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Heinz Strunk

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Beschreibung

Die Welt von Heinz Strunk ist der unseren in vielem ähnlich. Aber im Alltäglichen lauern hier immer Überraschung, Wunder, Grauen. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von einer Seniorenorganisation namens «Freiwillig über die Klippe» und von einem Autoausflug in die Prähistorie. Ein Experte erlebt in der Sendung von Markus Lanz seinen Höllensturz, ein Bauer in der Großstadt und ein Tourist bei der Thai-Massage am Strand. Manche der Texte klingen wie Zeitungsreportagen, manche wie Schauergeschichten, manche sind in Briefform, eine hat gar Bulletpoints. Aber immer sind sie originell, komisch, drastisch und unverwechselbar Heinz Strunk.

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Seitenzahl: 202

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Heinz Strunk

Der gelbe Elefant

 

 

 

Über dieses Buch

Die Welt von Heinz Strunk ist der unseren in vielem ähnlich. Aber im Alltäglichen lauern hier immer Überraschung, Wunder, Grauen. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von einer Seniorenorganisation namens «Freiwillig über die Klippe» und von einem Autoausflug in die Prähistorie. Ein Experte erlebt in der Sendung von Markus Lanz seinen Höllensturz, ein Bauer in der Großstadt und ein Tourist bei der Thai-Massage am Strand. Manche der Texte klingen wie Zeitungsreportagen, manche wie Schauergeschichten, manche sind in Briefform, eine hat gar Bulletpoints. Aber immer sind sie originell, komisch, drastisch und unverwechselbar Heinz Strunk.

Vita

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman «Fleisch ist mein Gemüse» hat er elf weitere Bücher veröffentlicht. «Der goldene Handschuh» stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm Raabe-Literaturpreis geehrt. Seine Romane «Es ist immer so schön mit dir» und «Ein Sommer in Niendorf» waren für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung iStock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01643-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Kroketten (Croquettes)

Jeden Freitag besuchen Claudia (Claudi) und Andreas (Andi) die Taverna Bacchus, auch genannt der hiesige Grieche, der, seit die Kinder das Restaurant übernommen haben, brummt und aus allen Nähten platzt. Um die Ecke, rechts, links, dreimal lang hingeschlagen, schon sitzt man am original griechischen Bauerntisch. Früher, als sie noch in der gemieteten DHH in Bliestorf gewohnt haben, sind sie freitags mit dem Auto ins elf Kilometer entfernte Lübeck gefahren und im Big Bull Steakhaus eingekehrt. Man hätte auch Öffis nehmen können, zur Bushaltestelle sind’s neunhundert Meter, dann sieben Stationen, und zum Big Bull noch mal sechshundert Meter. Aber wie dann wieder zurückkommen, wenn der letzte Bus bereits um kurz vor zehn geht? Taxi kam nicht infrage, viel zu teuer. Musste also einer in den sauren Apfel beißen und fahren, bedeutete ein 0,3 Bier, höchstens zwei, da lässt man’s besser gleich und zeckt sich mit alkoholfreiem Weizen durch den Abend.

Seinerzeit hießen ihre Best-Friday-Buddys Katrin und Frank. Von den zweiundfünfzig Freitagen des Jahres haben sie um und bei fünfundvierzig gemeinsam im Big Bull verbracht. Nach dem Umzug nach Lübeck verlor man sich aus den Augen, aus dem Sinn. Die halbherzigen Versuche, den Kontakt aufrecht zu halten, verliefen im Sande, und heute gratulieren sie einander noch nicht mal mehr zum Geburtstag. Na ja, Zweckbündnisse auf Zeit.

 

Als sie in die ETW an der Lübecker Untertrave gezogen sind, haben sie sich gleich nach einem neuen Stammrestaurant umgeschaut und sind über Irr-/Umwege (Da Carlo/Italiener, Lotus/Chinese) bei Bacchus gelandet. Herrlich nah, superleckeres Essen mit tollem Preis-Leistungs-Verhältnis und gemütlich wie kein zweiter Grieche im Umkreis von schätzungsweise bis Hamburg. Gemütlichkeit, beim Griechen Kriterium Numero uno. Was meinst du, heute wieder zum Griechen kriechen? Haha.

