Der gläserne Käfig - Dagmar Schmidt - E-Book

Der gläserne Käfig E-Book

Dagmar Schmidt

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Beschreibung

Emmas Ehe ist eine Katastrophe. Sie lebt in ständiger Angst vor den unvorhersehbaren Wutausbrüchen und der Aggressivität ihres Mannes Rob. Trotz der Demütigungen, denen sie und der 15-jährige Sohn Philip fast täglich ausgesetzt sind, hat sie Angst, Rob zu verlieren. Als Rob eines Tages unerwartet schwer krank wird und stirbt, scheint sie am Boden zerstört. Kriminalhauptkommissarin Hanna Wiedemann bekommt Emmas Tagebuch in die Hand und beginnt gemeinsam mit ihrem Kollegen Piet Wurstinger zu ermitteln, denn Emma hat ein seltsames Hobby: Sie trocknet giftige Pilze.

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Alle Personen und Handlungen dieses Romans sind frei

erfunden.

Dagmar Schmidt ist die Tochter des Autors Hans-Dieter Brunowsky, der im Alter von 83 Jahren seinen ersten Bestseller veröffentlichte. (Opa, das kannst du auch) Sie schreibt seit ihrer Jugend erlebte und erfundene Geschichten. Aber erst mit dem Eintritt ins Rentenalter findet sie genug Zeit, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Sie lebt mit ihrem Partner in der Umgebung von Kiel. Dort spielen auch alle ihre Romane.

Emma lebt in ständiger Angst vor den unvorhersehbaren Wutausbrüchen und der Aggressivität ihres Mannes Rob. Trotz der Demütigungen, denen sie und der 15-jährige Sohn Philip fast täglich ausgesetzt sind, hat sie Angst, ihn zu verlieren. Als Rob eines Tages unerwartet schwer krank wird und stirbt, ist sie am Boden zerstört.

Kriminalhauptkommissarin Hanna Wiedemann bekommt Emmas Tagebuch in die Hand und beginnt gemeinsam mit ihrem Kollegen Piet Wurstinger zu ermitteln, denn Emma hat ein seltsames Hobby: Sie trocknet giftige Pilze.

Allen Frauen gewidmet, die in einem

gläsernen Käfig gefangen sind.

Inhaltsverzeichnis

Teil Eins: Emma

Prolog, 9. Januar 2020

2. September 2019

6. September 2019

13. September 2019

14. September 2019

20. September 2019

20. September 2019

26. September 2019

2. Oktober 2019

7. Oktober 2019

21. Oktober 2019

2. November 2019

23. November 2019

25. Dezember 2019

2. Januar 2020

10. Januar 2020

Teil Zwei: Hanna

3. Februar 2020

4. Februar 2020

5. Februar 2020

6. Februar 2020

7. Februar 2020

10. Februar 2020

12. Februar 2020

13. Februar 2020

Teil Drei: Emma

7. Februar 2020

17. Februar 2020

18. Februar 2020

19. Februar 2020

Epilog, 7. November 2020

Pilze

Nachwort

Teil Eins

Emma

Prolog, 9. Januar 2020

Robert sieht so elend und so verloren aus, wie Emma ihn noch niemals gesehen hat. Sie streichelt hilflos seine Hand. Der Monitor, an den er mit verschiedenen farbigen Kabeln angeschlossen ist, zeichnet mit blauen Zickzack-Linien das EKG auf. Dazu ertönt ein monotones Piep, Piep, Piep im Rhythmus seines Herzschlages. Die vielen Schläuche, die seinen Körper mit Flüssigkeiten versorgen, geben der Szene etwas Unheimliches. Sein Blutdruck ist normal, das ist gut.

„Wirst du sterben, Rob?“

Er antwortet natürlich nicht. Er liegt seit einer Woche im Koma. Seine Leberwerte werden immer bedrohlicher. Seine Haut ist quittegelb und der Urinbeutel ist mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllt. Sie weiß die Antwort schon lange. Die Ärzte haben gesagt, seine Leber sei irreversibel geschädigt. Nur eine Transplantation könne ihn retten. Es geht ihr auf die Nerven, dass manche Ärzte und das Pflegepersonal mit ihr reden, als sei sie ein unmündiges Kind oder geisteskrank. Man muss sie nicht mit Samthandschuhen anfassen und sie kann mit Fachausdrücken und Laborwerten etwas anfangen. Aber jedes Mal wird sie nur oberflächlich informiert, wenn sie nicht nachhakt. Die Blutwerte sind beunruhigend, die Leber arbeitet nicht ausreichend. Früher war Emma einmal Krankenschwester. So hat sie Rob kennengelernt, den charmanten, gut aussehenden Eigentümer und Chefarzt der orthopädischen Privatklinik. Sie hat die medizinische Terminologie seitdem nicht vergessen, obwohl sie nun schon seit Jahren nicht mehr arbeitet, weil Rob das nicht will. Sie weiß auch, dass es kaum eine Chance gibt, dass man eine Leber für ihn findet, obwohl das seine einzige Möglichkeit wäre zu überleben.

