Der Gärtner war der Mörder - Wolfgang Schneider - E-Book

Der Gärtner war der Mörder E-Book

Wolfgang Schneider

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Beschreibung

Valentin Sedlmeyer, Heavy-Metal-Fan und Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei, sieht sich einem äußerst schwierigen Fall gegenüber: eine 15-jährige Schülerin wurde entführt, offenbar vom selben Täter, der kurz zuvor ein anderes Mädchen in seine Gewalt gebracht und getötet hat. Schnell wird klar, dass sehr wenig Zeit bleibt, das Leben der Entführten zu retten. Sedlmeyer macht sich auf die Suche, begegnet skurrilen Münchner Originalen und seltsamen Persönlichkeiten, die Grenzen zwischen Verdächtigen und Zeugen verschwimmen. Immer tiefer stößt er in die psychischen Abgründe des Täters vor und findet dabei am Ende Schreckliches heraus...

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Wolfgang Schneider

Der Gärtner war der Mörder

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Im Wald

Auf dem Viktualienmarkt I

Eine Wohnung in Allach

Auf dem Viktualienmarkt II

Zuhause

Pathologie

Präsidium I

Eine Realschule in Untermenzing

Präsidium II

Briefzentrum der Post

Eine Kneipe in Obermenzing

Eine Wohnung in Berg am Laim

Präsidium III

Ein Gewächshaus in Landshut

Präsidium IV

Eine Hauptschule in Landshut

Eine Arztpraxis in Laim

Eine Wohnung in Landshut

Präsidium V

X-Cess

Präsidium VI

In der Hütte

Präsidium VII

Beim Italiener

Epilog

Impressum neobooks

Im Wald

Freitag, 6. Juni 2008, 23:30

Der Mann hebt den Kopf und schaut nach oben, durch eine Lücke im Dach der Blätter, in den Münchner Nachthimmel. Ein zunehmender Mond scheint, halbverdeckt durch einen Wolkenfetzen, auf die umstehenden Laubbäume und verleiht ihnen einen fahlen, schwarzen Anstrich, das ganze hat etwas blutleeres an sich. Irgendwo meldet sich ein Uhu zu Wort oder ein Käuzchen, der Mann könnte es nicht sagen, er kennt sich mit Pflanzen besser aus als mit Tieren. Der Uhu schuhut noch ein weiteres Mal, dann hat er besseres zu tun und verstummt. Der Mann nimmt einen tiefen Atemzug und saugt die kühle Nachtluft ein; es ist still, er spürt die Ruhe, die nur die Natur ihm geben kann; wo etwas wächst, wo Bäume sind um ihn herum, da ist alles schlechte weit weg und nicht wichtig. Er wirft die Fahrertüre zu, es ist ein weißer Kleintransporter, ein japanisches Modell, nicht mehr das neueste und an den Seiten ziemlich angerostet. Dann zieht er einen Schlüssel aus der Tasche; seine Schritte knirschen schwer auf dem Kiesweg, während er zur Hinterseite des Wagens geht. Der Schlüssel darf nicht zu tief hineingesteckt werden, sonst blockiert das Schloss aber der Mann weiß das und schließt mit einem leichten Quietschen die Heckklappe auf. Er öffnet sie und beugt sich mit dem Oberkörper weit ins Innere des Wagens. Es dauert ein wenig, bis er das Mädchen herausgezerrt hat, weil sie mit aller Kraft mit den Beinen strampelt und sich zu wehren versucht, doch der Mann ist groß und kräftig und das Mädchen ist jung und viel kleiner als er. Sie würde schreien, um ihr Leben schreien in dieser schlimmsten und größten Angst, die ein Mensch haben kann, aber sie kann nicht schreien. Das erste, was der Mann vor einer halben Stunde gemacht hat, als er sie entführt hat, war, ihr ein breites Paketklebeband auf den Mund zu kleben. Nach einer Weile gelingt es ihm, das Mädchen aus dem Heck des Wagens zu zerren. Dabei stolpert er und beide fallen hin; das Mädchen strampelt wie wild mit den Füßen und kann nicht aufstehen, weil ihre Hände auf dem Rücken mit dem selben Paketklebeband zusammen gebunden sind, das sie am Schreien hindert. Das einzige Geräusch, neben dem Uhu, der sich nun doch noch einmal zu Wort meldet, ist das hektische Scharren ihrer Füße im Kies und ihr ersticktes, gepresstes Wimmern. Mit einem Ruck ist der Mann wieder auf den Beinen, packt sie am Oberarm und reißt sie zu sich hoch. Sie hört augenblicklich auf zu strampeln und zu wimmern und sieht zu ihm auf. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ein Stück Mond spiegelt sich darin. Kein Geräusch ist zu hören, keines außer ihrem schnellen, panischen Schnaufen. Der Mann dreht seinen Kopf und wirft einen Blick zur Seite, dann geht er mit zügigen Schritten los und schleift das Mädchen, noch immer am Arm gepackt, neben sich her. Sie fängt wieder an zu zerren und sich zu wehren, ihre Füße suchen nach Halt auf dem Kiesweg, der im Mondlicht ein bisschen aussieht, als wäre er früher einmal ein blassgrauer Bach gewesen und vor langer Zeit zu Stein erstarrt. Etwa fünfzehn Minuten stapft, schleift, strampelt das Paar dahin, verlässt den Weg, überquert ein dünn bewachsenes Waldstück und gelangt zu einer kleinen Lichtung. Es bahnt sich seinen Weg durch hohes, wild gewachsenes Gras, das sein Dasein den städtischen Renaturierungs-Maßnahmen verdankt und gelangt schließlich zu einer kleinen, am Rand der Lichtung versteckten Holzhütte. Der Mann stößt das Mädchen mit einem kräftigen Schubser von sich weg, so dass sie auf die Knie fällt und dann zur Seite umkippt. Sie fängt wieder an zu strampeln und zu wimmern, ein hohes, gepresstes „Mmmmmm“, doch das interessiert ihn nicht. Er sucht etwas in seiner Jackentasche, dann zieht er einen rostigen Schlüssel hervor, steckt ihn ins Schloss und sperrt die Türe auf. Das Mädchen hat es in den paar Sekunden, die der Mann mit seinem Schlüssel beschäftigt ist, tatsächlich geschafft, halbwegs auf die Beine zu kommen und stolpert in panischer Flucht davon, doch sie ist langsam, weil sie ihre Arme nicht bewegen kann und auf dem weichen Waldboden leicht das Gleichgewicht verliert. Mit wenigen Schritten ist der Mann bei ihr und wirft sie mit einem brutalen Stoß in den Rücken zu Boden. Dann hebt er sie hoch, während sie in wilder Panik ihren Oberkörper verdreht und mit den Beinen um sich schlägt. Sie hat keine Chance, der Mann ist zu kräftig und wirft sie sich über die Schulter wie einen zusammen gerollten Teppich. Langsam nähern sie sich der Hütte, während ein größerer Wolkenfetzen sich vor den Mond schiebt und ihn fast vollständig verdeckt. Dort angekommen, stößt er die Tür auf, tritt ein und wirft das Mädchen auf den Lehmboden im Inneren; sie schlägt hart auf und kann für ein paar Sekunden nicht atmen. Dann schließt er die Tür und sperrt von innen ab. Es ist vollkommen dunkel, sie kann nicht sehen, wie er über ihr steht und er kann nicht sehen, wie sie vor ihm auf dem Boden liegt. Sie können beide nur hören und das einzige Geräusch im Raum ist ihr panischer, flacher Atem. Langsam und vorsichtig geht er ein paar Schritte zur Seite und betastet die Wand; dann findet er einen Schalter und macht das Licht an. Ein kurzes, ganz leises Surren ertönt, ein schnelles Flackern an der Decke. Dann erstrahlt eine nackte Glühbirne und wirft ein dünnes, bräunliches Licht auf den Mann und das Mädchen. Er blickt sich rasch um, dann geht er mit schnellen Schritten zum anderen Ende des Raumes und öffnet eine weitere Tür, die in einen anderen Raum führt. Er fasst mit der Hand um die Kante des Türstocks, tastet und sucht ein wenig, dann hat er einen weiteren Schalter gefunden und knipst das Licht an. Das Mädchen hört ein paar mal das selbe hohe, metallisch flirrende Geräusch und sieht aus dem Augenwinkel ein weißbläuliches Flackern: Neonröhren. Sie dreht den Kopf zur Seite, kann aber durch die halb geöffnete Tür nicht erkennen, was sich im zweiten Raum befindet. Der Mann dreht sich um und kommt langsam zu ihr zurück. Er legt den Kopf ein wenig zur Seite und sieht sie einen Moment lang von oben herab an. Dann sagt er:

