Der Frosch mit der Maske (Kult-Krimi) - Edgar Wallace - E-Book

Der Frosch mit der Maske (Kult-Krimi) E-Book

Edgar Wallace

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  • Herausgeber: e-artnow
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Dieses eBook: "Der Frosch mit der Maske (Kult-Krimi)" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Seit Jahren versetzt der unheimlich maskierte Chef einer Verbrecherbande, der sogenannte "Frosch mit der Maske", London in Angst und Schrecken. Weder Inspektor Elk noch seinem Assistenten Sergeant Balder ist es bisher gelungen, den furchterregenden Verbrecher und seine Bande zu fassen. Nach einem erneuten Juwelenraub und der Ermordung eines Kriminalbeamten, der versucht hatte, sich in die Froschbande einzuschleichen, interessiert sich auch Richard Gordon, der Neffe von Scotland Yard-Chef Sir Archibald, für den Fall. Edgar Wallace (1875-1932), war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Wallace gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.

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Edgar Wallace

Der Frosch mit der Maske (Kult-Krimi)

e-artnow, 2016 Kontakt: [email protected] ISBN 978-80-268-7210-8

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Das Heißwerden des Kühlers traf mit dem Platzen eines Autoreifens zusammen. Und das nächste Zusammentreffen war, daß dies alles in der Nachbarschaft des Maytree-Hauses auf der Landstraße nach Horsham geschah. Das Landhaus war größer als die meisten dieser Art. Es hatte eine holzverzierte Fassade und ein Strohdach. Richard Gordon stand vor der Gartentür still, um es zu bewundern. Das Haus stammte noch aus der Elisabethanischen Epoche. Aber sein Interesse und seine Bewunderung waren nicht nur die eines Altertumsliebhabers.

Nein – obgleich er Blumen als ein richtiger Blumenfreund liebte und dieser weite Garten wie ein Teppich dalag, war es doch nicht der Duft der Provencerosen, der ihn gefangennahm. Es war auch nicht das Gefühl von Gemütlichkeit und Sauberkeit, das dieser Ort ausströmte, nicht dieser gescheuerte, mit roten Ziegeln bepflasterte Weg, der zum Haus führte, nicht die schneeweißen Vorhänge hinter den bleigefaßten Fensterscheiben.

Es war das Mädchen im rotbezogenen Korbsessel, das seinen Blick fesselte. Sie saß inmitten einer kleinen Rasenfläche, im Schatten eines Maulbeerbaumes, die wohlgeformten jungen Glieder ausgestreckt, ein Buch in der Hand, eine große Schachtel Bonbons zur Seite. Ihr Haar hatte die Farbe alten Goldes, aber eines Goldes, das Leben und Glanz bewahrt hat. Sie zog die Beine hastig an und erhob sich.

»Es tut mir leid, Sie zu stören«, entschuldigte sich Dick, den Hut in der Hand. »Aber ich brauche Wasser für meinen armen Wagen.«

»Wenn Sie mit mir hinter das Haus kommen wollen, werde ich Ihnen den Brunnen zeigen«, antwortete sie. Die Schönheit ihrer Stimme kam ihm sogleich zum Bewußtsein. Es war ein Alt, auf den alle Adjektive angewendet werden konnten, die die Wärme, Weichheit, Klangfülle und Süßigkeit einer Stimme zu kennzeichnen vermögen. Er folgte und hätte gerne gewußt, wer sie war. Sie hatte eine kleine patronisierende Färbung in der Stimme, die er wohl verstand. Es war der Ton eines erwachsenen Mädchens einem Jüngling ihres Alters gegenüber. Dick, der dreißig Jahre alt war und mit seinem glatten Knabengesicht wie achtzehn aussah, hatte diesen »Kleinen-Jungen-Ton« schon früher gehört und war immer durch ihn belustigt worden.

»Hier sind die Eimer, und da ist der Brunnen«, sagte sie. »Ich würde Ihnen ein Mädchen zur Hilfe schicken, aber wir haben keins, haben nie eins gehabt und werden wohl nie eins bekommen.«

»Da ist aber ein armes Mädchen um einen besonders guten Posten gekommen«, sagte Dick, »denn ich finde es hier entzückend.«

Sie schwieg, und während sie ihm beim Füllen der Eimer zusah, hatte er den Eindruck der verschlossenen Gleichgültigkeit von ihrer Seite. Aber als er die Eimer zum Auto auf der Landstraße trug, folgte sie ihm nach. Sie ging um den großen gelben Rolls Royce herum und prüfte ihn mit Neugier.

»Fürchten Sie sich nicht, einen so schweren Wagen allein zu fahren?« fragte sie. »Ich würde mich zu Tode fürchten. Er ist so gewaltig und so schwer zu handhaben.«

Dick richtete sich auf. »Angst?« rühmte er sich lachend. »Das ist ein Wort, das ich aus dem Lexikon meiner Jugend gestrichen habe.«

Eine Sekunde lang war sie verwirrt, dann lachte sie wie er.

»Sind Sie über Welford gekommen?« fragte sie. Er nickte. »Dann haben Sie vielleicht meinen Vater auf der Straße getroffen?«

»Ich bin nur einem trüb dreinschauenden Herrn mittleren Alters begegnet, der einen großen braunen Kasten schleppte.«

»Wo sind Sie ihm begegnet?« fragte sie mit Interesse.

»Es war zwei Meilen von hier, vielleicht noch näher.« Und dann, als ihn Zweifel überkam, fügte er hinzu: »Ich hoffe, daß ich nicht Ihren Herrn Vater beschrieben habe?«

»Ich glaube schon, daß er es gewesen ist«, sagte sie ohne Verstimmung. »Papa ist ein Naturforscherfotograf. Er nimmt Filme von Vögeln und anderes auf, natürlich als Amateur.«

Dick trug die Eimer nach dem Ort zurück, an dem er sie gefunden hatte, und verweilte noch zögernd. Er suchte nach einer Entschuldigung für sein Bleiben und glaubte, sie in dem Garten zu finden. Wie weit er jedoch dieses Gesprächsthema hätte ausschöpfen mögen, muß bloße Vermutung bleiben, denn eine Unterbrechung des Gespräches trat in Gestalt eines jungen Mannes aus dem Haustor. Er war groß, hübsch, athletisch gebaut. Dick schätzte ihn auf zwanzig Jahre.

»Hallo, Ella, ist Vater zurück?« fragte er.

»Mein Bruder«, stellte das Mädchen vor, und Dick Gordon war sich dessen bewußt, daß er die freie und leichte Art des Bekanntwerdens seinem jugendlichen Aussehen verdankte. Als unbedeutender Junge behandelt zu werden, hatte, wie es schien, seine Vorteile. »Ich habe ihm gesagt, daß man es jungen Burschen nicht erlauben sollte, so große Wagen zu lenken«, sagte Ella. »Erinnern Sie sich noch an den gräßlichen Zusammenstoß bei der Norham-Kreuzung?«

Ray Bennett kicherte. »Das gehört alles mit zu eurer Verschwörung. Nur damit ich kein Motorrad bekomme! Vater glaubt nämlich, daß ich damit jemanden zu Tode fahren würde, und Ella denkt, ich würde selbst dabei verunglücken.«

In diesem Augenblick sah Dick den Mann, dem er auf der Landstraße begegnet war, hereinkommen. Groß, mit lockeren Gliedern, grau und hager, blickte er ihm mißtrauisch entgegen.

»Guten Tag«, stieß er kurz hervor. »Panne gehabt?«

»Nein. Ich hatte nur kein Wasser, und Fräulein –«

»Bennett«, sagte der Mann. »Sie hat Ihnen Wasser gegeben? Nun also, guten Morgen.« Er trat beiseite, um Gordon an sich vorüber zu lassen, aber Dick öffnete von innen her das Tor und ließ den Besitzer von Maytree-Haus hereinkommen.

