Buddha, Maus und Grinsekatze - Dagmar Schmidt - E-Book

Buddha, Maus und Grinsekatze E-Book

Dagmar Schmidt

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Beschreibung

Als der siebzehnjährige Philip nach einer durchtanzten Nacht in einem verdreckten Verlies zu sich kommt, glaubt er zunächst an einen Scherz seiner Freunde. Aber die schwere Stahltür ist verschlossen und er ist eingesperrt. Die Entführer sind als Buddha und Grinsekatze maskiert und meinen es ernst, auch wenn sie sich dabei ziemlich ungeschickt anstellen. Seine Mutter und die Polizei versuchen ihn zu finden und die Bank organisiert das Lösegeld. Aber der gewitzte Junge entwickelt einen eigenen Plan, um die tollpatschigen Entführer zu überlisten. Er muss nur schlauer sein als Buddha und die Grinsekatze.

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Buchbeschreibung

Als der siebzehnjährige Philip nach einer durchtanzten Nacht in einem Club in einem verdreckten Verlies zu sich kommt, glaubt er zunächst an einen Scherz seiner Freunde. Aber die schwere Stahltür ist verschlossen und er ist eingesperrt. Die Entführer sind als Buddha und Grinsekatze maskiert und meinen es ernst, auch wenn sie sich dabei ziemlich ungeschickt anstellen. Seine Mutter und die Polizei versuchen ihn zu finden und die Bank organisiert das Lösegeld. Aber der gewitzte Junge entwickelt einen eigenen Plan, um die tollpatschigen Entführer zu überlisten. Er muss nur schlauer sein als Buddha und die Grinsekatze.

Autorin

Dagmar Schmidt, Jahrgang 1953, lebt mit ihrem Partner in Schleswig-Holstein. Sie schreibt heitere oder nachdenkliche Lyrik und Prosa, meist inspiriert durch persönliche Erlebnisse. Der intensive Umgang mit Sprache ist ihre Leidenschaft. Besonders das Spiel mit Situationskomik macht ihr Freude. Seit 2018 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Dies ist ihr fünfter Roman, der die Charaktere des Sozialdramas 'Der gläserne Käfig' wieder lebendig werden lässt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Nachwort

Leseprobe

Kapitel 1

Vorsichtig öffnete er die Augen. Kacke, wo war er? Der Geruch nach modrigem Keller und verfaultem Abfall war ekelerregend. Philip stöhnte. Er versuchte, sich aufzurichten und zuckte zusammen. Seine linke Schulter tat grausam weh und in seinem Kopf pochte ein höllischer Schmerz. Je wacher er wurde, desto mehr peinigte ihn der widerliche Gestank, der wabernd den Raum füllte. Er unterdrückte einen Würgereiz. Er hatte keinen Schimmer, was passiert war. Das Letzte, woran er sich erinnerte: dass er im ›Enjoy‹ bei der lauten Musik von Rammstein abgefeiert hatte. Außerdem war da noch Jenna gewesen. Und danach war alles schwarz.

Er stützte sich mit den Händen auf die versiffte Matratze, setzte sich auf und sah sich um. Vermutlich war er in einem Kellerraum. Hoch über ihm fiel Tageslicht durch ein schmales Fenster. Er konnte dennoch nicht weit hinaussehen, sondern lediglich ein Stück Mauer und ein wenig blauen Himmel erblicken. Neben seiner Matratze entdeckte er eine kleine Nachttischlampe mit einem rosafarbenen Stoffbezug. Seine Großmutter Annegret hatte so eine ähnliche an ihrem Bett, die er genauso scheußlich fand. In der gegenüberliegenden Ecke standen ein großer Blecheimer und daneben einige Getränkeflaschen aus Plastik. Wasser und Cola. Philip erhob sich, ging zu der grauen Metalltür, die er wegen des aufgetürmten Mülls an der Wand jetzt erst entdeckt hatte, und rüttelte daran. Sie war natürlich verschlossen.

»Hey, aufmachen, lass mich hier raus!« Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür und trat dagegen, bis ihm Hände und Füße wehtaten. Dabei trommelte sein Herz so heftig, dass er es bis in die Ohren spürte.

