Der Fünfte Berg - Paulo Coelho - E-Book

Der Fünfte Berg E-Book

Paulo Coelho

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Beschreibung

Paulo Coelho erzählt in einfacher, moderner Sprache die Geschichte des Propheten Elia, die wir alle kennen, so wie wir sie nicht kennen: Sein neuer Roman Der Fünfte Berg versetzt uns zurück ins Jahr 870 v. Chr., als Gott Elia befahl, Israel zu verlassen und ins Exil zu gehen. Ausgehend von einer kurzen Bibelstelle erzählt Paulo Coelho die Geschichte des jungen Rebellen und Propheten wider Willen.

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Seitenzahl: 251

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Paulo Coelho

Der Fünfte Berg

RomanAus dem Brasilianischen vonMaralde Meyer-Minnemann

Titel der 1996 bei Editora

Objetiva Ltda., Rio de Janeiro,

erschienenen Originalausgabe:

›O Monte Cinco‹

Copyright © 1996 by Paulo Coelho

Mit freundlicher Genehmigung von

Sant Jordi Asociados, Barcelona, Spanien

Alle Rechte vorbehalten

Paulo Coelho: www.paulocoelho.com

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1998 im Diogenes Verlag.

Umschlagfoto von Romilly Lockyer (Ausschnitt)

Copyright © Romilly Lockyer/Getty Images/

Photographer‘s Choice

Für A. M., Krieger des Lichts,

und Mauro Salles

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23158 8 (20.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60254 8

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Er sprach aber: Wahrlich, ich sage euch: Kein Prophet ist angenehm in seinem Vaterlande.

Aber in der Wahrheit sage ich euch: Es waren viele Witwen in Israel zu Elias Zeiten, da der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate, da eine große Teuerung war im ganzen Lande; und zu deren keiner ward Elia gesandt, denn allein gen Sarepta der Sidonier zu einer Witwe.

Lukas, 4: 24–

[7] Prolog

Zu Beginn des Jahres 870v.Chr. genoß ein Gebiet, das als Phönizien bekannt war und das die Israeliten Libanon nannten, seit fast drei Jahrhunderten Frieden. Seine Bewohner konnten stolz sein. Um in einer Welt zu überleben, die unter ständigen Kriegen litt, hatten sie aus ihrer politischen Schwäche heraus notgedrungen beneidenswert geschickte Verhandlungstechniken entwickelt. Um 1000v.Chr. schlossen sie eine Allianz mit König Salomo, was ihnen auch erlaubte, ihre Handelsflotte zu modernisieren und ihren Handel weiter auszudehnen.

Die phönizischen Seefahrer waren bis an so ferne Gestade wie das heutige Spanien und den Atlantischen Ozean gekommen, und gewissen bisher unbestätigten Theorien zufolge mußten sie im Süden und im Nordosten des heutigen Brasilien Inschriften hinterlassen haben. Sie beförderten Glas, Zedernholz, Waffen, Eisen und Elfenbein. Die Bewohner der großen Städte wie Sidon, Tyrus und Byblos kannten die Zahlen, astronomische Berechnungen, kelterten Wein und benutzten seit etwa zweihundert Jahren zum Schreiben ein System von Buchstaben, das die Griechen später Alphabet nannten.

Zu Beginn des Jahres 870v.Chr. trat an einem fernen Ort namens Ninive ein Kriegsrat zusammen. Eine Gruppe assyrischer Generäle hatte beschlossen, ihre Truppen in einen [8] Eroberungskrieg gegen die an der Mittelmeerküste niedergelassenen Völker zu führen. Ihr erstes Ziel war Phönizien.

Auch zu Beginn des Jahres 870v.

[9] Erster Teil

Ich diente einem Herrn, der mich jetzt meinen Feinden ausliefert«, sagte Elia.

»Gott ist Gott«, antwortete der Levit. »Er hat Mose nicht gesagt, ob er gut oder böse ist. Er sagte nur: Ich bin, der ich bin. Und er ist alles, was es unter der Sonne gibt – der Donner, der das Haus zerstört, und die Hand des Menschen, die es wieder aufbaut.«

Sie unterhielten sich, um ihre Angst zu vergessen. Jeden Augenblick konnten Soldaten die Tür des Pferdestalles aufstoßen, in dem die beiden sich befanden, sie entdecken und sie vor die einzig mögliche Wahl stellen: entweder den heidnischen Gott anzubeten, ihrem Gott abzuschwören, oder hingerichtet zu werden.

Würde der Levit seinen Glauben verraten und sein Leben retten, überlegte Elia. Er selbst hatte keine Wahl. Alles war seine Schuld, und Königin Isebel wollte seinen Kopf, um jeden Preis.