»Mein Name ist Gordon«, sagte er. »Ich danke Ihnen noch sehr für Ihre Gastfreundschaft.«

Mit einem Nicken ging der alte Mann, seine schwere Last tragend, ins Haus. Und Dick wendete sich, fast verzweifelt darüber, nun gehen zu sollen, an das junge Mädchen:

»Sie irren, wenn Sie das Steuern des Wagens für so schwierig halten, wollen Sie es versuchen? Oder vielleicht Ihr Bruder?« Das Mädchen zögerte. Aber der junge Bennett sagte eifrig:

»Ich würde es sehr gerne versuchen, ich habe noch nie einen starken Wagen gefahren!«

Daß er ihn zu fahren vermochte, wenn die Gelegenheit sich bot, zeigte er nun. Sie sahen zu, wie der Wagen um die Ecke glitt, das Mädchen mit einer kleinen Falte zwischen den Brauen, Dick alles außer dem einen vergessend, daß er noch einige Minuten in ihrer Nähe zu bleiben vermochte.

»Hätten Sie ihn doch nur nicht fahren lassen«, sagte das Mädchen. »Es nützt einem Jungen, der sich immer nach etwas Besserem sehnt, nichts, wenn man ihn solch ein schönes Auto steuern läßt. – Vielleicht verstehen Sie mich nicht? Ray ist sehr ehrgeizig und träumt von Millionen. So etwas bringt ihn immer ganz außer sich.«

Ihr Vater kam in dem Augenblick aus dem Haus, und sein Gesicht verfinsterte sich, als er die beiden am Tor stehen sah. »Sie haben ihn den Wagen fahren lassen?« sagte er grimmig. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn's nicht geschehen wäre.«

»Es tut mir leid«, sagte Dick ruhig. »Da kommt er!« Der große Wagen kam auf sie zu und hielt vor dem Tor.

»Er ist wundervoll!« Ray Bennett sprang heraus und überflog den Rolls mit einem Blick, in dem Bedauern und Bewunderung sich mengten. »Mein Gott! Wenn der mir gehörte!«

»Er gehört dir aber nicht«, fiel ihm der Alte ins Wort. Doch dann, als würde er seine Heftigkeit bereuen: »Vielleicht wird dir eines Tages ein ganzer Wagenpark gehören, Ray!« Dick trat vor, um sich zu empfehlen. Da fragte der alte Bennett zu Dicks freudiger Überraschung: »Wollen Sie vielleicht bleiben und eine einfache Mahlzeit mit uns teilen? Dann werden Sie meinem unklugen Herrn Sohn auch erzählen können, daß ein großes Auto zu besitzen nicht immer die reinste der Freuden ist.« Dicks erster Eindruck war des Mädchens Erstaunen. Anscheinend wurde er ungewöhnlich geehrt, was ihm, nachdem John Bennett gegangen war, bestätigt wurde.

»Sie sind der erste Mensch, den Vater je zum Essen eingeladen hat, nicht wahr, Ray?« sagte das Mädchen.

Ray lächelte. »Vater hält nicht viel von Geselligkeit, das stimmt«, sagte er. »Ich bat ihn neulich, Philo Johnson zum Weekend einzuladen, aber er verwarf diese Idee, noch ehe sie geboren war. Dabei ist der alte Philosoph ein guter Kerl und der Privatsekretär des Chefs. – Sie haben doch von den ›Vereinigten Maitlands‹ gehört?«

Dick nickte. Der Marmorpalast auf dem Strand-Embankment, in dem der märchenhaft reiche Herr Maitland seine Büros aufgeschlagen hatte, war eines der Prunkgebäude Londons.

»Ich bin Börsenbeamter in seinem Büro«, sagte der junge Mann. »Und Philo könnte sehr viel für mich tun, wenn mein Vater mit seiner Einladung herausrücken wollte. So aber bin ich wohl verdammt, mein ganzes Leben lang ein kleiner Angestellter zu bleiben.«

Die Hand des Mädchens legte sich auf seine Lippen. »Es ist töricht, Papa zu tadeln. Und du wirst sicherlich eines schönen Tages sehr, sehr reich werden.«

Der junge Mann brummte unter ihrer Hand und sagte ein wenig bitter: »Papa hat ohnehin schon jedes ›Wie–werde–ich– reich‹–System erprobt, das Menschenverstand und Geist nur –«

»Nun? Und?« Die Stimme klang rauh und bebte vor Zorn. Niemand hatte John Bennetts Wiederkommen bemerkt. »Du leistest jede Arbeit mit Unwillen, aber ich – ich versuche seit zwanzig Jahren mich emporzuarbeiten. Es ist wahr, ich habe jeden dummen Plan erprobt – aber es ist um euretwillen geschehen...« Er stockte plötzlich, als er Gordons Verlegenheit bemerkte. »Ich habe Sie eingeladen, und nun wasche ich die schmutzige Wäsche des Hauses vor Ihnen«, sagte er mit reuigem Humor. Er nahm Dicks Arm und führte ihn den Gartenweg zwischen den üppig wuchernden Buschrosen hindurch. »Ich weiß nicht, warum ich Sie zum Bleiben eingeladen habe, junger Mann«, sagte er. »Vielleicht ein Impuls, vielleicht auch mein schlechtes Gewissen. Ich verschaffe den jungen Leuten zu Hause nicht all die Geselligkeit, die sie genießen sollten, und ich selbst bin kein besonders guter Gesellschafter für sie. Aber es ist doch zu töricht, daß Sie Zeuge des ersten Familienzankes sein mußten, den wir seit Jahren hatten.« Seine Stimme und seine Manieren waren die des gebildeten Mannes. Dick hätte von Herzen gern gewußt, welchen Beruf er hatte.

Während der Mahlzeit saß Ella Bennett Dick zur Linken. Sie sprach wenig, und wenn er sie verstohlen ansah, so hoffte er heimlich, es wäre um seinetwillen, daß sie so verwirrt und innerlich beschäftigt schien. Sie bediente selbst bei Tisch und hatte eben das Obst aufgetragen, als der Alte fragte: »Ich kann Sie doch nicht für so jung halten, wie Sie aussehen, Herr Gordon. Wie alt sind Sie wohl?«

»Ich bin schon furchtbar alt«, sagte Dick. »Einunddreißig.«

»Einunddreißig?« rief Ella erglühend, »und ich sprach mit Ihnen, als wären Sie ein Kind!«

»Denken Sie, ich sei im Grunde ein Kind«, sagte er ernst. »Obwohl ich ein Verfolger von Dieben und Mördern und schlechten Charakteren im allgemeinen bin. Ich bin Hilfsdirektor der Staatsanwaltschaft.«

Das Messer fiel klappernd aus Bennetts Hand, und sein Gesicht wurde weiß.

»Gordon! Richard Gordon«, sagte er hohl. Eine Sekunde lang trafen sich die Augen der beiden Männer.

»Ja, so heiß' ich«, sagte Gordon beherrscht, »und ich bin der Meinung, daß Sie und ich schon irgendeinmal zusammengetroffen sind!«

Die blassen Augen blinkten nicht. John Bennetts Gesicht war kalt wie eine Maske. »Nicht beruflich, hoffentlich«, sagte er, und es klang wie eine Herausforderung. Auf dem ganzen Rückweg nach London strengte Dick vergeblich sein Gedächtnis an, aber er konnte John Bennett von Horsham mit keinem Geschehnis in Zusammenhang bringen.

2

Inhaltsverzeichnis

Die Vereinigten Maitlands waren aus einem kleinen Büro in verhältnismäßig kurzer Zeit zu ihren jetzigen palastähnlichen Proportionen herangewachsen. Maitland war ein Mann in vorgerückten Jahren, patriarchalisch im Aussehen und knapp in seiner Rede. Er war ohne jede Protektion nach London gekommen und war groß geworden, bevor London seiner Existenz noch gewahr wurde.