„Das Grünzeug muss jetzt geschält werden.“

Sie hebt den Kopf soweit es geht und starrt ihn an. Dann strampelt sie mit den Beinen, und versucht, sich von ihm weg zu schieben. Er bückt sich, packt sie am Oberarm und zieht sie ohne Anstrengung hoch. Er beugt sich zu ihr herunter, bis sein Gesicht ganz nahe an ihrem ist und starrt in ihre aufgerissenen Augen; seine Halsschlagader tritt hervor und pulsiert heftig und langsam. Dem Mädchen fällt das nicht auf, sie sieht paralysiert in sein Gesicht. Er flüstert:

„Das Scheiß-Grünzeug wird jetzt geschält, SOFORT!“

Dabei lässt er sie los und sie fällt wieder auf den Boden. Blitzschnell sinkt er neben ihr auf die Knie und dreht sie auf den Bauch. Dann reißt er an dem Klebeband, mit dem ihre Hände gefesselt sind. Es gelingt ihm erst nicht, es zu entfernen, er wird immer wütender und zerrt daran wie ein Wahnsinniger, während er brüllt:

„Das – Scheiß – Grünzeug! Ich – muss – es – schälen!“. Dann senkt er den Kopf und versucht, das Klebeband zu zerbeißen. Als es ihm nach einer Weile gelingt, sieht er den tiefroten Streifen, den das Band auf ihren weißen, blutleeren Handgelenken hinterlassen hat. Er dreht sie wieder auf den Rücken; sie atmet sehr schnell und flach, Tränen laufen ihr über's Gesicht, während sie ihn panisch ansieht. Sie fängt ziemlich stark an zu zittern. Dann beginnt sich sein Gesichtsausdruck plötzlich zu entspannen, weich und fast zärtlich lächelt er sie an und streicht ihr über's Haar.

„Ein tolles Grünzeug ist es, so schön lebendig. Das werden wir jetzt schääälen...“

Er beginnt vorsichtig, fast schüchtern, den Reißverschluss ihres Anoraks aufzumachen. Als dieser klemmt, verschließt sich sein Gesicht und wird wieder sehr hart. Er beginnt schwer zu atmen, zerrt und reißt an ihrer Jacke. Dann steht er auf, packt das Mädchen am Oberarm, zieht sie auf die Beine und versucht hektisch, den Reißverschluss aufzubekommen. Sie wehrt sich, fasst ihm mit den Händen ins Gesicht, versucht ihn weg zu schubsen. Er packt eine ihrer Hände am Handgelenk und biegt sie nach unten. Dann schlägt ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.

„Das scheiß Grünzeug soll's Maul halten, das scheiß Grünzeug soll verdammt noch mal das Maul halten!“ schreit er. Dann schlägt er ihr nochmal ins Gesicht und reißt wie wahnsinnig am Reißverschluss, bis er ihn schließlich mit einem Ruck offen hat. Das Mädchen ist gelähmt, sie wehrt sich kaum, als er ihr den Anorak auszieht. Dann lässt er sie los. Ihre Knie zittern so stark, dass sie sich nicht auf den Beinen halten kann zu Boden sinkt. Sie sieht ihn von unten herauf an, schlotternd vor Angst und macht sich in die Hose. Er kniet sich vor sie hin und sieht sie stumm und hasserfüllt an. Dann reißt er ihre Bluse auf, die Knöpfe springen weg wie Popcorn. Er zerrt daran, bis er ihr die Bluse ausgezogen hat, dann wirft er sie auf den Bauch und versucht, ihren BH aufzubekommen. Zunächst gelingt es ihm nicht und er brüllt vor Wut. Er zieht und zerrt, ihr Brustkorb wird zusammen geschnürt dass ihr die Luft wegbleibt. Schließlich gibt der Plastikverschluss des BHs nach und platzt auf. Wütend dreht er sie auf den Rücken. Seine Bewegungen werden immer hektischer, schneller, als er sich an ihren Schuhen zu schaffen macht. Wie im Wahn reißt er an den Schnürsenkeln, bekommt sie auf, zieht ihr die Schuhe aus. Dann knöpft er ihr die Hose auf, versucht sie ihr mit einem Ruck herunter zu ziehen. Sie strampelt verzweifelt mit den Beinen, doch er ist stark, sehr stark, und seine Wut ist grenzenlos. Er zerrt an den Hosenbeinen, schließlich gelingt es ihm, ihr Hose und Slip zusammen auszuziehen. Er wirft beides in eine Ecke, dann sieht er sie an. Der offene BH baumelt noch an ihren Schultern, mit einem beiläufigen Ruck zieht er ihn ihr aus, wie jemand, der nach dem Putzen noch ein letztes Stäubchen wegwischt. Er atmet eine Weile schwer, dann entspannt er sich wieder. Es ist noch einmal der sanfte, fast kindliche Ausdruck, der sich über sein Gesicht legt. Er lächelt und sagt:

„Jeeetzt bin ich glücklich.“

Er erhebt sich und steht, leicht gebeugt, mit plump herunter hängenden Armen da und sieht auf das Mädchen herab, das nun bis auf die Socken nackt vor ihm liegt. Dann beugt er sich zu ihr herunter und packt sie vorsichtig am Oberarm. Er zieht sie zu sich hoch und führt sie langsam zu der halb geöffneten Türe, die in den Nebenraum mit den Neonröhren führt. Sie zittert so stark, dass sie kaum gehen kann, ihr Kopf hängt und ihr Gesicht schwimmt in Tränen. Als er mit dem Mädchen den zweiten Raum betritt, sagt er, mehr zu sich selbst:

„Schön haben wir es geschält, das Grünzeug, da kommt es jetzt hinein.“

Sie hebt den Kopf, entdeckt zahllose Polaroid-Fotos an einer Wand und wirft einen Blick darauf. Dann sieht sie sich um, erkennt, dass die Bilder in eben diesem Raum aufgenommen worden sind und weiß plötzlich, was jetzt passieren wird. Ihr Gehirn ist überfordert, sie hat noch nie so etwas furchtbares gesehen. Wenn das Klebeband nicht wäre, würde sie jetzt lachen. Sie ist fünfzehn Jahre alt.

Auf dem Viktualienmarkt I

Samstag, 7. Juni 2008, 18:30

„Ist bei euch noch ein Platz frei?“ Keine Antwort, nur ein Nicken. Die Frage hatte Valentin Seldmeyer gestellt, die wortlose Antwort kam von einem älteren Mann mit einem halb vollen Weißbierglas, das er gerade zum Trinken angehoben hatte. Sedlmeyer nickte dem Weißbiertrinker zu und setzte sich neben ihn auf die Bierbank. Es gab zwar in München haufenweise Biergärten und etliche davon waren zweifellos stilvoller oder gemütlicher als der am Viktualienmarkt, aber nun war er schon mal da und das Bier war hier so gut wie dort. Zudem hatte der Viktualienmarkt als solches bei all seiner touristischen Exponiertheit doch auch etwas typisch Münchnerisches: diese Stadt schaffte es irgendwie, die sogenannte Moderne in Form von Massentourismus und Schnelllebigkeit mit der sogenannten Tradition relativ unaufgeregt zu verbinden. „Bayern, das Land von Laptop und Lederhose“ hatte der Ministerpräsident einmal gesagt. Man konnte dem Ministerpräsidenten alle möglichen Schwachheiten vorhalten, aber dieser Spruch enthielt vermutlich tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Und der Viktualienmarkt war Münchner Tradition allererster Güte. 1807 auf Weisung König Max des ersten Josef als Erweiterung des Stadtmarktes aufgebaut, hatte er sich vom damaligen Kräuter- und Getreide-Markt zu einem hochklassigen Feinkost-Paradies gewandelt, wo Spezialitäten aus allen Ecken der Welt in trauter Einigkeit mit Bayerischen Grundnahrungsmitteln wie Leberkäs und Radieschen feil geboten wurden. Über den Markt verteilt fanden sich Brunnen mit Bronzeskulpturen Münchner Kultur-Originale wie Karl Valentin oder dem Weiß Ferdl, gleich neben Marktständen, auf denen Ingwer-Wurzeln und Indische Gewürze angeboten wurden. Und mittendrin: der Biergarten, der neben Sedlmeyer Touristen aus aller Welt beherbergte. Wer ein Problem mit Touristen hatte, war in einem Münchner Biergarten übrigens schlecht aufgehoben: man konnte davon ausgehen, dass die auch den hinterletzten davon finden und überfallen würden, selbst wenn er auf dem Mond läge.