»Ein Engel des Herrn hat mich gezwungen, mit König Ahab zu sprechen, ich habe ihn gewarnt: Es wird so lange nicht mehr regnen, wie die Israeliten Baal anbeten«, und es klang fast so, als wollte er um Vergebung bitten dafür, daß er dem Engel gehorcht hatte. »Doch Gott handelt langsam. Wenn die Dürre unerträglich wird, hat Isebel längst alle vernichtet, die Gott treu blieben.«

[10] Der Levit sagte nichts.

»Wer aber ist Gott?« fuhr Elia fort. »Führt er die Hand des Soldaten, der mit seinem Schwert die hinrichtet, die den Glauben unserer Väter nicht verraten? Hat er eine fremde Prinzessin auf den Thron unseres Landes gesetzt, auf daß all dieses Unglück gerade jetzt geschehen konnte? Tötet Gott die Getreuen, die Unschuldigen, diejenigen, die die Gesetze Mose befolgen?«

Der Levit traf seine Entscheidung. Er wollte lieber sterben. Der Gedanke an den Tod schreckte ihn nicht mehr. Er wandte sich an den jungen Propheten an seiner Seite und versuchte ihn zu beruhigen:

»Frage Gott, denn an Seinen Entschlüssen zweifelst du«, sagte er. »Ich füge mich in mein Schicksal.«

»Der Herr kann nicht wollen, daß wir gnadenlos dahingeschlachtet werden«, beharrte Elia.

»Gott kann alles. Würde Er nur das tun, was wir das Gute nennen, könnten wir Ihm nicht den Namen ›der Allmächtige‹ geben. Er würde dann nur einen Teil des Universums beherrschen, und es gäbe jemanden, der mächtiger wäre als Er und der Sein Handeln überwacht und beurteilt. Wäre es so, dann würde ich dieses noch mächtigere Wesen anbeten.«

»Wenn Er alles kann, warum verschont Er nicht jene vom Leiden, die ihn lieben? Warum rettet er sie nicht und gibt Seinen Feinden den Ruhm und die Macht?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete der Levit, »doch es gibt einen Grund, und ich hoffe ihn bald zu erfahren.«

»Ihr habt keine Antwort auf diese Frage.«

[11] »Nein.«

Beide schwiegen. Elia brach der kalte Schweiß aus.

»Ihr zittert vor Angst, ich aber habe mich in mein Schicksal gefügt«, meinte der Levit. »Ich werde hinausgehen und dieser Qual ein Ende bereiten. Jedesmal, wenn ich von draußen einen Schrei höre, muß ich an mein eigenes bevorstehendes Ende denken. Seit wir hier eingeschlossen sind, bin ich schon hundert Tode gestorben und müßte doch nur einmal sterben. Wenn ich schon geköpft werden soll, dann so schnell wie möglich.«

Auch Elia hörte die Schreie und auch er litt Todesängste.

»Ich gehe mit Euch. Ich bin es leid, um ein paar Lebensstunden mehr zu kämpfen.«

Er erhob sich und öffnete die Stalltür.

Der Levit faßte ihn am Arm, und zusammen machten sie sich auf den Weg. Wären da nicht von Zeit zu Zeit die Schreie gewesen, man hätte diesen Tag für einen beliebigen Tag in einer beliebigen Stadt halten können: Die Sonne brannte nicht auf der Haut, weil eine milde Brise vom fernen Meer her durch die staubigen Straßen mit ihren Lehmziegelhäusern wehte.

»Unsere Seelen sind dem Schrecken und dem Tode verhaftet, und dennoch ist es ein so schöner Tag«, sagte der Levit. »Früher, als ich mit der Welt und mit Gott im reinen war, war es oft unerträglich heiß, ließ der Wüstenwind meine Augen tränen, und ich konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Nicht immer paßt der Plan Gottes zu dem, was wir erleben und wie wir uns fühlen. Doch bin ich mir sicher, daß Er für all dies einen Grund hat.«

»Ich bewundere Euren Glauben.«

[12] Der Levit blickte nachdenklich zum Himmel. Dann wandte er sich an Elia.

»Wundert Euch nicht über mich: Es war eine Wette, die ich mit mir selbst geschlossen habe. Ich habe gewettet, daß Gott existiert.«

»Ihr seid ein Prophet«, entgegnete Elia. »Auch Ihr hört Stimmen und wißt, daß es jenseits dieser Welt eine andere Welt gibt.«

»Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein.«

»Ihr habt Gottes Zeichen schon gesehen«, beharrte Elia, den die Bemerkungen seines Gefährten beunruhigten.

»Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein«, war wieder die Antwort. »Für mich zählt nur meine Wette: Ich habe mir gesagt, daß all dies vom Allerhöchsten kommt.«

Die Straße war menschenleer. Die Leute warteten in ihren Häusern darauf, daß die Soldaten von Ahab taten, was die fremde Prinzessin verlangte, und die Propheten Israels hinrichteten. Elia schritt mit dem Leviten dahin, wähnte hinter jedem Fenster, hinter jeder Tür jemanden, der ihn beobachtete – und ihn für das verantwortlich machte, was geschah.

»Ich wollte nicht Prophet werden. Aber vielleicht bilde ich es mir nur ein«, überlegte Elia.

Doch nach dem, was in der Tischlerei geschehen war, wußte er, daß das nicht stimmte.

Von klein auf hatte er Stimmen gehört und mit den Engeln gesprochen. Damals hatten ihn seine Eltern gedrängt, einen Priester Israels aufzusuchen, der – nachdem er viele Fragen [13] gestellt hatte – befand, daß er ein nabi, ein Prophet, sei, ein »Mann des Geistes«, aus dem »die Stimme Gottes spricht«.

Nachdem er viele Stunden mit ihm gesprochen hatte, sagte der Priester zu Elias Eltern, daß alles, was der Junge in Zukunft sagen würde, ernst zu nehmen sei.

Als sie von dort weggingen, verlangten die Eltern von Elia, daß er niemandem je sagen dürfe, was er sah oder hörte, denn Prophet sein bedeutete, mit den Regierenden verbunden zu sein, und das sei immer gefährlich.

Nun hörte Elia jedoch nie etwas, was die Priester oder die Könige hätte interessieren können. Er redete nur mit seinem Schutzengel, hörte auf dessen Ratschläge für sein eigenes Leben. Manchmal hatte er Visionen, die er nicht verstand – von fernen Ozeanen, von Bergen, in denen fremdartige Wesen lebten, von geflügelten Rädern mit Augen. Wenn diese Visionen verschwanden, tat er alles, um sie so schnell wie möglich zu vergessen, ganz wie seine Eltern ihn geheißen hatten. Daher wurden die Stimmen und Visionen immer seltener. Seine Eltern waren froh darüber und redeten nicht mehr davon. Als er alt genug war, um sich selbst zu ernähren, liehen sie ihm Geld, damit er eine kleine Tischlerei aufmachte.

Hin und wieder sah er voller Ehrfurcht auf die anderen Propheten, die in ihren mit Ledergürteln zusammengehaltenen Fellumhängen durch die Straßen von Gilead wanderten und sagten, der Herr habe sie dazu auserkoren, das auserwählte Volk zu führen. Nun, sein Schicksal war das nicht. Nie würde er sich durch Tänze und Selbstkasteiung in Trance versetzen können, was unter den »von der Stimme Gottes [14] Ergriffenen« der Brauch war – dazu fürchtete er Schmerzen zu sehr. Niemals würde er durch die Straßen von Gilead gehen und stolz die Wunden vorzeigen, die er sich in seiner Ekstase zugefügt hatte – dazu war er viel zu schüchtern.

Elia hielt sich für einen ganz gewöhnlichen Menschen, der sich wie alle anderen kleidete und dessen Seele mit genau denselben Ängsten und Versuchungen kämpfte wie die aller anderen Sterblichen auch. Je mehr er in seiner Arbeit als Tischler aufging, desto seltener hörte er Stimmen, bis sie ganz ausblieben. Denn Erwachsene und solche, die ihr Leben mit Arbeit verdienen, haben keine Zeit für solche Dinge. Seine Eltern waren zufrieden mit ihrem Sohn, und das Leben verlief harmonisch und friedlich.

Das Gespräch, das er als Kind mit dem Priester geführt hatte, war nur noch eine ferne Erinnerung. Elia konnte nicht glauben, daß Gott der Allmächtige zu den Menschen sprechen mußte, um seine Befehle durchzusetzen. Was in seiner Kindheit geschehen war, konnten nur die Phantasien eines Jungen gewesen sein, der nichts Besseres zu tun hatte. In Gilead, seiner Heimatstadt, gab es einige sogenannte ›Verrückte‹. Sie verbrachten ihr Leben auf der Straße, predigten das Ende der Welt und lebten von Almosen. Dennoch hatte sie nie ein Priester »von Gott Ergriffene« genannt.

Elia kam zum Schluß, daß die Priester niemals ganz sicher wußten, was sie da sagten. Die »von Gott Ergriffenen« waren nur das Ergebnis einer Gesellschaft, die nicht wußte, wohin sie trieb, in der sich Geschwister entzweiten und die Machthaber sich immer schneller abwechselten. Es war ein und dieselbe Gesellschaft, die die Propheten und Verrückten hervorbrachte.

