­te – ver­sagt. Dick Gor­don, der Elk bes­ser als des­sen un­mit­tel­ba­ren Vor­ge­setz­ten kann­te, ver­mu­te­te, daß die­ses Miß­ge­schick ihn gar nicht so sehr be­küm­mer­te, als man an­nahm. Dick ent­deck­te so­gar einen düs­te­ren Stolz in Elks Un­fä­hig­keit den his­to­ri­schen Da­ten ge­gen­über, und ein­mal, in ei­nem Au­gen­blick er­staun­li­cher Ver­trau­ens­se­lig­keit, hat­te Elk ihm ge­stan­den, daß die Be­för­de­rung nur zum Hin­der­nis ei­nes Man­nes mit be­schränk­ter Er­zie­hung wer­den kön­ne.

»Die ar­men Sün­der ha­ben auf Er­den kei­ne Ruhe«, seufz­te Elk und nahm auf dem an­ge­bo­te­nen Ses­sel Platz. »Ich dach­te, Herr Gor­don, ich wür­de we­nigs­tens nach mei­ner Rei­se nach den USA Fe­ri­en von Ih­nen be­kom­men.«

»Lie­ber Elk, ich möch­te wo­mög­lich al­les über Lola Bassa­no er­fah­ren«, sag­te Dick. »Wer ihre Freun­de sind, warum sie sich so plötz­lich an Ray Ben­nett an­ge­schlos­sen hat, der ein klei­ner Be­am­ter bei den Ve­rei­nig­ten Mait­lands ist. Be­son­ders aber, warum sie ihn ges­tern nacht an der Ecke von St. Ja­mes Squa­re ab­ge­holt und nach Hors­ham ge­fah­ren hat. Ich sah sie durch Zu­fall, als ich aus mei­nem Klub kam, und folg­te ih­nen. Sie sa­ßen fast zwei Stun­den in ih­rem Wa­gen, un­ge­fähr hun­dert Me­ter von Ben­netts Haus ent­fernt, und spra­chen mit­ein­an­der. Ich stand im Re­gen hin­ter dem Wa­gen und lausch­te. Wenn er ihr den Hof ge­macht hät­te, so hät­te ich es ver­stan­den. Aber sie re­de­ten und re­de­ten nur von Geld. Und da­bei hat der jun­ge Ben­nett kei­nen Pfen­nig in der Ta­sche.«

Elk rauch­te ge­dan­ken­voll. »Ben­nett hat eine Schwes­ter«, sag­te er plötz­lich zu Dicks Er­stau­nen. »Sie ist sehr hübsch, aber der alte Ben­nett ist be­stimmt ir­gend­ei­ne Art von Gau­ner. Er leis­tet kei­ne re­gel­mä­ßi­ge Ar­beit, son­dern bleibt manch­mal ta­ge­lang fort und sieht merk­wür­dig schlecht aus, wenn er zu­rück­kommt.«

»Sie ken­nen die Fa­mi­lie?«

Elk nick­te. »Der alte Ben­nett in­ter­es­siert mich. Ir­gend je­mand hat über sei­nen ver­däch­ti­gen Le­bens­wan­del schon be­rich­tet. Die Lo­kal­po­li­zei hat ja nichts zu tun, als Lämm­chen zu hü­ten, und sieht na­tür­lich je­den, der kein Lämm­chen ist, als ver­däch­ti­gen Cha­rak­ter an. Ich habe den al­ten Ben­nett be­ob­ach­tet, bin aber sei­nen Hand­lun­gen nie auf den Grund ge­kom­men. Er hat eine Men­ge der son­der­bars­ten Be­ru­fe ge­habt. Jetzt hat er sich auf Bild­auf­nah­men ge­wor­fen. Ich wür­de wirk­lich et­was da­für ge­ben, zu er­fah­ren, was sein wirk­li­cher

Be­ruf ist. Re­gel­mä­ßig ein­mal im Mo­nat, manch­mal zwei­mal, manch­mal noch öf­ter, ver­schwin­det er, und man kann ihn nicht auf­fin­den. Ich habe je­den Stro­mer in Lon­don nach ihm ge­fragt, aber sie sind alle ge­nau­so rat­los ver­blüfft dar­über wie ich. Lew Bra­dy hat sich auch für ihn in­ter­es­siert. Er haßt Ben­nett. Vor Jah­ren mach­te er sich an den al­ten Mann her­an und ver­such­te aus ihm her­aus­zu­brin­gen, was für ein Spiel er treibt. Aber Ben­nett hat es ihm heim­ge­zahlt.«

»Der alte Mann?«, frag­te Dick un­gläu­big.