Dick Gordon sah den Spekulanten zum ersten Male, als er in dem marmorprunkenden Vestibül wartete. Ein Mann von mittlerer Größe, kräftig gebaut, mit einem Bart, der bis zur Brust reichte, und Augen, die fast unter den dichten weißen Brauen verborgen lagen. Mit schwerem Gang kam er langsam aus dem äußeren Büro, wo etwa zwanzig Beamte unter ihren grünen Lampenschirmen arbeiteten. Er sah weder nach rechts noch nach links, stieg in den Lift und verschwand.

»Das ist der Alte, haben Sie ihn schon jemals früher gesehen?« fragte Ray Bennett, der vor einem Augenblick herausgekommen war, um den Besucher zu begrüßen. »Er ist ein verehrungswürdiger alter Bursche, aber so dicht wie eine schallsichere Tür. Sie können aus ihm kein Geld herausziehen, und wenn Sie Dynamit verwendeten. Philo zahlt er ein Gehalt, das man einem durchschnittlichen Sekretär nicht einmal anzubieten wagen würde, aber Philo ist eine viel zu gutmütige Seele.«

Dick Gordon fühlte sich recht unbehaglich. Seine Gegenwart in Maitlands Haus war verwunderlich, seine Entschuldigung für diesen Besuch so schwach wie nur irgend möglich. Hätte er dem geschmeichelten jungen Mann, den er in den Geschäftsstunden aufstörte, die Wahrheit offenbart, so würde sie gelautet haben: »Ich habe mich närrisch in Ihre Schwester verliebt. Ich bin an Ihnen selbst nicht besonders interessiert, aber ich betrachte Sie als Bindeglied, das mir zu einer neuerlichen Begegnung verhelfen kann. Deshalb benütze ich meine Anwesenheit in der Nachbarschaft als Ausrede für diesen Besuch, und ich bin sogar bereit, Ihren Philo kennenzulernen, der mich sicher von Herzen langweilen wird!«

Statt all dem aber sagte er nur: »Warum nennen Sie ihn so?«

»Weil er ein alter Philosoph ist. Sein richtiger Name ist Philipp. Jeder Mann ist Philos Freund. Er gehört zu der Art von Menschen, mit denen man leicht gut Freund wird.«

Die Tür des Aufzuges öffnete sich in diesem Moment, und Dick Gordon wußte intuitiv, daß der kahlköpfige, in mittleren Jahren stehende Mann mit dem gutmütigen Gesicht, der nun heraustrat, soeben Gegenstand ihrer Diskussion gewesen war. Sein rundes fettes Antlitz wurde von einem gutmütigen Lächeln überstrahlt, als er Ray erkannte, und nachdem er ein Bündel von Dokumenten einem der Angestellten übergeben hatte, kam er zu ihnen herüber. »Das ist Gordon«, stellte Ray vor, »und das ist mein Freund Johnson.«

Philo ergriff warm die ausgestreckte Hand. Warm war ein Wort, das wie kein anderes Herrn Johnsons Wesen kennzeichnete. Sogar Dick Gordon, der nicht allzu schnell bereit war, sich fremden Einflüssen hinzugeben, unterlag dem unmittelbaren Eindruck seiner Freundlichkeit.

»Sie sind Herr Gordon von der Staatsanwaltschaft, Ray hat es mir erzählt«, sagte er. »Ich würde mich freuen, wenn Sie eines Tages herkämen, um den alten Maitland einzustecken. Er ist von allen Männern, denen ich je begegnet bin, sicherlich derjenige, den Sie am ehesten verfolgen sollten. – Ich muß jetzt gehen, er ist heute morgen in einer schrecklichen Laune. Man könnte glauben, die Frösche hüpften hinter ihm her.«

Mit fröhlichem Nicken eilte er in den Lift zurück. »Jetzt muß ich aber auch wieder hineingehen«, sagte Ray, und ein fast ängstlicher Blick aus seinen Augen traf Gordon. »Ich danke Ihnen, daß Sie Ihr Versprechen wahrgemacht und mich besucht haben. Ja – ich möchte gern einmal mit Ihnen zum Lunch gehen. Meine Schwester wird sicherlieh ebensogern mit dabeisein. Sie ist oft in der Stadt.«

Sein Abschied war hastig und ein wenig zerstreut, und Dick trat mit einem Gefühl der Beschämung auf die Straße.

Als er in sein Amt zurückkehrte, fand er einen verstört aussehenden Polizeichef vor, der auf ihn wartete und bei dessen Anblick Dick blinzelnd die Augen zusammenkniff. »Nun?« fragte er. »Was ist mit diesem Genter?«

Der Polizeichef machte eine Grimasse wie ein Kranker, der eine unangenehme Arznei herunterschlucken muß. »Sie sind mir entwischt«, sagte er. »Der Frosch kam im Auto an, und weg waren sie, bevor ich mir überhaupt klar wurde, was geschehen war. Ich bin nicht besorgt um ihn, denn Genter hat einen Revolver, und er ist ein zäher Bursche in schweren Unternehmungen, aber ...«

Gordon blickte nach dem Mann und durch ihn hindurch. »Ich glaube, Sie hätten auf das Auto vorbereitet sein müssen«, sagte er. »Wenn Sie Genters Botschaft für wohlbegründet hielten und er den Fröschen auf der Spur war, wie Sie sagten, so hätten Sie das Auto erwarten müssen. Nehmen Sie Platz, Wellingdale.«

Der grauhaarige Mann gehorchte. »Ich versuche nicht, mich zu entschuldigen«, sagte er. »Die Frösche haben mich überrumpelt. Früher habe ich sie als einen Spaß betrachtet.«

»Es mag sein, daß wir klüger wären, wenn wir sie auch jetzt noch als einen Spaß betrachteten«, meinte Dick und, biß das Ende seiner Zigarre ab. »Sie mögen nichts sein als ein verrückter geheimer Verein. Schließlich dürfen sogar Stromer ihre Vereinslokale haben, ihre Losungsworte, Griffe und Zeichen.«

Wellingdale schüttelte den Kopf. »Sie kommen über das Fazit der letzten sieben Jahre nicht hinweg«, sagte er. »Es ist nicht nur die Tatsache, daß jeder zweite Straßenräuber, den wir einfingen, den Frosch auf das Handgelenk tätowiert hatte, das mag bloße Nachahmung sein, und auf jeden Fall haben alle Gauner von niedriger Mentalität Tätowierungszeichen. Aber in diesen sieben Jahren hatten wir eine Serie der unangenehmsten Verbrechen. Zuerst den Angriff auf den Chargé d'affaires von der Gesandtschaft der Vereinigten Staaten, den sie im Hyde-Park niederschlugen. Dann den Fall des Präsidenten der Northern Trading Co., der mit einer Keule getötet wurde, als er aus seinem Auto in Park-Lane ausstieg. Dann das große Feuer, das Rohgummi im Werte von vier Millionen Pfund in Rauch aufgehen ließ. Es war sicherlich das Werk von etwa einem Dutzend Bomben, denn die Lagerhäuser bestanden aus sechs großen Wagenschuppen, und jeder einzelne wurde gleichzeitig an beiden Enden angezündet. Wir fingen zwei Leute aus der Gummiaffäre. Beide waren Frösche, beide trugen das Totem ihres Stammes. Sie waren Ex-Sträflinge, und einer von ihnen gab zu, daß er Instruktionen gehabt hätte, um diese Arbeit auszuführen, aber er nahm seine Worte am nächsten Tag sogleich wieder zurück. Ich habe nie einen geängstigteren Mann gesehen als ihn. Ich könnte Ihnen noch Dutzende von Fällen anführen. Sie wissen, daß Genter jetzt seit zwei Jahren auf ihrer Spur ist. Aber was er in diesen zwei Jahren hat erdulden müssen, das wissen auch Sie nicht. Er hat im Lande herumvagabundiert, hat hinter Hekken geschlafen, hat sich mit jeder Art von Landstreichern befreundet und hat mit ihnen gestohlen und geraubt. Als er mir schrieb, daß er mit der Organisation in Verbindung getreten sei und eingeweiht zu werden hoffe, dachte ich, er wäre jetzt nahe daran, sie zu haben. Aber der heutige Morgen hat mich ganz krank gemacht.«

Dick Gordon öffnete eine Schublade seines Pultes, entnahm ihr eine Ledermappe und wendete die Blätter um, die sie enthielt. Er studierte sie sorgfältig, als sähe er sie zum ersten Male. In Wahrheit hatte er diese Gefangenenprotokolle durch Jahre hindurch fast Tag um Tag geprüft. Es waren Handgelenksfotografien vieler Männer. Er schloß nachdenklich die Ledermappe und legte sie in die Schublade zurück. Ein paar Minuten lang saß er still und trommelte mit den Fingern auf den Rand seines Schreibtisches. Ein Schatten zog über seine Stirn. »Der Frosch ist immer auf das linke Handgelenk tätowiert, immer ein wenig schief, und immer ist ein kleiner Punkt darunter gesetzt«, sagte er. »Scheint Ihnen das irgendwie bemerkenswert?« Aber der Polizeichef fand keineswegs etwas Merkwürdiges daran.