Sie lässt Robs Hand los und wischt sich müde über die Augen. Ob Philip schon zu Hause ist? Sie sieht auf die Uhr. Er hat seinen Vater nicht ein einziges Mal besucht. Als der noch bei Bewusstsein war, hat er wenigstens Grüße ausrichten lassen. Emma lächelt. Sie versteht Philip. Rob hat ihn nie verstanden. „Der Junge taugt nichts“, hat er immer gesagt und dabei kümmerte es ihn nicht, dass der ihn hörte und nach solchen Bemerkungen schweigend in sein Zimmer ging. Manchmal weinte er, das wusste Emma, auch wenn Philip sich immer bemühte, sich nicht beim Weinen erwischen zu lassen. Eine Mutter kennt ihr Kind.

Sie sieht auf, als die Tür sich öffnet. Das hat ihr noch gefehlt. „Hallo Annegret“, sagt sie.

Annegret antwortet nicht, sondern geht auf die andere Seite des Bettes, zieht sich einen Stuhl heran und setzt sich an das Bett ihres einzigen Sohnes. Sie streichelt über sein gelbes Gesicht, über seine Haare, die früher immer akkurat und kurz geschnitten waren. Tränen laufen ihre eingefallenen Wangen hinunter und sammeln sich in den tiefen Falten, die ihr Gesicht durchziehen. Mit verschleiertem Blick sieht sie Emma an. „Wie kann ein gesunder junger Mann von einem Tag auf den anderen so krank werden, dass er stirbt? Er ist doch Sportler und hat immer gesund gelebt. Wie kann seine Leber versagen, wo er doch nie Alkohol getrunken hat?“

„Nie? Das stimmt natürlich nicht. Rob hat gerne getrunken, besonders mit seinen elitären Freunden.“

„Was redest du wieder für einen Unsinn.“

„Er ist nicht nur einmal völlig betrunken von solchen Abenden nach Hause gekommen.“ Emma seufzt. Es ist sinnlos. Ihre Schwiegermutter hat nie ein Ohr, wenn ihr wundervoller Sohn kritisiert wird. Nur sie selbst darf ihn jederzeit kritisieren. In ihrer Gegenwart wurde der selbstsichere Rob oft wieder zum Kind. Es hat keinen Sinn, ihr zu erklären, dass Rob dunkle Seiten hat. Sie würde es sowieso nicht glauben und nur mit einer verächtlichen Geste wegwischen.

„Du hättest ihn eben besser unterstützen müssen. Wer hat denn für euren Wohlstand gesorgt? Du hast doch von seiner Karriere reichlich profitiert. Und Philip hätte sonst niemals auf die Eliteschule gehen können.“ Wie immer klingt Annegret giftig. Sie duldet keinen Widerspruch, schon gar nicht von ihrer Schwiegertochter. Sie fährt fort: „Und wie siehst du überhaupt aus? Man schämt sich ja deiner.“

Emma macht sich für ihre täglichen Besuche am Krankenbett nicht zurecht. Warum auch. Rob sieht sie nicht. Er würde sie nie wieder sehen. Sie blinzelt die Tränen fort, die hochwallen wollen und spart sich die Bemerkung, dass Philip auf einer anderen Schule vielleicht glücklicher wäre. Dass ihm der ganze Elite-Schnickschnack auf die Nerven geht. Naja, seit er in der Schulband spielt, ist es etwas besser geworden. „Ist ja gut, Annegret, lass uns nicht vor Rob streiten.“

Beide Frauen schweigen, beobachten den Monitor, das stete Auf und Ab der bunten Linien und vermeiden, sich anzusehen.

Eine Krankenschwester kommt grußlos herein und wechselt die Infusionsflasche. Sie wirft einen prüfenden Blick auf den Urinbeutel, holt ein großes Glasgefäß und lässt die stinkende braune Flüssigkeit hineinlaufen. Dann notiert sie etwas in der Krankenakte, bevor sie wortlos wieder verschwindet.