»Ja­wohl! Er ist stark wie ein Stier. – Also, ich wer­de Lola be­su­chen. Sie ist kein schlech­tes Mä­del, aber mir per­sön­lich sa­gen Vam­pi­re nicht zu. Also, Gen­ter ist tot? Hal­ten Sie den Frosch auch da­bei für be­tei­ligt?«

»Ohne Zwei­fel«, sag­te Dick auf­se­hend. »Und hier, Elk, ist ei­ner der Leu­te, die ihn um­brach­ten.«

Er ging ans Fens­ter und beug­te sich hin­aus. Der Mann, den er durch Mi­nu­ten be­ob­ach­tet hat­te, war plötz­lich ver­schwun­den. »Wo?«, frag­te Elk hin­ter ihm.

»Er ist jetzt eben fort. Ich…« Im glei­chen Mo­ment zer­brach das in­ne­re Fens­ter und die zer­stie­ben­den Glass­plit­ter ver­letz­ten sein Ge­sicht. In der nächs­ten Se­kun­de riß Elk ihn hef­tig zu­rück. »Vom Dach der Onslow-Gär­ten«, sag­te Dick ru­hig.

»Der Schüt­ze hat ein Dut­zend Wege, um zu ent­wi­schen, die Feu­er­lei­ter nicht aus­ge­nom­men. Es ge­schieht zum zwei­ten Male, daß sie heu­te bei hel­lem Ta­ges­licht hin­ter mir her sind. Als ich nach Hau­se zu­rück­kehr­te, war es das ers­te Mal. Ein ge­ra­de­zu ge­nia­ler Ver­such, mich mit ei­nem leich­ten Auto zu über­fah­ren. Das ver­damm­te Ding er­klet­ter­te so­gar den Geh­steig.«

»Ha­ben Sie sich die Num­mer ge­merkt?«

»10 L 19741. – Es gibt kei­ne sol­che Num­mer im Re­gis­ter, und der Fah­rer war weg, be­vor ich ir­gend et­was un­ter­neh­men konn­te, um ihn auf­zu­hal­ten.«

Elk kratz­te sich am Kinn und be­trach­te­te den ju­gend­li­chen Staats­an­walt mit zwei­feln­dem Blick. »Das klingt ja sehr in­ter­essant. Ich habe bis­her viel zu­we­nig auf die Frösche ge­ach­tet. Heut­zu­ta­ge sind ge­hei­me Ge­sell­schaf­ten so üb­lich, daß je­des­mal, wenn mir ein Herr die Hand schüt­telt, er mich ent­täuscht an­sieht, wenn ich nicht mein Ohr zup­fe oder mit dem Fuß auf­stamp­fe. Eine Räu­ber­ban­de von großem For­mat habe ich im­mer als et­was an­ge­se­hen, wo­von man nur in auf­re­gen­den Ro­ma­nen liest. Ich kann nicht dar­an glau­ben.«

Elk nahm Ab­schied und ging auf dem größt­mög­li­chen Um­weg nach Scot­land Yard zu­rück, an­schei­nend ein ar­beits­lo­ser klei­ner An­ge­stell­ter mit schlecht­ge­roll­tem Re­gen­schirm und ver­bo­ge­ner Stahl­bril­le. Er schlen­der­te nach Tra­fal­gar Squa­re, stand ge­dan­ken­voll still und kehr­te wie­der um. Dem Büro des Staats­an­wal­tes ge­gen­über hat­te ein lan­ger Stra­ßen­ver­käu­fer mit ei­nem klei­nen Trag­brett vol­ler Zünd­hölz­chen, Schlüs­sel­rin­gen, Blei­stif­ten und den tau­sen­der­lei Klei­nig­kei­ten, die sol­che Leu­te ver­kau­fen, Pos­ten ge­faßt. Sei­ne Wa­ren wa­ren im Au­gen­blick mit ei­nem re­gen­nas­sen Wachs­tuch be­deckt.