[15] Als er von der Heirat seines Königs mit Isebel, der Prinzessin von Tyrus, erfuhr, maß er dem keine besondere Bedeutung bei. Andere Könige des Volkes Israel hatten das gleiche getan und dadurch einen dauerhaften Frieden in der Region und ständig wachsende Handelsbeziehungen mit dem Libanon gefördert. Elia scherte sich wenig darum, daß die Bewohner des Nachbarlandes an Götter glaubten, die es nicht gab, oder merkwürdigen Kulten anhingen, in denen beispielsweise Tiere und Berge angebetet wurden. Sie waren ehrbare Kaufleute, und das vor allem zählte.

Elia kaufte weiterhin das Zedernholz, das sie brachten, und verkaufte das, was er in seiner Werkstatt hergestellt hatte. Obwohl sie etwas stolz waren und sich selbst gern »Phönizier« nannten, weil sie eine andere Hautfarbe hatten, hatte kein Kaufmann je das in Israel herrschende Durcheinander für sich ausgenutzt. Sie zahlten den angemessenen Preis für die Waren und verloren kein Wort über den Bürgerkrieg und die anderen innenpolitischen Probleme der Juden.

Nachdem sie den Thron bestiegen hatte, bat Isebel Ahab, den Kult des Herrn durch den der Götter des Libanons zu ersetzen.

Auch das war nichts Neues, und Elia diente, obwohl er über Ahabs Verhalten empört war, weiterhin dem Gott Israels und lebte nach den Gesetzen Moses. ›Es wird schon wieder vorübergehen‹, dachte er. ›Isebel hat Ahab verführt, doch sie wird nicht genügend Macht haben, um auch das Volk zu überzeugen.‹

Doch Isebel war eine außergewöhnliche Frau. Sie glaubte, [16] daß Baal sie auf die Welt kommen ließ, damit sie die Völker und Nationen bekehre. Geschickt und geduldig entschädigte sie anfangs die, die dem Herrn abschworen und die neuen Gottheiten annahmen. Ahab ließ Baal in Samaria ein Haus bauen und ihm darin einen Altar errichten. Bald schon pilgerten die Menschen dorthin, und bald betete man überall im Land die Götter des Libanon an.

›Es wird schon vorübergehen. Vielleicht braucht es eine Generation, doch es wird vorübergehen‹, dachte Elia immer noch.

Dann geschah das, worauf er nicht vorbereitet war.

Es war an einem Nachmittag, als er gerade einen Tisch in seiner Werkstatt fertiggestellt hatte. Plötzlich wurde alles um ihn herum dunkel, Tausende kleiner weißer, leuchtender Punkte umflirrten ihn. Sein Kopf und sein Nacken begannen zu schmerzen. Er wollte sich setzen, doch er bemerkte, daß ihm kein einziger Muskel gehorchte.

Das war keine Einbildung.

›Ich bin tot‹, dachte er dabei. ›Und jetzt entdecke ich, wohin uns Gott nach dem Tod schickt: mitten ins Firmament.‹

Ein Licht leuchtete besonders hell, und unvermittelt – als käme sie gleichzeitig von überallher, ertönte eine Stimme, die ihm befahl, er möge Ahab sagen:

»So wahr der Herr, der Gott Israels, lebt: Es soll diese Jahre weder Tau noch Regen kommen.«

[17] Im nächsten Augenblick war alles wieder wie vorher: die Tischlerwerkstatt, das Abendlicht, die Stimmen der Kinder, die auf der Straße spielten.

In jener Nacht schlief Elia nicht. Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte er wieder die Empfindungen, die er als Kind gehabt hatte. Doch diesmal hatte nicht sein Schutzengel, sondern ›etwas‹, das mächtiger und stärker war als dieser, zu ihm gesprochen. Er hatte Angst, daß seine Geschäfte verflucht sein würden, wenn er nicht tat, wie ihm geheißen.

Am Morgen darauf beschloß er zu tun, was ihm die Stimme aufgetragen hatte. Schließlich war er ja nur der Bote für etwas, was nicht ihn selbst betraf. Wenn er seinen Auftrag ausgeführt hatte, würden die Stimmen ihn nicht wieder stören.