3

Inhaltsverzeichnis

Es dunkelte bereits, als zwei Landstreicher, die das Dorf Morby umgangen hatten, wieder auf die Poststraße kamen. Die Umgehung des Ortes war für sie ein mühevolles und anstrengendes Unternehmen gewesen, denn der Regen, der den ganzen Tag hindurch gefallen war, hatte die gepflügten Felder in zähe braune Moorstrecken verwandelt, wodurch die Fußwanderung zu einer Geduldsprobe wurde.

Der eine der Landstreicher war groß, unrasiert, schäbig. Er trug den verschossenen braunen Rock bis zum Kinn zugeknöpft, den niederhängenden, eingedrückten Hut auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Mit ihm verglichen, schien sein Gefährte nur von kleinem Wuchs, obgleich er übermittelgroß und ein wohlgewachsener breitschultriger Mann war. Während sie so auf der lehmigen Landstraße dahinstapften, sprachen sie kein Wort. Der kleinere Mann blieb zweimal stehen und sah in der zunehmenden Dunkelheit umher, als ob er nach einem Verfolger ausspähe. Und einmal ergriff er des großen Mannes Arm und zog ihn hinter die Büsche, die die Landstraße begrenzten. Dies geschah, als unter Getöse und Aufspritzen des nassen Schlammes ein Auto an ihnen vorbeiraste. Nach einer Weile bogen sie von der Straße ab, überquerten ein Feld und kamen an den Rand eines unbebauten Landstrichs, über den eine alte Wagenspur hinführte.

»Jetzt sind wir gleich da«, brummte der kleinere Mann, und der andere grunzte seine Zustimmung. Trotz all seiner anscheinenden Gleichgültigkeit nahmen seine Augen jede Einzelheit der Szenerie auf: Ein einsames Gebäude am Horizont, das wie eine Scheune aussah ... Grafschaft Essex ... wie er nach der Nummerbezeichnung des Autos vermuten mußte, die er vermerkt hatte, als der Wagen an ihm vorbeisauste. Unbebautes Land ... wahrscheinlich zu einer nicht mehr in Betrieb stehenden Lehmgrube führend ...oder war es ein Steinbruch? Nahe dem Tor, durch das die Wagenspur lief, war an einem wackligen Pfosten ein altes Ankündigungsbrett befestigt. Es war zu finster, um die verwischte Inschrift zu lesen, aber er erkannte das Wort: »Kalk«. »Kalkstein?« Es würde ein leichtes sein, dies später zu ergründen. Die einzige Gefahr für ihn bestand nur in der möglichen Überzahl der Frösche. Unter dem Schutz seines Überrockes fühlte er nach dem Browning und ließ ihn in seine äußere Tasche gleiten. Hilfe gab es nicht, und er erwartete sie auch nicht. Carlo hatte ihn im Weichbild der City in sein elendes Auto aufgenommen und hatte ihn kreuz und quer durch den Regen gefahren, indem er Nebenstraßen folgte und Städte und Dörfer vermied, so daß Genter, wäre sein Platz auch an der Seite des Fahrers gewesen, sich nicht hätte zurechtfinden können. Aber er war in die Finsternis des kleinen Wagens gesetzt worden und hatte nichts gesehen. Wellingdale und dessen Beobachter, die ihn bewacht hatten, waren auf das Auto nicht vorbereitet gewesen. Ein Vagabund mit einem Auto war eine Ungeheuerlichkeit. Er selbst, Genter, war zurückgezuckt, als der Wagen beim Gehsteig anhielt, wo er wartend gestanden hatte, und Carlos Stimme zischelte: »Steig ein!« Unter sich sah Genter verrostete Eisenkarren, durcheinandergeworfene Eisenbahnschienen, dazwischen tiefe, regengefüllte Sprenglöcher. Jenseits, auf der scharfen Linie des Steinbruchrandes, stand eine winzige Holzhütte. Und zu dieser lenkte Carlo seine Schritte.

»Nervös, was?« fragte er, und es klang wie Spott in seiner Stimme.

»Nicht sehr«, sagte der andere kühl. »Vermutlich sind die Frösche in der Bude da drunten?« Carlo lachte leise.

»Es sind keine da«, sagte er. »Nur der Frosch allein. Er kommt vom Steinbruch herauf. Es ist da eine Treppe unter der Hütte. Guter Einfall, was? Die Hütte hängt gerade über dem Abgrund, und die Stufen kann man nicht einmal sehen, wenn man sich auf dem Bauch vorschiebt und über den Rand hinunterschaut. Ich habe es einmal versucht. Die werden ihn nie fangen, nicht, wenn sie Millionen von Spitzeln schicken!«

»Nun, und wenn sie den Steinbruch umstellen würden?«

»Du glaubst doch nicht, daß er es nicht weiß, wenn er gefangen werden soll? Er weiß alles, der Frosch.« Er sah auf des anderen Mannes Hand herab. »Weh wird's nicht sehr tun«, sagte er. »Und es lohnt sich. Du wirst nie mehr ohne Kollegen sein, Harry. Wenn du in eine Patsche kommst, zieht dich der beste Advokat 'raus. Wir suchen solche Burschen wie du einer bist, es gibt so massenhaft kleine Halunken, die wegen so ganz kleiner Sachen sich schon einbilden, daß sie zu uns gehören. Aber du wirst große Arbeit machen, und wenn du für ihn etwas Besonderes zu tun hast, setzt er Hunderte und Hunderte von Pfunden für dich. Wenn du krank wirst, oder du bist hungrig oder so, so werden die Frösche zu dir kommen und dir helfen.«

Genter schwieg. Sie waren jetzt etwa zwölf Schritte von der Hütte entfernt, einem starken Gebäude, aus kräftigem Bauholz gezimmert, mit einer Tür und einem geschlossenen Fensterladen. Der Mann, der sich Carlo nannte, machte Genter ein Zeichen, zu verweilen. Er selber ging vorwärts und klopfte an die Tür. Genter sah, wie der Mann zum Fenster trat und dessen Laden um eines Zolles Breite sich öffnete. Es schien ein Gespräch im Flüsterton zu folgen, dann kam Carlo zurück.

»Er hat gesagt, daß er Arbeit für dich hat, die dir Tausende einbringen kann. Du hast wirklich Glück! Kennst du Roche-More?«

Genter nickte. Er kannte diese Vorstadt der Aristokraten.

»Es wohnt ein Mann dort, der um die Ecke gebracht werden soll. Er kommt jede Nacht mit dem 11.50-Zug aus seinem Klub und geht zu Fuß nach Hause. Es steigt eine dunkle Straße an, und mit einem Knüttel kann man ihn ganz ohne Mühe erwischen. Bloß ein Schlag, und es ist aus mit ihm. Das heißt noch nicht töten, verstehst du?«

»Warum will er, daß ich das tu'?«

»Alle Neuen müssen etwas tun, um ihren Mut zu beweisen. Also, was meinst du dazu?«

Genter hatte nicht gezögert. »Wird besorgt!« sagte er.

