Der Gerichtsgutachter - Georg Schreiber - E-Book

Der Gerichtsgutachter E-Book

Georg Schreiber

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Beschreibung

»Georg hatte ein feines Gespür dafür, aus kleinsten Bemerkungen, ja einzelnen Worten, Unausgesprochenes, Hintergründiges herauszulesen, so ähnlich wie Archäologen einen Knochen finden und daraus die Gestalt des ganzen restlichen Menschen rekonstruieren. Das faszinierte und beunruhigte Claire zugleich.« Täglich bewertet Gerichtsgutachter Georg Förster seine Fälle: Mörder, Räuber, Drogensüchtige. Er weiß ihren Verfehlungen auf den Grund zu gehen. Er erstellt Diagnosen, Kriminalprognosen und begutachtet ihre Schuldfähigkeit. Von niemandem lässt er sich vorführen. Zu gut kennt er die Abgründe der menschlichen Psyche. Doch der kühle Georg wird aus der Bahn geworfen, als er mit einem neuen Gutachtenfall beauftragt wird: Ein Schönheitschirurg soll Frauen unter Drogen gesetzt und sie anschließend operiert haben. Für Georg wird der Fall schließlich zur emotionalen Achterbahnfahrt. Beruf und seine Beziehung zu der 17 Jahre jüngeren Claire werden infragestellt, als Claire entdeckt, dass er ein großes Geheimnis hat... Ein Kriminalroman. Eine fatale Beziehungsgeschichte. Ein Einblick in die Untiefen des Rechtssystems. __________________________________________________________________ Mehr zum Gerichtsgutachter: https://www.dergerichtsgutachter.de __________________________________________________________________ Der Gerichtsgutachter liest: alle Termine auf: https://www.dergerichtsgutachter.de/

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Seitenzahl: 335

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Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-95894-172-4 (Print) // 978-3-95894-173-1 (E-Book)

© Copyright: Omnino Verlag, Berlin / 2020

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

Die Handlung ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen oder Personen sind rein zufälliger Natur. Dies gilt insbesondere auch für Namen.

Inhalt

IAutomatenzug

IIHarvard

IIISchmutz

IVOffenbarung

VWahrheit

Aus Falschem folgt Beliebiges

Logisches Gesetz

I

Automatenzug

Als Georg nach Hause kam, wollte er als Erstes unter die Dusche, um den Dreck und das Elend des Knasts von sich abzuwaschen. Die verkorksten Lebensgeschichten der Gefangenen, diese Geschichten von Gewalt, Missbrauch, Vertrauensbruch, Verwahrlosung, Entwurzelung und Dummheit, die er sich täglich anhörte, über die er nachdachte und von denen er manchmal auch träumte, strahlten auf ihn aus und nahmen ihn gefangen: Er spürte ihre Schwere in seinen Muskeln und seinen Knochen; sie erschöpfte ihn und raubte ihm die Lebensfreude. Nach einem Gespräch von zwei Stunden fühlte er sich, als hätte er einen Tag gearbeitet. War es möglich, so fragte er sich, dass er durch den ständigen Kontakt mit diesen Kriminellen eines Tages selbst zum Verbrecher werden, vielleicht sogar jemanden umbringen könnte?

Er wäre auch heute zuerst ins Bad gegangen, wenn ihm nicht ein ungewöhnlicher Brief entgegengefallen wäre, als er im Treppenhaus den Briefkasten öffnete. Georg verharrte vor dem Briefkasten und musterte den Brief: Er hatte keine Briefmarke und keinen Stempel. Die Adresse war handgeschrieben. Die Schrift auf dem Umschlag kannte er. Er hatte schon einmal von diesem Mann einen Brief bekommen, das bestätigte ihm ein Blick auf die Rückseite, auf der der Absender stand: Der Mann hieß Lohmeier, ein Häftling, den er vor ein paar Monaten begutachtet hatte. Lohmeier war ein notorischer Querulant und Betrüger, er hatte ein paar Männer und Frauen krankenhausreif geschlagen. Der Brief war anscheinend von ihm persönlich eingeworfen worden – und zwar heute, nachdem Georg das Haus verlassen hatte.

Im ersten Brief hatte sich Lohmeier beschwert, dass er zu lange auf seinen Termin warten musste, und dafür Georg verantwortlich gemacht. Georg erinnerte sich noch gut daran:

»Sehr geehrter Herr Förster, vor fünf Wochen wurde mir mitgeteilt, dass Sie bezüglich meiner beantragten Bewährungsentlassung zum Gutachter bestellt wurden. Man sollte seinen Sachverständigen nicht angreifen, um sich noch eine Chance auf eine annährungsweise objektive Begutachtung zu erhalten. Durch ihre unverschämte Terminpraxis lassen Sie mir aber keine andere Wahl. Mein Entlassungstermin ist bereits verstrichen.«

Da hatte er zwar recht, das sollte nicht vorkommen, es spielte allerdings nur eine Rolle, falls die Richterin ihn tatsächlich nach zwei Dritteln der Haft auf Bewährung entlassen wollte. Und Richterin Decker hatte offensichtlich nicht diese Absicht. Woher war der sich so sicher, dass er rauskommen würde?

Georg hatte ihm am Telefon gesagt, dass ihm noch die Hauptakten zu seinem Fall fehlten, und solange er die nicht hatte, machte ein Gespräch wenig Sinn. Er hatte ihn darauf vorbereitet, dass er sich eventuell noch ein paar Wochen gedulden müsste; so lange konnte es schon mal dauern, bis jemand bei der Staatsanwaltschaft den Aktenstapel aus dem Regal zog.

Genervt und nichts Gutes ahnend öffnete Georg den neuen Brief. »Durch ihr grob fehlerhaftes Gutachten ist meine Entlassung abgelehnt worden.« – Schön, dachte Georg und stieg beim Weiterlesen langsam die Treppe hoch, ist die Richterin also meinem Gutachten gefolgt. – »Sie haben Ihre Sorgfaltspflichten als Sachverständiger grob vorsätzlich verletzt, mit manipulierten Wiedergaben von meinen Äußerungen, wissenschaftlich unhaltbaren Interpretationen der verwendeten psychologischen Tests, fehlerhaften Zitaten aus den Akten und grob fehlerhafter Anwendung von veralteten oder falschen Theorien.« Lohmeier war kein Freund des Genitivs. Es folgten seitenweise Ausarbeitungen seiner These. Er blätterte weiter. »Ein von mir beauftragter Sachverständiger hat Ihr Gutachten geprüft und die von mir aufgezählten Fehler sachlich nachgewiesen. Mein Anwalt bestätigte mir, dass eine vorsätzliche und schuldhafte Verfehlung Ihrerseits faktisch bewiesen ist und das Kammergericht Berlin auf meine fristgerecht eingereichte Beschwerde hin den Gerichtsbeschluss aufheben wird. Ich werde Sie deswegen auf Schadensersatz verklagen. Darüber hinaus erwäge ich strafrechtliche Schritte gegen Sie wegen Erfüllung des Tatbestandes nach § 186 StGB.«

Hm, den § 186 des Strafgesetzbuches kannte Georg nicht auswendig, dazu musste er nachschlagen. Er nahm die letzten Stufen bis zu seiner Wohnung im zweiten Stock nun sehr schnell, schloss zügig die beiden Sicherheitsschlösser seiner Wohnungstür auf, ließ die große Flügeltür krachend zuschlagen und ging schnurstracks ins Arbeitszimmer zum Bücherregal, um den Schönfelder zur Hand zu nehmen. Er schlug den Wälzer auf. »Wollen wir mal sehen. § 186 StGB«, murmelte er vor sich hin, während er blätterte, »§ 174 sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen, § 177 sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, § 180 Ausbeutung von Prostituierten, § 183 Exhibitionistische Handlungen, § 186 üble Nachrede.« Das war es also. Es irritierte ihn etwas, dass die üble Nachrede so dicht auf exhibitionistische Handlungen folgte; er hätte da spontan keine inhaltliche Nähe gesehen. Bei genauerer Betrachtung entdeckte er nun doch Gemeinsamkeiten: Die Missetäter lehnten sich gewissermaßen zu weit aus dem Fenster, in dem einen Falle mit Worten, in dem anderen mit etwas anderem. Er las: »Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Tat öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.«

Verbreitung von Schriften! Immerhin hatte er ein hundertzwanzigseitiges Gutachten eingereicht. Öffentlich war die Verhandlung jedoch nicht gewesen. Er hatte auch nicht danach getrachtet, Lohmeier verächtlich zu machen, hatte vielmehr von einem fehlgeleiteten kreativen Potenzial gesprochen, dass es zu nutzen gelte. Und dass seine Ausführungen falsch waren, mochte diesem Querulanten so erscheinen, das Gericht sah dies offensichtlich anders. Was hatte er also zu befürchten? – Nichts!

Ärger bahnte sich trotzdem an. Der würde vielleicht nicht nachgeben und Recht behalten wollen. Er hatte den Brief in seinen Hausbriefkasten geworfen und war bei dieser Gelegenheit sicherlich auch noch die zwei Treppen bis zu seiner Wohnung hochgestiegen, um sich seine Wohnungstür anzusehen, hatte vielleicht sogar gelauscht, was in der Wohnung vor sich ging. Die Wohnungstür war nicht besonders schalldicht; man konnte in der Wohnung jedes Gespräch im Treppenhaus verfolgen und das galt sicherlich auch umgekehrt. Wenn Georg schon etwas früher nach Hause gekommen wäre, hätte er ihm vielleicht im Hausflur begegnen können, oder wenn er schon zuhause gewesen wäre, hätte er beim Verlassen der Wohnung direkt auf ihn prallen können, hätte mit ihm diskutieren und sich dieser lästigen Schmeißfliege irgendwie entledigen müssen. Nicht, dass er das nicht gekonnt hätte, aber schon die Vorstellung der körperlichen Nähe dieses Menschen ekelte Georg an.

Er las den Brief zu Ende: »Zum einen möchte ich Ihnen durchaus Gelegenheit dazu geben, hierzu selbst gegebenenfalls eine Stellungnahme abzugeben.« – Unverschämtheit! Der spielt sich auf wie ein Richter, und dann noch so geschraubt! – »Zum anderen wäre ich eventuell für eine außergerichtliche Einigung mit Ihnen bereit, da eine gerichtliche Auseinandersetzung für alle Beteiligten belastend sein kann. Sie verursacht auch nicht unerhebliche Kosten. Sofern Sie sich zu diesem Schreiben äußern möchten, setze ich mir hierzu eine Frist von sieben Tagen. Sollte ich bis zum Ablauf der genannten Frist nichts von Ihnen hören, behalte ich mir die Einleitung von entsprechenden rechtlichen Schritten vor.«

Was meinte er damit? Glaubte er im Ernst, fragte sich Georg, ich würde ihm einen Brief schreiben, in dem ich mich selbst der groben Fehlerhaftigkeit, Pflichtverletzung und vorsätzlichen Falschdarstellung bezichtigte, mich vielleicht sogar entschuldigte? Warum sollte ich das tun? Und selbst wenn ich das tun würde, was hätte er davon? Es dauerte eine Weile, bis Georg begriff, dass dieser Irre ihn erpressen wollte und der ganze aufgeblasene Text nur eine Tarnung war.

Georg musste etwas tun, um seinen restlichen Tag zu retten, auch wenn er für Querelen dieser Art nicht bezahlt wurde. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und verfasste ein Anschreiben, das er zusammen mit Lohmeiers Brief postwendend an Richterin Decker faxte.

Doch auch nachdem er den Brief an das Gericht gefaxt hatte, ließ ihm die Sache keine Ruhe. Konnte er Lohmeier wegen Erpressung rankriegen? Und wie konnte er sich vor einer möglichen Eskalation schützen? Konnte er den Gang der Dinge kontrollieren oder würde er zum Spielball eines Psychopathen werden? Grübelnd schaute er nach draußen in den Schneegriesel vor seinem Fenster.

Ein Geräusch, das er kannte, ließ ihn zusammenzucken; es bot ihm die Chance, aus seinen paranoiden Betrachtungen herauszukommen und nicht weiter in eine düstere Gemütslage abzugleiten: Es war der Klingelton seines Handys. – Wollte er das jetzt? Er fühlte sich gestört, der Ton nervte; wie oft hatte er schon einen anderen auswählen wollen und es schließlich unterlassen, weil er festgestellt hatte, dass er diesen Singsang aus hohen und tiefen Tönen auch bei lauten Umgebungsgeräuschen am besten hören konnte. So war es dabei geblieben. – Plötzlich Ruhe. Der Angreifer hatte aufgegeben. Wer war es gewesen? Er suchte das Handy und fand es schließlich in seiner Manteltasche: Es war Claire.

Unentschlossen legte er das Telefon auf den Küchentisch. Er ging ins Bad und zog sich aus, um endlich zu duschen. Der hellgelbe Kalkstein der Fliesen beruhigte ihn, er versetzte ihn in die Stimmung des letzten Urlaubs in der Provence, wo sie ein ähnlich gefliestes Bad hatten. Noch bevor er die Glastür der geräumigen Duschkabine geschlossen hatte, hörte er wieder das Klingeln aus der Küche. Er öffnete das Ventil des Wasserhahns und wartete ein paar Sekunden, bis das Wasser die richtige Temperatur hatte. Dann trat er unter den mächtigen Brausekopf. Das warme Wasser umhüllte ihn, massierte seine Kopfhaut, seinen angespannten Nacken, die Schultern und rann dann an seinem Körper herab. Das tat gut. Endlich. Dann stellte er das Wasser ab, nahm das Duschgel und seifte sich ein. Er stellte das Wasser wieder an und beobachtete, wie es den Schaum von ihm abspülte und alle Sorgen und allen Dreck mitnahm, mit dem man ihn heute beworfen hatte. Er schaute nach unten in den Abfluss, wie die ganze Sauerei in dem kleinen Loch verschwand.

Beim Abtrocknen fiel ihm wieder Lohmeier ein. Dann: Da war doch noch was? Aber was? – Noch nackt ging er in die Küche, um sich einen Kaffee aufzubrühen, und sah das Handy auf dem Küchentisch liegen. Er nahm es, um nachzusehen, wer der zweite Anrufer gewesen war. Es war wieder Claire, sie hatte ihm eine Nachricht hinterlassen; er war sich nicht sicher, ob er das jetzt hören wollte. Erst einen Kaffee, anziehen, dann – vielleicht.

Nach dem Anziehen griff er sich die Süddeutsche und las zur Ablenkung einen der täglichen Schmähartikel über Berlin. Es ging um das Nachlassen des Kulturstandortes, die Theater würden immer schlechter, die Museen immer kleiner und in der Freizeit wüsste man gar nicht, was man noch tun könnte: nicht einmal Ski fahren.

Das Telefon klingelte wieder, genervt nahm er ab. »Ja!«

»Störe ich?«

»Mama! Entschuldige bitte, vielleicht ein bisschen. Ich bin gerade nachhause gekommen und das ist schon der dritte Anruf. – Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut. Ich mach es kurz, um deine Zeit nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen: Einer Freundin von mir, Sibylle Klein, du kennst sie, glaube ich, geht es nicht gut, ihr Mann ist vor einem Monat gestorben und ich mache mir Sorgen um sie, am Telefon klang sie gar nicht gut. Könntest du sie nicht mal anrufen und mit ihr sprechen?«

Georgs Blutdruck schoss in die Höhe. »Ich kenne sie doch gar nicht. Ist sie depressiv?«

»Ja, ich glaube.«

»Vielleicht eine ganz normale Reaktion, wenn der Mann gerade gestorben ist, findest du nicht?«

»Ich hab gedacht«, sie machte eine Pause, in der sie dramatisch die Luft ausatmete, »weil du Psychologe bist, du könntest mal mit ihr reden.«

»Wieso besuchst du sie denn nicht? Du kennst sie doch, vielleicht auch ihren Mann, das würde ihr sicherlich viel mehr bedeuten und helfen als ein Anruf von mir.«

»Hm. Das war’s schon, du sagtest ja, dass du nicht so viel Zeit hättest, da will ich mal nicht weiter stören. – Geht es dir gut?«

»Jaa, mir geht es gut.« (Und wenn du mich nicht angerufen hättest, dann würde es mir noch viel besser gehen.)

Georg hätte jetzt ein Telefon aus vergangenen Zeiten gebrauchen können, bei dem man noch den schweren Hörer so richtig auf die Gabel knallen konnte. Einen zu langen Moment erwog er, das Handy gegen die Wand zu werfen. Wie schaffte sie es nur immer wieder, dass er ein schlechtes Gewissen hatte? Jahre des Psychologiestudiums und seiner eigenen Psychotherapieausbildung inklusive einer fünfjährigen Selbstanalyse hatten daran nicht viel geändert. Er wusste zwar, dass er im Recht war, er kannte all die klugen Erklärungen, wo diese Schuldgefühle herkamen, er konnte das auch wunderbar seinen Klienten erklären und hatte damit bei manchen von ihnen erstaunliche Behandlungserfolge erzielt; nur bei ihm selbst half das alles wenig. So kam es ihm jedenfalls an Tagen wie diesem vor.

Sein Blick fiel auf das kleine schwarze Gerät, das vor ihm auf dem Küchentisch lag und immer noch eine nicht abgehörte Nachricht anzeigte. Er war sich sicher, dass diese Nachricht nur von Claire sein konnte. Er ahnte auch, was sie ihm aufs Band gesprochen haben könnte. Er war sich nur nicht sicher, ob er dafür jetzt die Nerven hätte. Dann atmete er tief durch und drückte auf die grüne Taste.

»Hallo mein Schatz – ich hab ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen gestern; ich war nicht nett zu dir, entschuldige bitte. Ich glaube, ich habe ein paar Dinge zu dir gesagt, die ich so nicht meine. Ich weiß nicht einmal genau, was ich gesagt habe; ich weiß auch gar nicht mehr, warum ich es gesagt habe. Ich war einfach sehr betrunken, du kennst mich ja: Dann sage ich manchmal etwas, was ich so gar nicht gemeint habe; das hat nichts zu bedeuten. Ich, ich … ach Scheiße, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich kann mich einfach gar nicht erinnern, was überhaupt los gewesen ist. Es tut mir jedenfalls sehr leid. Kannst du mir noch einmal verzeihen? Ich liebe dich doch! – Jetzt kann ich dich nicht erreichen, du gehst nicht ans Telefon. Du bist wahrscheinlich sauer. Oder bist du noch gar nicht aus dem Knast zurück? Ich weiß nicht, wie lange man da bleiben darf. Eigentlich ist es ja schon früher Abend. Wenn du das abhörst, dann ruf mich bitte zurück. Ich hab kein Geld bei mir und weiß nicht, wie ich nachhause kommen soll. Kannst du mich vielleicht abholen? Ich muss nachher zum Nachtdienst. Bitte sei nicht mehr böse, mein Schatz. Ich liebe dich.«

Georgs Herzschlag hatte sich ungefähr verzehnfacht, er war kurz vor Schnappatmung. Er rief sie an: »Was soll denn das heißen, du hast kein Geld bei dir und ich soll dich abholen? Wo bist du denn und was ist mit deinem Geld?«

»Oh Gott, du bist doch noch sauer. Es tut mir so leid. Ich muss mein Portmonee verloren haben oder es hat mir einer geklaut.«

»Wo bist du denn?«

»Moment, warte mal«, Georg hörte Stimmen im Hintergrund, Claire versuchte sie zu übertönen, indem sie in den Raum rief: »Wo sind wir hier? … Na die Adresse?!« Ein Mann antwortete ihr: Eisenbahnstraße 18. »Eisenbahnstraße 18«, sagte Claire ins Telefon, »ich glaube, das ist in Kreuzberg«.

»Ja, das ist in Kreuzberg«, sagte Georg.

»Kannst du mich bitte abholen?«

»Du hast vielleicht Nerven! Ich denke überhaupt nicht daran! – Hast du denn deine Bankkarten schon sperren lassen?«

»Nein, noch nicht. Meinst du, ich sollte das gleich machen?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

»Nein, natürlich nicht, ich würde noch drei Wochen warten!«

»Ich wollte heute Abend in der Bar nachfragen, ob sie mein Portmonee gefunden haben oder ob es jemand abgegeben hat.«

»Na gut, das ist jetzt auch egal, entweder das Konto ist schon abgeräumt oder du hast Glück gehabt.«

»Also, du willst mich wirklich nicht abholen?«

»Wieso sollte ich? Nachdem, was du dir geleistet hast? – Habt ihr Sex gehabt?«

»Hm … äh ich, ich glaube.«

»Sag jetzt nicht, dass du es nicht weißt!«

Im Hintergrund hörte Georg die Stimme eines Mannes: »Will er dich nicht abholen? Was is’n das für’n Arschloch?! Kannst auch hierbleiben, wenn de willst.«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein! Ist das der Typ, mit dem du gevögelt hast?«

»Georg, glaube mir, ich weiß es nicht richtig.«

»Wer, wer kommt denn noch infrage? Nach Kondomen brauche ich wohl unter diesen Umständen gar nicht erst fragen?!«

Nun brach Claire in Tränen aus. »Es tut mir so leid, bitte, bitte hol mich hier ab!«

In Georgs Kopf hämmerte es: »Nein! Nein! Nein, tu’s nicht! Nicht schon wieder. Soll sie zusehen, wie sie da wieder rauskommt. Lass dich nicht zum Hans Wurst machen. Sie muss spüren, dass sie zu weit gegangen ist.« – »Aber«, mischte sich eine andere Stimme ein, die Georg nur allzu gut kannte, »dann bleibt sie bei diesen Typen in der Wohnung! Willst du das? Am Ende vögeln sie nochmal und nehmen noch mehr Drogen und dann weißt du erst recht nicht, was passiert. Zur Arbeit wird sie dann wahrscheinlich auch nicht gehen, und wenn sie eine Stunde vorher dort anruft – wenn sie anruft! – dass sie krank ist, glaubt ihr das kein Mensch. Dann fliegt sie da vielleicht raus und kann ihre Ausbildung an den Nagel hängen.« – »Egal!«, mischte sich wieder die andere Stimme ein, »sie ist für sich selbst verantwortlich, du kannst ihr nicht ewig aus der Patsche helfen. Willst du, dass es so weitergeht, oder willst du, dass sich etwas ändert?« – »Und wo bleibe ich?« Wer war das denn nun, der da sprach? Den hatte Georg schon lange nicht mehr gehört. »Und wo bleibe ich? Ich hab es so satt! Was bildet die sich überhaupt ein! Warum ist die immer wichtiger als ich?« – »Memme! Misch dich jetzt nicht ein, sei ein Mann. Wenn du jetzt rumzickst, wird sie dir das ewig vorhalten: Du hast mich im Stich gelassen, als ich dich so dringend brauchte! Bist auf meinen Schwächen herumgeritten! Wegen dir habe ich jetzt AIDS!«

»Georg? Georg, bist du noch dran?« Claire schluchzte noch, klang jedoch etwas ernüchtert.

»Ja, ich bin noch dran.«

»Oh Scheiße, mein Handy ist alle …«

»Claire! Claire!« – Nichts.

»Sie wird doch wohl noch ein anderes Telefon in der Nähe haben?«, meldete sich nun wieder die Stimme von eben. – »Aber ob sie auch deine Nummer weiß? Sie drückt doch immer nur auf deinen Namen.« – »Dann ist es jetzt entschieden, du kannst nichts tun und sie muss sich selbst helfen.« – »Na ja, ich könnte hinfahren, die Adresse hab ich ja.« – »Aber du weißt nicht, wo du klingeln musst.« – »Ich könnte es probieren, vielleicht steht sie ja schon vor der Tür.« – »Bei der Kälte wird sie bestimmt nicht vor der Tür stehen, mach dich nicht zum Hans Wurst!«

Claire rief nicht mehr an. Drei Tage vergingen, die Georg guttaten. Sie taten ihm so gut, dass es ihn schon beunruhigte. Er dachte nicht einmal oft an sie. Zuerst war er so sauer, dass er froh war, dass sie sich nicht meldete; er hatte eher umgekehrt die Befürchtung, dass sie anrufen oder plötzlich vor seiner Tür stehen könnte oder – noch schlimmer – dass sie bereits in seiner Wohnung sein könnte, wenn er nach Hause käme; schließlich hatte sie einen Schlüssel (falls sie den nicht auch verloren haben sollte!). Dann, als ihm seine Erleichterung auffiel, dass sie sich nicht meldete, fragte er sich, ob er Claire noch liebte.

Er erinnerte sich noch gut daran, wie sie in seine Praxis kam. Sie duzten sich von Anfang an.

»Mein Leben ist ein einziges Chaos; ich habe es satt. Manchmal denke ich daran, mich umzubringen«, begann sie mit beachtlicher Klarheit und Festigkeit in ihrer Stimme. »Irgendeine magnetische Kraft zieht mich immer wieder vom geraden Weg des Lebens zur Seite, sosehr ich auch versuche, Kurs zu halten.«

»Das ist sehr poetisch – und auch ein bisschen abstrakt. Und es klingt so resigniert, als hättest du schon viel darüber nachgedacht und vieles versucht und bist immer gescheitert?«

Sie stockte und schaute Georg verwundert an. »Nein, so viel habe ich eigentlich gar nicht versucht, es ist mehr ein Gefühl, vielleicht hab ich übertrieben.«

Georg bat sie, ihm etwas konkreter zu sagen, was sie versucht und was dabei nicht geklappt hatte.

Ein Lehrerstudium für Deutsch und Geschichte hatte sie mit Enthusiasmus begonnen, dann allerdings unglücklicherweise den Rat eines Studienberaters befolgt, den Lateinkurs gleich am Anfang kompakt über die Bühne zu bringen.

»Sechzehn Stunden Latein in der Woche können wahrscheinlich auch den motiviertesten Studenten frustrieren«, wandte Georg ein, »man müsste schon abgrundtief hässlich oder ein menschenscheuer Sonderling sein, der sich nichts aus einem sozialen Leben machte, um das durchzuhalten.«

»Ich, ich bin jedenfalls abends lieber ausgegangen und habe mich mit Freunden getroffen, anstatt Vokabeln zu pauken. Am Ende des dritten Semesters war mir dann klar: Ich hatte es vermasselt.«

Claire war von bezaubernder Güte und Wärme, sie hatte einen sehr empathischen Blick auf die Welt, konnte in fast allen Menschen auch die positiven Seiten sehen, ihr Bemühen anerkennen, auch wenn das, was sie taten, von außen betrachtet – in Georgs Augen – eher unsympathisch wirkte. Sie schien niemandem zu grollen oder sich über andere zu erheben. Das faszinierte ihn. Sie hatte einen direkten, klugen Blick auf ihre Mitmenschen, der meistens beide Seiten der Medaille zugleich sah. Und – wie er sich widerstrebend eingestehen musste – sie gefiel ihm sowohl von ihrem Inneren als auch ihrem Äußeren. Sie war schlank, hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und war für eine Frau relativ groß, nur ein paar Zentimeter kleiner als er, etwa 1,75 m. Sie trug auch im Winter kurze Röcke, die ihre langen Beine zur Geltung brachten, und anfangs eine Kurzhaarfrisur, platinblond, in deutlichem Kontrast zu ihren dunkleren Augenbrauen und dem Kirschrot ihrer sinnlichen Lippen. Ihre Haare wurden mit jeder Therapiestunde länger und wechselten gelegentlich die Farbe, die Röcke blieben immer kurz. Er saß wie hypnotisiert vor ihr, nur unter Aufbietung aller Willenskräfte fiel er nicht aus seiner Rolle. Ihm schien, als wäre sie unfähig, etwas Böses oder Gemeines auszuhecken, zugleich wirkte sie so klar und stark auf ihn, dass er sich fragte, wie das, was sie von sich und ihren Problemen erzählte, und das, was er vor sich sah, zusammenpassten. Sie löste unweigerlich und unmittelbar Beschützerinstinkte in ihm aus. Natürlich war er keineswegs so naiv, nicht zu wissen, dass der erste Eindruck, der äußere Anschein, nur die halbe Wahrheit sein konnte – wenn überhaupt. Diese halbe Wahrheit war allerdings so attraktiv, dass er sie am liebsten sofort in seine Arme geschlossen hätte und auf seinem Schoß Platz nehmen lassen.

Sie schien von seinen Qualen nichts zu bemerken, sah ihn vielmehr vertrauensvoll und offen an, als könnte sie sich nicht mal ansatzweise vorstellen, dass ein Therapeut auch sexuelle Gefühle haben könnte. Erst später entdeckte er, dass diese Unfähigkeit, sich in ihn hineinzuversetzen, auch ihre Schattenseite hatte. Außerdem hatte Claire mindestens ein Alkoholproblem; nur, deswegen war sie nicht zu ihm gekommen. Als er es entdeckte, war es schon zu spät, da waren sie schon zusammen, und zwar lange genug zusammen, als dass er sie wie eine heiße Kartoffel hätte fallen lassen können. Andere hätten das vielleicht getan, er jedoch hatte Schuldgefühle, denn ihm war aufgefallen, dass ihr kleines Suchtproblem erst so richtig aufzublühen schien, je länger sie zusammen waren. Was machte er verkehrt? Engte er sie zu sehr ein? Klammerte er? Oder war es umgekehrt: Stellte er sich zu bereitwillig als Fels in der Brandung zur Verfügung, an dem sie sich festklammern konnte? Irgendetwas in dieser Richtung musste es sein, so weit war er schon gekommen. Richtig klar sah er jedoch nicht, wollte er wohl auch nicht sehen.

Claire hatte sich nach dem Abbruch ihres Studiums mit verschiedenen Studentenjobs bei den Berliner Festspielen und beim Auswärtigen Amt durchgeschlagen und sich sogar in ein anderes Studienfach – Soziologie – eingeklagt; allerdings ohne dann hinzugehen. Schließlich jobbte sie als Pflegekraft in einem Altersheim in Charlottenburg. Sie tat den alten Leuten gut. Trotzdem war sie unzufrieden, denn eigentlich wollte sie studieren; sie hatte nicht ihr Abitur gemacht, um alten Leuten den Hintern abzuwischen. Sie kam zu Georg in die Praxis, um etwas Orientierung und Klarheit in ihr Leben zu bringen.

Er wollte ihr helfen und suchte mit ihr gemeinsam die Vorlesungen und Seminare für das Frühjahrssemester der Freien Universität heraus, die interessant sein könnten; sie gingen sogar gemeinsam hin. Und wenn sie etwas nicht verstand, fragte sie ihn und er erklärte es ihr: Was bedeutet Simulacrum? Was ist eine affirmative Argumentation? Was ist der Unterschied zwischen präskriptiven und deskriptiven Sätzen? Vor sich selbst rechtfertigte er diese vielleicht etwas ungewöhnliche und über das durchschnittliche therapeutische Engagement eindeutig hinaus gehende Vorgehensweise damit, dass das schließlich eine ganz simple verhaltenstherapeutische Technik wäre. – Sei nicht so eingefahren! Du bist zwar Psychoanalytiker, aber das heißt doch nicht, dass du nicht auch mit anderen Methoden arbeiten kannst! – Ihm machte es Spaß, wieder zu studieren. Er fühlte sich in seine eigene Zeit als Student zurückversetzt. Wenn er sich zu oft in die Diskussionen einmischte, trafen ihn allerdings irritierte Blicke der Dozenten. Am Ende war nur noch er es, der regelmäßig zu den Seminaren und Vorlesungen ging. Es war Mai, die Kastanien blühten und Claire schlug ihm vor, lieber in der Louise, einem Gartenlokal am Bahnhof Dahlem, etwas essen zu gehen. So waren sie sich nähergekommen und die Therapie an ihr Ende.

Als die ersten Freunde ihres Abiturjahrganges ihr Studium schon beendet hatten, bemerkte Claire, dass auch ihre Zeit lief und sie etwas mehr für ihre Zukunft sorgen müsste. Sie bewarb sich an verschiedenen Krankenpflegeschulen Berlins und wurde schließlich vom Auguste-Viktoria-Klinikum genommen. Das war nun zwei Jahre her, sie war schon dreißig Jahre alt und noch in der Ausbildung zur Krankenschwester. Eigentlich schien nun alles gut zu werden. Für Georg jedoch war ihre Ausbildung ein Drahtseilakt, bei dem sie alle paar Wochen abzustürzen drohte, und er war das Fangnetz.

Er war erleichtert, dass sie sich nicht meldete, und nutzte die Zeit, um zu arbeiten; er hatte alle Hände voll zu tun und darüber war er froh, denn es ermöglichte ihm zumindest in materieller Hinsicht ein komfortables, sorgenfreies Leben.

Sein nächster Auftrag führte ihn in die Justizvollzugsanstalt Tegel. Als Georg die Einlasskontrolle betrat, war ihm ein wenig mulmig zu Mute. Er legte seinen Ausweis und den Gutachtenauftrag in die Schublade unter der Scheibe aus zentimeterdickem Panzerglas; die Lade schloss sich und trat ihre kleine Reise zu dem Beamten hinter der Scheibe an. Der telefonierte und musterte ihn dabei misstrauisch. Unangenehm, auch wenn er nichts zu verbergen hatte. Dann tauchte die Schublade mit dem Gutachtenauftrag und einer Passierkarte wieder auf seiner Seite der Scheibe auf, seinen Personalausweis behielten sie. Er nahm die beiden Dokumente an sich und ging durch eine geöffnete Panzerglastür und einen Metalldetektor in den angrenzenden Raum, wo ihn eine Beamtin erwartete. Der Detektor war von der Art, wie sie auch an Flughäfen verwendet wurde. Georg hatte seine Aktentasche mit allem dabei, was er für den Tag zum Arbeiten und danach brauchte, darunter sein Laptop, ein Diktiergerät mit Metallgehäuse, ein großes Schlüsselbund, Geldmünzen und sein Handy. Der Metalldetektor machte keinen Mucks. Er hütete sich davor, die humorlos wirkende Beamtin darauf aufmerksam zu machen. Sie hätte sich nur kritisiert gefühlt und er hatte die Erfahrung gemacht, dass die wenigsten Menschen es schätzten, kritisiert zu werden. Wahrscheinlich hätte sie ihn dann alles auspacken lassen, aber an der Einstellung des Detektors nichts geändert.

»Haben Sie ein Handy dabei?«

»Ja, hab ich.«

»Dann schließen Sie es bitte dort drüben ein.« Sie zeigte auf eine Wand mit kleinen Schließfächern schräg hinter ihr. – Nach Waffen fragte sie nicht, bloß, wer hat die schon?

Die nächste Panzerglastür führte zum Hof. Mit lautem Zischen und überraschend hoher Geschwindigkeit öffnete sich die Tür und verschwand seitwärts in der Wand. Obwohl er das Ding schon seit Jahren kannte, war es ihm noch immer unheimlich. Er hoffte auch diesmal, dass diejenigen, die diese Tür betätigten, gut aufpassten, ob er schon hindurchgegangen war. Fünf Zentimeter dickes Glas in einem Stahlrahmen, zisch, zisch – Willkommen auf der Enterprise!

Er betrat das größte Gefängnis Deutschlands. Inzwischen kannte er sich hier aus, trotzdem gab es immer noch unentdeckte Territorien für ihn. Haus III, sein heutiges Ziel, gehörte dazu. An diesem Unort war er zwar schon einige Male vorbeigegangen, drinnen war er noch nie gewesen. Er schlug seinen Mantelkragen hoch, um sich vor dem nasskalten Wind zu schützen, und sah sich um. Ein Lkw fuhr vom Haupttor hinüber zur Bäckerei, wohl eine Mehllieferung. Ein Häftling hatte Georg einmal erzählt, dass mit diesen Warenlieferungen auch die meisten Drogen in die Anstalt gelangten. – Es gab auch andere Wege, zum Beispiel Tennisbälle, die jemand über die Mauer warf.

Georg überquerte die entlang der Mauer verlaufende Lagerstraße und ging diagonal über den sich anschließenden kleinen Platz zu einem Stahlgittertor, wo er abgeholt werden sollte. Es begann zu schneeregnen; kein besonders gemütlicher Fleck zum Warten. Ab und zu liefen Trupps von zwei oder drei Männern in Handwerker-Overalls vorbei. Sie musterten ihn kurz, er sie länger. Wahrscheinlich dachten sie sehr Unterschiedliches dabei. Er hatte keine Ahnung, ob die Männer in ihren Handwerker-Overalls Insassen waren oder Handwerker; er mochte sie auch nicht fragen. Er hatte lernen müssen, für arrogant gehalten zu werden, wenn er seine Verschiedenheit gegenüber seiner Umgebung allzu sehr betonte. Mit seiner Aktentasche und seinem eleganten Wintermantel fühlte er sich schon deplatziert genug.

Hier an diesem Gefängnistor sah er sich mit einer proletarischen Welt konfrontiert, die er zwar kannte, die ihm dennoch fremd geblieben war. Schon als Kind war sie ihm ein Graus. Die Männer in den Overalls erinnerten ihn an eine Exkursion in einen Metallbaubetrieb seiner kleinen märkischen Heimatstadt, er ging damals in die erste Klasse. Dort mussten sie Lehrlinge dabei beobachten, wie sie ohne erkennbaren Sinn an Metallstücken herumfeilten, die in Schraubstöcke gespannt waren. »Und hier, liebe Kinder, könnt ihr sehen, wie sich die Lehrlinge auf ihren späteren Beruf vorbereiten«, hatte die Erzieherin in ihrem Kindertanten-Singsang dazu gesagt. Sie hatte das in einer sehr suggestiven Art gesagt, als wäre dies der natürliche Lauf der Dinge, ohne Alternative: Schule, Lehre, Metallfeilen, Dreck und Langeweile bis zur Rente.

»Wo wollen Sie denn hin?«

Mit einem Ruck fuhr er herum, er hatte niemanden kommen gehört. »Zum Haus III. Ich soll abgeholt werden – es kommt bloß niemand.«

»Na dann kommen Sie mal mit, ich muss da auch lang.« Der Beamte schloss das Tor auf und hinter ihnen wieder zu. Sie liefen über eine betonierte Fläche zwischen zwei langgestreckten zweistöckigen Klinkergebäuden. Das linke Gebäude war die Bäckerei, das rechte barg in seinem vorderen Teil den Besucherraum, in seinem hinteren eine Filiale des Arbeitsamtes und eine Werkstatt. Hinter den beiden Gebäuden bogen sie nach links in eine vergleichsweise schmale Lagerstraße ein, auf der viel Betrieb herrschte. Männer eines kaum eingrenzbaren Alters kamen ihnen entgegen, sie waren irgendetwas zwischen Mitte zwanzig und Mitte vierzig: agil, sportlich und trotzdem etwas übergewichtig, hier und da ein Piercing, an Händen und Hälsen zahlreiche Tattoos, unter der Kleidung vermutlich noch mehr.

Vor einem alten Klinkergebäude aus verwittertem Mauerwerk blieb der Beamte mit ihm stehen. Es war Haus III, ein kreuzförmig angelegtes Gebäude, vollgestopft mit Mördern, Totschlägern, Bankräubern und Vergewaltigern – sogenannte Langstrafer. Georg war hier noch nie gewesen, weil die Insassen dieses Hauses kaum eine Chance hatten, vorzeitig entlassen zu werden, und deswegen gewöhnlich auch nicht begutachtet wurden.

Der Beamte schloss die Tür auf. »Gehen Sie schon mal rein, ich muss noch woandershin. Sie gehen einfach geradeaus die Treppe hoch und melden sich bei der Aufsicht.« Mit einem metallischen Knall fiel die Tür hinter Georg ins Schloss.

Nun war er drinnen. Er nahm es mit einem leichten Kribbeln in der Magengegend zur Kenntnis: Hoffentlich nimmt dich hier keiner als Geisel, nur keine Schwäche zeigen.

Er sah sich um: Die wenigen Männer, die er von seiner Position kurz hinter der Eingangstür aus sehen konnte, wirkten auf ihn seltsamerweise weniger gefährlich als die unternehmungslustig wirkenden Sportler auf der Lagerstraße. Sie erinnerten ihn eher an Patienten aus der Psychiatrie. Ihr Bewegungstempo war verlangsamt, die Haltung leicht gebeugt, die Kleidung nachlässig und abgetragen, oft nicht zusammenpassend. Ein etwa vierzigjähriger, frühzeitig ergrauter Mann schlurfte unrasiert an ihm vorbei. Er trug einen alten, grün-weiß-gestreiften Bademantel und rosa Pantoffeln. Drei Männer sortierten Tabletts auf einem kleinen Wagen, mit dem das Essen transportiert wurde. Es roch nach Erbsensuppe. Die niedrigen und schmalen Zellentüren aus massivem Eichenholz und Stahl waren geschlossen und damit auch die Zellen. Es war ein klassisches Gefängnisgebäude mit vierstöckig angelegten stählernen Galerien, Oberlichtern und Stahltreppen. Zwischen den an den Wänden entlangführenden Laufstegen waren Netze aufgespannt, wohl um zu verhindern, dass sich jemand von der Galerie in die Tiefe stürzen oder gestoßen werden konnte; großmaschig genug, um kleinere Gegenstände hindurch fallen zu lassen. Die vorherrschende Wandfarbe war dasselbe trostlose Blaugrau, in dem auch die Kasernen in der DDR gehalten waren – ein sehr vertrauter Anblick für ihn. Hier und da gab’s auch mal Kackegelb oder Kotzgrün.

Mit entschlossenen Schritten, weder zu langsam noch zu schnell, um nicht unsicher oder ängstlich zu wirken und damit eventuell die Jagdinstinkte eines der Insassen zu wecken, passierte er die Männer am Essenswagen und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Seine Schritte hallten durch das Gebäude.

Die vergitterte, stählerne Wärterkanzel lag in etwa fünfzig Meter Entfernung in der Mitte des Hauses, genau an der Kreuzung der vier Gebäudeflügel – das war sein Fluchtpunkt. Er hielt zielstrebig auf ihn zu, vorbei an verschlossenen Zellentüren. Dabei hatte er das unheimliche Gefühl, an einer Kulisse entlangzulaufen, hinter der sich das eigentliche Leben abspielte. Wo sind die alle?, fragte er sich. Sitzen die alle da drinnen, jeder für sich hinter seiner Zellentür? So muss es wohl sein. Was machen die da?

»Sie wünschen?« – Diese latent aggressiv vorgetragene Frage riss ihn aus seinen Gedanken. Er war inzwischen an der Wärterkanzel angekommen und der Tonfall des dort diensttuenden jungen Mannes sollte ihm wohl signalisieren, dass er sein Hoheitsgebiet betreten hatte. Er nahm es nicht persönlich. Mit dem gleichen Tonfall konnte einen auch ein Berliner Busfahrer begrüßen, wenn man seinen Bus betrat.

»Guten Tag. Dr. Förster. Ich bin der Gutachter für Herrn Riemenschneider. Ich bin angemeldet.« Einen Moment zögerte er, ob es Sinn machen würde, es zu sagen, dann gab er sich einen Ruck: »Ich sollte vom Tor abgeholt werden, da kam aber niemand.«

»Ach so. Das kommt manchmal vor. Sie sehen ja, ich bin alleine hier, wen hätte ich schicken sollen? – Warten Sie mal hier.« Er zeigte auf einen Stehplatz innerhalb der vergitterten Kanzel und nahm ein großformatiges Tagebuch heraus, in das er Georgs Personalien eintrug. »Zu Herrn Riemenschneider wollen Sie?«

»Richtig.«

»Da muss ich mal nachsehen, ob er überhaupt da ist. Sie kommen hier einfach so an und wollen ihn sprechen.«

»Bitte? Ich habe mich angemeldet. – Wo sollte er denn sein?«

»Sie haben Glück, er ist da. Gehen Sie schon mal da vorne in die dritte Tür auf der linken Seite. Er kommt dann dorthin.«

Die bezeichnete Tür war eine, die aussah wie alle anderen. Tatsächlich war der Sprechraum eine umgewidmete ganz normale Gefängniszelle, etwa drei mal drei Meter groß, vielleicht auch nur zwei Meter fünfzig mal zwei Meter fünfzig. Waren in so einer Zelle ein oder zwei Gefangene untergebracht? Der Raum war in einem eierschalenfarbenen Weiß gehalten, mit einem billigen quadratischen Tisch und drei noch billigeren Stühlen möbliert. Die Sperrholzsitzflächen der Stühle waren an den Rändern so ausgefranst, dass Georg sich Sorgen um seine Anzughose machte.

Unentschieden ging er in die Zelle hinein und gleich wieder hinaus. Instinktiv wollte er es so lange wie möglich vermeiden, in dieser Zelle zu sitzen. Er stand auf der Galerie und schaute sich um.

Noch vor zehn Jahren hätte er es nicht für möglich gehalten, hier zu sein, jedenfalls nicht freiwillig. Es war ein Zufall, der ihn Gutachter werden ließ. Er war auf einer seltsamen Geburtstagsparty in einer Kellerbar in den Hackeschen Höfen eingeladen gewesen. Der Gastgeber Philipe war ein schwuler Bekannter von ihm, ein Franzose. Er wohnte in Friedrichshain in einer bescheidenen Zwei-Zimmer-Hinterhofwohnung. Wenn er feierte, lebte er gerne auf etwas größerem Fuß. Es war sein vierzigster Geburtstag. Er arbeitete als Kellner im Oxymoron, dem nicht gerade billigen Café darüber, und konnte die Bar mietfrei für seine Party nutzen. Das Publikum war bunt gemischt und passte nicht zusammen. Einige dieser Mitte-Schicksen waren gekommen, die normalerweise Gäste im Café obendrüber waren. Zumindest einige von ihnen suchten einen One-Night-Stand. Dass die Mehrzahl der männlichen Gäste schwul war, stand nur scheinbar im Widerspruch dazu, denn die wenigen Heteromänner waren eine umso leichtere Beute für sie. Im Prinzip keine schlechte Strategie, fand Georg.

Er hatte schon zwei Bier getrunken, langweilte sich und stand etwas unentschlossen herum. Er überlegte gerade, ob er lieber wieder gehen sollte, da tauchte Wolfgang Klose auf, den er flüchtig vom Volleyball kannte. Klose war Richter am Landgericht, ein lockerer, intelligenter Typ, etwa in seinem Alter. Der war froh, seinen Anker werfen zu können, und steuerte auf ihn zu. Nach Austausch der wechselseitigen Überraschung, sich an diesem Ort zu sehen und einen gemeinsamen Freund zu haben, kamen sie schnell zu interessanteren Themen. Schuldfähigkeit und Begutachtung waren solche Themen, die nahezu unvermeidlich waren, wenn ein Richter und ein Psychologe miteinander plauderten. Sie waren ungefähr so unvermeidlich wie die obligatorische Frage nach Lampenfieber, wenn ein Journalist einen Schauspieler interviewte. Georg fiel mit der Tür ins Haus und erklärte Wolfgang, dass er seine Probleme mit der Schuldfähigkeitsbegutachtung hätte. »Kein Mensch, der einen anderen einfach so umbringt«, proklamierte er, »kann als psychisch gesund angesehen werden!«

»Es geht nicht darum, ob der Täter eine Macke hat«, antwortete Wolfgang, »sondern ob er das Unrecht der Tat hätte einsehen und entsprechend dieser Einsicht handeln können.«

»Aber schon die Tatsache, dass er es gemacht hat, zeigt doch, dass er entweder das eine oder das andere – oder beides – nicht konnte.« Er hatte schon einiges getrunken und es bereitete ihm Vergnügen zu polemisieren.

»Wie kommt es eigentlich, dass ich dir immer erst widerspreche und dann doch recht geben muss?«, sagte Wolfgang und leerte sein Bier. »Willst du noch eins?« – Er tippte mit dem Finger auf das leere Bierglas. Sie gingen zur Bar. »Ich vergebe eigentlich ganz gerne psychologische Gutachten oder würde es gerne öfter tun, wenn sich dadurch nicht das Verfahren so in die Länge ziehen würde. Die Gutachter brauchen häufig drei Monate oder sogar länger.«

»Mir völlig unverständlich. Dann hätte ich ja schon vergessen, worum es geht. Ich kann ja verstehen, dass man mal eine Nacht drüber schlafen und vielleicht das eine oder andere nachlesen oder einen Kollegen zurate ziehen will; aber nach zwei, spätestens drei Wochen kann das doch erledigt sein«, tönte er vollmundig und ahnungslos.

Da hatte ihn Wolfgang mit großen Augen angeschaut. »Dann gib mir mal deine Karte! – Dein Doktortitel macht sich dabei ganz gut.«

Georg sah verlegen zur Seite und suchte in den Brusttaschen seines Jacketts. »Mit sowas habe ich nicht gerechnet. – Keine dabei.« Er ließ sich vom Barkeeper einen Zettel geben und notierte seine Daten für Wolfgang.

Fünf Wochen später hatte er seinen ersten Gutachtenauftrag auf dem Tisch, das war der Anfang ihrer freundschaftlichen Zusammenarbeit und nun schon zehn Jahre her. Um die dreihundert Gutachten hatte er inzwischen für verschiedene Kammern des Gerichts abgefasst. Als er damals den etwa vierzig Zentimeter hohen Aktenstapel mit Hauptakten, Beiakten, Vorgutachten und Vollstreckungsheft vor sich sah und sich Gedanken darüber machte, mit wem er alles sprechen müsste, schwante ihm, dass das in zwei Wochen wohl kaum zu schaffen wäre. Hinzu kamen noch die verblüffend langen Wartezeiten, die mit bürokratischen Vorgängen verbunden waren.

Vor zwei Wochen hatte ihn Wolfgang angerufen und gefragt, ob er noch freie Kapazitäten habe. »Dann lasse ich jetzt den Beschluss ausfertigen. Holst du dir die Akten selbst ab oder willst du sie zugeschickt bekommen?«

»Ich kann sie übermorgen selbst abholen, da bin ich ohnehin im Gericht.«

»Sehr schön, danke dir.« Richter waren höfliche Menschen.

Der Beschluss war der Gutachtenauftrag. Wolfgang hatte ihn ungewöhnlich ausgefeilt formuliert: »Der Sachverständige soll insbesondere darauf eingehen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Verurteilte eine Therapie ernsthaft beginnt, die Therapie durchsteht, und wie groß das Risiko von schwerwiegenden Straftaten während der Therapie, bei Therapieabbruch oder nach erfolgreich absolvierter Therapie ist.« – Richter waren eben nicht nur höfliche Menschen, sondern manchmal auch etwas versponnen. War er Gott? Woher sollte er das wissen? Aber das konnte er Wolfgang bei aller Freundschaft nicht sagen.

Er ging zurück in die Sprechzelle, die Tür ließ er offen, um in dieser beengten Zelle noch ein bisschen Luft zum Atmen zu haben und sich nicht so eingesperrt zu fühlen.