Elk hat­te ihn frü­her nie be­merkt und wun­der­te sich, warum der Mann einen so un­güns­ti­gen Stand­punkt ge­wählt hat­te, denn das Ende der Onslow-Gär­ten, der win­digs­te Punkt in Whi­te­hall, ist auch an schö­nen Ta­gen nicht der Ort, an dem der ei­li­ge Fuß­gän­ger sich ver­wei­len wür­de, um einen Ge­gen­stand zu er­ste­hen. Der Händ­ler trug einen schä­bi­gen Re­gen­man­tel, der bis zu den Stie­fel­ab­sät­zen reich­te. Sein wei­cher Filz­hut war tief in die Stirn ge­zo­gen, aber Elk sah das Ge­sicht, das an einen Raub­vo­gel ge­mahn­te, und blieb ste­hen.

»Gu­ter Ver­dienst?«

»Ne-in.«

Elk war so­fort ge­fes­selt. Die­ser Mann war Ame­ri­ka­ner und woll­te sei­ne Auss­pra­che ver­stel­len, um als Cock­ney zu gel­ten. Die un­mög­lichs­te Auf­ga­be, die je ein Ame­ri­ka­ner un­ter­nom­men hat, denn das Wei­ner­li­che und die Be­to­nung des ech­ten Lon­do­ners sind un­nach­ahm­lich.

»Sie sind Ame­ri­ka­ner? Aus wel­chem Staat?«

»Ge­or­gia«, war die Ant­wort, und dies­mal mach­te der Hau­sie­rer kei­nen Ver­such mehr, sei­ne Spra­che zu ver­stel­len. »Ich bin auf ei­nem Vieh­damp­fer wäh­rend des Krie­ges her­über­ge­kom­men.«

Elk streck­te die Hand aus. »Laß mich mal dei­ne Li­zenz se­hen, Bru­der«, sag­te er.

Ohne Zö­gern wies der Mann den ge­schrie­be­nen Po­li­zei­er­laub­nis­schein vor, der ihn zum Stra­ßen­ver­kauf er­mäch­tig­te. Er lau­te­te auf den Na­men »Jos­hua Broad« und war in Ord­nung.

»Sie sind nicht aus Ge­or­gia«, sag­te Elk, »aber das macht nichts. Sie sind aus Hamps­hi­re oder Massa­chu­setts.«

»Connec­ti­cut, um ganz ge­nau zu sein«, sag­te der an­de­re kühl. »Aber ich habe in Ge­or­gia ge­wohnt. Brau­chen Sie kei­nen Schlüs­sel­ring?« In sei­nen Au­gen zeig­te sich ein be­lus­tig­tes Zwin­kern.

»Nein, ich habe nie einen Schlüs­sel be­ses­sen, habe nie et­was Ein­schlie­ßens­wer­tes ge­habt«, sag­te Elk und be­fin­ger­te die Sa­chen auf dem Brett. »Das ist aber kein gu­ter Platz hier.«

»Nein«, sag­te der Hau­sie­rer, »zu nahe bei Scot­land Yard, Herr Elk.«

Elk warf einen ra­schen Blick auf den Mann.

»Wo­her ken­nen Sie mich?«

»Das tun doch die meis­ten. Nicht?«, frag­te der Mann un­schul­dig. Elk mus­ter­te den Hau­sie­rer von den Soh­len sei­ner star­ken Schu­he bis zu dem durch­weich­ten Hut und ging mit ei­nem Ni­cken wei­ter. Der Händ­ler sah dem De­tek­tiv nach, bis die­ser au­ßer Sicht war, dann be­fes­tig­te er das Wachs­tuch wie­der über sei­nem Trag­brett, schnall­te es fest zu und ging in der Rich­tung, die Elk ein­ge­schla­gen hat­te, wei­ter.

Als Ray Ben­nett aus Mait­lands Haus trat, um zum Mit­ta­ges­sen zu ge­hen, sah er einen schä­bi­gen und schwer­mü­tig aus­se­hen­den Mann an der Ecke des Geh­stei­ges ste­hen, der ihm aber nur einen flüch­ti­gen Blick schenk­te. Er kann­te Elk nicht, und ihm fiel auch nicht auf, daß er von je­nem in das klei­ne Wirts­haus ver­folgt wur­de, wo Phi­lo John­son und er ihr be­schei­de­nes Es­sen ein­zu­neh­men pfleg­ten. Der Beo­b­ach­ter wür­de Ray si­cher­lich sonst un­ter kei­nen Um­stän­den ent­gan­gen sein; aber in sei­ner heu­ti­gen Ge­müts­ver­fas­sung hat­te er kei­nen an­dern Ge­dan­ken als den an sich selbst und an das be­lei­di­gen­de Ge­ha­be des al­ten, rü­bezahl­bär­ti­gen Mait­land.