Valentin Sedlmeyer war Hauptkommissar bei der Münchner Kriminalpolizei und selbst ein wenig Tradition und Moderne in einem. Er war gebürtiger Münchner, der Bayerischen Sprache in all ihren Facetten mächtig, und in seinem Küchenschrank befand sich ein steinerner Bierkrug mit Zinndeckel und König Ludwig Emblem – zugegebener Maßen allerdings ein Geschenk zum zehnjährigen Dienstjubiläum. Andererseits sprach er im täglichen Umgang glasklares Hochdeutsch, ging überhaupt nicht gerne auf's Oktoberfest und hörte ausschließlich Heavy Metal. Dieser musikalischen Leidenschaft hatte er es indirekt zu verdanken, dass er jetzt hier saß: er hatte den Nachmittag zum shoppen genutzt und war wie so oft bei der Gelegenheit in einem kleinen Plattenladen in der Fraunhoferstraße hängen geblieben, den er seit Jahren regelmäßig besuchte, weil er eine ordentlich sortierte Rock-Abteilung zu bieten hatte. Er liebte diesen Laden: die prall gefüllten Regale ließen kaum Platz zum Treten und es gab immer etwas unbekanntes oder seltenes zu entdecken. Der Besitzer, der es mit den Öffnungszeiten nicht so genau nahm, war ein Musik-Fetischist erster Güte und immer für ein Fachgespräch zu haben. Er hatte Sedlmeyer zuvor in eine Diskussion über die Brasilianische Heavy-Metal Szene im allgemeinen und Sepultura im besonderen verwickelt und es hatte geschlagene dreieinhalb Stunden gedauert, bis er den Laden wieder verlassen hatte, zusammen mit einer Rarität von Pantera mit dem Titel „Metal Gods '89“. Und anschließend war er auf dem Nachhauseweg am Viktualienmarkt vorbei gekommen; weil er schonmal in der Gegend und das Wetter so schön war hatte er den spontanen Beschluss gefasst, dem Biergarten dort einen Besuch abzustatten.

Sedlmeyer tätschelte geistesabwesend seine Jackentasche, in der sich die neu erworbene CD befand, sah sich nach der Bedienung um und winkte zu ihr hinüber, als er sie schließlich entdeckt hatte.

„A Mass, bittschön“, bestellte er. Dann sah er sich ein bisschen um und fasste die Belegschaft an seinem Biertisch ins Auge. Der ältere Mann war offenbar mit seiner Frau da, die beiden wirkten mürrisch und so, als ob sie den Gesprächsstoff für dreissig Ehejahre bereits in den ersten fünf erschöpfend behandelt hätten. Grantiges älteres Ehepaar, vermutlich zwei Bayern kategorisierte der Kriminologe in ihm gedanklich. Ihm gegenüber saßen drei junge Männer, die sich angeregt über Fußball unterhielten, Rheinisch sprachgefärbt und wortgewaltig, jeder mit einer ziemlich leeren Mass vor der Nase. Die Bedienung kam und stellte ihm sein Bier hin.

„Bittschön, macht sechs sechzig“.

„Mach' ma sieben“, sagte er und zahlte. Die Rheinischen Fußballfans gegenüber wurden derweil auf zwei Dinge zugleich aufmerksam, die sie zwangen, ihr Gespräch zu unterbrechen: erstens, ihre fast leeren Masskrüge und zweitens, die Anwesenheit der Bedienung.

„Wir nehmen auch noch drei Maas“, sagte der eine. Das brachte ihm zwei böse Blicke ein: den einen von der Bedienung, die es besser gefunden hätte, wenn ihm das schon vorher bei Sedlmeyer's Bestellung eingefallen wäre. Den anderen vom grantigen Bayern, der bei einem langgezogenen aaa im Wort „Mass“ wahrscheinlich Mordphantasien bekam. Sedlmeyer hob seinen Bierkrug und prostete in die Runde.

„Prost Kollege“ sagte der Bier-Besteller unter den Rheinländern lachend. Sedlmeyer lächelte zurück und nahm einen tiefen Schluck. Dann zog er seine schwarze Lederjacke aus und legte sie neben sich über die Bierbank, nicht ohne zunächst seine Hand darauf liegen zu lassen – die neu erworbene CD zusammen mit seiner Jacke im Biergarten zu verlieren, wäre in seinen Augen eine schwerwiegende Katastrophe gewesen.

„Was meinste, Kollege, gewinnen wir morgen gegen die Polskis?“ wurde er gefragt. Sedlmeyer war sich bewusst, dass heute die Fußball-Europameisterschaft begonnen hatte, allerdings hatte er es bisher versäumt, sich um Details wie Spielpläne zu kümmern oder passende Fan-Emotionen zu entwickeln. Offenbar spielte morgen Deutschland gegen Polen. In seiner ganzen Fußball-Unkundigkeit antwortete er:

„Auf alle Fälle! Was meint ihr?“ Ein anderer Rheinländer antwortete ihm:

„Dat is so sischa wie nochmal wat, dat wir det jewinne!“. Sedlmeyer hörte interessiert zu, als der erste Rheinländer sich einschaltete und die Fußballdiskussion wieder in kompetente Bahnen zu lenken begann:

„So sicher ist das überhaupt nicht, die Polen haben einen top Torwart, der hat eine super Saison bei Celtic Glasgow gespielt. Und wen haben wir? Den Lehmann, den alten Knacker!“

„Ne Torwart is doch überhaup' nüt wischtisch! De Sturm entscheidet än Spiel, nit de Torwart! Un wen hant de Pole im Sturm? Lauter halve Hähnsche!“ ereiferte sich Rheinländer Nummer zwei.

„Und? Wen haben wir schon im Sturm?“ antwortete der erste, „Wenn die den Klose spielen lassen, können wir gleich einpacken, der trifft doch das leere Tor nicht, wenn er zwei Meter davor steht!“. Sedlmeyer erwog kurz, sein winziges bisschen Fußball-Wissen in die Diskussion einzubringen und Miroslav Klose's polnische Wurzeln anzusprechen, doch der dritte Rheinländer kam ihm zuvor:

„Wisste, wat de Klose is? Det is doch sälber ne Pole! Und de Podolski sowieso! Un wennde mi froost: de schieße morje absischtlisch dänebbe! Det wird rischtisch joot!“

„Und Du?“ wurde Sedlmeyer vom ersten Rheinländer gefragt, „Biste auch Fußball-Fan? Bayern München, oder?“ Jetzt war er in die Bredouille geraten. Weder hatte er einen blassen Schimmer, wie die Dinge in der Bundesliga bestellt waren, noch kannte er sich mit Champion's League, DFB-Pokal oder sonstigem Fußballerischen Grundwissen sonderlich gut aus. Er schaute ab und an ganz gerne mal Spiele im Fernsehen an, allerdings nur die großen Ereignisse, wie beispielsweise die Weltmeisterschaft und das auch nur dann, wenn er von Kollegen dazu animiert wurde. Aber das in diesem Moment schlimmste war, dass er einerseits keine echte Begeisterung verfügbar hatte, für welchen Verein auch immer, und andererseits das Gefühl, als Münchner unter lauter Rheinländern die Bayerische Fahne hochhalten zu müssen.

„Bayern München, selbstverständlich!“, log er, „hoffentlich gewinnen sie dieses Jahr mal wieder die Meisterschaft!“

„Du bis' joot, Kolleje, de jäwinne doch eh permanent! Ihr Bayern könntet de andere jo auch mal wat jönne!“ Der erste Rheinländer lachte, hob seine Mass und prostete in die Runde. Dann sagte er:

„Auf die Bayern! Köln ist in der zweiten Liga versumpft und heute sind wir alle Bayern!“ Dies gefiel offenbar dem grantigen Alten neben Sedlmeyer, der zwar nach wie vor kein Wort sagte, aber mit einem fast unmerklichen Nicken und einem angedeuteten Lächeln mit anstieß. Sedlmeyer nutzte den Moment für einen Versuch, das Gespräch in seichteres Fahrwasser zu lenken.