Bei Da Carlo beispielsweise sitzt man statt auf gepolsterten Bänken auf extraharten Stühlen. Und eng ist es. Dem Personal fehlt es an Herzlichkeit, außerdem wird einem das Gefühl vermittelt, auf irgendeine ungeschriebene Etikette achten zu müssen. Das Lotus ist zwar ganz cosy, aber der Rest: Also wirklich, man kann Claudi und Andi nicht nachsagen, sonderlich hohe Ansprüche zu stellen, aber was in den frittierten Schweinebällchen mit süß-saurer Soße, dem gebr. Rindfleisch (scharf) nach Szechuan-Art Spezial, den gedämpften Hefeklößen (3 Stück) mit Schweinefleisch in Spezialsoße und dem Saté Babi Huhn (2 Spießchen) mit Sojabohnensalat und Erdnusssoße noch alles verarbeitet wird, will man gar nicht wissen.

Nirgendwo jedenfalls sind die Bänke weicher als bei Bacchus, und es stört auch niemanden, wenn man in Joggingsachen aufschlägt (was sie gelegentlich sogar machen). Der teuerste Schmaus ist der Mixed Grill Filetteller (Rind, Lamm, Schwein) für 23,90 €. Die ganze Woche grübeln sie darüber nach, was sie am Freitag essen. Andreas entscheidet sich fast immer für die Stavros-Platte (Gyros, kleines Huftsteak, Soutzoukakia), Claudia für die Mykonos-Platte (1 Souflaki, 2 Keftedes, 1 Stück Leber). Zu allen Grill-Gerichten werden Krautsalat (mit Peperoni) und wahlweise Bratkartoffeln/Pommes gereicht. Oder, gegen zwei Euro Aufpreis, HAUSGEMACHTE KROKETTEN. Zwei Euro sind nichts für diese geniale Leckerei! Mmh, Kroketten, lecker, locker, kross UND würzig, wie machen die das bloß? Bacchus = Kroketten, Gemütlichkeit (Heimeligkeit, Ungezwungenheit), fußläufige Erreichbarkeit.

 

In ihrem letzten Urlaub auf der griechischen Sonneninsel Korfu haben sie Melanie und Oliver kennengelernt; Oli/Olli? Ewiges Rätselraten wie Uli/Ulli, Meli/Melli. Sie haben Ausflüge unternommen, gemeinsam zu Abend gegessen und so weiter. Aber, eben: eine klassische Urlaubsbekanntschaft, die im richtigen Leben nur selten Bestand hat. Normalerweise hätten sie sich jetzt, sieben Monate später, längst aus den Augen verloren, wenn es da nicht den initialen Aha-Moment gegeben hätte.

«Wo kommt ihr denn eigentlich her?»

«Lübeck.»

«Echt? Wir auch. Und wo da?»

«Früher Krummesse. Seit einem Jahr Beckergrube.»

«Echt? Wir Bliestorf, jetzt Untertrave.»

«Welche Nummer?»

«150.»

«Gibt’s ja gar nicht. Das sind Luftlinie keine fünfhundert Meter.»

Seither treffen sie sich regelmäßig, unternehmen Fahrradtouren ins benachbarte Umland/in Naherholungsgebiete, treffen sich abends im Lübecker Weinkontor, dem kleinen Winkler oder der Bier- und Weinstube Kogge, und nachdem das alles so locker, lustig und entspannt zugegangen ist, stehen sie nun, endlich, auf der Schwelle von der Bekannt- zur Freundschaft.

Quasi als Bewährungsprobe sind sie heute zum ersten Mal in Claudis und Andis Allerheiligstem verabredet; Vertrauensbeweis, Vertrauensvorschuss, intimer als gemeinsam Silvester feiern oder, stell dir mal vor, einen Swinger-Club besuchen. Franks und Katrins Vorgänger hießen Björn und Swantje. Björnieschmörni und Swantjischwantji und Claudi und Andi und Olli und Melli und Kati und Matze und Sabi und Fränkie, die Ahnengalerie der Generation X; Gesichter, die aussehen, als hätten sie schon tausend Jahre gelebt, gleiche Grammatik von Mimik und Posen, reduziert aufs Notwendigste, Kollektivgesichter.