»Der alte Teu­fel«, sag­te er, als er ne­ben John­son ein­her­ging. »Ei­nen zehn­pro­zen­ti­gen Ge­halts­ab­zug zu ma­chen und da­mit ge­ra­de bei mir an­zu­fan­gen! Und die Mor­gen­zei­tun­gen schrei­ben heu­te, daß er für das ›Nord-Spi­tal‹ fünf­tau­send Pfund ge­spen­det hat.«

»Er ist ein wohl­tä­ti­ger Bur­sche, aber was den Ab­zug be­trifft, so woll­te er Sie ein­fach los­wer­den«, sag­te John­son fröh­lich. »Was nützt das Schel­ten? Der Han­del liegt da­nie­der, und die Bör­se ist to­ter als Pto­le­mä­us. Der Alte woll­te Sie ab­bau­en. Er mein­te, Sie sei­en ir­gend­wie über­flüs­sig. Aber wenn Sie doch dar­über die idea­le­re Sei­te des Le­bens nicht ver­ges­sen woll­ten, Ray?«

»Idea­le­re Sei­te!«, schnaub­te der jun­ge Mann, und sein Ge­sicht wur­de rot wie Mohn. »Ich habe das Ge­halt ei­nes klei­nen Jun­gen, und ich brau­che ent­setz­lich viel Geld, Phi­lo.«

Phi­lo seufz­te, und dies­mal be­wölk­te sich sein gut­mü­ti­ges Ge­sicht. »Wenn ich so den­ken wür­de wie Sie, so müß­te ich ver­rückt wer­den oder zu­min­dest ein großer Ver­bre­cher. Ich ver­die­ne kaum fünf­zig Pro­zent mehr als Sie, und doch ver­traut mir der alte Herr Hun­dert­tau­sen­de an. Die Kunst, glück­lich zu sein«, sag­te er, in­dem er sei­nen Tel­ler fort­schob und eine Zi­ga­ret­te an­zün­de­te, »be­steht dar­in, kei­ne Be­dürf­nis­se zu ha­ben. Dann er­hält man im­mer mehr, als man nö­tig hat. – Wie geht es Ih­rer Schwes­ter?«

»Dan­ke, gut«, sag­te Ray gleich­gül­tig. »Ella hat die glei­che Ver­an­la­gung wie Sie. Es ist leicht, die Sor­gen an­de­rer Leu­te als Phi­lo­soph zu be­trach­ten. – Wer ist denn die­ser merk­wür­di­ge Mensch?«, füg­te er hin­zu, als ein Mann an dem Tisch, der dem ih­ri­gen ge­gen­über­lag, Platz nahm. Phi­lo, der ein we­nig kurz­sich­tig war, setz­te sein Glas auf.

»Das ist Elk, ei­ner von Scot­land Yard«, sag­te er und lach­te dem Neu­an­kömm­ling zu. Ein Wie­de­rer­ken­nen, das zu Rays Ar­ger und Un­be­ha­gen den küm­mer­li­chen Mann an ih­ren Tisch her­an­brach­te.

»Mein Freund, Herr Ben­nett – In­spek­tor Elk.«

»Ser­geant«, ver­bes­ser­te Elk fest. »Das Schick­sal war in An­ge­le­gen­hei­ten der Be­för­de­rung im­mer grau­sam ge­gen mich. Wa­rum ein Mann die Die­be leich­ter er­wi­schen soll, wenn er weiß, wann Wa­shing­ton ge­bo­ren wur­de oder wann Na­po­le­on Bo­na­par­te ge­stor­ben ist, habe ich nie be­grif­fen. – Es­sen Sie je­den Tag hier, Herr Ben­nett?«

Ray nick­te.

»Ich glau­be Ihren Herrn Va­ter zu ken­nen, John Ben­nett aus Hors­ham?«

Ray stand in Verzweif­lung auf, ent­schul­dig­te sich mit Zeit­man­gel und ließ die bei­den al­lein.

»Ein hüb­scher jun­ge«, nick­te Elk und sah Ray Ben­nett lan­ge nach.

