Der Gehängte von Conakry - Jean-Christophe Rufin - E-Book
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Der Gehängte von Conakry E-Book

Jean-Christophe Rufin

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  • Herausgeber: Tropen
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Im Yachthafen von Conakry hängt ein toter Europäer am Mast seines Schiffes. Ein Fall für Aurel Timescu, den tödlich gelangweilten Konsul von Frankreich mit einem Faible für lange Trenchcoats und ungelöste Kriminalfälle. Heimlich beginnt er zu ermitteln – und deckt dabei weit mehr auf, als der französischen Regierung lieb ist. Ein herrlich schräger und hellsichtiger Krimi aus der Feder von Goncourt-Preisträger Jean-Christophe Rufin. Aurel Timescu bliebt guten Weißwein und sein Piano. Was er hingegen nicht liebt, ist sein Job. Erist französischer Konsul in Guinea, ein schlechter noch dazu. Viel lieber wäre er Kriminalkommissar. Als am Yachthafen von Conakry plötzlich eine Leiche auftaucht, sieht er seine Chance gekommen. Dabei soll er eigentlich nur die Identität des Toten bestätigen. Für die Polizei liegt der Fall klar auf der Hand: Der Safe auf dem Boot des toten Seglers wurde aufgebrochen, die guineische Geliebte des Mannes bereits festgenommen. Doch Aurel ist sich sicher: Die Segler im Yachtclub verschweigen etwas. Kurzerhand nimmt er seine eigenen Ermittlungen auf. Dabei stößt er nicht nur immer wieder an die Grenzen des guten Geschmacks, sondern auch auf ein Verbrechen, das die französische Regierung am liebsten vertuschen möchte. »Ein fesselnder, tragik-komischer Kriminalroman. Mit klarer, farbenfroher Handschrift fängt Rufin den Zeitgeist mit all seinen Kulissen ein. Ein großes Lesevergnügen!« La Libre Belgique »Jean-Christoph Rufin bietet uns eine köstliche Sittenkomödie über die unrühmlichen Hintergründe der französischen Diplomatie in Afrika.« Paris Match

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Seitenzahl: 274

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Jean-Christophe Rufin

Der Gehängte von Conakry

Ein Fall für den Konsul

Aus dem Französischen vonEliane Hagedorn und Barbara Reitz

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Le Suspendu de Conakry«

© 2018 by Flammarion, Paris

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung einer Abbildung von © FinePic®, München

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-50164-3

E-Book ISBN 978-3-608-11926-8

I

Die Menge starrte auf den herabhängenden Körper. Eine dicht gedrängte Reihe von Afrikanern – Männer, Frauen und Kinder – belagerte den Kai und den gesamten Deich bis hin zur roten Boje, die die Einfahrt zum Jachthafen von Conakry markierte.

Alle Augen waren auf die Spitze des Mastes gerichtet. Da Flut war, befand sich der Rumpf des Segelschiffs beinahe auf der Höhe des Hafenbeckens. Der Leichnam hob sich vom gleichmäßigen Blau des tropischen Himmels ab. Man konnte ihn schon aus der Ferne sehen. Von den Balkonen ihrer am Ufer gelegenen Villen blickten viele Bewohner, die gerade erst aufgestanden waren, auf dieses Bild des Grauens. Einige hatten ihre Ferngläser gezückt und erkannten, dass es sich bei dem Opfer um einen weißen, an einem Fuß aufgehängten Mann handelte. Seine Hände waren geschwollen, und über sein scharlachrotes Gesicht zogen sich Blutspuren.

Rund um das Hafenbecken herrschte tiefe Stille. Nur das dumpfe Geräusch der fahrenden Busse drang von der entfernten Allee herüber.

Der Alarm war bereits bei Sonnenaufgang, in diesen Breitengraden das ganze Jahr über um sechs Uhr morgens, ausgelöst worden. Und die Nachricht hatte sich in Windeseile verbreitet. Diejenigen, die sich um diese Zeit am Strand befanden – Straßenhändler, fußballspielende Kinder, Fischer, die an ihren Booten arbeiteten –, eilten herbei, damit ihnen auch ja nichts entging.

Die am Horizont aufsteigende Sonne ließ die spiegelglatte Meeresoberfläche erstrahlen. Die Hitze war bereits deutlich zu spüren, und der Schweiß begann, den Menschen über die Haut zu rinnen. Niemand wagte, auch nur ein Wort zu sagen. Alle beobachteten das Geschehen, denn später würden sie sich erinnern müssen, um es den anderen zu berichten.

Die Polizei war nach etwa zwanzig Minuten eingetroffen. Jedoch handelte es sich lediglich um Streifenpolizisten, zwei uniformierte Männer in einem alten quietschenden Wagen. Seydou, der im Jachthafen für so ziemlich alles zuständig war, hatte sie in seiner Jolle zum Schiff gebracht. Kurz darauf, in der noch dichter gewordenen Stille, vernahmen die angestrengt lauschenden Zuschauer aus der Richtung des Segelschiffs spitze Schreie.

An Deck konnte man die Umrisse einer dritten, wild gestikulierenden Person ausmachen. Da das Schiff weit vom Pier entfernt vertäut und im Gegenlicht lag, war nur schwer zu erkennen, was dort vor sich ging. Aber unter den Schaulustigen, die ihre Augen mit der Hand beschirmten, um das Geschehen zu verfolgen, befanden sich auch Seeleute, die daran gewöhnt waren, sonnige Horizonte abzusuchen. Einer von ihnen verkündete, es handele sich um eine Frau, die gerade an Deck erschienen war. Ein anderer erkannte sie wenig später:

»Das ist Mame Fatim«, rief er.