Emma erhebt sich. „Ich lasse dich mit Rob allein. Philip wird bald nach Hause kommen und ich möchte, dass er nicht allein ist und etwas Anständiges zum Mittagessen bekommt.“

„Wann lernst du endlich, dass er Robert heißt?“

„Er will so genannt werden, Annegret. Es ist sein ausdrücklicher Wunsch.“ Sie zieht ihre helle, warm gefütterte Lederjacke an, küsst Rob auf die trockenen Lippen und verlässt den Raum, der nach Krankheit und Tod riecht.

2. September 2019

Emma hörte den Schlüssel im Schloss der Haustür und eilte zum lichtdurchfluteten Eingangsflur, vorbei an einigen Farblithographien von Miro. Sie mochte sie nicht besonders, aber Rob hatte sie gekauft und aufwendig rahmen lassen. Das ganze Haus war modern und kühl eingerichtet. Emma hatte einmal abschätzig gesagt, die Atmosphäre sei so gemütlich wie ein Wartesaal erster Klasse. Das war am Anfang ihrer Ehe gewesen, damals hatte Rob es noch hingenommen, wenn sie Kritik an seinem Geschmack oder seinen Entscheidungen äußerte.

Er schätzte es, wenn sie ihm entgegenkam. Die Welt musste um ihn kreisen, damit er zufrieden war. Nein, das war so nicht ganz richtig. Wenn sie sich nicht um ihn drehte, war er unzufrieden. Also drehten die Welt und auch Emma sich um ihn, so gut sie konnten.

Schröder kam schwanzwedelnd aus der Küche gerannt. Als er Rob sah, duckte er sich und begrüßte ihn winselnd.

„Hallo, mein Schatz“, sagte Rob und legte seinen Mantel auf ihren ausgestreckten Arm. Als stummer Diener war sie perfekt. Das tägliche Ritual amüsierte Emma eher, als dass es sie störte. Danach bückte Rob sich, um den Weimaraner zu streicheln, der sich dabei sofort auf den Rücken warf. „Brav.“

„Hallo Rob, hattest du einen schönen Tag?“

Er sah sie stirnrunzelnd an. „Ich arbeite. Schöne Tage habe in meiner Freizeit.“

„Natürlich, eine dumme Floskel.“ Emma schrumpfte in sich zusammen.

„In der Tat.“

Sie ging voraus ins Esszimmer, wo sie den quadratischen weißen Designer-Tisch von Andrée Putman bereits liebevoll gedeckt hatte. In der Mitte des Tisches hatte sie aus Tannenzweigen, Kräutern, roten Beeren und Moos ein herbstliches Gesteck gestellt, das sie nach ihrem Waldspaziergang gebastelt hatte. Wenigstens etwas Warmes inmitten all der kühlen weißen Möbel. Sie hoffte, dass Rob sich darüber freute. Er hatte einen Blick für schöne Dinge. „Möchtest du erst einen Aperitif?“

„Du hast abgenommen“, sagte er anstelle einer Antwort.

„Wirklich? Die Waage sagt das Gegenteil.“ Sie sah an sich hinunter, befühlte ihren leicht gewölbten Bauch. Sie war schlank, aber keineswegs dünn. Ihre Kleidergröße 38 war für sie völlig normal. Wenigstens muss ich mir keine Sorgen um meine Figur machen, sagte sie gelegentlich zu der einzigen Freundin, die ihr geblieben war.

„Aber du wirst abnehmen, wenn du weiterhin wie ein Spatz isst. Du bist kein gutes Vorbild.“ Er musterte Emma missbilligend von oben bis unten.

Sie lachte leise, was ihr einen strafenden Blick von Rob eintrug. „Sieht Philip auch aus, als hätte er abgenommen?“, fragte sie.

„Woher soll ich das wissen? Ich sehe den Jungen ja fast nie.“

„Du bist eben selten zu Hause, wir vermissen dich.“

„Ach, ich will nicht streiten.“ Das war neu, eigentlich wollte er immer streiten. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“ Er zog ein kleines rechteckiges Päckchen aus seiner Aktentasche und reichte es Emma. „Alles Liebe zum Hochzeitstag.“

Herrje, den hatte sie völlig vergessen. Sie dachte eher erneut über eine Trennung nach, wie jedes Mal, wenn sie sah, dass Philip unglücklich war. Gleichzeitig genoss sie es, wenn Rob sie mit Zärtlichkeit bedachte. „Danke“, stammelte sie und nahm es entgegen.

Rob streichelte ihr Gesicht und beobachtete sie aufmerksam, während sie die Schleife öffnete und das Papier anschließend vorsichtig entfernte.

„Ein Tagebuch?“ Das Buch sah aus wie die Poesiealben, an die sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte, nur etwas größer.