5

Elk be­glei­te­te John­son in sein Büro zu­rück, und als sie sich dem Bank­pa­last der Ve­rei­nig­ten Mait­lands nä­her­ten, brach Herr John­son mit­ten in der in­ter­essan­ten Dar­le­gung sei­ner Phi­lo­so­phie ab und be­schleu­nig­te den Schritt. Elk sah auf dem Geh­steig vor ih­nen Ray Ben­nett und ne­ben ihm die schma­le Ge­stalt ei­nes Mäd­chens. Sie wen­de­te den bei­den Män­nern den Rücken zu, aber Elk er­riet so­gleich, daß es Ella Ben­nett war. Er hat­te sie zwei­mal vor­her ge­se­hen und be­saß ein wun­der­ba­res Ge­dächt­nis für Rücken­li­ni­en. Als John­son auf sie zu­streb­te, so ei­lig, wie es der be­leib­te Mann nur ver­moch­te, grüß­te Ella ihn mit ei­nem ra­schen freund­li­chen Ni­cken.

»Das ist ein un­er­war­te­tes Ver­gnü­gen, Fräu­lein Ben­nett.« John­sons ge­müt­li­ches Ge­sicht er­blüh­te ro­sig, und Elk stell­te fest, daß sein Hand­schlag noch wär­mer und herz­li­cher war als sonst.

»Ich woll­te heu­te gar nicht in die Stadt kom­men, aber Va­ter ist wie­der auf ei­nem sei­ner Aus­flü­ge weg«, sag­te sie. »Und ganz ko­misch – wenn ich nicht ge­nau wüß­te, daß sein Zug schon vor zwei Stun­den ab­ge­fah­ren ist, so wür­de ich schwö­ren, ihn so­eben auf ei­nem Au­to­bus ge­se­hen zu ha­ben.«

»Mein Freund, Herr Elk«, stell­te John­son ein we­nig un­ge­schickt vor.

»Es freut mich, Sie ken­nen­zu­ler­nen, Fräu­lein Ben­nett«, sag­te Elk und ge­wahr­te Rays Ar­ger über dies neu­er­li­che Zu­sam­men­tref­fen mit ei­ner Be­frie­di­gung, die bei ei­nem fröh­li­che­ren Men­schen ge­ra­de­zu in Hei­ter­keit aus­ge­ar­tet wäre. Ray ver­ab­schie­de­te sich von al­len, und Ella sprach zu ih­rem Bru­der noch ein lei­ses Wort. Elk sah, wie der Jun­ge die Stirn run­zel­te.

»Nein, nein, ich wer­de nicht mehr so spät kom­men«, sag­te er so laut, daß der De­tek­tiv es hör­te. Er zog den Hut und war schon im Tor ver­schwun­den. Ella sah ihm mit ei­nem klei­nen schmerz­li­chen Mund­zu­cken nach, dann raff­te sie sich zu­sam­men, reich­te John­son die Hand, grüß­te Elk mit ei­nem lei­sen Nei­gen ih­res Haup­tes und ging.

»Ha­ben Sie Fräu­lein Ben­nett schon ge­kannt?«

»Ober­fläch­lich«, ant­wor­te­te Elk mür­risch. »Ober­fläch­lich ken­ne ich fast je­den. Gute und schlech­te Leu­te. Je bes­ser sie sind, de­sto we­ni­ger kenn’ ich sie. Auf Wie­der­se­hen!«

Als John­son die Trep­pe zu Mait­lands Haus hin­auf­stieg, schlen­der­te Elk ziel­los fort. Er über­quer­te die Stra­ße und blieb ste­hen, um sich eine Zi­ga­ret­te an­zu­zün­den. Es war vier Uhr, und ein Taxi hielt vor der Tür der Ve­rei­nig­ten Mait­lands und war­te­te. Elk sah we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter den al­ten Mait­land her­aus­kom­men, has­tig, we­der rechts noch links bli­ckend. Elk be­trach­te­te ihn mit mehr als dem ge­wöhn­li­chen In­ter­es­se. Er kann­te den Finan­zier vom Se­hen her und hat­te zwei oder drei Be­su­che im Büro ge­macht, die mit ein paar klei­nen, von Auf­war­te­frau­en be­gan­ge­nen Dieb­stäh­len in Ver­bin­dung stan­den. So war er auch mit Phi­lo John­son be­kannt ge­wor­den, denn der alte Mann hat­te die Un­ter­re­dung sei­nem An­ge­stell­ten über­las­sen. Elk schätz­te Mait­land auf fast sieb­zig Jah­re, und zum ers­ten Male über kam ihn die Neu­gier, wo er woh­nen moch­te. Es kam ihm als eine merk­wür­di­ge Tat­sa­che zum Be­wußt­sein, daß er nicht das ge­rings­te über den Finan­zier wuß­te und daß Mait­land die ein­zi­ge der Stadt­grö­ßen war, über die nichts in den Zei­tun­gen ge­schrie­ben wor­den war.