Und fast im selben Moment fügte ein weiterer hinzu:

»Sie ist vollkommen nackt!«

Da entlud sich die Angst, die die Menge seit der Entdeckung des aufgehängten Leichnams ergriffen hatte, plötzlich in nervöser Heiterkeit. Hunderte von Menschen standen aufgereiht oberhalb des schmutzigen Wassers im Jachthafen und fingen lauthals an zu lachen. Auch diejenigen, die weiter hinten standen, lachten mit, ohne zu wissen, warum. Sie sprangen hoch und drängten sich vor, um einen Blick zu erhaschen. Eine Frau fiel ins Hafenbecken, und zwei Kinder, die sich an den Händen hielten, wurden unter dem Ansturm der Menge mitgerissen und folgten ihr nach. Ein paar Männer sprangen hinterher, um der Frau zu helfen, die schreiend mit den Armen fuchtelte, weil sie nicht schwimmen konnte. Die Kinder schafften es, sich an einer in die Steinmauer eingelassenen Leiter festzuklammern, und kletterten vorsichtig hinauf, um nicht auf den rostigen Sprossen auszurutschen.

Fast zur selben Zeit erschien auf der Terrasse des Clubhauses eine Gruppe offizieller Repräsentanten, darunter hochrangige Polizeibeamte, die den sandigen Weg zum Hafenbecken hinuntermarschierte. Seydou manövrierte seine Jolle zurück zum Pier und brachte die Neuankömmlinge in Zweiergruppen zum Schauplatz des Unglücks.

Die Frau an Deck des Schiffs war notdürftig in ein Laken gehüllt worden, das einer der Polizisten in den Kabinen gefunden hatte. Nun saß sie auf einer Segelkiste am Bug und wartete. Auf dem Deck war es inzwischen recht voll, und die Neuankömmlinge schienen nicht in ihrem Element zu sein. Sie hielten sich, so gut sie konnten, an den Streben des Mastes fest. Dann gab einer der Beamten einen Befehl, und einige Polizisten machten sich am Tauwerk zu schaffen, das sie Seil für Seil abrollten. Plötzlich löste sich die an einem Fuß aufgehängte Leiche an der Flaggleine des Großsegels, traf im Herabfallen einen der Beamten und schlug dann dumpf aufs Deck. Man sah, wie der Mann sich den Kopf hielt und sich eine ganze Weile niemand mehr um die Leiche scherte. Alle Sorge galt dem Mann im Anzug, mit dem der Tote beim Herabstürzen kollidiert war. Jenseits der Strandpromenade näherten sich die Sirenen eines Krankenwagens und eines Polizeiwagens. Zu dieser frühen Stunde war die Verkehrslage kritisch, und so dauerte es eine Zeitlang, bis das Blaulicht seinen Schein auf die Stämme der Palmen warf, die die Allee zum Jachthafen säumten. Mittlerweile hatten sich die Gestalten auf dem Unglücksschiff von dem kurzzeitig ohnmächtig gewordenen Mann abgewandt, der wieder bei Bewusstsein war und sich neben dem Steuerrad den Kopf rieb.

Zwei Polizisten halfen der noch immer in das Laken gehüllten Frau in die Jolle. Es war eine junge, recht mollige Afrikanerin mit auffallend heller Haut. Ihr Haar war zerzaust und das Gesicht tränenverquollen. Das Gemurmel schwoll an, als das Boot vor dem Clubhaus anlegte.

»Sie ist es wirklich … Mame Fatim …«, raunten sich die Leute zu.

Niemandem war mehr nach Lachen zumute.

Die Frau stieg in den Krankenwagen, der mit heulenden Sirenen davonfuhr.

Den Toten zu bergen, nahm mehr Zeit in Anspruch. Die Jolle reichte dafür nicht aus, das große Zodiac-Schlauchboot musste geholt werden. Der Chef des Jachthafens besaß zwar den Schlüssel dafür, war es aber noch nie gefahren. Als der Leichnam an Land gebracht worden war, stellte man fest, dass es sich um einen groß gewachsenen Europäer mit stoppeligem grauen Haar handelte. Die meisten waren ihm, ohne ihn namentlich zu kennen, in den letzten Monaten am Strand begegnet. Alle wussten, dass Mame Fatim seit einigen Wochen bei ihm an Bord lebte.

Er trug eine leichte weiße Leinenhose und ein blassblaues geblümtes Hemd. Als zwei Polizisten die Leiche aus dem Zodiac zogen und sie rücklings auf den Zementboden des Kais legten, schrie die Menge auf: Die Brust des Toten war scharlachrot. Eine lange blutige Wunde klaffte dort und hatte einen regelrechten Krater hinterlassen. Schnell bedeckte ein Polizist die Leiche mit einem Tuch. Das Blut durchtränkte es, und schon bald sah man auf der unförmigen Masse nur noch einen braunen Fleck, der immer größer wurde. Zwei Sanitäter nahmen den Toten gleich mit.

An Bord arbeiteten die guineischen Polizisten weiter. Geschäftig nach vorne gebeugt, sammelten sie Beweise ein. Auch ein französischer Zollbeamter kam, um das Schiff zu inspizieren.

Der morbiden Bilder überdrüssig, begann sich die Menge zu zerstreuen, wobei sie das Gesehene nicht unkommentiert ließ.