„Ja, klar.“ Rob strahlte.

„Ich schreibe doch kein Tagebuch.“

„Noch nicht, aber ab jetzt schon. Jeden Abend ein Resümee des Tages. Das wird dir Freude machen.“ Er kitzelte Emma hinter den Ohren und sie kicherte, als sie sich an ihn schmiegte.

„Trotzdem ist das ein merkwürdiges Präsent, aber danke, es ist so lieb, dass du daran gedacht hast.“

„Genial, oder? Es war ein echter Geistesblitz.“

„Natürlich, es kann nur genial sein, wenn es von dir ist.“

Rob überhörte ihre Ironie und nickte versonnen. „Da hast du völlig recht.“

„Wo ist der Haken?“

„Liebling, ich brauche keinen Haken, ich brauche nur dich.“ Sein Lächeln war das eines kleinen, selbstbewussten Jungen. Was hatte er davon, ihr ein Tagebuch zu schenken? Sie fragte nicht laut, sondern legte es auf das weißlackierte Sideboard im Esszimmer. „Jedenfalls danke ich dir. Und ich finde den Haken schon noch.“ Dabei drohte sie ihm spielerisch mit dem Zeigefinger vor seiner Nase. Rob tat so, als schnappe er nach ihrem Finger und erwischte ihn mit seinen Lippen, saugte daran und ließ seine Zunge darum kreisen. Emma lief ein wohliger Schauer über den Rücken.

Rob setzte sich, immer noch grinsend, an den Esstisch, hob ein Weinglas gegen das Licht und betrachtete es prüfend. Zwei steile Falten erschienen zwischen seinen Augenbrauen. „Du hast den ganzen Tag nichts zu tun. Ist es zu viel verlangt, dass du die Weingläser polierst, bevor du sie auf den Tisch stellst? Du könntest auch Ludmilla besser beaufsichtigen, für die ich ja viel Geld bezahle.“ Seine Stimme war ruhig, fast bedächtig.

Wie immer staunte Emma, dass seine Stimmung so plötzlich wechseln konnte.

„Isst Philip nicht mit uns?“ Er stellte das Glas zurück auf den Tisch und setzte sich an seinen Platz an der Stirnseite des Tisches.

„Er ist beim Sport.“

Philip spielte in der Basketballmannschaft, seit er auf das private Gymnasium am Waldfriedhof gewechselt war. Rob schätzte jede Form von Sport. Dazu gehört Disziplin, pflegte er zu sagen. Emma griff sich die Gläser und eilte damit in die Küche, bevor Rob noch weitere Fragen stellen konnte. Seine Laune war so gut gewesen, aber jetzt drohte sie zu kippen.

Sie servierte die Vorspeise und goss Wein in die Gläser, die sie in der Küche schnell nachpoliert hatte.

Schweigend aßen sie Jakobsmuscheln und tranken dazu den trockenen Silvaner. Emma betrachtete ihren Mann verstohlen aus den Augenwinkeln, suchte ein erneutes Lächeln oder einen anerkennenden Blick. Sein Gesicht war ausdruckslos. Die dunklen Augen scannten den Teller, auf den er unablässig starrte. Er ärgerte sich immer noch über die unpolierten Gläser. Das wusste sie aus langer Erfahrung.

Seufzend räumte sie ab und holte die Hauptspeise. Sie legte auf jeden Teller einen Knödel und füllte Fleisch und Soße auf. „Vorsicht, die Knödel sind etwas zu fest geworden.“

„Ja, ja, ich esse schon seit Jahrzehnten unfallfrei mit Messer und Gabel. Was ist das bei den Semmelknödeln?“

„Kalbsbäckchen und Pilze in Rahmsoße.“

„Warst du Pilze sammeln?“, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Hast du zu viel Zeit?“

„Schröder musste sowieso raus, da hab ich einfach den Korb mitgenommen. Nach dem Regen der letzten Wochen gab es reichliche Beute.“ Ihre Augen leuchteten. Sie liebte den Wald und das Sammeln. Sie kannte sich gut aus, sammelte schon seit ihrer Kindheit. In die Pilze gehen, nannte sie es. Sie wusste, dass Rob es im Grunde schätzte, wenn sie Zeit in ihrem Wald verbrachte.

„Du wärst auch ohne Schröder gegangen. Gib es zu.“ Doch er lächelte endlich wieder.

Sie lachte leise in sich hinein. „Vielleicht, aber natürlich nur, weil ich weiß, wie gerne du Pilze in Rahmsoße isst.“ Ihr war jeder Grund recht, um Pilze zu sammeln, und wenn sie es für Rob machte, streichelte sie damit sein Ego. Das konnte nie schaden und sie machte es gern.