Es war nicht schwierig, bei König Ahab eine Audienz zu erhalten. Seit König Salomos Thronbesteigung spielten die Propheten bei Geschäften und der Regierung seines Landes eine zunehmend wichtige Rolle. Sie konnten heiraten, Kinder haben, doch sie mußten immer für Gott da sein, damit die Regierenden nicht vom rechten Weg abkamen. Es hieß, daß dank der »von Gott Ergriffenen« viele Schlachten siegreich geschlagen worden waren und daß das Volk Israel überlebte, weil die Regierenden, wenn sie vom rechten Weg abkamen, immer einen Propheten hatten, der sie auf den Weg des Herrn zurückführte.

Als Elia vor dem König stand, warnte er ihn vor einer Dürre, die das Land heimsuchen würde, bis der Kult der Götter der Phönizier aufgegeben würde.

Der Herrscher maß seinen Worten keine große [18] Bedeutung bei, doch Isebel, die neben Ahab saß und aufmerksam zuhörte, stellte eine Reihe von Fragen. Elia berichtete ihr von der Vision, den rasenden Kopfschmerzen und daß die Zeit wie stillgestanden hätte, während er dem Engel zuhörte. Dabei konnte er die Prinzessin aus nächster Nähe betrachten, über die alle redeten. Sie war eine der schönsten Frauen, die er je gesehen hatte, mit langem schwarzen Haar, das ihr bis zu den Hüften des wohlgeformten Körpers fiel. Die grünen Augen in dem braunen Gesicht blickten fest in Elias Augen. Er vermochte ihren Ausdruck nicht zu deuten, noch konnte er ermessen, welchen Eindruck seine Worte auf Isebel machten.

Als er den Palast verließ, war er überzeugt, seine Mission erfüllt zu haben und sich nun wieder seiner Arbeit in der Tischlerei widmen zu können. Und er begehrte Isebel mit der ganzen Glut seiner 23Jahre, so sehr, daß er zu Gott betete, ihn doch dereinst eine Frau im Libanon finden zu lassen, weil sie dort so schön waren mit ihrer dunklen Haut und den geheimnisvollen grünen Augen.

Elia arbeitete bis zum Abend und schlief dann friedlich. Am nächsten Morgen wurde er noch vor Sonnenaufgang vom Leviten geweckt. Isebel hatte den König davon überzeugt, daß die Propheten eine Gefahr für Israel darstellten. Ahabs Soldaten hatten Befehl erhalten, alle hinzurichten, die sich weigerten, ihrer göttlichen Mission zu entsagen.

[19] Allein Elia hatte keine Wahl: Er sollte auf jeden Fall getötet werden.

Zwei Tage lang hielten er und der Levit sich im Pferdestall südlich von Gilead versteckt, während vierhundertfünfzig nabi hingerichtet wurden. Dennoch war der größte Teil der Propheten, die sich selbst geißelnd durch die Straßen gezogen waren und das Ende der Welt vorhergesagt hatten, zur neuen Religion übergetreten.

Ein plötzliches Geräusch, dem ein Schrei folgte, riß Elia aus seinen Gedanken. Erschrocken wandte er sich seinem Gefährten zu.

»Was ist passiert?«

Doch er erhielt keine Antwort. Der Levit fiel zu Boden. Ein Pfeil hatte ihm die Brust durchbohrt.

Vor Elia stand ein Soldat und legte einen neuen Pfeil an seinen Bogen. Elia blickte sich um: Alle Fenster und Türen in der Straße waren geschlossen, die Sonne strahlte am Himmel, eine Brise wehte vom Meer herüber, von dem er schon so viel gehört, das er aber nie gesehen hatte. Er dachte daran, wegzurennen, doch er wußte, daß er getroffen werden würde, noch bevor er an der nächsten Straßenecke angelangt war.

›Wenn ich schon sterben muß, dann nicht durch einen Schuß in den Rücken‹, dachte er.

Der Soldat hob erneut den Bogen. Zu seiner eigenen Überraschung regte sich in Elia weder Angst noch sein Überlebenstrieb – nichts. Es war, als wäre diese Szene schon seit langem vorbestimmt und als spielten beide, er und der Soldat, nur die Rolle in einem Drama, das ein anderer [20] geschrieben hatte. Elia dachte an seine Kindheit, an die Morgen und die Abende in Gilead, an die unfertigen Arbeiten in seiner Tischlerei, er dachte an seine Eltern, die nicht wollten, daß ihr Sohn Prophet würde. Er dachte an Isebels Augen und an König Ahabs Lächeln.

Er dachte, wie dumm es doch war, mit kaum dreiundzwanzig Jahren zu sterben, ohne je eine Frau geliebt zu haben.

Die Hand ließ die Sehne zurückschnellen, der Pfeil durchschnitt die Luft, flog sirrend an seinem rechten Ohr vorbei und bohrte sich in den staubigen Boden hinter ihm.