Letzte Woche kam Melanie auf die Idee, Claudia anzurufen. Erste Reaktion Claudis, als Mellis Name auf dem Display erschien: Häääääh?! Was soll denn das jetzt?! Sie pflegen ausschließlich über Kurz- oder Sprachnachrichten – modern talking – zu kommunizieren. Bei Claudi läutete jedenfalls nicht nur das Telefon, sondern schrillten sämtliche Alarmglocken, denn ein Anruf konnte nur bedeuten, dass etwas Schreckliches (Unfall/Krankheit/Insolvenz) passiert war oder dass Melanie etwas Persönliches, Privates, Intimes auf dem Herzen hat, Talk abseits des smallen, womit eine unausgesprochene inhaltliche Grenze überschritten worden wäre. Zum Glück hatte Melanie aber lediglich vergessen, wie der Zahnarzt heißt, den Claudia ihr empfohlen hatte, und kurz entschlossen zum Hörer gegriffen. Seltsam verspannt verlief der kurze Plausch; na ja, einmal und nie wieder.

 

Um sieben schlagen Melanie & Oliver bei Claudia & Andreas auf, Vorglühen light, der Tisch ist auf acht reserviert. Wenn man beim GRIECHEN reservieren muss, dann kann der ja nur gut sein, meint Andi. Die Frauen teilen sich eine Flasche Retsina, die Männer süffeln die regionale Bierspezialität Lück-Beer (Claim: Lück muss man haben). Claudia erläutert, quasi zur Einstimmung, lang und breit die Vorzüge des hiesigen Griechen. Wieso kennen Melanie und Oliver den eigentlich nicht?

Oliver sieht schlecht aus, abgespannt, fahl, kränklich; schlechter als beim letzten Mal und sehr viel schlechter als vor einem halben Jahr (Korfu), als er, von gleichmäßiger Sonnenbräune überzogen, einen fröhlichen, freundlichen und vitalen Eindruck vermittelte. Vor allem mit den Zähnen stimmt was nicht, die eh etwas zu großen Hauer grau, ohne Schmelz, brüchig, spröde; so durchscheinend, dass sie fast gelblich wirken. Wenn die Zähne im Arsch sind, ist der Rest auch egal. Außerdem wirkt er irgendwie starr, mit dem zusammengekniffenen Mund, dem angespannten Blick. Und dann der Bart! Wenn ein Mann keinen vernünftigen Bartwuchs vorweisen kann, sollte er sich täglich rasieren. Mensch, Olli! Sein ehemals rotes Schnurrbärtchen, nur eine Schliere über der Oberlippe, hat die Farbe eines angelaufenen Apfelschnitzes angenommen.

Olli ist Ingenieur (Elektrotechnik) bei der DEKRA, ein Job, der Frauenaugen auch nicht gerade zum Leuchten bringt. Olli, man muss es leider so sagen, ist ein Ladenhüter, ein Schussel, einer, der außerhalb seiner beruflichen Tätigkeit dauernd alles falsch macht, sein Hemd verkehrt herum zuknöpft, an der falschen Haltestelle aus dem Bus steigt, schnell Opfer von Demütigungen wird, aus unerfindlichen Gründen Demütigungen geradezu provoziert.

Er ist beim zweiten Bier und erzählt wieder mal irgendeinen witzigen Scheiß: Stau ist nur hinten blöd, vorne geht’s/Wie nennt man einen Spanier ohne Auto? Carlos/Was heißt VW Golf? Völlig wertloser Gegenstand ohne logische Funktion. Haha. Allen Ernstes. Dann verkündet er ohne Übergang, Melli werde immer wieder Ähnlichkeit mit Jennifer Aniston attestiert/nachgesagt. Aha. Andi und Claudi denken ungefähr das Gleiche, nämlich, dass Melanie weder Jennifer Aniston noch einer anderen Schauspielerin ähnlich schaut, zumindest keiner, die man kennt.

Nun denn, nun ja.

 

Aus zwölf mal sechzig Sekunden Fußweg werden bei der Saukälte zwölf endlose Minuten Gewaltmarsch. Es ist einer dieser zermürbenden, sich endlos ziehenden Winter, da jeder Tag ein trostloser Wiedergänger des vorherigen wird. Die Kälte liegt wie ein eisiges Sargtuch auf ganz Schleswig-Holstein, Eisregen, grau wie ein toter See, fällt wie in Zeitlupe herab und hat die Gegend, eine Gegend der Antik-Trödel-Shops und Brillenläden, mit einer kristallinen Kruste überzogen. Zum Glück stehen sie irgendwann doch vor dem Bacchus.