„Okay“, murmelte Rob, nahm die Gabel und versuchte mit Schwung, den Knödel damit zu halbieren.

„Vorsicht“, rief Emma, aber der Kloß machte sich selbstständig und wich der Gabel aus, die scheppernd auf dem Teller statt im Knödel landete. Rob sah mit offenem Mund hinter dem Knödel her, der wie ein Geschoss quer über den Tisch auf den Boden flog und direkt vor Schröders Nase liegen blieb. Der fackelte nicht lange, schnappte sich die unverhoffte Leckerei und verschwand damit in seinem Körbchen. Sekunden später war das Corpus Delicti nicht mehr nachweisbar.

Emma kicherte und hielt sich die Hand vor den Mund.

Rob sprang auf. Als sein Stuhl polternd hinter ihm umkippte, war es um Emmas Beherrschung geschehen und sie prustete los.

„Bist du noch ganz bei Trost?“, brüllte Rob. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge verzerrten sich vor Zorn.

Emma verging das Lachen. Sie kroch auf ihrem Platz in sich hinein, saß mit dem Kopf zwischen hochgezogenen Schultern und sah Rob ängstlich an, bereit jederzeit aufzuspringen und zu fliehen. Diesmal hatte sie Glück. Sie sah ihm nach, wie er breitbeinig, mit hochgerecktem Kopf den Tisch verließ und die weiße Treppe mit dem polierten Chromgeländer hinauf polterte.

„Mann, es war doch nur ein blöder Knödel“, flüsterte sie hinter ihm her. Es zu rufen, wagte sie nicht.

Als seine Zimmertür zuknallte, atmete Emma auf. Der Abend hatte so schön begonnen, aber wie so oft hatte eine Kleinigkeit Rob aus der guten Stimmung geworfen. Eilig räumte sie das Geschirr ab und beseitigte die Spuren des Knödels von den Bodenfliesen. Das Essen würde sie einfrieren. Der Appetit war ihr vergangen und morgen durfte sie es nicht erneut servieren. Rob fand es völlig unzumutbar, an zwei Tagen hintereinander das Gleiche zu essen. „Ich arbeite hart und du hast nichts weiter zu tun, als dieses Haus in Ordnung zu halten und zu kochen. Dazu hast du noch eine Haushaltshilfe. Das kann unmöglich zu viel verlangt sein“, pflegte er zu sagen.

Vielleicht ging er früh zu Bett. Sie war davon überzeugt, dass er sie damit strafen wollte. Vermutlich würde er tot umfallen, wenn er wüsste, dass sie nach solchen Ausbrüchen erleichtert über sein Verschwinden war. Sie kannte ihn und hatte gelernt, ihn zu beobachten, seine Mimik zu deuten. Manchmal gelang es ihr so, das Schlimmste zu verhindern und manchmal, wenn er zärtlich und fröhlich war, strömte sie immer noch über vor Liebe. Sie hatten jeder ein eigenes Schlafzimmer und zusätzlich ein gemeinsames, das sie meist nutzten. Heute würde sie allein schlafen.

Eins war sicher: Das war das mysteriöseste Hochzeitstagsgeschenk, das die Welt je gesehen hatte. Sie nahm es in die Hand und schlug die erste Seite auf. In goldenen Buchstaben stand dort gedruckt: Für geheime Gedanken.

Rob gönnte ihr Geheimnisse? Das war in der Tat kaum zu glauben. Trotzdem war sie gerührt und schämte sich, selbst kein Geschenk besorgt zu haben.

6. September 2019

Die Wasseroberfläche glitzerte im Licht der Herbstsonne, die durch das Glasdach ihres Indoor-Pools schien. Emma zog seit einer halben Stunde ihre Bahnen und ließ die Gedanken fließen.

Rob war fröhlich gewesen, als er heute früh aufbrach. „Denk daran, dass wir heute Abend zum Opernball im Kieler Schloss gehen. Zieh das rote Kleid an, das ich dir gekauft habe“, hatte er gesagt, „und vergiss nicht, irgendwann mal dein Tagebuch zu benutzen.“ Er wusste nicht, dass sie längst damit angefangen hatte, ihre gleichförmige Tagesroutine aufzuschreiben.