Der Soldat spannte den Bogen abermals und zielte auf ihn. Doch anstatt den Pfeil abzuschießen, starrte er Elia in die Augen.

»Ich bin der beste Bogenschütze in Ahabs Armee«, sagte er. »Sieben Jahre habe ich kein einziges Ziel verfehlt.«

Elia sah auf die Leiche des Leviten hinunter.

»Dieser Pfeil galt dir.« Der Soldat hatte den Bogen gespannt, und seine Hände zitterten. Elia war der einzige Prophet, der getötet werden mußte. Die anderen konnten zwischen Baal und dem Tod wählen.

»Dann vollende deine Arbeit.«

Er wunderte sich, wie ruhig er war. Er hatte sich den Tod in den Nächten im Stall so oft ausgemalt und sah jetzt, daß er unnötig gelitten hatte. In wenigen Sekunden würde alles vorbei sein.

»Ich kann nicht«, sagte der Soldat, dessen Hände noch immer zitterten, während der Bogen sich hin und her bewegte. »Geh, verschwinde, denn ich glaube, daß Gott meine [21] Pfeile umgeleitet hat und mich verfluchen wird, wenn es mir gelingt, dich zu töten.«

Sowie Elia begriff, daß er dem Tod entronnen war, kehrte seine Todesangst zurück. Noch gab es die Möglichkeit, einmal das Meer zu sehen, eine Frau zu finden, Kinder zu haben, die Arbeiten in der Tischlerwerkstatt zu Ende zu führen.

»Töte mich bitte schnell«, sagte er. »Jetzt bin ich ruhig. Wenn du lange wartest, werde ich um alles leiden, was ich verlieren werde.«

Der Soldat blickte um sich, um festzustellen, ob irgend jemand Zeuge dieser Szene geworden war. Dann senkte er den Bogen, steckte den Pfeil in den Köcher und verschwand um die Ecke.

Elia fühlte seine Beine unter ihm nachgeben. Plötzlich war die Angst wieder da. Er mußte aus Gilead verschwinden, um niemals mehr vor einem Soldaten stehen zu müssen, der mit seinem Pfeilbogen auf sein Herz zielte. Nicht er hatte sein Schicksal gewählt, er hatte Ahab nicht aufgesucht, um sich später vor den Nachbarn damit zu brüsten, daß er mit dem König sprechen durfte. Für das Massaker unter den Propheten war er nicht verantwortlich – und auch nicht dafür, daß an einem Nachmittag die Zeit stehengeblieben und sich seine Werkstatt in ein schwarzes Loch voller leuchtender Punkte verwandelt hatte.

Wie der Soldat schaute auch er um sich. Die Straße war menschenleer. Er überlegte noch, ob er das Leben des Leviten retten könnte, doch dann kam die Angst wieder in ihm hoch, und bevor noch irgend jemand kam, floh Elia.

[22] Er wanderte viele Stunden, schlug Wege ein, die lange niemand gegangen war, bis er an das Ufer des Baches Krith gelangte. Er schämte sich seiner Feigheit, doch er war auch froh, noch zu leben.

Er trank ein wenig vom Wasser, setzte sich, und erst da wurde ihm seine Lage bewußt: Spätestens morgen müßte er etwas essen, doch in der Wüste würde er kaum Nahrung finden.

Er erinnerte sich an die Tischlerei, an die Arbeit so vieler Jahre und daß er dies alles aufgeben mußte. Mit einigen seiner Nachbarn war er befreundet, aber auf sie zählen konnte er trotzdem nicht. Die Nachricht von seiner Flucht würde sich in der Stadt wie ein Lauffeuer verbreiten und alle würden ihn dafür hassen, daß er entkommen war und die wahren Männer des Glaubens zu Märtyrern machte.

Alles, was er bisher getan hatte, war zerstört. Und nur weil er glaubte, dadurch Gottes Willen zu erfüllen. Morgen oder übermorgen, in den nächsten Wochen und Monaten, würden die Kaufleute aus dem Libanon an seine Tür klopfen, und jemand würde ihnen sagen, daß der Besitzer geflohen sei, der Schuld sei am Tod vieler unschuldiger Propheten. Vielleicht würden sie ihnen auch sagen, daß er versucht habe, die Götter zu zerstören, die Himmel und Erde schützten. Bald würde die Geschichte über Israels Grenzen hinausdringen, und dann würde er nie eine Frau heiraten, die so schön war wie die Frauen aus dem Libanon.