Wie immer werden sie ganz, ganz herzlich von Phileas und seiner Schwester Athina begrüßt. Da, euer Platz, Stammtisch, freigeräumt, entkrümelt, mit frischem Besteck versehen. Phileas prägt sich Infos, Details, Vorlieben seiner Gäste ein, der Mann ist Gold wert. Auch ein Unterschied zu Da Carlo, die blöden Trottel da merken sich nämlich nie etwas.

Die Auslegeware im Bacchus hat ein unruhiges, Flecken kaschierendes Muster, die Tapeten schwitzen von den Tausenden Tonnen Gyros und Pommes und Lebern und Zaziki, die die Gäste im Laufe der Zeit ausgeatmet und  -gedünstet haben. Tischdecken, Teppiche, Tapeten kontaminiert vom feuchten Knoblauchatem der Menschen und vom hechelnden, stinkenden Fleischfresseratem der vielen Hunde, die in der Taverna ein und aus gehen. Denn Hunde sind im Bacchus willkommen!

 

DOGS ARE WELCOME!

 

Motorradfahrer auch – BIKERS WELCOME – und: TRUCKERS: YOU ARE WELCOME. Zu guter Letzt WOHNMOBILE WILLKOMMEN. Eigentlich sind alle willkommen, das ist ja das Schöne.

Der prächtig gelaunte Phileas stellt den Hunden immer lieb Wassernäpfe hin, er hat sie in S, M und XL vorrätig. Heute sind gleich fünf Vierbeiner zu Gast: zwei Malteser-Schmetterlingshündchen/Affenpinscher/Kleinvieh-artige FUSSTRÖTEN, dann ein Riesenbiest, so groß, dass es Kindern bis zehn Jahren die Hände abbeißen könnte, ein zerrupftes, flachköpfiges, an mehreren Stellen gelb-rötlich verfärbtes Exemplar mit riesigen Fledermausohren und gelben Augen und schließlich ein steifbeiniges arthritisches Häuflein, das auf dem Boden liegend die Vorderpfoten zusammengelegt hat wie Menschen die Hände beim Beten. Bellen, knurren, hecheln, schlabbern, nägelklickern. Die Geister, die man ruft. Big Dog Happy Hour. Claudi und Andi (y?) sind tierlieb und stören sich nicht daran; da sie selber keine Haustiere besitzen, genießen sie das freitägliche Bad in der Hundemenge.

Wie fast jeden Abend kauert Dimitri, Vater von Athina und Phileas, am Tresen. Er hängt seinen Gedanken nach, starrt vor sich hin, liest in der griechischen Tageszeitung Kathimerini. Mit dem schlohweißen, gewellten Haar und dem Rauschebart sieht er aus wie der liebe Gott im Kinderbuch, Haarbüschel verstopfen auch seine Ohren wie Watte. Gelegentlich hebt er den an Innenleben reichen Bart, riecht daran und lässt ihn wieder fallen. Der Bart dient auch als Stoßdämpfer. Dimitri nickt häufiger mal ein, der Bart dämpft den Aufprall seines Kopfes auf dem Tresen.

 

Wo bleiben denn die Speisekarten? Vierzig Sekunden sind vergangen, und Karten sind ebenso Fehlanzeige wie Brot und Welcome-Ouzo aufs Haus. Geht’s dem Bacchus zu gut, ist jetzt der Schlendrian eingezogen? Aus Stammgästen werden schnell Gelegenheitsgäste, aus denen dann, ehe man sich’s versieht, Ganzwegbleiber-Gäste werden.

«HALLOO?!»

In Andis Tonfall liegt etwas Eingeschnürtes, es klingt nach unterdrückter Wut. Phileas, der einen siebten Sinn für unzufriedene Gäste hat, kommt angespurtet, vier Speisekarten und vier Brotkörbe in den großen, weichen Händen.

«Hier, bitte schön, Entschuldigung, ist heute viel los, und der Koch ist krank, ich bin froh, dass ich eine Aushilfe gefunden habe.»

Krank, Aushilfe, der hat sie doch nicht mehr alle, denkt Andreas. Klingt nach reinrassiger Ausrede, und was heißt viel los, hier ist augenscheinlich nicht mehr los als sonst, eher weniger. Lügen haben kurze Beine, im Bacchus wie überall. Aber er hat weder Lust noch Kraft, sich aufzuregen, und beschließt, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Blätterblätter, überflüssig, die Blätterei, er weiß ja, was er will. Also leistet er den künftigen Freunden Hilfestellung:

«Moussaka kann ich empfehlen, und Stifado, und fast alle Mixed-Grill-Platten (Hellas, Akropolis, Rhodos, Santorino, Herkules). Nur vom Lammteller würde ich die Finger lassen. Und Folienkartoffel haben die auch nicht so drauf.»

Doch dann, Big Fat Hot Breaking News: Melanie ist VEGETARIERIN.

Wie bitte? Echt?

Ja.

Wie lange denn schon? Seit immer?

Nee, seit dem 3.12. erst.

Und, wie ist es?

Kein Problem, viel leichter als gedacht.

Echt?

Echt.

Ach.

Die wird auch irgendwann wieder normal, denkt Andreas allen Ernstes (am Holstentor kommen Gender-, MeToo-, Veganismus-Diskurse oft erst mit zwei, drei, manchmal fünf Jahren Verspätung an) und fragt Melanie in einem seltsam triumphierenden Ton, was sie denn dann überhaupt essen könne. Beim Griechen, mit der traditionell fleischlastigen Küche. Pfiffige Antwort: Vorspeisen! Beim Spanier würde sie Tapas bevorzugen, viele kleine Sachen anstatt einer großen. Und die Vorspeisenauswahl sei auch in der griechischen Küche riesig: Bauernsalat, Blätterteighäppchen, gefüllte Weinblätter, gebackene Champignons, Tapenade, Oliven und Peperoni, gebackener oder eingelegter Schafskäse, und unaussprechlich, aber LECKER: Kolokithokeftedakia (Zucchinibällchen mit Joghurtdip). Und natürlich TSAZIKI. So vielfältig wie das Land, so abwechslungsreich die Orektika.

«Ach so.»

«Ja.»

Oliver, der normal ist und isst, folgt Andis Empfehlung und entscheidet sich für die 42a (Stavros-Platte). Claudi und Andi, bei denen es gestern Königsberger Klopse, vorgestern und vorvorgestern Bolognese und vorvorvorgestern falschen Hasen gegeben hat, die also eine ausgesprochene Hack-Woche hinter sich haben, entscheiden sich für gegrillte Mix-Fischplatte für zwei Personen: Calamari, Garnele, Seezunge, Salat, Tsaziki, Reis, zwei Soßen, rot (scharf) und weiß (mild), beide hausgemacht. Und natürlich Kroketten, auf die sie sich heute GANZ BESONDERS freuen.

Athina nimmt die Bestellung auf. Ja, gut, Ja, gut, Ja, gut, Ja, gut, Ja, gut, NEIN, LEIDER. Wie nein leider? Kroketten sind aus, tut mir leid! WIE, AUS?! Andreas und Claudia fällt alles aus dem Gesicht. Athina könnte jetzt wahrheitsgemäß sagen, dass der Aushilfskoch zu wenig eingekauft hat (hausgemacht sind die nämlich nicht, aber pssst!!!!), sie tut aber so, als habe sich die Köstlichkeit derartiger Beliebtheit erfreut, dass sie ausgegangen sei. Wie bitte, jetzt schon, noch vor Ende der Tagesschau? Denkt Andreas. Sorry, tut mir wirklich leid, aber dafür gibt’s zum extra Ouzo noch einen extra Ouzo. Oder Espresso.

«Wollt ihr Pommes, Bratkartoffeln oder Reis?»

Egal, die Enttäuschung sitzt tief.

«Oder von allem ein bisschen?», versucht sie sie aufzuheitern.

Nein. Pommes. In der Variante rot/weiß.

Athina runzelt die Stirn. «Seid ihr sicher?»

«Sicher sind wir sicher.»

Und zu trinken? Die Männer Bier, Claudia bleibt bei Retsina (halber offener Liter), Melanie schwenkt zu Imiglykos (Viertel offener).

Uhrenvergleich: 20:16 Uhr! Um 20:16 Uhr sind also die Kroketten aus. Dreimal laut gelacht, wenn’s nicht so traurig wäre. Es hätte so schön werden können: die krosse Kartoffelspezialität sorgfältig in zwei Hälften teilen, die eine Hälfte in die rote, die andere in die weiße Soße tunken, dazu ein Stück Calamari oder Seezunge oder Garnele. Eine Geschmacksexplosion!

Melli und Olli können sich den plötzlichen Stimmungsumschwung nicht erklären, sie ahnen zwar, dass es irgendwie mit den Kroketten zusammenhängt, aber wer mag sich denn ernsthaft vorstellen, dass das Fehlen einer Beilage zu einem derartigen Einbruch führt? Sie ähneln Claudi und Andi in vielerlei Belangen, aber noch (noch!) nicht in ALLEN.

Andreas und Claudia brauchen jedenfalls eine Viertelstunde, um sich wieder einzukriegen; der ganz große Spaß will sich jedoch nicht mehr einstellen. Die Unterhaltung bleibt zäh, kommt nicht in Gang, schleppt sich von roter zu weißer Soße zu nicht lieferbaren Kroketten. Olli schwitzt so stark, dass er sein eigenes Deodorant riechen kann. Unangenehm. Er beobachtet eine Fliege, die unermüdlich gegen die Scheibe ploppt, so träge, dass man sie kitzeln müsste, damit sie endlich wegfliegt.

«Habt ihr schon gehört?»

«Nein.»

Der Vorrat an Worten ist bald aufgebraucht, schneller als gedacht, der Abend droht jetzt schon stecken zu bleiben, die angespannten, gereizten Pausen häufen sich. Olli wird bewusst, wie krampfhaft er die Hände ballt. Die kleine Schürfwunde, die er sich, ohne es zu merken, an seinem Schienbein zugezogen hat, brennt.

Andreas schaut alle dreißig Sekunden auf die Uhr, um das schildkrötenhafte Vergehen der Zeit zu überwachen, bis endlich das Essen serviert wird. Er spürt etwas Bitteres in der Kehle aufsteigen, wahrscheinlich der viele Kaffee den ganzen Tag über, der sich mit Magenflüssigkeit vermischt hat. Jedes Mal, wenn er mehr als die ihm verträgliche Ration konsumiert, passiert das. Wann endlich wird er aus seinen Fehlern klug? Ungeschickter Kaffeetrinker, ungeschickter Kaffeetrinker, ungeschickter Kaffeetrinker, schilt er sich.

Um 20:38 Uhr serviert Athina das Essen. Calamari, Seezunge, Rotbarbe und, als Ausgleich für das Kroketten-Desaster, vier Umsonst-Scampi. Und die verhassten Pommes. Na dann. In einem Rezitativ aus Grunzen, Stöhnen und Seufzen schaufeln und stopfen Claudi und Andreas die Fischplatte in sich hinein. Ein freudloses Mahl. Andreas, eingesperrt in seiner Wut, macht seltsame, bedrohliche Brumm- und Knurrgeräusche, die selbst Claudi so noch nie vernommen hat. Die Sache ist ernst.

Melanie und Oliver lassen sich Zeit. Melli verschanzt sich hinter ihrem Schälchenwall, Olli ist über die XXL-Schlachtplatte gebeugt. Das ist ein echt nerviger Typ, denkt Andi, immer ist etwas in Bewegung bei dem, selbst jetzt, beim Essen: ein Fuß, der auf dem Boden klopft, eine Hand, die sich rhythmisch öffnet und wieder schließt, Gesichtszuckungen. Macht einen total nervös.

Und, ganz schlimm, hätte er das mal vorher gewusst: langsame Esser, alle beide. Genießertypen sind Andi zuwider, SLOWFOODLER (Foodler on the Roof) machen ihn aggressiv, immer schon, kann er nix gegen machen. Fresst doch zu, Leute, fertig werden! In ihren eigenen vier Wänden können die ruhig in Zeitlupe mampfen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist, aber doch nicht heute bei der Feuerprobe, unter Bewährungsauflagen stehend. Wie rücksichtslos kann man denn sein, warum passen die ihre Essgeschwindigkeit der unsrigen nicht an, und sei es aus Höflichkeit?

SO WIRD DAS NICHTS MIT DER FREUNDSCHAFT. Die bittere Erkenntnis: Eine Urlaubsbekanntschaften ist eine Urlaubsbekanntschaft ist eine Urlaubsbekanntschaft und hat mit dem richtigen Leben nichts zu tun. Hätte man wissen können, wissen müssen. Soeben scheitert der neunmillionste Versuch, sie in eine Freundschaft fürs Leben zu überführen. Das wird ein kurzer Abend.

 

Schmeckt’s?, fragt Athina schuldbewusst. Andi nickt kurz angebunden, Claudi schaut kurz angebunden weg. Fisch fad, Pommes dafür umso versalzener, und wenn die Soßen hausgemacht sind, ist sie die Kaiserin und Andi der Kaiser von China. Das häufige Erhitzen der Lebensmittel in der Absicht größtmöglicher Geschmacksvernichtung, denkt Andi, scheint die Spezialität des Aushilfs-/Bei-/Schrabbelkochs hier zu sein.

Melli lässt sich nur deshalb so viel Zeit, weil sie die Orektika nicht herunterbekommt. Das penetrant nach Knoblauch schmeckende Tsaziki wurde fraglos schon vor Ewigkeiten zusammengerührt und seither bei Zimmertemperatur gelagert, die Weinblätter schmecken nach Discounter, der steinharte Schafskäse kühlschrankkalt, die Artischocken bitter und vergoren, der Blumenkohl verharscht. Die Vorstellung drängt sich ihr auf, dass das Gemüse in einem speichelgefüllten Hundenapf gedünstet wurde. Igitt, igitt, keinen Bissen bringt sie mehr hinunter. Dabei hat sie richtig Hunger. Zum Glück gibt es für Notfälle wie diesen Balisto- und Mister-Tom-Riegel in ihrer Handtasche, die sie nachher heimlich auf der Toilette verdrücken wird.

Olli ist so weit ganz zufrieden, seine 42a eine glatte Zwei minus. Wer ohne übertriebene Hoffnungen zum Griechen und ganz allgemein durchs Leben geht, erspart sich und anderen bittere Enttäuschungen; nächstes Jahr feiert (eher: begeht) er seinen Vierzigsten, er freut sich schon auf den Ruhestand, die herrliche, sich in die Unendlichkeit dehnende Rentnerzeit, er wird die Pensionskasse während seiner Restlebensspanne um Hunderttausende, möglicherweise Millionen Euro erleichtern, PAYBACK TIME DE LUXE. Akribisch, wie es seine Art ist, hat er alles von vorne bis hinten und von hinten bis vorn ausgerechnet; der letzte Arbeitstag fällt auf seinen neunundfünfzigsten Geburtstag. Geil! Er spart lange schon wie verrückt, um früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu können, hat aus nahezu allem eine Disziplin gemacht, so wenig wie möglich zu verbrauchen; Restaurants besucht er nur Melanie zuliebe, zähneknirschend, schlechte Laune, Appetitlosigkeit verströmend. Das krankhaft Geizige hat sich ausgebreitet wie Schädlingsbefall, ihn umgibt eine Aura des Kleinen. Neulich hat Melli ihn einen Geizknüppel genannt.

 

Dann geschieht etwas ganz und gar Ungeheuerliches, was den verkorksten Abend auf links dreht. FREUDESTRAHLEND SERVIERT PHILEAS EINE GROSSE, DAMPFENDE, DUFTENDE SCHÜSSEL FANGFRISCHER KROKETTEN. Kroketten satt, satter geht’s nicht. Die habe er noch auftreiben können, lacht der Juniorchef. Andreas fällt schon wieder (wie oft denn noch?) alles aus dem Gesicht. AUFTREIBEN! JETZT! Wo Claudi und er randvoll sind, pappsatt bis zum Anschlag, keine einzige Krokette, noch nicht mal eine halbe, mehr Platz fände. Er gibt einen Schnaublaut von sich, viel fehlt nicht, und er zerschmettert die verdammte Schüssel auf dem Fußboden, wirft die vermaledeiten Kartoffelviecher den vermaledeiten Tölen zum Fraß vor. Auch Claudi kann es nicht fassen, eben noch von der Riesenfischplatte sediert, von jetzt auf gleich auf 180.

Die Einzige, die sich freut, ist Melli: «Das ist ja toll», und, mit Blick auf die halbvollen Soßenschälchen: «Esst ihr die noch?»

«Nein», erwidert Andreas, bemüht, Stimme und Körpersprache unter Kontrolle zu halten. Die Urlaubsbekannte nutzt schamlos die Gunst der Stunde und hält sich auf seine und Claudis Kosten schadlos.

«Schmeckt echt gut», mampft und stopft und tunkt Melanie.

«Wäre doch schade, wenn’s umkommt», sekundiert Olli und schaufelt sich ebenfalls den Teller voll. Wenn er den schafft, braucht er tagelang nichts und kann schon wieder früher in Rente gehen. Andreas, aufgebracht, fassungslos, fertig mit den Nerven, winkt Phileas herbei. «Ich möchte zahlen.» Ohne bitte.

Phileas, mit Blick auf Melanie, irritiert: «Jetzt gleich?»

«Ja, bitte, gleich, sofort.»

Wann merken die denn endlich, was für eine elende Scheiße sie gebaut haben und zu bauen nicht müde werden?

Phileas bringt die Rechnung und ein Tablett mit 8 (in Worten: ACHT) Ouzo.

«Die hatte ich euch ja versprochen.»

Andreas hat das centgenau abgezählte Geld bereits auf den Tisch gelegt.

«Danke, für mich nicht, wir müssen dann auch.» Claudia ist irritiert, ihr Blick sagt: Was genau müssen wir? Aber wenn ihr Lebensabschnittsgefährte in einer derart unberechenbaren Stimmung ist, tut sie gut daran, keine Diskussion anzuzetteln.

«Ich muss morgen früh hoch», erläutert Andreas und bereut es gleich, sich vor diesen Parasiten auch noch gerechtfertigt zu haben. So weit ist es gekommen.

«Ach so», meint Oliver, «na dann.» Morgen ist doch Samstag, denkt er. Melanie hat den Mund voll und macht ein Mund-voll-Geräusch.

Andreas, lauter als nötig, schneidend: «Guten Appetit weiterhin.»

Das saß. Vielleicht kapieren sie es jetzt.

«Tschüss», sagt Claudia.

«Ja, tschüss dann», sagt Oliver. «Kommt gut nach Hause.»

«Mmh», macht Melanie, «schönen Abend noch.»

Bis nie, würde Andreas gerne todesstoßartig nachsetzen. Im selben Moment, in dem sie zur Tür hinaus sind, durchzuckt es ihn: Die Parasiten trinken gleich geschlagene sechs Ouzo auf seine Kosten. Am liebsten würde er umkehren und die Ouzo (Melli und Olli haben lediglich Anspruch auf zwei) weghämmern. FRESST UND SAUFT NUR IN ALLER SEELENRUHE, BIS IHR PLATZT, IHR DUMMEN SCHWEINE.

Und jetzt der Scheißheimweg, zwölf Minuten durchs eisige Winterloch. Die Graupen sind in pappigen nassen Schnee übergegangen, seine Schuhe sind groß und schwer wie Bimssteinblöcke, aus zwölf Minuten werden zwölf Stunden, zwölf Tage, sie werden nie an der Untertrave ankommen.

Tun sie dann doch, allerschlechtester Laune, Melanie geht gleich schlafen, war ’ne harte Woche, Andreas, der sich halbwegs wieder abgeregt hat, trinkt noch drei doppelte (12 cl) Ouzo, frisch aus dem Gefrierfach, und schaltet den Fernseher ein. Wie immer gibt es freitags kein vernünftiges Programm. Take me out.

 

Ollis Herz rast, sein Magen quält sich mit der Verdauung der 42a, das Fleisch liegt schwer im Magen, der Tod auf Latschen. Irgendwas stimmt nicht, irgendetwas hat sich zwischen Melli und ihm breitgemacht, wie ein imaginäres Kind oder Haustier, das sich zwischen sie quetscht, auch hier am Tisch in der Taverna. Oder ist alles in bester Ordnung und er bildet sich alles nur ein?

Nichts ist in Ordnung. Melanies Vegetarismus ist keine vorübergehende Marotte, es drückt sich darin grundsätzliche, tiefe Unzufriedenheit aus. Sie ist auf dem Absprung, und Olli ahnt, was da auf ihn zurollt. Die letzten Monate standen im Zeichen von Mellis Vorbereitungen darauf, sie entfernte sich in winzigen Schritten, der Kniff bestand darin, nie wirklich ehrlich zu sein und auch nie richtig zu lügen.