#

Es war Mittag, als Aurel, Mitglied des konsularischen Dienstes der französischen Botschaft, von seinem Fahrer an der Einfahrt zum Jachthafen abgesetzt wurde. Obwohl er nicht sehr groß und eher feingliedrig war, kostete es ihn einige Anstrengung, aus dem Auto auszusteigen. Der zweitürige Clio war das bescheidenste und altersschwächste Fahrzeug im Dienst und das einzige, das sein Chef, der Generalkonsul, ihm zugestand. Aurel verhielt sich stets, als handele es sich um eine große Limousine: Er klappte den Beifahrersitz nach vorne und nahm auf der Rückbank Platz, die eigentlich für Kleinkinder vorgesehen war. Würdevoll ließ er sich nieder, die Knie auf Kinnhöhe, während sein Kopf an die Decke stieß. Und mit der gleichen Aura von Wichtigkeit stieg er auch wieder aus. Immerhin war »Severus«, der Strenge, einer der Beinamen der römischen Kaiser, wie übrigens auch »Felix«, der Glückliche. Aurel verlor diese Lektion der Geschichte nie aus dem Blick: Die Würde genau wie das Glück sind Attribute der Souveränität. Sie stehen jedem zur Verfügung, es ist nur eine Frage des Willens. Damit eilte der Konsul also durch das Spalier der strammstehenden Königspalmen zum Clubhaus.

Es war nicht leicht, sein Alter zu schätzen. Trotz seines fast kahlen Schädels, den nur ein Kranz aus krausen grauen Locken zierte, hatte er ein fast jugendliches Auftreten. Doch seine Kleidung verlieh ihm das Aussehen eines alten Mannes. Seine Aufmachung fürs Büro bestand für gewöhnlich aus einem gestreiften Drei-Knopf-Anzug, einem Hemd mit spitzem Kragen, das durch unzählige Wäschen gelbstichig geworden war, und einer rot-grün gestreiften Krawatte. Wenn er ausging, zog er einen langen Tweedmantel mit breitem Revers darüber, den er sorgfältig zugeknöpft ließ. Aus Protest gegen das ungerechte Schicksal, das ihn in diese afrikanische Hauptstadt verbannt hatte, machte er es zur Ehrensache, nichts an seiner bisherigen Kleiderordnung zu ändern. Er war angezogen wie mitten im Winter in seiner Heimat Rumänien – oder zumindest wie in seiner Wahlheimat Frankreich, genauer gesagt, Paris. Zum Glück schwitzte er nie.

Als er in dieser Aufmachung die Terrasse überquerte und das Clubhaus betrat, verstummten sämtliche Gespräche. Die neugierigen Gaffer waren verschwunden. An der Bar standen nur die Stammgäste und der Wirt, sowie einer der guineischen Polizisten, die abgestellt waren, um Plünderungen auf dem Unglücksschiff zu verhindern.

Ein kurzer Blick genügte Aurel, um die Gruppe zu erfassen. Mit Ausnahme des Afrikaners waren alle dickbäuchige weiße Männer jenseits der Fünfzig mit vom Alkohol glasigem Blick. Sie trugen locker geknöpfte Hawaiihemden und darunter lediglich Badehosen oder Shorts. Die meisten hatten Flip-Flops an oder waren barfuß in alten Mokassins unterwegs.

Beim Anblick der eingemummelten kleinen Gestalt, die sich in der Terrassentür abzeichnete, nahmen die Männer an der Bar Haltung an. Man sah, wie der ein oder andere hastig sein Hemd ordentlich zuknöpfte oder seine Schuhe anzog, die er abgestreift hatte, als er sich auf einen der Hocker setzte.

Aurel kannte diese Reaktionen nur zu gut. Er wusste, dass ihm nicht viel fehlte, um als Autoritätsperson durchzugehen. Doch leider war irgendeine undefinierbare Kleinigkeit nicht vorhanden. Denn der erste Eindruck, den er hinterließ, war nie von langer Dauer. Gleich darauf folgten Geschmunzel und Achselzucken.

Aurel hatte noch nie einen Fuß in den Jachtclub gesetzt. Doch nach dem ersten Überraschungsmoment erkannten ihn alle sofort. Der Wirt warf einen vielsagenden Blick in die Runde. Jemand kicherte. Zwei oder drei Männer tranken, um Haltung zu bewahren und ernst zu bleiben, ihre Gläser aus.

»Der Generalkonsul ist wahrscheinlich im Urlaub, nicht wahr?«, meldete sich Ravigot, der Wirt, zu Wort.

Aurel wusste, dass Baudry, sein Vorgesetzter, Generalkonsul von Frankreich in Conakry, Mitglied des Jachtclubs war, obwohl er seines Wissens keinerlei seemännische Fertigkeiten besaß. Für ihn war es nur eine Gelegenheit, in geselliger Runde zu trinken, den neuesten Klatsch zu erfahren und ein paar gute Geschichten zum Besten zu geben. Zum Beispiel die von Aurel, dem unsäglichen Stellvertreter, der seiner Abteilung zugewiesen worden war. »Stellt euch vor, ein Rumäne, der noch dazu mit einem furchtbaren Akzent spricht. Er ist eine solche Katastrophe, dass man ihm nichts anvertrauen kann. Ich habe ihn buchstäblich in ein Kabuff verbannt. Ohne Telefon und ohne Computer. Warum wir ihn nicht längst vor die Tür gesetzt haben? Nicht, dass wir es nicht versucht hätten. Alle seine Chefs wollten ihn loswerden, nicht nur ich. Aber er ist Beamter, leider.«

»Ah, alles Gesindel!«, ließ Ravigot verlauten.

Er hatte früher eine Autowerkstatt in Bayeux besessen und schwor auf das freie Unternehmertum.

»Lassen Sie uns das relativieren«, wandte ein Stammgast ein, ein pensionierter Lehrer für Naturwissenschaften, der gelegentlich mit seiner Barkasse zum Fischen fuhr, ohne jemals einen Fang zu machen.

Alle Fenster der Bar waren geöffnet. Warme Meeresluft strömte vom Hafenbecken hinein und brachte den Geruch nach verfaultem Obst mit.