Sie hasste das rote Kleid. Es war tief ausgeschnitten und zeigte zu viel Dekolleté für ihren Geschmack. Sie fühlte sich darin immer vorgeführt. Rob zeigte sich gern mit ihr. Gleichzeitig wachte er eifersüchtig darüber, dass sie mit niemandem flirtete. Leider wusste sie nie genau, was für ihn ein Flirt war. Schon ein alltägliches Gespräch mit einem Mann konnte der Anlass dafür werden, dass sie zu Hause zu hören bekam, sie hätte sich wie eine Hure aufgeführt und es hätte ihr gefallen, dass man ihr in den Ausschnitt gestarrt hatte. Als ob es da viel zu sehen gäbe. Ihre kleinen Brüste präsentierten kein hübsches Dekolleté, allenfalls knochige Schlüsselbeine. Wenn sie sich seine Vorwürfe schweigend anhörte und sich nicht verteidigte, wurden seine Augen zu bösartigen Schlitzen und er beschimpfte sie so lange, bis sie endlich in Tränen ausbrach, ihm versicherte, dass sie nur ihn liebte und es ihr schrecklich leid täte.

Wenn sie es jedoch wagte, ihm zu widersprechen, explodierte er meist auf der Stelle. Das letzte Mal hatte sie nur die Flucht ins Badezimmer vor seiner Aggressivität gerettet. Er konnte ziemlich brutal sein, wenn er zornig war. Einmal hatte er sogar versucht, die Tür einzutreten, als sie sich eingeschlossen hatte. Dass ihm das nicht gelungen war, hatte ihn nur noch wütender gemacht. Er hatte sie noch nie so geschlagen, dass sie ernsthaft verletzt worden wäre. Trotzdem machten seine Ausbrüche ihr Angst. Vor allem die Angst, dass er eines Tages ihrer überdrüssig werden könnte. Sie liebte ihn und wollte ihn auf keinen Fall verlieren, trotz aller Probleme.

Emma seufzte und bekam Wasser in den Mund, hustete und prustete, schwamm zum Beckenrand und kletterte an der Leiter hinaus. Genug für heute.

Sie duschte eiskalt und zog sich danach vor dem großen Spiegel an. Die blauen Flecken an beiden Oberarmen waren noch immer ein wenig zu sehen. Die würde sie überschminken müssen. Rob wurde nicht gern an seine eigene Unbeherrschtheit erinnert. Emma verstand bis heute nicht, warum er ihr jedes Mal Vorwürfe machte, wenn sie Spuren seiner Wutausbrüche trug. Gut, wenn sie ihn nicht provoziert hätte, hätte er sie vermutlich nicht so heftig gepackt. Sie musste noch viel vorsichtiger werden. Nein, sie hatte bestimmt nicht abgenommen. Ihre kleinen Brüste gefielen ihr, wenn sie kein ausgeschnittenes Kleid tragen musste, weil sie ihm gefielen. „Ein kleines entzückendes Händchen voll, nichts für Holzfällerpranken“, sagte Rob manchmal anerkennend. Er machte ihr aber auch unmissverständlich klar, dass er nicht dulden würde, wenn sie zunähme oder sich sonst irgendwie gehen ließe. Vielleicht müsste sie eines Tages einen Schönheitschirurgen bemühen. Hoffentlich noch nicht so bald.

„Schröder!“, rief sie und der Hund kam sofort fröhlich angesprungen, rannte zur Leine und wieder zu Emma zurück. „Gassi?“ Schröder machte einen Luftsprung, drehte sich um sich selbst, rannte erneut zur Leine, blieb dann hechelnd davor stehen und sah Emma erwartungsvoll an.

„Perfektes Wetter für einen Pilzspaziergang“, sagte sie und nahm die Leine.

Ludmilla kam aus der Küche. „Soll ich etwas fürs Mittagessen vorbereiten, Frau Scharfing?“

„Philip kommt um zwei aus der Schule, machen Sie doch bitte einen Pfannkuchenteig. Sollte ich nicht rechtzeitig zurück sein, machen Sie ihm Pfannkuchen mit Apfelmus.“

„Mache ich“, sagte Ludmilla und verschwand in der Küche. Sie war der gute Geist der Villa. Selbst mit ihr gemeinsam war es schwer, alles in Schuss zu halten. Rob hasste Schmutz und Unordnung, und jedes einzelne Staubkorn, das es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen, war ihm zuwider. Ludmilla brauchte keine weiteren Anweisungen. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Sie waren ein gutes Team geworden.