Carlo kehrte zum Fenster zurück und hieß seinen Gefährten folgen.

»Bleib hier stehen und streck den linken Arm durchs Fenster!«

Genter streifte die Manschetten eines durchnäßten Ärmels zurück und streckte seinen nackten Arm durch die Spalte. Seine Hand wurde mit festem Griff erfaßt, und sogleich fühlte er, wie etwas Weiches und Nasses sich gegen sein Handgelenk preßte. – Ein Gummistempel, dachte er und wappnete sich gegen den Schmerz, der nun folgen mußte. Er kam wie das schnelle prickelnde Stechen von tausend Nadeln. Dann ließ der Griff nach, Genter riß seine Hand zurück und starrte verwundert auf die verwischte Zeichnung von Tinte und Blut, die der Tätowierende auf seiner Hand zurückgelassen hatte.

»Wisch es nicht ab!« sagte eine erstickte Stimme aus der Finsternis der Hütte her. »Und jetzt kannst du hereinkommen.«

Der Fensterladen schloß sich und wurde von innen verriegelt, dann kam das Knarren eines Schlüssels, der sich im Schloß drehte, und die Tür öffnete sich. Genter trat in die pechschwarze Finsternis ein und vernahm, daß die Tür der Hütte von dem unsichtbaren Insassen verriegelt wurde.

»Deine Nummer ist K 971«, sagte die hohle Stimme, »und wenn du sie in den Personalnachrichten der Times siehst, so berichtest du hierher, wo immer du auch bist. Nimm das...«

Genter streckte seine Hand aus, und ein Briefumschlag wurde in sie gelegt. Es war, als ob der geheimnisvolle Frosch selbst in dieser Finsternis zu sehen vermöchte.

»Das ist dein Reisegeld und eine Landkarte der Gegend. Wenn du das Geld für dich verbrauchst oder nicht dorthin kommst, wo man deiner bedarf, wird man dich töten. Hast du mich verstanden?«

»Jawohl.«

»Du wirst weiteres Geld erhalten, das du für deine Ausgaben verwenden kannst. Hör mich jetzt an. In Roche-More, Nr. 7, Park Avenue, wohnt Hallwell Jones, der Bankier –« Er mochte gefühlt haben, daß der Neuling überrascht zusammenfuhr. »Du kennst ihn?«

»Ja, ich habe vor Jahren für ihn gearbeitet«, sagte Genter. Er zog seinen Browning hervor und entsicherte ihn mit dem Daumen.

»Zwischen heute und Freitag muß er niedergeschlagen werden. Du brauchst ihn aber nicht zu töten. Wenn es geschieht, so macht es nichts aus. Aber ich vermute, daß sein Schädel zu hart sein ...«

Genter hatte nun festgestellt, wo der Mann stand, da seine Augen sich an das Dunkel zu gewöhnen begannen. Seine Hand griff plötzlich zu und erfaßte den Arm des Frosches.

»Ich habe eine Pistole«, sagte er zwischen den Zähnen. »Ich bin Inspektor Genter von der Polizeidirektion, und wenn du dich zur Wehr setzt, so töte ich dich.«

Eine Sekunde lang herrschte Totenstille. Dann fühlte Genter, wie die Hand, die die Pistole hielt, mit schraubengleichem Griff umfaßt wurde. Er schlug mit der anderen Faust zu, aber der Mann bückte sich, und der Schlag fuhr in die Luft. Dann wurde die Pistole mit unerträglicher Drehung aus Genters Hand gewunden, und er kam mit seinem Gefangenen in ein Handgemenge. Dabei berührte sein Gesicht das des Frosches. War es eine Maske, die jener trug? Er spürte die kalten Glimmerbrillengläser auf seiner Wange. Dies erklärte die erstickte Stimme. So kräftig Genter auch war, er konnte sich aus den ihn umklammernden Armen doch nicht befreien, und sie schwankten in der furchtbaren Finsternis hin und her. Plötzlich hob der Frosch den Fuß, und um dem vorausgesehenen Stoß zu entgehen, machte Genter eine heftige Wendung. Das Splittern von gebrochenem Glas ward hörbar und ein scharfer, kalter, durchdringender Geruch drang auf den Detektiv ein. Er versuchte tief zu atmen, aber er meinte zu ersticken, und seine Arme fielen schlaff und machtlos herab.

Der Frosch hielt die gebeugte Gestalt eine Minute lang, dann ließ er sie zu Boden fallen.

Am Morgen fand die Londoner Polizeipatrouille Inspektor Genter im Garten eines leeren Hauses liegend und rief die Rettungsgesellschaft an.

Aber ein Mann, der mit konzentrierten Blausäuredämpfen vergiftet worden ist, stirbt schnell. Zehn Minuten, nachdem der Frosch den Glaszylinder, den er für ähnliche Notfälle in der Hütte vorbereitet hielt, zerbrochen hatte, war Genter eine Leiche.

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Inhaltsverzeichnis

Auf der ganzen Welt gab es keinen Detektiv, der weniger nach einem Polizeioffizier, und einem recht klugen Polizeioffizier, aussah, als Elk. Er war groß und hager, und seine etwas krumme Haltung verstärkte noch den Eindruck seiner Kümmerlichkeit. Seine Kleider schienen schlecht zu passen und hingen mehr an ihm herunter, als daß sie ihn kleideten. Winters und sommers trug er einen schmutzigen, rehfarbenen Überzieher, der stets und ständig zugeknöpft blieb, und den gleichen gelbbraunen Anzug trug er seit jedermanns Gedenken. Wenn Regen fiel, dann glänzte sein schwarzer steifer Hut vor Nässe, aber Elk spannte den Regenschirm nicht auf, der schlecht gewickelt und plump an seinem Arm hing. Niemals hatte jemand diesen Gebrauchsgegenstand geöffnet gesehen. Elks leichenblasses Gesicht trug unentwegt den Ausdruck tiefster Düsterheit, und seine Vorgesetzten fanden seinen Einfluß deprimierend, denn seine Zukunftsaussichten wurden durch sein Mißgeschick bei der Beförderung beeinträchtigt. Zehnmal hatte er sich zur Prüfung gemeldet und zehnmal hatte er unweigerlich bei demselben Gegenstand: Geschichte, versagt. Dick Gordon, der Elk besser als dessen unmittelbare Vorgesetzte kannte, vermutete, daß dieses Mißgeschick ihn gar nicht so sehr bekümmerte, wie man annahm.

»Die armen Sünder haben auf Erden keine Ruhe«, seufzte Elk und nahm auf dem angebotenen Sessel Platz. »Ich dachte, Herr Gordon, ich würde wenigstens nach meiner Reise nach den USA Ferien von Ihnen bekommen.«

»Lieber Elk, ich möchte womöglich alles über Lola Bassano erfahren«, sagte Dick. »Wer ihre Freunde sind, warum sie sich so plötzlich an Ray Bennett angeschlossen hat, der ein kleiner Beamter bei den Vereinigten Maitlands ist. Besonders aber, warum sie ihn gestern nacht an der Ecke von St. James Square abgeholt und nach Horsham gefahren hat. Ich sah sie durch Zufall, als ich aus meinem Klub kam, und folgte ihnen. Sie saßen fast zwei Stunden in ihrem Wagen ungefähr hundert Meter von Bennetts Haus entfernt und sprachen miteinander. Ich stand im Regen hinter dem Wagen und lauschte. Wenn er ihr den Hof gemacht hätte, so hätte ich es verstanden. Aber sie redeten und redeten nur von Geld. Und dabei hat der junge Bennett keinen Pfennig in der Tasche.«

Elk rauchte gedankenvoll. »Bennet hat eine Schwester«, sagte er plötzlich zu Dicks Erstaunen. »Sie ist sehr hübsch, aber der alte Bennett ist bestimmt irgendeine Art von Gauner. Er leistet keine regelmäßige Arbeit, sondern bleibt manchmal tagelang fort und sieht merkwürdig schlecht aus, wenn er zurückkommt.«