»Kommen Sie nur herein, Monsieur le Consul«, empfing ihn Ravigot.

Wie alle Auswanderer kannte auch der Wirt die subtile Hierarche, die in Botschaften herrschte. Er sprach das Wort »Konsul« mit einer Beiläufigkeit aus, die zeigte, dass er mit dem anderen, dem echten, dem »General« bestens bekannt war.

»Danke.«

Aurel ging mit möglichst ernster Miene zur Bar hinüber. Aber es war schon zu spät. Alle grinsten, als sie ihn in seinem langen, bis zu den Knöcheln reichenden Mantel hereintrippeln sahen. Mit jedem Schritt wurde seine geringe Größe offensichtlicher. Die Normalität wechselte die Seiten, nachdem sie ganz kurz auf seiner gewesen war. Und auf einmal war es das Natürlichste der Welt, fast nackt oder nur mit einem lächerlichen geblümten Hemd bekleidet zu sein, in sich zusammengesunken vor einem Glas Ricard zu sitzen und nach Schweiß zu riechen. Aurel hatte nichts anderes erwartet.

Als er die Theke erreicht hatte, kramte er in seiner Manteltasche und holte einen Stapel Visitenkarten heraus. Eine davon reichte er dem Wirt. Um Haltung zu bewahren, während er dessen Reaktion abwartete, schob er sich eine Zigarettenspitze aus Bernstein in den Mund, in der eine filterlose Camel-Kippe steckte.

Ravigot studierte sorgfältig die Karte. Unter dem blau-weiß-roten Emblem des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten standen sein Name, Aurel Timescu, und sein Titel, »Konsul von Frankreich«. Der Wirt war ein großer Kerl, der mit dem Alter dick geworden war, sich aber sein markantes, inzwischen von Falten zerfurchtes Gesicht bewahrt hatte. Er verstand sich darauf, den Empörten zu mimen. Seine gespielten Wutausbrüche beeindruckten Neuankömmlinge, bei den Stammgästen sorgten sie für Gelächter. Er reichte dem pensionierten Lehrer die Visitenkarte, dann wanderte sie reihum weiter.

»Seht sie euch genau an, Leute. Und versucht gefälligst, euch vor Monsieur le Consul zu benehmen.«

Man musste ihn kennen, um zu bemerken, dass seine Augen unter den buschigen Brauen ironisch und hinterhältig funkelten.

»Und was können wir für Sie tun, Monsieur Timescu?«

»Erzählen Sie mir von dem Toten.«

»Mayères?«

»Ist das sein Name?«

Aurel hatte ein Moleskine-Notizbuch hervorgeholt und begann, sich mit einem kleinen silbernen Druckbleistift Notizen zu machen.

»Ja. Jacques Mayères. Übrigens, was hätten Sie gerne, Monsieur le Consul?«

»Haben Sie einen Weißwein?«

Eine von Aurels Schwächen. Baudry hatte es sich natürlich nicht nehmen lassen, davon zu berichten. »Er säuft wie ein Loch«, hatte er erzählt. »Zwangsläufig, mit irgendwas muss er sich ja in seinem Kabuff beschäftigen …« Aber Aurels Leidenschaft für Weißwein hatte einen anderen Hintergrund, den sein Vorgesetzter nicht erahnen konnte: Tokajer Wein, die Weinberge Mitteleuropas, eine unendliche Sehnsucht nach diesen Ländern, in denen sich für ihn abscheuliche Barbarei und erlesenste Zivilisation vermengten.

»Nein, leider nicht. Ich kann Ihnen Bier, Rotwein und Limonade anbieten.«

»Dann nichts, danke. Kannten Sie den Verstorbenen gut?«

»Ob man ihn hier kannte? Also, noch gestern saß er hier auf Ihrem Platz an dieser Bar, und die meisten dieser Herren haben ihn gesehen.«

Zustimmendes Gemurmel kam von der kleinen Gruppe.

»Liegt sein Schiff schon lange in Ihrem Jachthafen?«

»Beinahe sechs Monate. Jetzt haben wir Februar. Er war seit dem Ende der Wintersaison hier, seit September.«

»Ich nehme an, er hat Ihnen bei der Ankunft seine Papiere gezeigt?«

Der Wirt betrieb nicht nur die Bar. Er war auch für den Jachtclub verantwortlich, und jede neue Mannschaft musste bei ihm vorstellig werden. Bei ausländischen Schiffen war er dazu verpflichtet, die Polizei und den Zoll zu informieren.

»Natürlich hat er sie mir gezeigt.«

»Und Sie haben die Fotokopien aufbewahrt?«

Ravigot lächelte und griff nach seinem Glas. Er leerte den Rest Pastis in einem Zug.

»Wissen Sie, hier ist alles ganz leger. Man vertraut einander. Der Typ war ehrlich, das sah man ihm an. Im Übrigen gab es, seit er hier war, noch nie Probleme.«

»Also haben Sie seine Papiere nicht aufbewahrt.«

Der Wirt fuhr sich mit der Hand über den Nacken. Sie kam schweißglänzend wieder zum Vorschein.

»Sind Sie sicher, dass Sie es sich nicht bequem machen wollen?«, beharrte er. »Wir sind unter uns.«

Aurel schenkte der Frage keine Beachtung.

»Vielleicht haben die guineischen Behörden eine Kopie dieser Dokumente aufbewahrt?«

»Die guineischen Behörden!«, wiederholte der Barbesitzer mit einem Blick in die Runde, der für Belustigung sorgte. »Oh, sicher. Sie wissen ja, wie deren Verwaltung funktioniert … Ein Musterbeispiel an Ordnung und Disziplin!«

Aurel blickte hinunter auf seine Schuhe. Das ganze Jahr über in Schuhcreme ertränkt, hatten sie allen Sand auf dem Weg hierher magisch angezogen. Sie sahen aus wie panierte Fleischstücke. Er seufzte und nahm sein Notizbuch wieder zur Hand.