„Und auf unser Münchner Bier! Das ist nämlich noch viel besser als der FCB!“ Gemeinsam tranken sie, dann sagte der dritte Rheinländer, schon nicht mehr wirklich nüchtern:

„Pass bloß opp, Kolleje, sons' bleibe mir alle drei für immer do! Und wohne ab sofocht bei dir dahejm inne Bude!“

„Jenau, un' du stells' uns jäde Abend zehn Maas hin!“, ergänzte der zweite. Alle drei lachten schallend, Sedlmeyer lachte mit. Dann nahm er noch einen Schluck Bier und sagte:

„Nein, das geht so nicht, ihr müsst erst mal die Grundlagen lernen, wenn ihr bei mir einziehen wollt. Lektion Nummer eins: die Weißwurst!“

„Die Lektion haben wir schon längst gelernt, Kollege“, antwortete der erste Rheinländer, „das haben wir gestern schon erledigt. Da waren wir im Andechser am Dom, das kennste bestimmt.“ Zweifellos kannte Sedlmeyer dieses Wirtshaus; gleich neben der Frauenkirche gelegen, dem Münchnerischsten aller Gebäude überhaupt, teilte es sich die Innenstadtlage mit mehreren Traditionsgaststätten, in die man ging, wenn man mal echte bayerische Lebensart kennen lernen wollte. Da die Einheimischen diese aber schon kannten, im Gegensatz zum Rest der Welt, hatte man sich seinem Publikum dort angepasst und die Speisekarte mehrsprachig verfasst; es war allerdings fragwürdig, ob sich „Drei Weißwürscht mit Händlmaier-Senf und einer Brezn“ wirklich rundum bedeutungserhaltend ins Englische übersetzen ließ.

„Det mit de Haut von de Weißworst is ava ne janz schön umständlischet Jeschäft“, meinte der dritte Rheinländer, „bisse de Worst osjezoge has', is de äjskalt!“ Die drei lachten herzhaft, als sich plötzlich und unvermutet der Alte neben Sedlmeyer einschaltete:

„Muasdas hoit zuzln, dei Weißwurscht!“. Das schlug ein wie eine Bombe. Alle drei Rheinländer verstummten und sahen den Alten verdattert an. Der hob mit einem Zwinkern sein Weißbierglas und prostete ihnen zu. Die drei sahen sich ratlos an, und Sedlmeyer grinste in sich hinein. Er überlegte kurz, ob er den Zusammenprall der Kulturen so stehen lassen sollte, dann hob er zu einer Erklärung an:

„Das bedeutet gewissermaßen, den Inhalt aus der Wurst heraus zu saugen, ohne die Haut zu entfernen. Zuzeln eben“. Die Rheinländer sahen ihn fassungslos und leicht angewidert an.

So ging das ganze noch eine Weile weiter. Die Rheinländer erholten sich schnell von ihrem Kulturschock, was auch dem Umstand zu verdanken war, dass sie ihre aktuelle Mass mittlerweile zügig leer getrunken und drei neue bekommen hatten. Sedlmeyer, dessen Beruf zu großen Teilen darin bestand, seinen Mitmenschen durch geschicktes fragen Informationen zu entlocken, hatte schnell herausgefunden, dass die drei aus Köln kamen und ein paar Tage in München Urlaub machten, bevor sie nächsten Donnerstag nach Klagenfurt weiter fahren würden, wo sie Karten für das EM Spiel Deutschland – Kroatien hatten. Zu Sedlmeyer's leichtem Unbehagen wanderte das Gespräch darauf hin schnell wieder zum Fußball zurück, aber er konnte immerhin mit der Tatsache punkten, dass er früher „selber mal Fußball gespielt“ hatte. Das ganze war allerdings dreissig Jahre her, er war damals acht oder neun gewesen und auch bald wieder aus dem Verein ausgeschieden, nachdem er auf's Gymnasium übergetreten war. Immerhin konnte er seine Idole von damals auffahren, Michael Rummenigge oder Roland Wohlfarth, die den deutlich jüngeren Rheinländern allerdings nur schemenhaft bekannt waren. Die waren jedoch begeistert, einen „Vereinskollejen“ am Tisch zu haben und erläuterten ihm, selbst in einer Kölner Freizeit-Mannschaft Fußball zu spielen. Ihm wurde auch die Philosophie dieses Vereins nahe gebracht, die in erster Linie darin bestand, Spaß zu haben und gegebenenfalls nach den Spielen mal „det ejne oder andere Kölsch“ trinken zu gehen und dass der Verein aus diesem Grund auch den Namen „Dynamo Tresen“ trage. Der grantige Weißbiertrinker hatte all dem mit stoischer Gelassenheit zugehört und sich nach seinem Weißwurst-Tip nicht mehr zu Wort gemeldet.

Eine Wohnung in Allach

Samstag, 7. Juni 2008, 18:50

Die Frau fluchte und riss hektisch eine Küchenschublade auf. Hier musste irgendwo noch eine halbvolle Schachtel Zigaretten sein. Sie hatte bereits die halbe Wohnung auf den Kopf gestellt, sogar im Badschrank hatte sie nachgesehen, obwohl die Chancen hier eher gering waren. Eigentlich hatte sie schon längst mit dem Rauchen aufgehört – streng genommen immer wieder. Den ersten erfolgreichen Versuch hatte sie damals während der Schwangerschaft gemacht, das hatte immerhin sieben Jahre ohne Rückfall funktioniert, wenn man mal von den einzelnen seltenen Ausrutschern absah – hier im Fasching mal eine, dort mal eine zum Weißwein wenn die Gesellschaft besonders nett war. Was ihr anfangs die größten Probleme bereitet hatte, waren die Ritualzigaretten: morgens eine zum Kaffee, eine mit den Kolleginnen in der Pause oder die Genuss-Zigarette nach einem besonders gelungenen Essen. Die berühmte „Zigarette danach“, stilecht schnaufend und zerzaust im Bett, hatte ihr dagegen nie wirklich gefehlt. Dass sie nach sieben Jahren wieder rückfällig geworden war, hatte mit der Trennung zu tun gehabt. Die war zwar alles in allem ganz zivilisiert abgelaufen, keine Schlammschlacht, kein Krieg um das Sorgerecht für Jasmin, sie hatten das ganze einvernehmlich geregelt und waren stolz und erleichtert gewesen, so erwachsen gehandelt zu haben. Allerdings sah sie sich damals natürlich schlagartig einer völlig neuen Lebenssituation ausgesetzt, und zwar in finanzieller, organisatorischer und emotionaler Hinsicht. Und da hatte sie wieder zugeschlagen, die alte Sucht. Sie hatte früher mal ein Märchen gelesen, sie erinnerte sich nur noch undeutlich, die Geschichte drehte sich jedenfalls um den Teufel, der jemandem die Seele abschwatzen wollte und diesen jemand dazu raten ließ, welche Pflanzen er wohl auf seinem Feld anbaue. Und was der Teufel da anbaute, war Tabak. Und der Teufel war zu ihr gekommen, damals, nach der Trennung, als ihr der Stress zuviel geworden war und hatte ihr seine Pflanzen wieder schmackhaft gemacht. Nach ein, zwei Jahren hatte sie sich dann wieder in den Griff bekommen, war aber seither immer mal wieder rückfällig geworden. Und jetzt, heute, waren alle Dämme gebrochen.

In der hintersten Ecke einer Küchenschublade fand sie endlich, was sie suchte, eine halbvolle Packung Lucky Strike, das Feuerzeug steckte praktischer Weise mit in der Schachtel. Sie öffnete den Deckel, holte eine schon ziemlich trockene Zigarette heraus und versuchte, sie anzuzünden. Sie zitterte so stark, dass es ihr erst beim dritten Versuch gelang; Feuerzeug und Schachtel legte sie anschließend geistesabwesend auf den Herd. Dann ließ sie sich auf einen Stuhl am Küchentisch fallen und schaute mit glasigem Blick an die Wand. Aus dem benachbarten Wohnzimmer tönte der Fernseher herüber, Bayerisches Fernsehen, die Rundschau mit den Lokalnachrichten:

„...Noch immer gibt es keine neuen Erkenntnisse im Fall der vor drei Wochen verschwundenen Schülerin Laura S. Ein Sprecher der Münchner Kriminalpolizei teilte in einer Pressekonferenz mit, man werte derzeit alle sachdienlichen Hinweise mit höchster Priorität aus, konkrete Ergebnisse könne man zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht vorlegen. Die vierzehnjährige Realschülerin war vor drei Wochen als vermisst gemeldet worden, seither fehlt jede Spur des Mädchens. Dies ist der erste Fall einer mutmaßlichen Kindesentführung in München seit...“

Die Frau stand auf, zog eine Untertasse aus dem Küchenregal und drückte die kaum angerauchte Zigarette darauf aus, dann stellte sie den provisorischen Aschenbecher gedankenlos in die Spüle. Sie ging zum Küchenfenster und öffnete es, fächelte mit der Hand Frischluft hinein und die verrauchte Luft hinaus. Dann ging sie zum Herd, nahm eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie mit zitternden Händen an. Sie griff zum Telefon und wählte eine Nummer. Am anderen Ende meldete sich eine Männerstimme:

„Hallo, was gibt’s?“

„Hi Gianni, ich bin's, ich weiß nicht was ich machen soll, die Jasmin ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.“

„Hast du versucht, sie anzurufen?“

„Natürlich hab ich versucht, sie anzurufen, glaubst du ich bin bescheuert?“

„Und?“

„Geht nicht ran. Gianni, ich glaub, da ist was passiert!“ Die Stimme der Frau begann brüchig zu werden, eine Träne lief ihr die Wange hinab.