Die Blätter fingen an, sich bunt zu färben und der Waldboden reflektierte die wenigen Sonnenstrahlen, denen es gelang, das dichte Laub zu durchdringen. Schröder schnupperte konzentriert den aufregenden Spuren im Moos hinterher. Er war zwar ein Jagdhund, aber er musste nicht angeleint werden. Emma konnte sich darauf verlassen, dass er jederzeit abrufbar war. Selbst der Hund wagte es nicht, sich Robs Anordnungen zu widersetzen. Emma kannte niemanden, der das wagte. Sie selbst war nicht immer konsequent in Schröders Erziehung, dennoch gehorchte er auch ihr zuverlässig. Außerdem gehörte das Waldstück ihr, und niemand konnte ihr vorschreiben, den Hund anzuleinen. Es war seit ewigen Zeiten im Besitz der Familie Scharfing gewesen und Rob hatte es ihr zur Hochzeit vor sechzehn Jahren mit einer feierlichen Urkunde geschenkt. Sie war zwar nie ins Grundbuch eingetragen worden. Ihr war das aber nicht so wichtig. Es war und blieb ihr Wald. Er war circa 25 Hektar groß und jeden Herbst beschenkte er sie mit reicher Pilzernte. Allerdings war bei der Schenkung festgelegt worden, dass er zurück in den Familienbesitz fallen würde, sollte die Ehe geschieden werden.

Emma verließ den Weg und ließ ihren geübten Blick über den Waldboden schweifen. Die Laubbäume waren hohen Fichten gewichen, die hier noch weniger Licht auf das dunkelgrüne Moos fallen ließen. Sie würde Maronen und vielleicht auch Steinpilze finden, sie kannte die Stellen. Und da waren sie auch schon. Drei prächtige Exemplare des Boletus Edulis schauten mit braunen Hüten aus ihrem grünen Moosbett am Fuß eines alten Baumstumpfs hervor. Sorgfältig zog sie die Pilze einzeln heraus, entfernte mit dem Pilzmesser Moosreste und das haften gebliebene Myzel, bevor sie sie vorsichtig in den Korb legte.

Auf einem Fichtenstumpen, nicht weit entfernt, wuchsen eine Menge gelber kleiner Pilze. Interessiert bückte Emma sich und pflückte einen, um ihn näher zu betrachten. Der silbrig überfaserte Stiel verriet ihr, dass es sich um einen Gifthäubling handelte. Es war wichtig, den zu erkennen, besonders wenn man Stockschwämmchen sammelte, die ihm auf den ersten Blick sehr ähnlich waren. Emma nahm etliche davon mit, um sie zu Hause zu mikroskopieren. Sie liebte Pilze und interessierte sich nicht nur für die essbaren Arten. Sie gehörte nicht zu denen, die nur Maronen, Steinpilze und Pfifferlinge kannten. Der Hund kam und schnupperte interessiert an den Pilzen, die kaum größer als acht Zentimeter waren. „Keine gute Idee, Schröder. Wenn du die frisst, dann wirst du vermutlich sterben“, sagte Emma und schob ihn mit einem energische Pfui beiseite.

Sie atmete tief die würzige Waldluft ein. Es war wohltuend still. Nur das leise Rauschen des Windes in den Baumwipfeln war zu hören und gelegentlich warnte ein Eichelhäher die Waldbewohner vor der vermeintlichen Gefahr durch den Eindringling.

Der Korb war inzwischen gut gefüllt. Schröder hatte sich ausgetobt und lief hechelnd an ihrer Seite. Emma sah auf die Uhr. Es war bereits kurz vor eins und sie machte sich gemächlich auf den Weg nach Hause.

Philip saß auf dem weißen Ledersofa und tippte auf seinem Smartphone herum. Er sah kurz auf. „Hallo, Mama.“

„Hallo, mein Schatz. Du bist schon zu Hause?“

„Wie du siehst.“

Emma betrachtete ihn zärtlich. Seine dunklen Locken umspielten die noch kindlichen Züge. Die grünen Augen hatte er auch von ihr. Nur die gerade lange Nase erinnerte an Rob. Sie gab ihm ein griechisches Profil und wieder einmal musste Emma an Apoll denken, obwohl sie sich den griechischen Gott der Künste eher sonnengebräunt vorstellte, während ihr Sohn sehr blass war. „Geht es dir nicht gut, Philip?“, fragte sie ihn.

„Ich habe mich in der Schule übergeben. Dann hat mich mein Mathelehrer nach Hause geschickt.“

Er ließ sich mal wieder jedes Wort aus der Nase ziehen. Verschlossen wie eine Auster. Emma ließ nicht locker. „Hast du etwas Falsches gegessen? Du weißt, dass dein Vater es nicht leiden kann, wenn du dich mit Süßigkeiten vollstopfst. Und ich finde es auch nicht besonders gut.“

Er antwortete nicht, sondern sagte stattdessen: „Wir haben Mathe wieder.“

„Und?“

„Ich hab’s verhauen.“

„Ohje, ich dachte, du hast gut geübt.“

„Nicht gut genug, offensichtlich. Ich hab eine Fünf.“ Sein Gesicht verzog sich bei diesen Worten und er sah aus, als würde er gleich weinen.