»Wissen Sie denn noch, wie alt er war?«

»Sechsundsechzig. Das weiß ich, weil er wie ich im August Geburtstag hatte. Ein Löwe, das beste aller Sternzeichen! Mit drei Tagen Unterschied waren wir fünf Jahre auseinander.«

»Hat er Ihnen erzählt, was er früher gemacht hat?«

»Er hat von nichts anderem gesprochen. Sie wissen ja, wie Ruheständler so sind. Ich meine, Sie sind noch zu jung, aber Sie werden schon noch sehen.«

Das war eine kleine Rache an den Gästen, die ihm Tag für Tag in der Bar mit ihren beruflichen Erinnerungen auf den Wecker gingen.

»Er hatte sich in der Haute-Savoie ein Unternehmen aufgebaut.«

»In welchem Zweig?«

»Gut ausgedrückt! Holz war sein Zweig …«

Mit diesem schlechten Scherz zauberte Ravigot seinen Stammgästen wieder ein Schmunzeln ins Gesicht.

»Sein Vater oder sein Großvater, ich weiß es nicht mehr, hatte ein kleines Sägewerk. Mit sechzehn fing er dort an zu arbeiten. Nachdem er es geerbt hatte, baute er es aus. Am Ende hatte er das größte Unternehmen seiner Branche in der ganzen Region. Er kontrollierte den gesamten Prozess, vom Einkauf des Holzes bis zur Herstellung der Möbel. Und er exportierte sie bis nach Saudi-Arabien.«

»Wissen Sie, was aus dem Unternehmen geworden ist?«

»Er hat es verkauft. An die Chinesen, wenn ich das richtig verstanden habe. Er hat eine Menge Geld dafür kassiert.«

»Kinder?«

»Nein, eben nicht. Er sagte, er sei frei.«

»Nie verheiratet gewesen?«

»Darüber hat er nicht viel gesprochen.«

»Doch, doch«, mischte sich einer der Gäste ein. »Mir hat er erzählt, dass er eine Frau in Frankreich hat.«

»Hatte er viel Geld bei sich?«

»Er muss einen ordentlichen Batzen auf dem Schiff gehabt haben. Denn er bezahlte alles in bar. Oft mit Fünfhundert-Euro-Scheinen. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie in CFA-Francs zu wechseln.«

Aurel notierte alles akribisch. Ravigot hatte die Gläser seiner Gäste bereits zweimal gefüllt. Die Zeit verging. Alle hatten Hunger. Die Befragung zog sich etwas in die Länge.

»Sind Sie auf der Suche nach konsularischen Informationen?«

Aurel wurde leicht verlegen. Für das Konsulat benötigte er lediglich die Daten zur Person. Doch er hatte sich auf eine andere Fährte locken lassen. Der Wirt konnte nicht wissen, dass Aurel früher gerne zur Polizei gegangen wäre. Er war nie darüber hinweggekommen, keine Ermittlungen leiten zu dürfen. Eine vereitelte Berufung. Er hätte seine Beobachtungsgabe und seinen Sinn für Psychologie einbringen können, seine Unerbittlichkeit als Schachspieler. Er war davon überzeugt, dass er genial gewesen wäre. Wann immer es sich ergab, führte Aurel also mit Begeisterung seine privaten Ermittlungen durch, parallel zu denen der Polizei und nur aus eigenem Interesse. Es war sein Hobby, aber das musste geheim bleiben, niemand durfte Verdacht schöpfen.

»Ich will Sie nicht länger langweilen«, sagte er süffisant, denn eigentlich wollte er seine Befragung noch weiterführen. »Kennen Sie die junge Frau, die man an Bord gefunden hat? Ist sie mit ihm zusammen hergekommen?« Und um nicht den Anschein zu erwecken, seine konsularische Mission aus den Augen zu verlieren:

»Ist sie Französin?«

»Französin! Mame Fatim? Das wäre sie gerne, und sie hat auch alles dafür getan.«

Spöttisches Gelächter. Mehrere sahen verlegen auf den Boden. Aurel begriff, dass sie alle mit der jungen Frau in Berührung gekommen waren, und zwar aus allernächster Nähe.

»Hätte Mayères sie nicht geheiratet?«

»Das wäre gut möglich gewesen, wenn ihre Beziehung weiter gegangen wäre«, sagte der pensionierte Lehrer. »Aber bei allem Respekt, den man dem Toten schuldet, in dieser Hinsicht war er ein ganz schöner Idiot.«

Der Barbesitzer stieß mit seinen Gästen an, und Aurel spürte, dass es ein Ablenkungsmanöver war. Er hatte den alten Lehrer mit einem finsteren Blick bedacht.