»Sie kennen die Familie?«

Elk nickte. »Der alte Bennett interessiert mich. Irgend jemand hat über seinen Lebenswandel schon als verdächtig berichtet. Die Lokalpolizei hat ja nichts zu tun, als Lämmchen zu hüten und sieht natürlich jeden, der kein Lämmchen ist, als verdächtigen Charakter an. Ich habe den alten Bennett beobachtet, bin aber seinen Handlungen nie auf den Grund gekommen. Er hat eine Menge der sonderbarsten Berufe gehabt. Jetzt hat er sich auf Bildaufnahmen geworfen. Ich würde wirklich etwas dafür geben, zu erfahren, was sein wirklicher Beruf ist. Regelmäßig einmal im Monat, manchmal zweimal, manchmal noch öfter, verschwindet er, und man kann ihn nicht auffinden. Ich habe jeden Stromer in London nach ihm gefragt, aber sie sind alle genauso ratlos und verblüfft darüber wie ich. Lew Brady hat sich auch für ihn interessiert. Er haßt Bennett. Vor Jahren machte er sich an den alten Mann heran und versuchte aus ihm herauszubringen, was für ein Spiel er treibt. Aber Bennett hat es ihm heimgezahlt.«

»Der alte Mann?« fragte Dick ungläubig und sah ihn an.

»Jawohl! Er ist stark wie ein Stier ... Also, ich werde Lola besuchen. Sie ist kein schlechtes Mädel, aber mir persönlich sagen Vampire nicht zu. Also, Genter ist tot? Halten Sie den Frosch auch dabei für beteiligt?«

»Ohne Zweifel«, sagte Dick aufstehend. »Und hier, Elk, ist einer der Leute, die ihn umbrachten.«

Er ging ans Fenster und beugte sich hinaus. Der Mann, den er minutenlang beobachtet hatte, war plötzlich verschwunden.

»Wo?« fragte Elk hinter ihm.

»Er ist jetzt eben fort. Ich ...« Im gleichen Moment zerbrach das innere Fenster, und die Glassplitter verletzten sein Gesicht. In der nächsten Sekunde riß ihn Elk heftig zurück.

»Vom Dach der Onslow-Gärten«, sagte Dick ruhig.

»Der Schütze hat ein Dutzend Wege, um zu entwischen, die Feuerleiter nicht ausgenommen. Es geschieht zum zweiten Male, daß sie heute bei hellem Tageslicht hinter mir her sind. Als ich nach Hause zurückkehrte, war es das erste Mal. Ein geradezu genialer Versuch, mich mit einem leichten Auto zu überfahren. Das verdammte Ding erkletterte sogar das Trottoir.«

»Haben Sie sich die Nummer gemerkt?«

»10 L. 19741. – Es gibt keine solche Nummer im Register, und der Fahrer war fort, bevor ich irgend etwas unternehmen konnte, um ihn aufzuhalten.«

Elk kratzte sich am Kinn und betrachtete den jugendlichen Staatsanwalt mit zweifelndem Blick. »Das klingt ja sehr interessant. Ich habe bisher viel zuwenig auf die Frösche geachtet. Heutzutage sind geheime Gesellschaften so üblich, daß jedesmal, wenn mir ein Herr die Hand schüttelt, er mich enttäuscht ansieht, wenn ich nicht mein Ohr zupfe oder mit dem Fuß aufstampfe.

Eine Räuberbande von großem Format habe ich immer als etwas angesehen, wovon man nur in Romanen liest.«

Elk nahm Abschied und ging auf dem größtmöglichen Umweg nach Scotland Yard zurück, anscheinend ein arbeitsloser kleiner Angestellter mit schlechtgerolltem Regenschirm und verbogener Stahlbrille. Er schlenderte nach Trafalgar Square, stand gedankenvoll still und kehrte wieder um. Dem Büro des Staatsanwaltes gegenüber hatte ein langer Straßenverkäufer mit einem kleinen Tragbrett voller Zündhölzchen, Schlüsselringen, Bleistiften und den tausenderlei Kleinigkeiten, die solche Leute verkaufen, Posten gefaßt. Seine Waren waren im Augenblick mit einem regennassen Wachstuch bedeckt.

Elk hatte ihn früher nie bemerkt und wunderte sich, warum der Mann einen so ungünstigen Standpunkt gewählt hatte, denn das Ende der Onslow-Gärten, der windigste Punkt in Whitehall, ist auch an schönen Tagen nicht der Ort, an dem der eilige Fußgänger sich aufhalten würde, um einen Gegenstand zu erstehen. Der Händler trug einen schäbigen Regenmantel, der bis zu den Stiefelabsätzen reichte. Sein weicher Filzhut war tief in die Stirn gezogen, aber Elk sah das Gesicht, das an einen Raubvogel gemahnte, und blieb stehen.

»Guter Verdienst?«

»Ne-in.«

Elk war sofort gefesselt. Dieser Mann war Amerikaner und wollte seine Aussprache verstellen, um als Cockney zu gelten.

»Sie sind Amerikaner, aus welchem Staat?«

»Georgia«, war die Antwort, und diesmal machte der Hausierer keinen Versuch mehr, seine Sprache zu verstellen.

Elk streckte die Hand aus. »Zeigen Sie mal Ihre Lizenz!«

Ohne Zögern wies der Mann den geschriebenen Polizeierlaubnisschein vor, der ihn zum Straßenverkäufer ermächtigte. Er lautete auf den Namen »Joshua Broad« und war in Ordnung.

»Sie sind nicht aus Georgia –«, sagte Elk, »aber das macht nichts. Sie sind aus Hampshire oder Massachusetts.«

»Connecticut, um ganz genau zu sein«, sagte der andere kühl. »Aber ich habe in Georgia gewohnt. Brauchen Sie keinen Schlüsselring?« In seinen Augen zeigte sich ein belustigtes Zwinkern.

»Nein, ich habe nie einen Schlüssel besessen, habe nie etwas Einschließenswertes gehabt«, sagte Elk und befingerte die Sachen auf dem Brett. »Das ist aber kein guter Platz hier.«

»Nein«, sagte der Hausierer, »viel zu nahe bei Scotland Yard, Herr Elk.«

»Woher kennen Sie mich?«

»Das tun doch die meisten! Nicht?« fragte der Mann unschuldig.

Elk musterte den Hausierer von den Sohlen seiner starken Schuhe bis zu dem durchweichten Hut und ging mit einem Nicken weiter. Der Händler sah dem Detektiv nach, bis dieser außer Sicht war, dann befestigte er das Wachstuch wieder über seinem Tragbrett, schnallte es fest zu und ging in der Richtung, die Elk eingeschlagen hatte, weiter.

Als Ray Bennett aus Maitlands Haus trat, um zum Mittagessen zu gehen, sah er einen schäbigen und schwermütig aussehenden Mann an der Ecke des Gehsteiges stehen, der ihm aber nur einen flüchtig schweifenden Blick schenkte. Er kannte Elk nicht und ihm fiel auch nicht auf, daß er von jenem in das kleine Wirtshaus verfolgt wurde, wo Philo Johnson und er ihr bescheidenes Essen einzunehmen pflegten. Der Beobachter würde Ray sicherlich sonst unter keinen Umständen entgangen sein, aber in seiner heutigen Gemütsverfassung hatte er keinen anderen Gedanken als den an sich selbst und an das beleidigende Gehaben des alten, rübezahlbärtigen Maitland.