Als das Auto da­von­fuhr, konn­te Elk dem An­reiz nicht wi­der­ste­hen und wink­te einen zwei­ten Wa­gen her­an.

»Ver­fol­gen Sie das Auto!«, sag­te er. Und der Fah­rer nick­te ohne Fra­ge, denn es gab kei­nen Chauf­feur in den Stra­ßen von Lon­don, der den me­lan­cho­li­schen Po­li­zei­mann nicht ge­kannt hät­te. Der ers­te Wa­gen fuhr schnell in der Rich­tung nach Lon­don-Nord und hielt bei ei­nem be­leb­ten Stra­ßenk­no­ten­punkt in Fins­bu­rypark. Mait­land stieg aus und eil­te um die Ecke, eine be­leb­te­re Stra­ße ent­lang, und Elk folg­te ihm auf den Fer­sen. Der Alte ging eine klei­ne Stre­cke, dann stieg er in einen Stra­ßen­bahn­wa­gen. Elk sprang hin­ter ihm auf, als der Wa­gen sich eben in Be­we­gung setz­te. Der Alte fand einen Platz, zog eine ver­knüll­te Zei­tung aus der Ta­sche und be­gann zu le­sen. Der Wa­gen lief die Se­ven-Sis­ters-Road hin­un­ter nach Tot­ten­ham, und hier stieg Herr Maid­land aus.

Er bog in ein Sei­ten­gäß­chen, über­quer­te die Stra­ße, kam in eine en­ge­re und noch ge­rin­ge­re Gas­se, und dann – zu Elks na­men­lo­sem Er­stau­nen – schloß er die ei­ser­ne Tür ei­nes dunklen und schmut­zi­gen Hau­ses auf, trat ein und warf sie hin­ter sich zu.

Der De­tek­tiv blick­te die Stra­ße hin­auf und hin­un­ter. Sie war von ar­men Kin­dern be­völ­kert. Elk be­trach­te­te das Haus noch­mals und glaub­te sei­nen Au­gen nicht trau­en zu dür­fen.

Die Fens­ter wa­ren schmut­zig, die Vor­hän­ge hin­gen in Fet­zen, der win­zi­ge Vor­hof war ver­nach­läs­sigt. – Und dies war das Haus Ezra Mait­lands, des Man­nes, der für ein Spi­tal von Lon­don fünf­tau­send Pfund ge­spen­det hat­te, das Haus des Herr­schers über Mil­lio­nen.

Elk faß­te einen Ent­schluß und klopf­te an die Tür. Lan­ge kam kei­ne Ant­wort, dann ward das Schlur­fen von Fü­ßen, die in Pan­tof­feln steck­ten, hör­bar, und eine alte Frau mit krank­haft gel­bem Ge­sicht öff­ne­te die Tür.

»Ver­zei­hen Sie«, sag­te Elk. »Ich glau­be, der Herr, der ge­ra­de hin­ein­ge­gan­gen ist, hat dies hier fal­len las­sen.« Er zog ein Ta­schen­tuch her­vor, und sie starr­te es einen Au­gen­blick lang an. Dann streck­te sie wort­los die Hand aus, zog es ihm weg und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Das war das letz­te mei­ner gu­ten Ta­schen­tü­cher, dach­te Elk bit­ter. Er hat­te einen Blick in das In­ne­re des Hau­ses ge­wor­fen. Ein trüb aus­se­hen­der Gang, mit ei­nem Strei­fen ver­bli­che­nen Tep­pichs be­legt, war zu se­hen ge­we­sen. Er ent­schloß sich, weg­zu­ge­hen und ei­ni­ge Zeu­gen­ver­hö­re an­zu­stel­len.

»Mait­land oder Main­land, das weiß ich nicht ge­nau«, sag­te ein Kauf­mann, der an der Ecke sein Ge­schäft hat­te. »Der alte Herr geht je­den Tag um neun Uhr weg und kommt im­mer uni die­sel­be Stun­de wie heu­te zu­rück. Ich kann nicht sa­gen, wer er ist. Aber das eine weiß ich: es­sen tun sie nicht viel. Er kauft alle sei­ne Wa­ren bei mir ein; aber das al­les, wo­von die bei­den Leu­te einen Tag lang le­ben, könn­te ein ge­sun­des Kind bei ei­ner ein­zi­gen Mahl­zeit leicht ver­zeh­ren.«

Elk kehr­te nie­der­ge­schla­gen nach dem Wes­ten der Stadt zu­rück. Der Geiz­hals war eine ge­wöhn­li­che Fi­gur in der Li­te­ra­tur, und man traf ihn auch im wirk­li­chen Le­ben un­se­rer Tage; aber der alte Mait­land muß­te wohl ein Erz­geiz­hals sein, und Elk be­schloß, der An­ge­le­gen­heit sei­ne wei­te­re Auf­merk­sam­keit zu wid­men.

Doch schi­en es ihm für den Au­gen­blick an­ge­brach­ter, alle sei­ne Kräf­te auf die­se in­ter­essan­te jun­ge Dame, Fräu­lein Lola Bassa­no, zu kon­zen­trie­ren. In ei­ner je­ner mo­der­nen Stra­ßen, die von Ca­ven­dish Squa­re aus­lau­fen, gibt es eine Rei­he von Ap­par­te­ments, die nur von rei­chen Mie­tern be­wohnt wer­den. Der Zins ist auch für je­nes ex­klu­si­ve Vier­tel ganz be­son­ders hoch be­mes­sen, und Elk, den man nicht leicht zu über­ra­schen ver­moch­te, war ein we­nig aus dem Gleich­ge­wicht ge­bracht, als er sah, daß Lola Bassa­no in die­sem lu­xu­ri­ösen Ge­bäu­de eine Flucht von Zim­mern in­ne­hat­te.

Der Lift­boy, dem Elk mit reich­li­cher Be­rech­ti­gung ein we­nig ver­däch­tig vor­kam, be­rich­te­te ihm, daß Fräu­lein Bassa­no im drit­ten Stock woh­ne.

»Wie lan­ge wohnt sie hier?«, frag­te Elk.

»Das geht Sie nichts an«, ant­wor­te­te der Lift­boy, »dort ist der Ein­gang für Lie­fe­ran­ten.«

»Es wür­de mich in­ter­es­sie­ren«, brumm­te Elk, »zu er­fah­ren, ob und wo­mit Leu­te wie Sie ei­gent­lich zu den­ken ver­mö­gen?« Ein Aus­bruch der Em­pö­rung schi­en sich bei dem Lift­boy vor­zu­be­rei­ten.

»Se­hen Sie ein­mal her«, sag­te Elk, und beim An­blick sei­nes Ab­zei­chens wur­de der Mann höf­li­cher und mit­teil­sa­mer.

»Sie wohnt seit zwei Mo­na­ten hier«, sag­te er. »Und um Ih­nen die Wahr­heit zu ge­ste­hen, es hat mich oft ge­wun­dert, daß sie die Woh­nung in Ca­ver­ley-Haus be­kom­men hat. Wie ich ge­hört habe, hat sie ein­mal einen Spiel­klub in der Ger­myn­stra­ße ge­habt. Sie sind doch nicht ge­kom­men, um sie zu ver­haf­ten?«, frag­te er ängst­lich. »Das wäre ein schö­nes Re­nom­mee für Ca­ver­ley-Haus.«

»Ich ma­che nur einen freund­schaft­li­chen Be­such«, sag­te Elk. Der Lift­boy trat aus dem Auf­zug und wies nach ei­ner der bei­den glat­ten Ma­ha­go­ni­tü­ren, die auf den Flur mün­de­ten.

»Die an­de­re Woh­nung ge­hört ei­nem ame­ri­ka­ni­schen Mil­lio­när.«

Elk war im Be­griff zu ant­wor­ten, als der Lift­boy zur Tür ging und auf ei­nes der po­lier­ten Pa­nee­le deu­te­te. »Das ist doch son­der­bar«, sag­te er. »Da, schau­en Sie ein­mal her!«

Elk trat ne­ben ihn, und mit ei­nem Blick er­faß­te und ver­stand er. Auf der Ma­ha­go­ni­ta­fel war ein klei­ner wei­ßer Frosch sicht­bar, ein ge­nau­es Stem­pel­bild des­je­ni­gen, den er heu­te mor­gen auf Dick Gor­d­ons Fo­to­gra­fi­en ge­se­hen hat­te.