»Es gibt noch anderes im Leben«, sagte Ravigot und warf einen Blick auf die große gelb-schwarze Taucheruhr, die sein behaartes Handgelenk schmückte. »Ich muss mich jetzt um die Wetterdaten kümmern. Und die Engländer erwarten mich an Bord zum Mittagessen …«

Aurel wurde energisch hinauskomplimentiert. Er klappte sein Notizbuch zu und nickte den Anwesenden zu. Die anderen rührten sich nicht vom Fleck. Bedächtig ging er zwischen den Korbsesseln mit ihren blauweißgestreiften Kissen hindurch zur Terrasse. Zwei Deckenventilatoren wirbelten die feuchtwarme Luft auf und bliesen eine ekelerregende Mischung aus totem Fisch und Schweiß herein. Als er die Terrassentür erreichte, hielt er kurz inne. Das reichte aus, um alles zu registrieren. Das Clubhaus lag zwar erhöht, aber von der Terrasse aus konnte man nicht das gesamte Hafenbecken überblicken. Neben dem Unglücksschiff lagen nur vier weitere Segelschiffe vor Anker. Eins von ihnen beherbergte offensichtlich eine Familie, denn Kinder- und Frauenkleidung hing zum Trocknen an Seilen oder lag ausgebreitet an Deck in der Sonne. Alle diese Schiffe lagen nah beieinander, nur das von Mayères ankerte in einiger Entfernung, an der gegenüberliegenden Ecke des Hafenbeckens.

Aurel fiel auch auf, dass entlang des Kais jede Menge Barkassen und Beiboote vertäut waren, von denen die meisten anscheinend schon seit Langem nicht mehr benutzt wurden.

»Ihre Bar ist sehr ansprechend«, sagte er unvermittelt an den Wirt gewandt.

Auch diesen Effekt kannte er gut. Diejenigen verunsichern, die ihn ausgiebig verspottet hatten, indem er ihnen einen extravaganten Abgang bot, der so unerwartet kam, dass er beunruhigte.

»Mir persönlich hat es hier sehr gut gefallen. Ich werde wiederkommen.«

Aurel hatte diese Worte in einem derart erhabenen Tonfall gesagt, dass es den Anwesenden die Sprache verschlug.

Bevor er ins Sonnenlicht trat, das die Terrasse flutete, holte er aus seiner Tasche eine schwarze Brille. Es handelte sich um ein für Gletscher konzipiertes Modell, das er in Frankreich in einem Sportgeschäft erstanden hatte. Die Lederklappen an den Seiten hielten das Licht vollkommen fern. So vor der Außenwelt geschützt, betrat er den sandigen Weg Richtung Ausgang, bemüht, nicht an seine armen Schuhe zu denken.

II

Aurel kehrte auf direktem Weg zur Botschaft zurück. Er verabscheute das Lächeln der Polizisten, die den Eingang bewachten. Immer derselbe Zirkus. Der kleine weiße Renault Clio – gefahren von einem alten, faltigen Guineer, der die Kolonialzeit und die dunklen Stunden unter Diktator Sékou Touré erlebt hatte – wirkte nicht wie ein offizielles Dienstfahrzeug. Anders als bei den großen dunklen Limousinen des Botschafters oder des Generalkonsuls eilte bei seinem Anblick niemand ans Tor. Bedächtig näherte sich ein Polizist und beugte sich zum Fenster hinunter.

»Ach, du bist es, Mohamadou«, sagte er, als er den Chauffeur erkannte.

Dann fiel sein Blick auf Aurel, der auf der Rückbank kauerte, und er begrüßte ihn.

»Oh, Monsieur le Consul! Entschuldigen Sie bitte. Ich habe Sie gar nicht gesehen.«

All das mit einem Lächeln, das Bände sprach. Anschließend öffnete der Polizist gemächlich einen einzigen Torflügel, sodass sich das Fahrzeug durch den schmalen Spalt schlängeln musste. Aurel war das egal, er war ganz anderes gewohnt. Das Leben hatte ihn mit einer schier unerschöpflichen Widerstandskraft gegen noch weitaus demütigendere Ärgernisse ausgestattet. Sein Heimatland Rumänien unter Ceaușescu war in dieser Hinsicht eine außergewöhnlich harte Schule gewesen, die ihn auf ewig gegen Dummheit und Verachtung gewappnet hatte.

Der Clio setzte ihn vor dem Konsulatsgebäude ab, doch er beschloss, es nicht gleich zu betreten. Er ging über den Ehrenhof, wo sich vier Gärtner um ein Stückchen Rasen mit kleinen Blumenbeeten kümmerten. Wassersprenger sorgten für ein wenig Abkühlung. Er lief um die Kanzlei der Botschaft herum, dann vier Stufen hinab und erreichte die Dienststelle für polizeiliche Zusammenarbeit. Ein guineischer Wachposten grüßte ihn respektvoll. Dafür war Aurel ihm dankbar. Ganz allgemein hatte er den Eindruck, dass ihn die Afrikaner zuvorkommender behandelten. Er zog es vor, diesen Umstand nicht damit zu erklären, dass er weiß war, und alle Weißen oft eine noch aus der brutalen Kolonialzeit überlieferte Furcht erregten. Er war vielmehr davon überzeugt, dass die Afrikaner dem Geist der Menschen, denen sie begegneten, eine besondere, vielleicht sogar magische Beachtung schenkten. Aurel wollte gerne glauben, dass sie ihn respektierten, weil sie in ihm eine großmütige und reine Seele erkannten.

»Ist Kommissar Dupertuis in seinem Büro?«, fragte er den Wachhabenden.

»Ja, Monsieur le Consul.«

»Ist er allein?«

»Kommissar Babacar Bâ ist bei ihm.«

»Kann ich ihn sprechen?«

»Ich kündige Ihren Besuch an.«

Der Wachposten telefonierte.

»Er erwartet Sie, Monsieur le Consul.«

Aurel ging über den vertrauten Flur. Von allen Dienststellenleitern der Botschaft war Dupertuis der Einzige, der ihm Freundschaft entgegenbrachte. Tatsächlich hatte Aurel ihm gegenüber alle Register gezogen. Sie hegten beide eine Vorliebe für Kriminalromane, und Aurel hatte ihn auf wenig bekannte Werke aufmerksam gemacht. Vor allem aber hatte er ihm sein Talent als Pianist dargeboten. Als der Kommissar anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags zu einem Fest in sein Haus geladen hatte, hatte sich Aurel bereit erklärt, die ganze Nacht lang zu spielen. Sein gesamtes Pianobar-Repertoire. Die Gäste waren begeistert gewesen. Aurel hatte erst gegen dreiundzwanzig Uhr zu trinken begonnen. Und da die meisten Gäste um zwei Uhr nachts schon gegangen waren, war es niemandem aufgefallen, dass man ihn sturzbetrunken hatte abtransportieren müssen.