„Jetzt mach dir mal keine Sorgen, das muss noch gar nichts heißen.“

„In den Nachrichten haben sie gerade nochmal die Entführung von diesem anderen Mädchen gebracht. Ich hab solche Angst, Gianni, ich kann nicht mehr.“ Sie begann zu schluchzen.

„Ob das eine Entführung war, wissen die doch noch gar nicht, jetzt beruhig dich erst mal!“ Die Frau sagte nichts, sie weinte stumm ins Telefon.

„Hallo, bist du noch dran?“ Die Frau sah sich suchend um, dann entdeckte sie die provisorische Aschenbecher-Untertasse, die sie vorher in die Spüle gestellt hatte und drückte ihre Zigarette aus. Dann sagte sie mit zitternder Stimme:

„Was soll ich denn jetzt machen, unsere Tochter ist verschwunden und draußen läuft ein Kindesentführer rum, Gianni!“

„Hör mal: gestern war Freitag, Jasmin ist fünfzehn und hat pubertären Unsinn im Kopf. Die wird wahrscheinlich gerade auf irgend einer Teenie-Party ihren Rausch ausschlafen.“

„Ach ja, ist das so?“ antwortete die Frau zornig, „weil du sie ja so genau kennst, so oft wie du sie siehst!“

„Karin, jetzt beruhige dich doch mal bitte. Was ist das letzte, was du von ihr weißt?“

„Sie ist gestern nach der Schule direkt mit zur Amelie. Ich hatte ja Spätschicht und die Mädchen wollten zusammen Hausaufgaben machen. Sie wollte aber auf jeden Fall um zehn zuhause sein, sonst hätte sie ja auch angerufen!“

„Die Amelie ist nochmal...“

„Ihre Schulfreundin, Gianni. Die Schulfreundin deiner Tochter!“

„Ok. Hast du bei den Eltern von der Amelie angerufen?“

„Gianni, glaubst du ich bin total verblödet oder was? Natürlich hab ich da angerufen, gestern Nacht noch!“

„Und was haben die gesagt?“

„Sie ist schon um acht gegangen und wollte dann mit dem Bus zur S-Bahn Station fahren.“

„Hmm...“

„Was heißt hier 'hmm'?“

„Also weißt du, was ich glaube? Sie hat wahrscheinlich an der Bushaltestelle ein paar von ihren Freunden getroffen. Die wussten von irgend einer Mega-Party und haben sie überredet, mitzugehen. Gibt's da nicht eh irgend so ein Jugendzentrum, wo die sich andauernd treffen? Und nach dem ersten Bier wollte sie dich anrufen und hat gemerkt, dass ihr Akku leer ist.“

„Dann wäre sie aber irgendwann nach Hause gekommen, Gianni, verdammt!“

„Am besten, du beruhigst dich erst mal, Karin. Und dann rufst du nochmal bei den Eltern dieser Amelie an und fragst, ob die nicht vielleicht doch noch irgendwas wissen. Ich bin mir sicher, spätestens morgen ist unsere Jasmin wieder aufgetaucht.“

„Unsere Jasmin, ja klar. Ich sag dir was ich mache: ich ruf jetzt bei der Polizei an!“

Die Frau hatte aufgelegt. Sie sah sich fahrig um, dann ging sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Dann ging sie zurück in die Küche, holte eine weitere Zigarette aus der Packung und zündete sie an, ließ sich auf den Stuhl am Küchentisch fallen, starrte die Wand an und wischte sich mit der Hand die Tränen vom Gesicht. So saß sie etwa fünf Minuten regungslos da, während die Zigarettenasche auf den Linoleumfußboden bröselte. Dann griff sie erneut zum Telefon und wählte eine Nummer. Ein kurzes Freizeichen, dann meldete sich eine freundliche Männerstimme:

„Elf-Acht-Drei-Drei, mein Name ist Velten, was kann ich für Sie tun?“

„Grüß Gott, ich bräuchte bitte die Nummer der Polizei.“

„Gerne, in welcher Stadt?“

„Ach ja, in München bitte.“ Eine kurze wortlose Pause, dann sagte der Mann am anderen Ende:

„Ich hätte hier die Zentrale oder wollen Sie eine bestimmte Durchwahl?“

„Ich muss eine Vermissten-Anzeige aufgeben.“ Wieder eine kurze Pause.

„Ich lasse Ihnen die Nummer ansagen, möchten Sie danach gleich verbunden werden?“

„Ja, bitte.“

Im Polizeipräsidium München wurde am 7. Juni 2008, um 19:23 eine telefonische Vermisstenanzeige betreffend einer fünfzehnjährigen Schülerin aufgenommen, ordnungsgemäß protokolliert und zur Wiedervorlage für die zuständige Kommission am nächstfolgenden Werktag weitergeleitet. Die Anruferin wurde darauf hingewiesen, dass vor Ablauf von drei Tagen, in denen die vermisste Person unauffindbar blieb, üblicherweise keine ermittlungstechnischen Vorgänge gestattet seien, dass man aber aufgrund der besonderen Situation und der möglichen Parallelen zu einer anderen bisher unaufgeklärten Personenfahndung diese Sache schnellstmöglich und mit Nachdruck verfolgen werde.

Auf dem Viktualienmarkt II

Samstag, 7. Juni 2008, 21:15

„Wäjsse, wat de mal mache muss', Kolleje! Do jehsse in Köln in ne Knäjpe un denn pfeifste de Köbes her und bestells' dir en Alt! Un' denn guckste, wat passiert!“. Die drei Rheinländer lachten sich kaputt. Ausgehend von der vorhergehenden Unterhaltung konnte sich Sedlmeyer in etwa vorstellen, was passieren würde. Sie waren im Laufe ihres Gespräches auf die diversen Hasslieben zu sprechen gekommen, die sich zwischen Nachbarn so entwickeln konnten. Sie waren zunächst bei den Österreichern gelandet, da die drei wissen wollten, was sie in Klagenfurt zu erwarten hätten, wenn sie am Donnerstag zu ihrem EM-Spiel dorthin aufbrechen würden. Sedlmeyer hatte ihnen erklärt, dass es hierzulande Tradition sei, die Österreicher durch den Kakao zu ziehen, während es bei denen üblich war, die benachbarten Deutschen zu veräppeln und dass das ganze gerade deshalb ein Ausdruck tiefer Verbundenheit sei. Darauf hin hatten ihm die drei Kölner ausführlich erklärt, dass ähnliches auch auf Köln und Düsseldorf zuträfe allerdings ohne jede Verbundenheit. Was also würde passieren, wenn man in einer Kölner Kneipe ein Düsseldorfer Altbier bestellte? Man flog mit hoher Wahrscheinlichkeit auf der Stelle raus. Sedlmeyer grinste und trank seinen letzten Schluck Bier aus. Schon seit einiger Zeit kreisten seine Gedanken um seine neue CD. Er hätte sie zu gerne so schnell wie möglich angehört. Er hatte eine hochwertige Stereoanlage zuhause, der einzige wirkliche Luxus, den er sich gönnte und einen sündhaft teuren Kopfhörer. Sich in der lauen Sommernacht auf den Balkon und den Kopfhörer auf den Kopf setzen, eine Zigarette drehen und ein seltenes Pantera bootleg anhören, das erschien ihm gerade extrem verlockend. Dann kam ihm noch ein anderer Gedanke. Was wäre, wenn er zuvor noch ein wenig andere – natürlich längst nicht so gute – Musik hörte, und sich den ultimativen Genuss noch ein bisschen aufhob? Das war so eine Sache mit den Genüssen: sollte man sie packen, sich ihnen ergeben, so schnell und wann immer es ging? Oder sollte man sie sich aufheben, die Vorfreude genießen und die Erwartung wachsen lassen? Eine Frage, die sie einmal unter den Kollegen in der Kantine beim Mittagessen diskutiert hatten, lautete: „Wenn du zwei Zutaten auf deinem Teller hast, eine schmeckt dir wahnsinnig gut und die andere nicht ganz so gut, welche isst du zuerst?“. Die Antworten waren unterschiedlich ausgefallen; die einen würden das schmackhaftere Gericht sofort aufessen und das andere erst danach, während die anderen sich den Leckerbissen bis zum Schluss aufhoben. Sedlmeyer war einer der letzteren gewesen. Er hatte einen Plan gefasst. Er würde die drei Kölner ihrem Schicksal überlassen, das wahrscheinlich unter anderem darin bestand, dass sie am nächsten Tag einen saumäßigen Kater haben würden, und noch in eine Kneipe gehen. Sie hatten ihm zuvor erzählt, „höjte nochmal rischtisch Party machen“ und die Münchner Club-Szene auskundschaften zu wollen. Ob das mit dem Auskundschaften erfolgreich funktionieren würde, konnte man so oder so sehen; schließlich hatten sie jeder schon ungefähr vier Mass intus. Sedlmeyer stand auf, zog seine Jacke an, klopfte dem grantigen Alten neben sich auf die Schulter und wünschte den Rheinländern viel Spaß bei ihrem weiteren München-Aufenthalt. Die waren empört über sein frühes Aufbrechen:

„Kollege, du willst doch nicht etwa schon gehen? Bleib da, wir gehen später noch ins null-acht-neun, da kommste mit!“, sagte der erste.

„Würd ich ja gerne machen, aber ich kann nicht. Daheim wartet meine Frau mit dem Nudelholz auf mich“, antwortete Sedlmeyer und grinste verschwörerisch. Das war rundheraus gelogen; weder hatte er eine Frau, noch hatte die ein Nudelholz. Die einzige Dame, die auf ihn wartete, hieß Pantera und war eine US-Amerikanische Band aus Fort Worth, Texas, die richtungsweisende Einflüsse auf den modernen Heavy-Metal hervorgebracht hatte.

„Lass di nüt verkloppe von deine Frau! Et hät no immer joot jegange, Kolleje!“ riet ihm der dritte Kölner. Sedlmeyer hob die Hand zum Gruß und bahnte sich seinen Weg durch den Biergarten. Er wollte noch in eine Kneipe in der Nähe gehen, in der sie normalerweise halbwegs ordentliche Rockmusik spielten und dort noch ein Bier trinken, bevor er nach Hause fahren und sich genussvoll seiner neuen CD widmen würde. Dass er am morgigen Sonntag ausschlafen konnte, war ein weiteres Detail, das seine Laune ansteigen ließ – sein Beruf brachte es mit sich, dass er unter der Woche sowieso und oft auch an den Wochenenden unter großer Anspannung stand, präzise Entscheidungen zu treffen und sich mit bürokratischen Hürdenläufen zu beschäftigen hatte. Da kam ihm ein Samstag Abend wie dieser gerade recht: ein bisschen mit den angetrunkenen Biergarten-Nachbarn herumzualbern war eine nette Abwechslung zu den investigativen, folgenschweren und sachlichen Gesprächen, die er sonst so zu führen hatte. Gespräche zu führen, sich in den anderen hineinzuversetzen und ihn letztlich auch so zu manipulieren, dass er am Ende da stand, wo man ihn haben wollte, das war im Grunde genommen die Hauptbeschäftigung eines Kriminalbeamten. Sedlmeyer war gut in diesem Geschäft und sein Beruf erfüllte ihn die meiste Zeit mit der Genugtuung, seine Fähigkeiten der Gesellschaft zur Verfügung gestellt zu haben. Heute allerdings war er nicht in der Stimmung, bedeutungsschwere Unterhaltungen zu führen und freute sich auf ein bisschen Musikgenuss ohne dazu etwas sonderlich raffiniertes beitragen zu müssen. Er schloss sein Fahrrad auf.

Sedlmeyer radelte langsam und entspannt durch die abendliche Stadt. Über die Reichenbachstraße gelangte er zum Gärtnerplatz, dem kreisrunden Zentrum des gleichnamigen Viertels, mit bunten Blumenbeeten und einem steinernen Brunnen in der Mitte. Rundherum waren Bänke aufgestellt, auf denen schwatzende Studenten saßen und Bier tranken. Im Sommer war der Platz Anlaufstelle für zahlreiche Nachtschwärmer, die den Abend im Freien beginnen und später in einer der zahlreichen Kneipen des benachbarten Glockenbachviertels fortsetzen wollten. Sedlmeyer hatte einen Moment lang das Bild eines Germknödels vor Augen, über den schwarze Mohnsamen gestreut waren, als er die vielen Menschen über den kreisrunden Platz verteilt sitzen sah. An einer Seite des Platzes befand sich das Gärtnerplatz-Theater, ein spätklassizistischer Bau aus den 1860er Jahren, vor dessen Eingang sich eine Treppe breit machte, übersät mit ausgelassenen Jugendlichen. Sedlmeyer überlegte kurz, wie es wäre, selbst wieder Student zu sein, mit Kumpels hier zu sitzen und sich nicht mit dem Gedanken zu belasten, was morgen und übermorgen passieren würde. Wahrscheinlich würden sie sich gegenseitig schlechte Witze erzählen, sich über die unverständliche Vorlesung von Professor soundso beschweren und Frauengeschichten diskutieren. Mit den Frauen war das so eine Sache. Hier hatte er in der letzten Zeit gar kein gutes Händchen gehabt; irgendwie war ihm alles misslungen, was er in dieser Hinsicht versucht hatte, anzustellen. Wann war er das letzte Mal wirklich verliebt gewesen? Vor einer Ewigkeit. Wann war er das letzte mal überhaupt irgendwie in die Nähe einer Frau geraten? Auch schon bedenklich lange her. Dabei war er durchaus nicht unattraktiv: groß und dunkelhaarig, keinerlei Ansatz zur Glatzenbildung, trotz seiner 39 Jahre und eine einigermaßen sportliche Figur. Er nahm sich vor, das Thema hier und jetzt nicht zu durchdenken, Musik wollte gehört und ein Bier wollte getrunken werden. So radelte er weiter, bis er zur Reichenbach-Brücke kam, die über die Isar führte. Die Isar war so etwas wie die erholungstechnische Hauptschlagader Münchens. Im Süden, in den Isarauen rund um den Flaucher, wurde im Sommer gegrillt was das Zeug hielt, die halbe Stadt versammelte sich dann zum relaxen, Musik machen, sonnenbaden und Frisbee spielen. Die Münchner Polizei war dafür verantwortlich, die Lärm- und Brandschutzbestimmungen im Auge zu behalten und all zu eifrige Grillmeister auf die selbigen aufmerksam zu machen; ein bisschen albern, wie Sedlmeyer persönlich fand. Aber so war das nunmal mit der Bayerischen Bürokratie. Vor ein paar Jahren hatten sie selbst einmal im Kollegenkreis eine kleine Isar-Party organisiert: ein Kasten Bier, zwecks Kühlung im Fluss versenkt, ein kleines Lagerfeuer und Schweinenackensteaks zum grillen. Seine Kollegin hatte noch eine riesige Schüssel Nudelsalat beigesteuert. Irgendwann war dann eine Patrouille, bestehend aus zwei Mann auf Mountainbikes vorbei gekommen und hatte sie darauf hingewiesen, dass sie diverse Bestimmungen verletzen würden und sie angewiesen, das Feuer sofort auszumachen. Nicht ohne eine gewisse schelmische Genugtuung hatte Sedlmeyer den Kollegen daraufhin seinen Dienstausweis unter die Nase gehalten und sie gefragt, ob sie nicht Lust hätten, sich dazu zu setzen. Die hatten sich daraufhin wortreich entschuldigt und waren wieder abgezogen.