Ein Frosch, kau­ernd und ein we­nig schief. Er rühr­te mit spit­zem Fin­ger dar­an. Die Far­be war noch naß und blieb haf­ten.

Aber dann be­gab sich das merk­wür­digs­te al­ler Din­ge. Plötz­lich öff­ne­te sich die Tür, und ein Mann mitt­le­ren Al­ters er­schi­en in ih­rem Rah­men. Mit dem lang­läu­fi­gen Re­vol­ver in sei­ner Hand ziel­te er auf das Herz des De­tek­tivs.

»Hal­ten Sie die Hän­de hoch!«, be­fahl er scharf.

Dann stock­te er und starr­te dem De­tek­tiv ins Ge­sicht. Elk er­wi­der­te sprach­los den Blick, denn der ele­gan­te Herr, der vor ihm stand, war der Hau­sie­rer, den er in Whi­te­hall ge­spro­chen hat­te. Der Ame­ri­ka­ner ge­wann als ers­ter die Selbst­be­herr­schung zu­rück, und Elk sah von neu­em das Auf­blit­zen in­ne­rer Be­lus­ti­gung in sei­nen Au­gen. Er trat zu­rück und öff­ne­te die Tür ganz. »Kom­men Sie her­ein, Herr Elk«, sag­te er und nick­te dem ver­blüff­ten Lift­boy zu. »Schon gut, Worth, ich habe mir einen klei­nen Scherz mit Herrn Elk er­laubt.«

Er schloß die Tür und ließ den De­tek­tiv in sei­nen Sa­lon ein­tre­ten. Elk be­schloß, den Frosch an der Tür zum Ge­gen­stand ei­ner spä­te­ren Dis­kus­si­on zu ma­chen.

»Wir sind ganz al­lein, Herr Elk, und Sie brau­chen nicht lei­se zu spre­chen. Darf ich Ih­nen eine Zi­gar­re an­bie­ten?« Elk streck­te me­cha­nisch die Hand aus und wähl­te eine blon­de Ha­van­na.

»Wenn ich mich nicht sehr irre, so ha­ben wir uns schon heu­te mor­gen ge­se­hen«, sag­te er.

»Sie täu­schen sich nicht«, un­ter­brach der an­de­re ihn kühl. »Wir ha­ben uns in Whi­te­hall ge­trof­fen, und ich habe mit Schlüs­sel­rin­gen hau­siert. Mein Name ist Jos­hua Broad. Sie kön­nen mir also nicht vor­wer­fen, daß ich un­ter falschem Na­men ge­han­delt habe.«

Der De­tek­tiv zün­de­te die Zi­gar­re an und tat ei­ni­ge Züge, be­vor er sprach.

»Die­se Woh­nung scheint recht kost­spie­lig zu sein«, sag­te er lang­sam. »Und ich ver­ste­he es, daß Sie ver­su­chen, et­was zu ver­die­nen. Aber es dünkt mich, daß das Hau­sie­ren mit Schlüs­sel­rin­gen ei­nem Ge­schäfts­mann nur recht arm­se­li­ge Ver­dienst­mög­lich­kei­ten bie­ten kann.«

Jos­hua Broad nick­te.

»Es macht mir aber Spaß, Herr Elk. Ich bin eine Art von Kri­mi­nal­psy­cho­lo­ge.« Er zün­de­te sei­ner­seits eine Zi­gar­re an und mach­te es sich in ei­nem tie­fen, kat­tun­über­zo­ge­nen1 Arm­ses­sel be­quem, die ge­kreuz­ten Bei­ne von sich stre­ckend, ein ver­kör­per­tes Bild der Zufrie­den­heit.

»Als Ame­ri­ka­ner habe ich In­ter­es­se an so­zia­len Pro­ble­men, und ich habe im­mer ge­fun­den, daß der ein­zi­ge Weg, um die Ar­men ir­gend­ei­nes Lan­des zu ver­ste­hen, der ist, un­ter ih­nen zu le­ben.« Sein Ton war leicht ent­schul­di­gend, aber ganz selbst­si­cher.