Dupertuis saß vor seinem Schreibtisch, ihm gegenüber sein guineischer Kollege in einem Ledersessel. Der Kommissar war ein korpulenter Mann. Sein glattes Gesicht und die rosig glänzende Haut suggerierten Gutmütigkeit, Naturverbundenheit und Bauernschläue. Er stammte aus Saint-Jean-d’Angély, und sprach von diesem Ort oft, als handele es sich um eine Hauptstadt im Niedergang. Trotz der rauen Schale und seiner bescheidenen Herkunft schien er sich seine fast aristokratische Vornehmheit bewahrt zu haben.

»Komm herein, Aurel. Was für eine Freude! Vertrittst du Baudry während seines Urlaubs?«

»Das weiß ich noch nicht. Aber ich war im Jachthafen, um die konsularischen Informationen aufzunehmen.«

»Komische Geschichte, nicht wahr? Bâ und ich haben gerade darüber gesprochen. Er ist mit den Ermittlungen betraut. Wir sind in Guinea, und ich habe hier keine kriminalistischen Befugnisse, die Sache untersteht der guineischen Polizei. Stimmt’s, Babacar?«

Dem Kommissar war offensichtlich daran gelegen, zu betonen, wie sehr er die afrikanische Souveränität respektierte.

»Was wissen wir über das Opfer?«, fragte Aurel vorsichtig.

»Anscheinend kannte er eine ganze Menge Leute hier.«

»Seltsam für einen Touristen. Wisst ihr, mit wem er verkehrte?«

»Vor allem mit anderen Jachtbesitzern. Zum Beispiel mit dem Mann der Botschaftssekretärin. Und mit einem unserer Polizisten, du weißt schon, der in Frankreich den Jollen-Wettbewerb gewonnen hat. Auch mit verschiedenen Typen der Wirtschaftsabteilung. Und sicher noch mit vielen anderen. Seit die Sache bekannt geworden ist, rufen mich andauernd Leute an, die wissen wollen, was los ist.«

»Aber ich glaube, er war nicht beim Konsulat registriert.«

Auf dem Rückweg im Auto hatte Aurel mit dem Handy des Chauffeurs – er selbst besaß keins, weil er seine Ruhe haben wollte – bei der Botschaft angerufen. Arlette, die für das Register verantwortlich war, hatte widerwillig eine schnelle Überprüfung vorgenommen.

»Du weißt doch, wie das mit diesen Seefahrern ist«, stöhnte der Kommissar. »Sie halten sich nicht für Gebietsansässige.«

Aurel seufzte und setzte jene bedauernde Miene auf, die er sich für die Beamten des kommunistischen Rumäniens zugelegt hatte, deren Ansichten ihm nicht bekannt waren.

»Als du gekommen bist, war Bâ gerade dabei, mir zu erzählen, was sie am Tatort entdeckt haben. Sprich weiter, Babacar.«

Der Guineer bedachte Aurel mit einem besorgten Seitenblick.

»Vor ihm kannst du sprechen. Aurel ist ein vertrauenswürdiger Freund. Und er hat oft gute Ideen.«

Aurel neigte lächelnd den Kopf. Es stimmte, dass Dupertuis ihn bei seinen Ermittlungen gerne um Rat fragte. Das war das Ergebnis eines langen Annäherungsprozesses, der mit der Diskussion über Kriminalromane begonnen und sich dann nach und nach auf die realen Fälle ausgeweitet hatte, die der Kommissar bearbeitete.

»Wie schon gesagt«, fuhr Kommissar Bâ fort, »wurde der Franzose mit einer großkalibrigen Kugel getötet, die aus nächster Nähe mitten in seine Brust abgefeuert wurde. In einer der Kabinen gab es einen Tresor, der ohne Probleme aufgebrochen wurde. Es war ein recht einfaches Modell. Wir haben darin weder Geld noch Wertsachen gefunden.«

»Und das Mädchen?«

»Sie sagt, sie sei vergewaltigt worden. Wir haben sie am Bug des Schiffes entdeckt, geknebelt und an Händen und Füßen gefesselt.«

»Hat sie ihre Angreifer gesehen?«

»Sie sagt, es waren zwei oder drei. Sie bringt alles ein wenig durcheinander.«

»Weiße oder Afrikaner?«

»Sie ist nicht in der Lage, sie zu beschreiben. Sie behauptet, vorne geschlafen zu haben und mit Fußtritten aus dem Schlaf gerissen worden zu sein. Die Männer waren vermummt, und es war stockdunkel.«

»Stimmt, letzte Nacht war der Mond nicht zu sehen«, bestätigte Aurel beiläufig.

»Sie hat also nicht in derselben Kabine geschlafen wie dieser … Mayères?«, fragte der Kommissar.

»Keine Ahnung. Sie wohnte seit mehreren Wochen auf seinem Schiff. Aber was sie zusammen getrieben haben oder nicht …«

»Du hast mir erzählt, sie sei im Jachtclub keine Unbekannte gewesen?«

»Ja, sie stand schon lange unter Beobachtung. Wir haben über alle Mädchen, die sich dort herumtreiben, eine kleine Akte angelegt. Sie ist Sererin, geboren im Erdnussgebiet des Senegal. Ihre Eltern waren Kleinbauern, die durch den Kurseinbruch ruiniert wurden. Im Alter von fünf Jahren kam sie mit ihnen in die Elendsviertel vor Conakry. Die Schule hat sie früh abgebrochen. Nach verschiedenen Gelegenheitsjobs begann sie, in Bars herumzulungern. Eine Freundin hat sie angeblich zum ersten Mal in den Jachthafen mitgenommen, und sie hat sich dann von den Eigentümern der dort liegenden Schiffe aushalten lassen. Die Freundin hat übrigens einen Österreicher geheiratet und ist nach Europa gegangen. Es ist zu vermuten, dass Mame Fatim dasselbe vorhatte.«

»Haben die Bewohner der anderen Schiffe in dieser Nacht nichts bemerkt oder gehört?«, fragte Dupertuis.

»Die Befragung dauert noch an. Aber offenbar hat niemand etwas gesehen oder gehört.«

»Liegen momentan viele Segelschiffe im Hafen?«

»Vier. Zwei gehören englischen Rentnerehepaaren, aber die waren in der Mordnacht an Land.«

»Warum?«

»Sie haben an einer Fotosafari teilgenommen. Wir haben die nötigen Nachweise.«

»Und die anderen?«

»Eine amerikanische Familie mit Kindern. Auf den ersten Blick nichts Verdächtiges. Aber wir überprüfen sie. Und dann ist da noch ein italienischer Junggeselle. Er ist hier sehr einflussreich, und soweit wir wissen, hat er ein wasserdichtes Alibi.«

»Welcher Art?«

»Eine Frau.«

Es schien Bâ ein wenig unangenehm zu sein, vor Aurel zu sprechen. Der Kommissar ermutigte ihn mit einer Geste, fortzufahren.

»Die Tochter eines Ministers. Das muss man ja nicht unbedingt rausposaunen. Aber das gesamte Personal hat ihn gesehen.«

Die Anwesenden senkten den Blick. Unter Polizisten weiß man, wie das abläuft. Gewisse Informationen müssen vertraulich behandelt werden.

»Bei den Schiffen also Fehlanzeige«, schloss Dupertuis.

»Dazu muss man sagen, dass Mayères’ Jacht ziemlich weit von den anderen entfernt vor Anker lag«, bemerkte Aurel.

»Schläft nicht der Chef des Jachthafens in der Anlage?«

»Doch, in einem Bungalow, etwas weiter hinten an der Allee. Aber bei dem Lärm der Taxis und Lkws, die da die ganze Nacht über unterwegs sind …«

»Hat man das Handy des Toten gefunden?«

»Nein, vermutlich ist es bei der Tat ins Wasser gefallen.«

»Schade«, sagte Dupertuis. Und da er sich keine Gelegenheit entgehen ließ, die erbärmliche Ausstattung der örtlichen Polizei zu betonen, fügte er hinzu:

»Und man wird deshalb sicher nicht das Hafenbecken ausbaggern. In Frankreich würde man das tun. Mit den technischen Mitteln hier, wüsste ich allerdings nicht, wie …«

Er erhob sich und trat hinter seinen Schreibtisch. Aurel hatte bei früheren Gesprächen bemerkt, dass Dupertuis sich gerne als feine Spürnase in Szene setzte, bevor er eine Hypothese aufstellte. Wenn er ganz ehrlich war, musste Aurel zugeben, dass diese Schlussfolgerungen im Allgemeinen recht banal waren, um es vorsichtig auszudrücken. Aber der Kommissar trug sie im Ton eines Gelehrten vor und war stets darauf bedacht, sie in Verbindung mit seiner Ausbildung zu bringen. Damit verschaffte er sich eine unantastbare Autorität. Aurel musste dann eine List anwenden, um seine eigenen Theorien einbringen zu können, die meist die kategorischen Schlussfolgerungen des Kommissars widerlegten.

Um seine Gedanken nicht durch seine Mimik zu verraten, zog er seine Zigarettenspitze aus der Tasche und fing an, auf ihr herumzukauen. Dupertuis gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, dass er die Zigarette anzünden könne. Aurel nahm zwei, drei tiefe Züge, und der Rauch umhüllte sein Gesicht.

»Letztlich scheint mir die Geschichte recht einfach, mein lieber Bâ«, begann der Kommissar bedeutungsvoll. »Solche Fälle sind häufig, die Lehrbücher sind voll davon: Ein klassischer Raubmord. Ein alter, reicher Weißer. Er ist seit sechs Monaten da, die Leute beobachten, dass er jede Menge Geld ausgibt, und eines Tages kreuzen sie an Bord auf. Das Einzige, was zu klären bleibt, ist, ob das Mädchen Opfer ist, wie es behauptet, oder Komplizin war. Wurde sie wirklich vergewaltigt?«

»Wir haben sie zur Untersuchung ins Krankenhaus geschickt. Fest steht, dass ihr Gesicht Spuren von Schlägen aufwies und die Fesseln tief in ihre Haut einschnitten.«

»Das beweist nichts …«, entgegnete Dupertuis und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. »Also gut, wie können wir dir helfen?«

»Ich weiß es noch nicht. Wenn ich technische Unterstützung brauche, gebe ich dir Bescheid.«

»Wir sind jederzeit für dich da, mein Lieber.«

»Danke. Inzwischen haben wir all unsere Informanten auf Spurensuche angesetzt. Wenn es irgendwelche kleinen Ganoven aus der Gegend waren, dann werden wir das sicher bald erfahren.«

»Wir sollten nach Fünfhundert-Euro-Scheinen Ausschau halten«, warf Aurel ein. »Anscheinend holte er die häufig aus seinem Tresor.«

»Woher weißt du das?«