Er überquerte die Brücke, radelte noch ein paar Meter die Ohlmüllerstraße entlang und stellte sein Fahrrad vor dem Schwarzen Hahn ab, dem Ziel seiner Reise. Es war eine ganze Weile her, dass er das letzte mal hier gewesen war; der Verkäufer aus seinem Lieblings-Plattenladen hatte ihm damals den Tip gegeben, „unbedingt mal in den Hahn schauen“ zu müssen, weil der seinen musikalischen Vorlieben gut zupass kam. In der Tat hatte er den Laden von damals in ganz guter Erinnerung behalten, es war ein Abend mit lauter und harter Rockmusik gewesen. Sedlmeyer betrat den unscheinbaren Eingang und sah sich um. Die Kneipe war mittelgroß und in zwei Bereiche unterteilt: auf der rechten Seite befand sich dem Eingang gegenüber die Bar, die sich L-förmig nach rechts fortsetzte, mit dem DJ-Pult am rechten Ausleger. Die linke Hälfte des Lokals bestand aus einer quadratischen Tanzfläche, die von Bänken eingerahmt war, davor eine Fensterfront. Die Bänke waren besetzt, auf der Fläche in der Mitte standen vier junge Männer in schwarzen T-Shirts, mit Bierflaschen bewaffnet, und unterhielten sich. Sedlmeyers Blick schweifte nach rechts: der linke Barhocker war vakant, die drei daneben besetzt. Er ging zu dem leeren Barhocker und setzte sich. Die Bedienung, eine hübsche junge Frau mit blondem Pferdeschwanz, unterhielt sich mit den drei Nachbarn zur rechten, während sie Gläser spülte. Sedlmeyer lauschte eine Weile der Musik und wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Das hatte etwas rockiges, etwas treibendes, durchaus diskussionswürdig, aber irgendwie... Waren da etwa Country-Einflüsse? Mit Country konnte er nun so rein gar nichts anfangen. Soviel er wusste, hatten Soundgarden einmal „Rusty Cage“ von Johnny Cash gecovert, darüber ließ sich reden, aber das hier war nicht seine Baustelle. Plötzlich fiel ihm auf, dass sich die Bedienung zu ihm über die Bar gebeugt hatte und ihn fragend anlächelte. Er lächelte zurück und bestellte.

„Ein Bier bitte.“

„Augustiner, Tegernseer, Becks, Becks Gold,...“, zählte sie auf.

„Ein Augustiner, bitte“, sagte Sedlmeyer. Die Bedienung drehte sich um, öffnete einen Kühlschrank und holte eine Flasche heraus. Derweil waren ihm die Aschenbecher aufgefallen, die in regelmäßigen Abständen über die Bar verteilt waren.

„Darf man bei euch jetzt eigentlich wieder rauchen?“ fragte er, als sie ihm sein Bier hinstellte.

„Bei uns hat man schon immer rauchen dürfen“, sagte sie lächelnd, „macht drei Euro bitte“. Sedlmeyer zahlte und holte eine Packung Schwarzer Krauser aus seiner Jackentasche. Die Geschichte mit dem Rauchverbot war eine unübersichtliche: vor einem halben Jahr als ausnahmslose Regelung für alle Gaststädten im Freistaat eingeführt, hatten sich bald danach juristische Schlupflöcher aufgetan, die in der Regel mit sogenannten Raucherclubs und Mitgliedsausweisen zu tun hatten. Sedlmeyer hatte kürzlich eine interessante Geschichte in der Süddeutschen gelesen, über ein Lokal in Hamburg, in dem sie sich eine weitere Ausnahmeregelung zunutze gemacht hatten: da bei Theateraufführungen den Schauspielern das Rauchen nicht verboten werden konnte, deklarierte der Wirt kurzerhand alle seine Gäste zu Laiendarstellern in einem Theaterstück. Wie der Schwarze Hahn die Sache allerdings im Moment regelte, war ihm schleierhaft. Er begann sich eine Zigarette zu drehen, während er der Musik lauschte. Es wurde nicht besser. Zwar immer noch rockig, aber viel zu langsam und mit einem äußerst penetranten Blues-Einfluss. Aber egal, Pantera würde es wieder richten, später, bei ihm zuhause. Er drehte die Zigarette fertig, zündete sie an, und sah der Bedienung beim Abspülen zu. So saß er eine Weile da, nippte an seinem Bier, hörte mit gemischten musikalischen Gefühlen dem DJ zu und rauchte. Plötzlich ein Geräusch: ein mattes, gläsernes „klock“. Eine Bierflasche hatte sich der seinen genähert und mit ihr angestoßen; sein Barhocker-Kollege zur rechten hatte sich zu ihm herum gedreht und prostete ihm zu. Sedlmeyer nahm den Nachbarn in Augenschein: ein relativ großer, massiger Typ mit schütteren, zurück gekämmten Haaren, die in Sachen Fülle und lückenlose Kopfbedeckung schon wesentlich bessere Zeiten gesehen hatten. Seine Nase war grobporig, blau geädert und merklich gerötet – untrügliches Zeichen einer soliden Trinkervergangenheit. Sedlmeyer taxierte ihn kurz und schätzte ihn auf Mitte vierzig, wobei langjähriger Alkoholgenuss auf solche Altersbestimmungen oft einen irreführenden Effekt hatte. Der Rotnasige sah ihn aus wässrigen graublauen Augen an und eröffnete ein Gespräch:

„Super Sound, oder? Des is amal richtig erdiger Rock! Is aus den siebzigern, weißt schon. Des war'n noch Zeiten, wo man anständige Musik g'macht hat und nicht so einen Elektro-Scheiß wie'st ihn heutezutage überall kriegst!“ Sedlmeyer war da überwiegend anderer Ansicht. Was den sogenannten Elektro-Scheiß anbelangte, hatte der Mann in seinen Augen nicht unrecht – er selbst konnte damit auch nichts anfangen – aber anständige Musik war das hier deswegen noch lange nicht. Der Rotnasige wartete nicht auf eine Antwort, er führte stattdessen seine Erläuterungen fort:

„Der DJ is a Spezi von mir, der legt hier öfters auf.“ Dabei wandte er sich nach rechts, hob seine Flasche und prostete dem DJ über den Tresen zu: „Prost Ernstl!“. Dann trank er mit einem zügigen Schluck sein Bier leer und suchte den Blick der Bedienung. Die sah ihn mit der leeren Flasche herum wedeln, ein Blickkontakt genügte und sie hatte ihm eine neue hingestellt. Sedlmeyer war beeindruckt, wie effizient das Zusammenspiel zwischen Gast, Bier und Bedienung in dieser Konstellation funktionierte; es hatte sicherlich einiges an Einarbeitung und praktischer Übung bedurft, bis die Dinge sich so gut eingespielt hatten. Er beschloss, auf die Toilette zu gehen. Auf dem Weg dorthin fiel ihm ein kleines Regal auf, in dem die üblichen Kneipen-lifestyle-Postkarten aufgereiht waren. Eine Karte stach ihm ins Auge: ein Foto eines ungemachten Bettes mit der Überschrift „Lieber auf Latten als unter Bohlen“. Er schüttelte den Kopf und ging auf die Toilette. Als er wieder zurück kam, unterhielt sich sein rotnasiger Sitznachbar wieder mit dessen beiden Mitstreitern zur Rechten. Sedlmeyer nippte an seinem Bier und versuchte erneut, DJ Ernstl's Musikauswahl etwas abzugewinnen. Aber da war nichts zu machen. Jetzt bewegte sich das ganze bedrohlich in die Softrock-Ecke: garantiert auch nicht seine Tasse Tee. Er nahm sich vor, beim nächsten Besuch in seinem Lieblings-Plattenladen den dortigen Verkäufer um einen neuen Kneipen-Tip zu bitten. Er sinnierte eine Weile hin und her, dann setzte plötzlich abrupt die Musik aus. Er sah zum DJ hinüber; der hob entschuldigend beide Hände und machte sich danach konzentriert an seiner Anlage zu schaffen. Der Rotnasige neben ihm rief lautstark nach rechts:

„Mei Ernstl, was machst'n scho wieder! Hast an richtigen Schalter wieder ned g'funden!“. Er lachte herzhaft. Dann wandte er sich der Bedienung zu:

„Du Kathi, kannst bitte dem Herrn DJ a mal an Schnaps bringen! Sonst wird des nix mehr mit dem! Und bringst mir auch gleich noch einen, bittschön! An Obstler wenn'st hast, des wär lieb, dank dir schön.“ Kurze Zeit später hatte er seinen Schnaps vor der Nase stehen und prostete quer über den Tresen dem DJ zu:

„Prost Ernstl!“ Dann kippte er ihn in einem Zug weg und wandte sich wieder an Sedlmeyer:

„Des da hinten, des is der Ernstl, also quasi der DJ.“ Sedlmeyer nickte.