›Aber es gibt doch Schiffe.‹

Ja, es gab wohl Schiffe. Verbrecher, Gefangene, niedriges Gesindel wurden durchaus als Seeleute genommen, denn [23] Seemann sein war noch gefährlicher als Soldat. Im Krieg hatten die Soldaten manchmal Glück und kamen mit dem Leben davon, die Seeleute dagegen hatten wenig Chance, die Meere waren unbekannt, wimmelten von Ungeheuern, und wenn ein Unglück geschah, überlebte niemand, der die Geschichte hätte erzählen können.

Schiffe gab es wohl, doch die wurden von den phönizischen Kaufleuten kontrolliert. Elia war weder ein Verbrecher noch ein Gefangener oder niedriges Gesindel; er war vielmehr jemand, der es gewagt hatte, seine Stimme gegen Baal zu erheben. Fänden sie ihn, so würden sie ihn töten und ins Meer werfen, denn die Seeleute glaubten, daß Baal und seine Götter die Stürme beherrschten.

Er konnte nicht ans Meer. Nach Norden in den Libanon konnte er auch nicht. Und auch nach Osten konnte er sich nicht wenden, weil sich verschiedene jüdische Stämme seit Generationen bekriegten.

Er dachte an die Ruhe, die ihn überkommen hatte, als er vor dem Soldaten stand. Was bedeutete der Tod schon? Der Tod war ein Augenblick und nicht mehr. Und selbst die Schmerzen wären gleich vorüber gewesen, und dann hätte Gott ihn bei sich aufgenommen.

Er legte sich auf den Boden und blickte lange in den Himmel. Wie der Levit wollte auch er seine Wette abschließen. Es ging nicht um die Existenz Gottes – daran zweifelte er nicht –, sondern um den Sinn seines Lebens.

Er sah auf die Berge, auf das Land, dem – das hatte der Engel des Herrn gesagt – nun eine Dürre bevorstand. Er sah den Bach Krith, der bald versiegen würde. Innig und [24] respektvoll nahm er Abschied von der Welt und bat den Herrn, ihn gnädig bei sich aufzunehmen, wenn seine Stunde kam.

Er fragte sich, wieso er überhaupt lebte, und fand keine Antwort.

Er überlegte, wohin er gehen könnte, und entdeckte, daß er in der Falle saß.

Morgen würde er umkehren und sich stellen, auch wenn seine Todesangst wiederkam.

Umsonst versuchte er sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihm immerhin noch ein paar Stunden zu leben blieben. Er entdeckte, daß der Mensch kaum je die Macht hat, eine freie Entscheidung zu fällen.

Elia wachte am nächsten Tag auf und blickte wieder auf den Bach Krith.

Morgen oder in einem Jahr würde dieser nur ein Weg aus feinem Sand und runden Steinen sein. Die alten Bewohner würden diesen Ort weiterhin Krith nennen und vielleicht jemandem, der nach dem Weg fragte, sagen: »Das liegt bei dem Bach, der hier vorbeifließt.« Die Reisenden würden sich dort hinbegeben und nur die runden Steine und den feinen Sand sehen und sich sagen: »Hier war einmal Wasser.« Doch das Wichtigste an einem Bach, sein Wasser, wäre nicht mehr da, um den Durst zu stillen.

Wie die Bäche und die Pflanzen brauchten auch die Seelen eine Art von Regen: die Hoffnung, den Glauben, einen Grund, zu leben. Wenn es dies nicht mehr gab, dann starb [25] alles in dieser Seele, obwohl der Körper weiterhin lebte. Und die Leute konnten sagen: »Hier in diesem Körper wohnte einmal ein Mensch.«

Es war jetzt nicht der Zeitpunkt, darüber nachzusinnen. Er erinnerte sich abermals an das Gespräch mit dem Leviten, kurz bevor sie gemeinsam den Stall verlassen hatten. Wozu so viele Tode sterben, wenn ein einziger genügte? Er brauchte nur auf Isebels Soldaten zu warten. Kommen würden sie zweifellos, denn es gab nicht viele Orte, wohin man sich aus Gilead flüchten konnte. Die Übeltäter gingen in die Wüste – und wurden dann dort wenige Tage später tot aufgefunden. Oder sie gingen zum Bach Krith, wo sie am Ende immer gefangen wurden.

Also würden die Soldaten bald kommen. Und er würde froh sein, sie zu sehen.

Er trank ein wenig vom kristallklaren Wasser, das neben ihm dahinfloß. Er wusch sein Gesicht und suchte einen Schatten, um dort seine Verfolger zu erwarten. Ein Mensch kann nicht gegen sein Schicksal ankämpfen – und er, Elia, hatte bereits gekämpft und verloren.

Obwohl die Priester ihn einen Propheten nannten, hatte er beschlossen, als Tischler sein Leben zu bestreiten. Doch der Herr hatte ihn wieder auf seinen Weg zurückgeführt.

Er war nicht der erste, der versuchte, sich der Bestimmung zu entziehen, die Gott für jeden Menschen auf Erden bereithielt. Einem Freund von ihm, der eine großartige Stimme hatte, verboten die Eltern, Sänger zu werden, weil dieser Beruf seine Familie entehrt hätte. Eine seiner Jugendfreundinnen war eine begnadete Tänzerin; doch ihre [26] Familie hatte ihr das Tanzen untersagt, aus Angst, der König würde sie zu sich in den Palast rufen; das Leben bei Hofe galt als sündig und machte jede Hoffnung auf eine gute Heirat zunichte.

»Der Mensch wurde geboren, um sein Schicksal zu verraten.« Gott gab den Herzen nur unmögliche Aufgaben.

»Warum?«

Vielleicht weil die Tradition aufrechterhalten werden mußte.

Doch das war keine gute Antwort. »Die Bewohner Libanons sind weiter als wir, weil sie die Tradition der Seefahrer fortgeführt haben. Als alle Welt nur ein und denselben Schiffstyp benutzte, hatten sie beschlossen, etwas ganz anderes zu bauen. Viele verloren auf See ihr Leben, doch die Schiffe wurden verbessert, und nun beherrschen die Phönizier weltweit den Handel. Sie haben einen hohen Preis bezahlt, um sich anzupassen, doch es hat sich gelohnt.«

Vielleicht verriet der Mensch sein Schicksal, weil Gott nicht näher war. Er hatte in die Herzen Träume gelegt, die einer Zeit entstammten, in der alles möglich war, und hatte sich dann um andere Dinge gekümmert. Die Welt veränderte sich, das Leben wurde schwieriger, doch die Träume der Menschen wurden nicht entsprechend angepaßt.

Gott war fern. Wenn er die Engel schickte, damit sie mit seinen Propheten sprachen, dann nur, weil es hier noch etwas zu tun gab. Was wäre dann die Antwort?

»Vielleicht haben unsere Eltern sich geirrt und fürchteten, wir würden dieselben Fehler machen. Oder vielleicht haben sie sich auch nie geirrt und wissen nicht, wie sie uns helfen können, wenn wir ein Problem haben.«

[27] Er fühlte, daß er der Antwort ganz nahe war.

Der Bach floß neben ihm dahin, einige Raben kreisten am Himmel, Pflanzen wuchsen unbeirrbar aus dem sandigen, sonst unfruchtbaren Boden. Was hätten wohl ihre Ahnen gesagt?

»Bächlein, suche dir einen besseren Ort, um in deinem klaren Wasser die Helligkeit der Sonne widerzuspiegeln, denn die Wüste wird dich austrocknen«, würde ein Gott des Wassers gesagt haben, sofern es ihn gab. »Raben, es gibt mehr Nahrung in den Wäldern als zwischen den Felsen und dem Sand«, würde der Gott der Vögel gesagt haben. Und der der Blumen: »Pflanzen, werft euere Samen fern von hier ab, denn die Welt ist voller fruchtbarer, feuchter Erde und ihr würdet schöner wachsen.«

Doch weder der Krith noch die Pflanzen oder die Raben – einer hatte sich in der Nähe niedergelassen – hatten den Mut zu tun, was die anderen Flüsse, Vögel oder Blumen für unmöglich gehalten hatten.

»Ich lerne«, sagte er zum Vogel, »auch wenn ich ein unwürdiger, unnützer Schüler bin, denn ich bin zum Sterben verurteilt.«

»Du hast entdeckt, wie einfach alles ist«, schien der Rabe zu antworten. »Man muß nur Mut haben.«

Elia lachte, denn er hatte einem Vogel die Worte in den Mund gelegt. Das war ein vergnügliches Spiel. Er hatte es bei der Frau gelernt, die Brot backte. Und er beschloß fortzufahren. Er würde Fragen stellen und sich so selbst eine Antwort geben können, als wäre er ein wahrer Weiser.

Der Rabe flog auf. Elia wartete weiter auf Isebels Soldaten, denn einmal sterben genügte.

[28] Der Tag verging, ohne daß etwas geschah. Sollten sie vergessen haben, daß der größte Feind ihres Baal noch am Leben war? Warum verfolgte ihn Isebel nicht, obwohl sie doch wissen mußte, wo er sich befand?

»Weil ich es in ihren Augen gelesen habe, und sie ist eine kluge Frau«, sagte er sich. »Mein Tod würde mich zu einem Märtyrer des Herrn machen. Als Flüchtling bin ich nur ein Feigling, der selbst nicht glaubt, was er sagt.«

Ja, genau das war die Strategie der Prinzessin.