»Dieser alte Teufel ...!« sagte er, als er neben Johnson einherging. »Einen zehnprozentigen Gehaltsabzug zu machen und damit gerade bei mir anzufangen! Und die Morgenzeitungen schreiben heute, daß er für das ›Nord-Spital‹ fünftausend Pfund gespendet hat.«

»Er ist ein wohltätiger Bursche, aber was den Abzug anbetrifft, so wollte er Sie einfach loswerden«, sagte Johnson fröhlich. »Was nützt das Schelten? Der Handel liegt darnieder, und die Börse ist toter als Ptolemäus. Der Alte wollte Sie abbauen. Er meinte, Sie wären irgendwie überflüssig. Aber wenn Sie doch darüber die idealere Seite des Lebens nicht vergessen wollten, Ray?«

»Idealere Seite!« schnaubte der junge Mann, und sein Gesicht wurde rot wie Mohn. »Ich habe das Gehalt eines kleinen Jungen, und ich brauche entsetzlich viel Geld, Philo.«

»Wenn ich so denken würde wie Sie, so müßte ich verrückt werden, oder zumindest ein großer Verbrecher. Ich verdiene kaum fünfzig Prozent mehr als Sie, und doch vertraut mir der alte Herr Hunderttausende an. Die Kunst, glücklich zu sein«, sagte er, »besteht darin, keine Bedürfnisse zu haben. Dann erhält man immer mehr, als man nötig hat... Wie geht es Ihrer Schwester?«

»Danke gut«, sagte Ray gleichgültig. »Ella hat dieselbe Veranlagung wie Sie. Es ist leicht, die Sorgen anderer Leute als Philosoph zu betrachten ... Wer ist denn dieser merkwürdige Mensch?« fügte er hinzu, als ein Mann an dem Tisch, der dem ihrigen gegenüberlag, Platz nahm. Philo, der ein wenig kurzsichtig war, setzte sein Glas auf.

»Das ist Elk, einer von Scotland Yard«, sagte er und lachte dem Neuankömmling zu. Ein Wiedererkennen, das zu Rays Ärger und Unbehagen den kümmerlichen Mann an ihren Tisch heranbrachte.

»Mein Freund, Herr Bennett ... Inspektor Elk.«

»Sergeant«, verbesserte Elk fest. »Das Schicksal war in Angelegenheiten der Beförderung immer grausam gegen mich. Warum ein Mann die Diebe leichter erwischen soll, wenn er weiß, wann Washington geboren wurde oder wann Napoleon Bonaparte gestorben ist, habe ich nie begriffen ... Essen Sie jeden Tag hier, Herr Bennett?«

Ray nickte.

»Ich glaube, Ihren Herrn Vater zu kennen – John Bennett.«

Ray stand in Verzweiflung auf, entschuldigte sich mit Zeitmangel ließ die beiden allein.

»Ein hübscher Junge«, nickte Elk und sah Ray Bennett lange nach.

5

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Elk begleitete Johnson in sein Büro zurück, und als sie sich dem Bankpalast der Vereinigten Maitlands näherten, brach Herr Johnson mitten in der interessanten Darlegung seiner Philosophie ab und beschleunigte den Schritt. Elk sah auf dem Gehsteig vor ihnen Ray Bennett und neben ihm die schmale Gestalt eines Mädchens. Sie wendete den beiden Männern den Rücken zu, aber Elk erriet sogleich, daß es Ella Bennett war. Er hatte sie zweimal vorher gesehen und besaß ein wunderbares Gedächtnis für Rückenlinien. Als Johnson auf sie zustrebte, grüßte Ella ihn mit einem freundlichen Nicken.

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Fräulein Bennett.« Johnsons gemütliches Gesicht erglühte rosig, und Elk stellte fest, daß sein Handschlag noch wärmer und herzlicher war als sonst.

»Ich wollte heute gar nicht in die Stadt kommen, aber Vater ist wieder auf einem seiner Ausflüge fort«, sagte sie. »Und ganz komisch – wenn ich nicht genau wüßte, daß sein Zug schon vor zwei Stunden abgefahren ist, so würde ich schwören, ihn soeben auf einem Autobus gesehen zu haben.«

»Mein Freund, Herr Elk«, stellte Johnson ein wenig ungeschickt vor.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Fräulein Bennett«, sagte Elk.

Ray verabschiedete sich, und Ella sprach zu ihrem Bruder noch ein leises Wort. Elk sah, wie der Junge die Stirn runzelte.

»Nein, nein, ich werde nicht mehr so spät kommen«, sagte er so laut, daß der Detektiv es hörte. Er zog den Hut und war schon im Tor verschwunden. Ella sah ihm mit einem kleinen schmerzlichen Mundzucken nach, dann nahm sie sich zusammen, reichte Johnson die Hand, grüßte Elk mit einem leisen Neigen ihres Hauptes und ging.

»Haben Sie Fräulein Bennett schon gekannt?«

»Oberflächlich«, antwortete Elk mürrisch. »Oberflächlich kenne ich fast jeden. Gute und schlechte Leute. Je besser sie sind, desto weniger kenne ich sie. Auf Wiedersehen!«

Als Johnson die Treppe zu Maitlands Haus hinaufstieg, schlenderte Elk ziellos fort. Er überquerte die Straße und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Es war vier Uhr, und ein Taxi hielt vor der Tür der Vereinigten Maitlands und wartete. Elk sah wenige Minuten später den alten Maitland herauskommen, hastig, weder rechts noch links blickend. Elk betrachtete ihn mit mehr als dem gewöhnlichen Interesse. Er kannte den Finanzier vom Sehen her und hatte zwei oder drei Besuche im Büro gemacht, die mit ein paar kleinen, von Aufwartefrauen begangenen Diebstählen in Verbindung standen. So war er auch mit Philo Johnson bekannt geworden, denn der alte Mann hatte die Unterredung seinem Angestellten überlassen. Elk schätzte Maitland auf fast siebzig Jahre, und zum ersten Male überkam ihn die Neugier, wo er wohnen mochte. Es kam ihm als eine merkwürdige Tatsache zum Bewußtsein, daß er nicht das geringste über den Finanzier wußte und daß Maitland die einzige der Stadtgrößen war, über die die Zeitungen nichts schrieben.

Als das Auto davonfuhr, konnte Elk dem Anreiz nicht widerstehen und winkte einen zweiten Wagen heran.

»Verfolgen Sie das Auto!« sagte er. Und der Fahrer nickte ohne Frage, denn es gab keinen Chauffeur in den Straßen von London, der den melancholischen Polizeimann nicht gekannt hätte. Der erste Wagen fuhr schnell in der Richtung nach London-Nord und hielt bei einem belebten Straßenknotenpunkt in Finsbury-Park. Maitland stieg aus und eilte um die Ecke, eine belebtere Straße entlang, und Elk folgte ihm auf den Fersen. Der Alte ging eine kleine Strecke, dann stieg er in einen Straßenbahnwagen. Elk sprang hinter ihm auf, als der Wagen sich eben in Bewegung setzte. Der Alte fand einen Platz, zog eine verknüllte Zeitung aus der Tasche und begann zu lesen. In Tottenham stieg Herr Maitland aus.

Er bog in ein Seitengäßchen, überquerte die Straße, kam in eine engere und noch armseligere Gasse und dann – zu Elks namenlosem Erstaunen – schloß er die eiserne Tür eines dunkeln und schmutzigen Hauses auf, trat ein und warf sie hinter sich zu.

Der Detektiv blickte die Straße hinauf und hinunter. Sie war von armen Kindern bevölkert. Elk betrachtete wieder das Haus.

Die Fenster waren schmutzig, die Vorhänge hingen in Fetzen, der winzige Vorhof war vernachlässigt. Und dies war das Haus Ezra Maitlands, des Mannes, der Millionen besaß.

Elk faßte einen Entschluß und klopfte an die Tür. Lange kam keine Antwort, dann war das Schlürfen von Füßen, die in Pantoffeln steckten, hörbar, und eine alte Frau mit krankhaft gelbem Gesicht öffnete die Tür.

»Verzeihen Sie«, sagte Elk; »Ich glaube, der Herr, der gerade hereingegangen ist, hat dies hier fallen gelassen.« Er zog ein Taschentuch hervor, und sie starrte es einen Augenblick lang an. Dann streckte sie wortlos die Hand aus, zog es ihm weg und schlug ihm die Tür vor der Nase zu.