„Den Ernstl kenn ich noch von früher her, weißt schon, in den achtzigern war des, da ham mir mal zusammen in einer Band gespielt, der Ernstl und ich!“ Er sah Sedlmeyer bedeutungsvoll an. Dann fuhr er fort: „Und ich sag's dir gleich, wie's is: des war'n noch andere Zeiten damals!“ Dieser Satz leuchtete Sedlmeyer sofort ein: Fokuhila-Frisuren, neongelbe Frottee-Schweißbänder, Stretch-Jeans, Björn Borg und Nena, die achtziger, wie sie manche am liebsten aus den Geschichtsbüchern streichen würden. Der Rotnasige nahm einen tiefen Schluck aus seiner Bierflasche und sagte:

„Des war a super Zeit, war des! Weißt, ich damals an den Drums, in unserer Band, und der Ernstl am Bass. Normalerweise bist ja als Bassist immer eher im Hintergrund, aber beim Ernstl war des was ganz was anderes. Der war so voll im flow drin, weiß schon, und fast die gesamten Songs hat er geschrieben damals, der war sozusagen das brain in unserer Band!“ Dabei lachte er amüsiert. „Und auf der Bühne, mei ich sag's dir! Da war er der Star, der Ernstl, obwohl er nur Bassist war! Prost!“ Sie stießen erneut an. Dann sagte Sedlmeyer:

„Es gibt schon einige Bassisten, die innerhalb der Band eine tragende Rolle spielen, so ungewöhnlich ist das nicht.“

„Ah geh!“

„Ja, Billy Sheehan zum Beispiel.“

„Kenn ich ned.“

„Der hat schon mit vielen von den ganz großen zusammen gespielt: Tony McAlpine, Steve Vai, David Lee Roth...“

„Ah so, ja, den Steve Vai, den hab ich schon mal g'hört. Des is irgendwas mit Hardrock oder so.“

„Ich würde es eher Heavy-Metal nennen“, präzisierte Sedlmeyer. Das brachte den Rotnasigen auf eine Idee und er war wieder in seinem Element:

„Du, weißt was! Ich hab einen Spezi, der war mal Roadie bei den Scorpions! Ohne Scheiß, der hat die komplette Tour damals mit gemacht von denen, mit allem drum und dran, der war voll im Geschäft mit denen! Und weißt was! Ich verrat dir jetzt was...“ Dabei neigte er sich verschwörerisch zu Sedlmeyer hinüber und sagte mit gesenkter Stimme:

„Mein Spezi, also der, wo mal Roadie war bei den Scorpions... Der hat eine original Flying-V von denen! Vom Rudolf Schenker persönlich!!!“ Die sogenannte Flying-V war eine legendäre E-Gitarre von Gibson, deutlich erkennbar an ihrem pfeilförmigen Korpus und besonders beliebt bei Rock-Bands der härteren Gangart – und unter anderem Markenzeichen der Scorpions.

„Der mit der Flying-V war aber eher der Michael Schenker“ korrigierte Sedlmeyer.

„Ja, da kannst recht haben“, sagte der Rotnasige, „aber die Gitarre ist jedenfalls von denen. Da sagst nix mehr, oder?“ Sedlmeyers Bewunderung hielt sich in Grenzen.

„Ich weiß nicht recht... Die Scorpions sind nicht so meine Baustelle, was die machen, ist mir zu gewollt.“

„Ja ich hab 'dacht, du bist a alter Rocker!“ Dabei grinste er kumpelhaft, „was findst'n du nachad guad?“

„Pantera zum Beispiel, oder Steeler,...“ So, als ob er die Antwort gar nicht gehört hätte, fuhr der Rotnasige fort:

„Ich steh ja total auf die Seventies, weißt schon. So mit erdigem Gitarren-Sound und so. Weißt, bei mir muss des a ehrliche Musik sein, ned so verkünstelt. Ich bin quasi ein ehrlicher Mensch, da brauch ich auch a ehrliche Musik, weißt schon.“ Er lachte herzhaft, offenkundig sehr zufrieden mit sich selbst. Dann fuhr er fort:

„Du, weißt was! Jetzt verzähl ich dir a mal a G'schicht! Seiner Zeit, damals mit unserer Band, also der Ernstl und ich, mir hätt'n fast a mal in England g'spielt! Weißt warum? Ich kenn einen, a Spezi von mir, dem sei Schwägerin, also die kannte damals die Königin von England! Ich verzähl dir keinen Scheiß!“ Sedlmeyer blickte ihn stirnrunzelnd an. Dann sagte er:

„Ja steht denn die Königin von England auch auf erdigen Rock?“

„Weißt, des wär' jetzt nicht direkt bei der Königin selber g'wesen. Aber ohne Scheiß, mir hätten damals fast a Konzert in England g'habt. Mir ham ja auch schon immer englische Texte gesungen, weißt schon, heute zutage singen's ja alle auf deutsch, des passt doch überhaupt ned zamm!“ Dann wandte er sich wieder der Bedienung zu:

„Du Kathi, bringst mir noch a Halbe bitte? Des wär lieb von dir. Und sag bitte dem Ernstl, er soll a mal was von Pink Floyd auflegen!“ Pink Floyd. Die hatten zwar böse Ausrutscher in die Untiefen des indiskutablen Weichspül-Rock auf dem Kerbholz, wie Sedlmeyer fand, aber er konnte sich ihrer suggestiven musikalischen Genialität dennoch nicht entziehen. Besonders die frühen Alben hatte er schon immer faszinierend gefunden; es widersprach zwar seinem Credo, außer Heavy-Metal nicht viel auf dieser Welt vorzufinden, was musikalisch bemerkenswert war, aber hier machte er eine Ausnahme:

„Pink Floyd find ich tatsächlich auch nicht schlecht, obwohl sie mir eigentlich viel zu soft sind.“ Der Rotnasige war begeistert, einerseits von der Tatsache, dass er mittlerweile wieder ein neues Bier vor der Nase stehen hatte und andererseits von Sedlmeyer's musikalischem Zugeständnis:

„Ja siehst! Ich hab ja gleich g'wusst dass mir uns einig sind! Prost!“ Er grinste selig. Dann sagte er: „Was machst'n du eigentlich so?“ Sedlmeyer antwortete:

„Ich hab' früher mal Sozialpädagogik studiert.“ Das stimmte tatsächlich. Nach dem Abitur war es ihm nicht anders ergangen, als zahllosen Schulabgängern zu allen Zeiten: er hatte keine Ahnung gehabt, wie es jetzt weiter gehen sollte. Glücklicherweise war ihm die Bundeswehr erspart geblieben; irgend ein Fehler in der Wehrpflichtigen-Datei, irgend ein seltsamer Vorgang im Musterungsprozess seines Jahrgangs hatte dazu geführt, dass er schlichtweg übersehen worden war. Also war er ratlos dagestanden, direkt nach dem Abitur, und hatte beschlossen, ein Sozialpädagogik-Studium zu beginnen und damit einen Beruf anzustreben, der ihm eine gesellschaftliche Verantwortung übertragen und ihm eine sinnvolle Tätigkeit versprechen würde. Dies hatte er ein paar Semester lang durch-, es dann irgendwann aber nicht mehr ausgehalten. Sedlmeyer war ein ziemlich intelligenter und auch gebildeter Zeitgenosse, aber die Art und Weise, wie in diesem Studiengang mit Wissen umgegangen wurde, die Methodik des Lernens, die Themen, auf die fokussiert wurde, das war nicht seine Welt gewesen. Da wurde geschwafelt, ohne auf den Punkt zu kommen, wie er fand, da wurde eine Rede- und Diskussions-Kultur gepflegt, die in seinen Augen zu nichts führte und ihm mehr und mehr zuwider wurde. Also hatte er nach ein paar Semestern hingeschmissen und war wieder vor der Frage gestanden, wo es mit ihm hingehen sollte. Diverse Umwege und Zufälle hatten ihn dann schließlich zur Kriminalpolizei geführt. Und letztlich, wenn man es mal mit ein wenig Phantasie betrachtete, hatte sein Beruf als Kriminalbeamter durchaus Ähnlichkeiten mit dem Job eines Sozialarbeiters: die meisten seiner Klienten waren am Ende des Tages nicht viel mehr als arme Teufel, die erst auf dumme Gedanken und dann vom sogenannten rechten Weg abgekommen waren, denen man Erziehungsmaßnahmen seitens des Staates nicht ersparen konnte, die aber mit einem ernsten und wohlmeinenden Gespräch durchaus zu erreichen waren. Die Minderheit der wirklich üblen und teilweise schweren Verbrecher gab es allerdings leider auch; die wären ihm als Sozialpädagoge dann wahrscheinlich erspart geblieben.

Der Rotnasige grinste ihn an und sagte: