Der gestohlene Bazillus. Unheimliche Geschichten - H. G. Wells - E-Book

Der gestohlene Bazillus. Unheimliche Geschichten E-Book

H G Wells

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Beschreibung

Die besten unheimlichen Geschichten vom Meister des Science-Fiction Ein versponnener Londoner Bakteriologe lässt sich in einem unbedachten Moment ein Reagenzglas mit tödlichen Cholerabakterien stehlen. Der Dieb flieht mit finstersten Absichten in einer Kutsche ... In seinen Geschichten erzählt Wells fesselnd von unheimlichen, skurrilen, fantastischen Geschehnissen.

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Seitenzahl: 104

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Herbert George Wells

Der gestohlene Bazillus

Unheimliche Geschichten

Reclam

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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962462

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962463-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014725-2

reclam.de | [email protected]

Inhalt

Der gestohlene Bazillus

Die Geschichte des verstorbenen Mr. Elvesham

Der gestohlene Körper

Anhang

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Nachbemerkung

[5]Der gestohlene Bazillus

[7]»Und dies hier«, sagte der Bakteriologe, eine kleine Glasscheibe unter das Mikroskop schiebend, »ist ein Präparat des berühmten Cholerabazillus – der Cholerakeim.«

Der blassgesichtige Mann schaute in das Mikroskop. Er war augenscheinlich nicht an derartige Dinge gewöhnt und hielt eine schlaffe, weiße Hand über sein eines, unbeschäftigtes Auge. – »Ich sehe recht wenig«, sagte er.

»Drehen Sie hier an der Schraube«, sagte der Bakteriologe. – »Vielleicht ist das Mikroskop nicht richtig eingestellt für Sie. Augen sind sehr unterschiedlich. Nur eine winzige Drehung nach rechts oder links …«

»Ah! Jetzt sehe ich!«, sagte der Besucher. – »Nicht besonders viel zu sehen übrigens. Kleine Streifchen und Fetzchen Rosa. Und doch könnten diese kleinen Partikelchen, diese bloßen Atomchen, sich vervielfältigen und eine ganze Stadt verwüsten! Wundervoll!«

Er richtete sich auf, zog das Glasplättchen aus dem Mikroskop und hielt es gegen das Fenster. – »Kaum [8]sichtbar«, sagte er, das Präparat äußerst genau betrachtend. Er zögerte. – »Sind sie – lebendig? Sind sie gefährlich – so?«

»Diese hier sind getötet und gefärbt«, sagte der Bakteriologe. »Was mich betrifft, so wünschte ich, wir könnten jedes Einzelne von diesen Dingern im ganzen Weltall töten und färben!«

»Ich vermute«, sagte der Blassgesichtige mit einem leichten Lächeln, »Sie werden sich nicht gerade drum reißen, derartige Dinger im lebenden – ich meine, im aktiven Zustand um sich zu haben?«

»Im Gegenteil – wir sind dazu gezwungen«, sagte der Bakteriologe. – »Hier zum Beispiel« – er ging durchs Zimmer und nahm von einem Haufen versiegelter Röhrchen eines in die Hand. – »Das da ist die Sache in lebender Verfassung. Eine Kultur von wirklichen lebenden Krankheitsbazillen.« Er zögerte. – »Cholera in Flaschen, sozusagen.«

Ein schwaches Aufleuchten der Befriedigung zeigte sich eine Sekunde lang im Gesicht des blassen Mannes. – »Eine gefährliche Sache – so um sich zu haben!«, sagte er, das kleine Röhrchen mit den Augen verschlingend. Der Bakteriologe beobachtete die krankhafte Erregtheit im Ausdruck seines Besuchers. Dieser Mann, [9]der ihn heute Nachmittag mit einem kurzen Empfehlungsschreiben eines alten Freundes aufgesucht hatte, interessierte ihn schon allein durch den Gegensatz ihrer beiderseitigen Veranlagungen. Das schlichte schwarze Haar und die tiefen grauen Augen, der hagere Ausdruck und die nervöse Art, das sprunghafte und doch so scharfe Interesse seines Gastes bildeten eine ganz neue Abwechslung gegenüber den phlegmatischen Bemerkungen des gewöhnlichen wissenschaftlichen Arbeiters, der den hauptsächlichen Umgang des Bakteriologen bildete. Es war vielleicht nur natürlich, angesichts eines Zuhörers, auf den die tödliche Bedeutung des Gegenstands so offensichtlich einen starken Eindruck machte, die Sache im wirkungsvollsten Licht darzustellen …

Er hielt nachdenklich das Röhrchen in der Hand. – »Ja, hier drin ist die Pest gefangen. Man braucht nur so ein kleines Röhrchen über einer Quantität Trinkwasser zu zerbrechen – braucht nur zu diesen winzigen Lebenspartikelchen, die man erst färben und mit zur äußersten Schärfe eingestelltem Mikroskop untersuchen muss, um sie überhaupt zu sehen, und die weder Geruch noch Geschmack haben, ich sage, man braucht nur zu ihnen zu sagen: Gehet hin, vermehrt euch, [10]vervielfältigt euch, füllt die Brunnen – und der Tod – ein geheimnisvoller, unaufspürbarer Tod, ein plötzlicher und furchtbarer, grimmiger Tod voller Schmerzen und Würdelosigkeit – wäre losgelassen auf diese Stadt und würde umherziehen und seine Opfer suchen. Den Gatten würde er von der Gattin reißen, das Kind von der Mutter, den Staatsmann von seiner Arbeit, den Arbeiter von seiner Mühsal. Er würde den Wasserleitungen folgen, würde die Straßen entlang schleichen, da ein Haus auswählen und heimsuchen, und dort ein anderes, wo sie ihr Trinkwasser nicht abkochten, er würde in die Brunnen der Mineralwasserfabrikanten schleichen, in den Salat hineingewaschen werden und im Eis und Gefrorenen auf der Lauer liegen. In den Pferdetrögen würde er liegen und schlummern und in den öffentlichen Brunnen darauf warten, dass sorglose Kinder ihn tränken. Er würde in die Erde sickern, um an tausend unvermuteten Orten in Brunnen und Quellen wieder aufzutauchen. Bloß in die Wasserleitung brauchte man ihn zu gießen – und noch bevor man ihn ankündigen oder wieder einfangen könnte, hätte er die Hauptstadt schon dezimiert.«

Er hielt plötzlich inne. Man hatte ihm schon öfter gesagt, Rhetorik sei seine schwache Seite.

[11]»Aber hier ist er sicher verwahrt, sehen Sie – ganz sicher verwahrt!« Der blassgesichtige Mann nickte. Seine Augen funkelten. Er räusperte sich. – »Die Anarchisten, diese Schufte«, sagte er, »sind doch Narren – blinde Narren, dass sie mit Bomben arbeiten, wenn sie derartige Dinge haben könnten! Ich glaube –«

Ein sanftes Klopfen ließ sich an der Tür vernehmen. Der Bakteriologe öffnete. – »Nur eine Minute, Schatz!«, flüsterte seine Frau. Als er wieder im Laboratorium erschien, sah sein Besucher eben nach der Uhr. – »Ich hatte keine Ahnung, dass ich Ihnen eine ganze Stunde Ihrer Zeit geraubt habe!«, sagte er. – »Zwölf Minuten vor vier. Um halb vier hätte ich eigentlich wegmüssen. Aber Sie haben wirklich zu viel Interessantes hier. Nein, wirklich, ich darf mich keinen Augenblick länger aufhalten. Um vier Uhr hab ich eine Verabredung.«

Und unter wiederholten Dankesäußerungen verließ er das Zimmer. Der Bakteriologe begleitete ihn bis an die Tür und kehrte dann durch den Korridor nachdenklich ins Laboratorium zurück. Er dachte über die Ethnologie seines Gastes nach. Auf alle Fälle war der Mann kein germanischer Typ und auch kein gewöhnlicher romanischer. – »Ein krankhaftes Produkt unter allen Umständen fürchte ich!«, sagte der Bakteriologe zu sich [12]selber. – »Wie er sich an den Kulturen von Krankheitskeimen ergötzt hat!« Ein beunruhigender Gedanke kam ihm plötzlich. Er wandte sich zu der Bank neben dem Dampfbad und darauf hastig zu seinem Schreibtisch um. Dann befühlte er eilig seine Taschen und stürzte zur Tür hin.

»Vielleicht habe ich es auf den Korridortisch gelegt!«, sagte er.

»Minnie!«, rief er im Korridor mit heiserer Stimme.

»Ja, Schatz!«, klang es von fern.

»Hab ich was in der Hand gehabt, als ich eben mit dir sprach, Schatz?« – Pause.

»Nichts, Schatz. Ich weiß noch –«

»Hölle und Teufel!«, schrie der Bakteriologe, schoss wie der Blitz zur Haustür hinaus und die Stufen hinunter auf die Straße.

Minnie, als sie die Tür heftig zuschlagen hörte, lief erschrocken ans Fenster. Ganz unten auf der Straße stieg soeben ein schlanker Mann in eine Droschke. Der Bakteriologe, ohne Hut, in bestickten Pantoffeln, rannte wild gestikulierend auf diese Gruppe zu. Er verlor einen Pantoffel, aber er sah sich nicht danach um. – »Er ist verrückt geworden!«, sagte Minnie. – »Natürlich, seine gräuliche Wissenschaft!« Sie öffnete das Fenster [13]und wollte ihm nachrufen. Dem schlanken Mann, der sich plötzlich umsah, schien ebenfalls der Gedanke an Geistesgestörtheit zu kommen. Er deutete hastig auf den Bakteriologen, sagte etwas zu seinem Kutscher, die Tür der Droschke flog zu, die Peitsche knallte, die Hufe des Pferdes klapperten, und in einem Augenblick hatten die Droschke und der sie leidenschaftlich verfolgende Bakteriologe das Ende der Straße erreicht und waren um die Ecke verschwunden.

Minnie starrte noch eine Minute regungslos aus dem Fenster. Dann zog sie den Kopf zurück. Sie war völlig betäubt. – »Nun ja, exzentrisch ist er ja«, überlegte sie. – »Aber so in London herumstürzen – mitten in der Hochsaison – in Socken …!« Ein glücklicher Gedanke kam ihr. Sie setzte hastig ihren Hut auf, ergriff die Stiefel ihres Mannes, ging in den Korridor, nahm seinen Hut und einen leichten Überzieher vom Kleiderständer, trat vor die Haustür und rief nach einer Droschke, die zum Glück eben vorüberkroch. – »Die Straße hinunter und um Havelock Crescent herum – und sehen Sie zu, ob wir einen Herrn finden, der in einem Samtjackett und ohne Hut dort herumläuft.«

»Samtjackett und ohne Hut, gnä’ Frau. Schön, gnä’ Frau!« Und der Kutscher trieb sein Pferd so gleichmütig [14]an, als führe er sein Leben lang jeden Tag nach dieser Adresse.

Wenige Minuten später wurde die kleine Gruppe von Droschkenkutschern und Müßiggängern an der Droschkenhaltestelle bei Haverstock Hill durch eine in wilder Fahrt daherrasselnde Droschke mit einer ingwerfarbenen Schindmähre von einem Gaul aufgescheucht.

Während sie vorüberfuhr, waren alle stumm. Dann – als sie verschwand – sagte ein stämmiger Gentleman, der unter dem Namen »Das alte Tuthorn« bekannt war:

»Harry Hicks war das. Was hat denn der für ’ne Fuhre?«

»Der führt heut seine Peitsche gut, Donnerwetter!«, sagte der Laufbursche von der nächsten Kneipe.

»Holla!«, rief der arme alte Tommy Byles. – »Da kommt noch so ’n verrücktes Huhn an! Ich schwör’s euch!«

»Das ist der alte George«, sagte das Tuthorn. »Und der kutschiert wirklich ’nen Verrückten – du hast’s erraten! Was? Klettert der Kerl nicht aus der Droschke raus? Ob er hinter Harry Hicks her ist, was?«

Die Gruppe auf dem Droschkenhalteplatz belebte [15]sich. Im Chor: »Vorwärts, George!« »Das ist ein Rennen!« »Du kriegst ihn schon!« »Los, schneller!«

»Feines Rennpferd!«, sagte der Laufbursche.

»Da soll aber doch gleich …«, schrie das alte Tuthorn. »Aufgepasst! Jetzt tu ich bald selber noch mit! Da kommt noch einer! Sind denn alle Droschken in ganz Hampstead heut Morgen übergeschnappt?«

»Ein weibliches Wesen, diesmal!«, sagte der Laufbursche.

»Läuft hinter ihm her«, sagte das alte Tuthorn. »Sonst ist’s gewöhnlich andersrum.«

»Was hat sie denn in der Hand?«

»Sieht fast aus wie ein Böller.«

»So ein verfluchter Spaß! Drei zu eins auf den alten George!«, sagte der Laufbursche. »Der Nächste!«

Unter einem wahren Sturm von Applaus fuhr jetzt Minnie vorüber. Angenehm war es ihr nicht gerade; aber sie war sich bewusst, ihre Pflicht zu erfüllen, und ratterte Haverstock Hill hinunter und Camden Town High Street hinauf … immer die Blicke inbrünstig auf die ausdrucksvolle Hinterfront des alten George gerichtet, der ihren vagabundierenden Gatten auf so unbegreifliche Weise entführte …

Der Mann in der vordersten Droschke saß [16]zusammengekauert in einer Ecke; die Arme hatte er fest verschränkt; das kleine Röhrchen, das so ungeheure Vernichtungsmöglichkeiten enthielt, krampfhaft mit der Hand umklammert. Ihm war ganz eigentümlich angstvoll und frohlockend zumute. In der Hauptsache hatte er Angst, man könnte ihn einholen, bevor er seine Absicht ausgeführt hatte; dahinter jedoch lauerte ein unbewusstes, aber weit größeres Entsetzen vor der Grauenhaftigkeit seines Verbrechens. Aber das Frohlocken überwog doch bei weitem die Furcht. Noch kein Anarchist hatte sich vor ihm an diesen Gedanken gewagt. Ravachol, Vaillant, all die hervorragenden Persönlichkeiten, die er immer um ihren Ruhm beneidet hatte, schrumpften zu nichts zusammen neben ihm! Er brauchte nichts als die Wasserleitung zu suchen und das kleine Röhrchen über einem Reservoir zu zerbrechen. Wie wundervoll er doch das alles geplant – das Empfehlungsschreiben gefälscht, sich in das Laboratorium eingeschlichen, und wie glänzend er auch gleich die Gelegenheit beim Schopf ergriffen hatte! Endlich, endlich würde die Welt von ihm hören! Tod, Tod, Tod! Immer hatten sie ihn behandelt wie einen, der nichts Besonderes zu sagen hatte. Die ganze Welt hatte sich verschworen, ihn unten zu halten. Aber er würde sie [17]schon noch lehren, es ihnen schon noch zeigen, was das heißt: einen Menschen so beiseiteschieben! Was war denn das für eine wohlbekannte Straße? Great Saint Andrews Street – natürlich! Und wie stand es überhaupt? Er lugte vorsichtig aus dem Droschkenfenster. Der Bakteriologe war kaum fünfzig Schritte hinter ihm. Das war schlimm. Man würde ihn vielleicht doch noch erwischen und anhalten. Er suchte in seinen Taschen nach Geld und fand auch ein Goldstück. Das streckte er durch die Luke oben am Dach der Droschke dem Kutscher direkt ins Gesicht. »Schneller!«, rief er. »Hauptsache wir entkommen!« Das Geldstück verschwand augenblicklich aus seiner Hand. »Jawohl!«, sagte der Kutscher, und das Fenster flog wieder zu und die Peitsche sauste um die feuchten Flanken des Pferdes. Die Droschke schwankte; der Anarchist, der noch halb aufgerichtet dastand, stemmte die Hand, die das kleine Glasröhrchen enthielt, gegen die Verkleidung, um sich im Gleichgewicht zu halten. Er fühlte, wie das spröde Ding zersprang, und die Bruchstücke auf den Boden der Droschke hinunterklirrten. Mit einem Fluch fiel er auf seinen Sitz zurück und starrte trübselig die zwei oder drei Tropfen Flüssigkeit an, die auf der Verkleidung hingen. Ihn schauderte.

[18]»Na ja. Also vermutlich werd’ ich der Erste sein! Pah! Immerhin ein Märtyrer. Das ist schon was. Trotzdem – es ist doch ein miserables Ende. Ob es wirklich so weh tut, wie sie sagen?«