Das war das letzte meiner guten Taschentücher, dachte Elk bitter. Er hatte einen Blick in das Innere des Hauses geworfen. Ein trüb aussehender Gang, mit einem Streifen verblichenen Teppichs belegt, war zu sehen gewesen. Er entschloß sich, fortzugehen und Erkundigungen einzuziehen.

»Maitland oder Mainland, das weiß ich nicht genau«, sagte ein Kaufmann, der an der Ecke sein Geschäft hatte. »Der alte Herr geht jeden Tag um neun Uhr fort und kommt immer um dieselbe Stunde wie heute zurück. Ich kann nicht sagen, wer er ist. Aber das eine weiß ich: essen tun sie nicht viel. Er kauft alle seine Waren bei mir, und das alles, wovon die beiden Leute einen Tag lang leben, könnte ein gesundes Kind bei einer einzigen Mahlzeit verzehren.«

Elk kehrte niedergeschlagen nach dem Westen der Stadt zurück. Er beschloß, sich mit der Angelegenheit weiter zu befassen.

Doch schien es ihm für den Moment angebrachter, alle seine Kräfte auf diese interessante junge Dame, Fräulein Lola Bassano, zu konzentrieren. In einer jener modernen Straßen, die von Cavendish Square auslaufen, gibt es eine Reihe Appartements, die nur von reichen Mietern bewohnt werden. Die Miete ist auch für jenes exklusive Viertel ganz besonders hoch bemessen, und Elk, den man nicht leicht zu überraschen vermochte, war ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sah, daß Lola Bassano in diesem luxuriösen Gebäude eine Flucht von Zimmern innehatte.

Der Liftboy, dem Elk mit reichlicher Berechtigung ein wenig verdächtig vorkam, berichtete ihm, daß Fräulein Bassano im dritten Stock wohne.

»Wie lange wohnt sie hier?« fragte Elk.

»Das geht Sie nichts an«, antwortete der Liftboy, »dort ist der Eingang für Lieferanten.«

Beim Anblick von Elks Dienstmarke wurde er jedoch sofort höflicher und mitteilsamer.

»Sie wohnt seit zwei Monaten hier«, sagte er. »Und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, es hat mich oft gewundert, daß sie die Wohnung im Caverley-Haus bekommen hat. Wie ich gehört habe, hat sie einmal einen Spielklub in der Germynstraße gehabt. Sie sind doch nicht gekommen, um sie zu verhaften?« fragte er ängstlich. »Das wäre ein schönes Renommee für Caverley -Haus.«

»Ich mache nur einen freundschaftlichen Besuch«, sagte Elk. Der Liftboy trat aus dem Aufzug und wies nach einer der beiden glatten Mahagonitüren, die auf den Flur mündeten.

»Die andere Wohnung gehört einem amerikanischen Millionär.«

Elk war im Begriff zu antworten, als der Liftboy zur Tür ging und auf eines der polierten Paneele deutete. »Das ist doch sonderbar –«, sagte er. »Da, schauen Sie einmal her.«

Elk trat neben ihn, und mit einem Blick erfaßte und verstand er. Auf der Mahagonitafel war ein kleiner weißer Frosch sichtbar, ein genaues Stempelbild desjenigen, den er heute morgen auf Dick Gordons Fotografien gesehen hatte.

Ein Frosch, kauernd und ein wenig schief. Er rührte mit spitzem Finger daran. Die Farbe war noch naß und blieb haften.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Mann mittleren Alters erschien in ihrem Rahmen. Mit dem langläufigen Revolver in der Hand zielte er auf das Herz des Detektivs.

»Halten Sie die Hände hoch!« befahl er scharf.

Dann stockte er und starrte dem Detektiv ins Gesicht. Elk erwiderte sprachlos den Blick, denn der elegante Herr, der vor ihm stand, war der Hausierer, den er in Whitehall gesprochen hatte. Der Amerikaner gewann als erster die Selbstbeherrschung zurück, und Elk sah von neuem das Aufblitzen innerer Belustigung in seinen Augen. Er trat zurück und öffnete die Tür ganz. »Kommen Sie herein, Herr Elk«, sagte er und nickte dem verblüfften Liftboy zu. »Schon gut, Worth, ich habe mir einen kleinen Scherz mit Herrn Elk erlaubt.«

Er schloß die Tür und ließ den Detektiv in seinen Salon eintreten. Elk beschloß, den Frosch an der Tür zum Gegenstand einer späteren Diskussion zu machen.

»Wir sind ganz allein, Herr Elk, und Sie brauchen nicht leise zu sprechen. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?« Elk streckte mechanisch die Hand aus und wählte eine blonde Havanna.

»Wenn ich mich nicht sehr irre, so haben wir uns schon heute morgen gesehen«, sagte er.

»Sie täuschen sich nicht«, unterbrach ihn der andere kühl. »Wir haben uns in Whitehall getroffen, und ich habe mit Schlüsselringen hausiert. Mein Name ist Joshua Broad. Sie können mir also nicht vorwerfen, daß ich unter falschem Namen gehandelt habe.«

Der Detektiv zündete die Zigarre an, bevor er sprach.

»Diese Wohnung scheint sehr kostspielig zu sein«, sagte er langsam. »Und ich verstehe es, daß Sie versuchen, etwas zu verdienen. Aber es dünkt mich, daß das Hausieren mit Schlüsselringen einem Geschäftsmann nur recht armselige Verdienstmöglichkeiten bieten kann.«

Joshua Broad nickte.

»Es macht mir aber Spaß, Herr Elk. Ich bin eine Art von Kriminalpsychologe.« Er zündete seinerseits eine Zigarre an und machte es sich in einem tiefen, kattunüberzogenen Armsessel bequem, die gekreuzten Beine von sich streckend, ein Bild der Zufriedenheit.

»Als Amerikaner habe ich Interesse an sozialen Problemen, und ich habe immer gefunden, daß der einzige Weg, um die Armen irgendeines Landes zu verstehen, der ist, unter ihnen zu leben.«

Elk setzte seine Brille fester auf die Nase, und seine Blicke streiften Herrn Broads Tasche, in die der Revolver zurückgekehrt war. »Wir leben in einem ziemlich freien Lande«, sagte er.

»Und jedermann kann hier mit Schlüsselringen hausieren, sogar wenn er im Nebenberuf Mitglied des Oberhauses wäre. Aber etwas ist hier doch verboten, Herr Broad, und das ist, ehrbaren Polizeileuten Revolver auf die Brust zu setzen!«

Broad kicherte. »Ich bedauere, ich war ein wenig zu heftig«, sagte er. »Aber ich habe in Wahrheit mehr als eine Stunde auf jemanden gewartet, der zu mir kommen sollte. Und als ich Ihre Schritte hörte ...« Er zuckte die Achseln. »... ich bin darüber so zerknirscht, wie Sie es nur verlangen können.«

Elks Blicke ließen nicht von ihm ab. »Ich möchte Ihnen nicht lästig werden, wenn ich Sie frage, ob Sie einen Freund erwartet haben? Ich möchte gar zu gerne den Namen des Gastes wissen.«

»Das möchte ich auch«, sagte der andere. »Und noch eine ganze Menge von Leuten mit mir.« Er sah Elk gedankenvoll an. »Ich habe einen Mann erwartet, der jeden Grund hat, sich sehr vor mir zu fürchten. Er heißt –, nun das tut nichts zur Sache. Ich habe ihn nur einmal im Leben getroffen und sah damals sein Gesicht nicht.«

»Aber Sie sind aneinandergeraten?« fragte Elk.

»Keineswegs, ich benahm mich sehr gutmütig gegen ihn. Ich war nicht länger als fünf Minuten mit ihm in einem verfinsterten Raum allein, der nur von einer Laterne, die auf dem Tisch stand, erhellt wurde. Und ich glaube, daß dies alles ist, was ich Ihnen darüber erzählen kann, Herr Inspektor.«

»Sergeant!« murrte Elk. »Es ist doch merkwürdig, wie viele Leute meinen, daß ich Inspektor wäre.«