„Vielleicht hast du Glück und er fragt nicht danach.“

Daran glaubte sie allerdings selbst nicht. Emma wusste warum und nahm Philip in den Arm. Die Fünf war ärgerlich, aber der eigentliche Grund war die Angst vor seinem Vater.

„Er wird fragen, das macht er immer.“ Leider hatte Philip damit recht. Rob akzeptierte keine Note, die schlechter als zwei war. Eine Fünf würde mindestens einen verbalen Tobsuchtsanfall provozieren.

Jetzt war Emma auch klar, warum der Junge sich erbrochen hatte. Jeder Kummer und auch Angst bereiteten ihm Übelkeit. Ihm war oft übel. Es war schon in der Kindheit so gewesen, als er am ersten Schultag mit Hornbrille so verloren dagestanden hatte, den Blick starr auf seinen Vater gerichtet. Am Abend davor hatte sich der Junge Robs Vortrag angehört, wie wichtig es war, gute Leistung zu bringen. Ich erwarte von dir Fleiß und Arbeit, damit ich stolz auf dich sein kann. Herrgott, das Kind war erst sechs Jahre alt gewesen.

Sie setzte sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Schulter. „Papa meint es ja nur gut mit dir. Er will, dass du Erfolg in allem hast, was du tust. Er liebt dich und will stolz auf dich sein.“

„Er liebt nur sich selbst“, sagt Philip. „Das weißt du genauso gut wie ich.“ Seine Mundwinkel waren mürrisch nach unten gezogen, oder war es verächtlich? Emma war nicht ganz sicher.

„Unsinn, natürlich liebt er auch dich und mich. Komm mit in die Küche, ich backe dir ein paar Pfannkuchen. Ludmilla hat den Teig zusammengerührt.“

„Ich habe keinen Hunger. Um vier gehe ich zu Tommy.“

„Wie du meinst. Heute Abend sind Papa und ich unterwegs. Sei bitte trotzdem um neun zu Hause. Morgen hast du früh Schule.“

„Okay.“

„Und bitte denk daran, das Handy lautlos zu stellen, wenn dein Vater da ist.“

„Klar.“

Schröder hatte es sich zu Philips Füßen bequem gemacht. Emma verließ die beiden und suchte Ludmilla, um zu fragen, was sie bereits geschafft hatte und wo es noch etwas zu tun gab.

Rob pfiff falsch und laut einen alten Gassenhauer. Seine Laune war hervorragend und er sah umwerfend gut aus. Die breiten Schultern und der immer noch muskulöse Bauch ließen ihn jünger als 48 aussehen. Er nahm Emma, nackt wie sie war, in den Arm und küsste sie zärtlich auf den Mund. „Du wirst die Königin der Nacht sein, Liebling.“

Einen Moment lang kuschelte sie sich an seinen ebenfalls nackten Oberkörper, genoss die wärmende Nähe und seine gute Laune. „Quatsch, Rob, rede keinen Unsinn“, sagte sie dann. Sie rubbelte sich die Haare trocken. Die kurzen Locken brauchten kein aufwendiges Föhnen. Er gab ihr einen zärtlichen Klaps auf den Po und Emma kicherte. Manchmal war er so wie früher, als sie sich in den schicken Orthopäden verliebt hatte. Eine Welle von Zärtlichkeit durchströmte sie. „Gehst du im Smoking?“, fragte Emma, während sie sich anzog.

„Klar, ich will ja zu meiner schönen Frau passen.“

Sie wusste, dass er sich gern mit ihr schmückte. In der Öffentlichkeit war er immer entzückend zu ihr, erzählte jedem, der es hören oder nicht hören wollte, von ihrer Klugheit und wie stolz er auf sie war. „Meine Frau kann hervorragend kochen, wie im Sternerestaurant“, sagte er gern. Oder manchmal auch: „Habe ich nicht die schönste Frau der Welt?“ Ihr war das ziemlich peinlich, aber wenn Rob ihr dann ins Ohr flüsterte, wie süß er es fand, dass sie rot wurde, war sie wieder versöhnt.

„Soll ich wirklich das rote Kleid anziehen?“, fragte sie. „Es ist sehr weit ausgeschnitten und dann noch der lange Schlitz an der Seite, mir ist gar nicht wohl dabei.“