Irgendein Spacko hatte ihn eingesperrt, aber wer und vor allem: Warum? »Atme langsam und tief ein und aus, wenn du Angst hast«, hatte seine Therapeutin ihm damals gesagt. Das war nach dem Tod seines Vaters gewesen. Er versuchte, das Zittern in den Griff zu bekommen. Vergeblich! Das tiefe Atmen half kein bisschen. Er glaubte sowieso nicht an diese ganze Psycho-Kacke. Aber seine Mutter hatte darauf bestanden. Es blieb dabei: Er hatte eine Scheißangst.

Außerdem musste er pinkeln. Eine Toilette gab es nicht, aber lange konnte er es nicht mehr halten. In dem Blecheimer war etwas Wasser. Gut gegen den Geruch, erinnerte sich Philip und spürte die Entspannung, als er sich endlich erleichterte. Angewidert betrachtete er den Eimer. Jedenfalls würde er definitiv so lange wie möglich darauf verzichten, ihn für weitere Geschäfte zu nutzen. Er holte ein Stück Pappe, das er im stinkenden Gerümpelhaufen rechts an der Wand gefunden hatte, und deckte damit den Eimer ab, so gut es ging.

Mitten in all dem Müll lagen mehrere angeschimmelte Decken. Philip trat näher und schnupperte. Der Gestank wurde heftiger, und dann entdeckte er eine halb verweste Ratte, die zwischen einigen verrosteten Farbdosen gammelte. Pfui Teufel, war das ekelhaft! Er nahm sich einen kleineren Karton und bugsierte das übel riechende Tier mithilfe einer der leeren Dosen hinein. Wieder überkam ihn Übelkeit, heftiger als zuvor. Er stürzte zum Eimer und würgte gelbe Galle hervor. Langsam atmen, befahl er sich. Er stopfte den Karton mit der Ratte in eine Plastiktüte, die auf dem Boden herumlag, und wickelte sie zusammen, so fest er konnte. Selbst durch die Tüte hindurch fühlte sich das Vieh widerlich an. Schwammig und knochig zugleich. Danach warf er das Bündel angewidert zu einigen Kartons in der Ecke. Vielleicht würde das den Gestank ein wenig abhalten. Er sah erneut zu dem Fenster hoch. Ohne Leiter oder zumindest einen Stuhl konnte er es nicht erreichen. Nur kurz dachte er an seine Mutter, die immer verlangte, er solle sein Zimmer lüften. »Musst du immer in deinem eigenen Mief sitzen?«, fragte sie oft und nervte damit nicht nur ihn, sondern auch seine Freunde. Was würde er darum geben, jetzt dieses Fenster öffnen zu können.

Er ging zurück zu dem Müllhaufen und untersuchte ihn erneut mit spitzen Fingern. Er brauchte einen großen Stein oder einen Stock. Quatsch, Stock nützte nichts. Wie sollte er damit eine Scheibe einschlagen? Verdammt, war das eklig!

Er gab auf. Ihm war inzwischen schon wieder übel, wenn auch nicht ganz so heftig wie vorhin. Später würde er noch einmal schauen.

Warum war er hier? Er verstand das nicht. Vielleicht wollte einer seiner Kumpels ihn pranken. Ist dir voll gelungen, Digga, dachte Philip böse und holte sich eine der Getränkeflaschen. Damit ließ er sich zurück auf die alte Matratze fallen. Für einen Moment beruhigte ihn der Gedanke, dass es seine Kumpel gewesen sein könnten oder wenigstens einer von ihnen. Er öffnete die Cola und ein Sprühstrahl ergoss sich über sein T-Shirt.

»Fuck!«, murmelte er und wischte mit den Fingern über das nasse Shirt. Er trank durstig, bevor er die Flasche wieder zudrehte und neben sein Lager stellte. Wenn er wenigstens seine Gitarre hätte. Aber hier gab es nichts, außer seinen kreisenden Gedanken und seiner wachsenden Angst. Das Handy – er hatte überhaupt nicht an sein Handy gedacht. Sein Herz schlug bis zum Hals, während er fieberhaft seine Hosentaschen durchsuchte. Enttäuscht sank er zurück auf sein Lager. Das neue Smartphone, ein Geschenk seiner Mutter, war nicht mehr da.

»Als Belohnung dafür, dass du in der Schule jetzt so gut mitmachst«, hatte sie gesagt. Dabei war es nicht schwer gewesen aufzupassen und sich am Unterricht zu beteiligen, denn aus irgendeinem Grund machte die Schule ihm Spaß, seit sein Vater vor zwei Jahren unter merkwürdigen Umständen gestorben war. Mama hatte ihn damals verdächtigt, Rob vergiftet zu haben. Er schüttelte bei dem Gedanken an diese Zeit den Kopf. Inzwischen war er ihr nicht mehr böse deswegen, aber anfangs hatte es ihn sehr verletzt.

Jetzt, wo Rob tot war, ging es ihnen viel besser. Niemand mehr, vor dessen Launen und Tobsuchtsanfällen man Angst haben musste. Mama taute allmählich auf. Ihr neuer Freund Max war cool. Mit dem gab es keine Probleme. Philip hoffte, dass er bald ganz zu ihnen ziehen würde. Er hatte immer ein offenes Ohr, er verstand ihn.

Chemie und Mathe fand Philip mega. Jenna behauptete immer wieder, dass er nur wegen der jungen Referendarin, die seit Beginn des Schuljahres beide Fächer unterrichtete, zum Musterschüler geworden war. Aber das stimmte nicht. Okay, die Senner war tatsächlich heiß, aber der Stoff interessierte ihn auch dann, wenn der alte Bormann Vertretung hatte. Das war doch wohl Beweis genug.

Die Kopfschmerzen hämmerten inzwischen weniger stark, er spürte nur noch einen dumpfen Druck hinter der Stirn. Er erinnerte sich nicht, besonders viel getrunken zu haben. Schließlich hatte er ja gar keine Zeit zum Trinken gehabt. Aber was bedeutete schon Erinnerung, wenn man einen Blackout hatte. Er wollte nicht noch länger in diesem stinkenden Drecksloch sitzen. Wenn er den Sack erwischte, der ihn hierher gebracht hatte, dann gnade ihm Gott.

Draußen begann es zu dämmern. Das kleine Stück blauer Himmel war einem dumpfen Grau gewichen. Er war also schon einen ganzen Tag in diesem verfickten Gefängnis, ohne zu wissen, wo er sich befand. Was war das überhaupt für ein Raum? Er schaute auf seine Uhr. Verdammt! Die hatte man ihm natürlich auch gestohlen. Er spürte, wie ihm die Augen zufallen wollten, und dachte noch im Einschlummern, dass Schlafen sicherlich die beste Methode war, der Angst zu entkommen.

Kapitel 2

Eine Woche zuvor

Wie hatte er nur so dämlich sein können, diese Dumpfbacke in seinen Plan einzuweihen? Natürlich brauchte er einen Partner, aber Sid war dumm wie Brot. Außerdem war er viel zu weich und er plapperte ohne Pause. Sein ständiges Geschwätz ging Louis gewaltig auf die Eier, sodass er kurz davor war, die Nerven zu verlieren und alles abzublasen.

»Was, wenn wir erkannt werden? Was machen wir mit dem vielen Geld? Was, wenn wir erwischt werden? Was, wenn der Junge die SMS nicht liest?« Aber natürlich konnte er es nicht abblasen. Das würde seine Maus niemals erlauben.

Er schüttelte den Kopf und ging in den hinteren Flur, öffnete den kleinen Metallschrank, der eigentlich als Medizinschrank gedacht war, und holte die SIG Sauer P226 heraus. Sie glänzte schwarz in seiner Hand und er strich zärtlich über den Lauf der Waffe. Er musste unbedingt üben, damit zu schießen. Ob er sie wirklich nutzen würde, wusste er nicht, aber er wollte vorbereitet sein. Seine Erfahrung in dieser Hinsicht beschränkte sich auf die lange zurückliegende Zeit beim Bund und auf gelegentliche Jahrmarktbesuche. Dort war es ihm fast immer gelungen, eine Plastikrose zu gewinnen. Einmal war es sogar eine Flasche Schampus.

Ihr waren solche banalen Jahrmarktbesuche viel zu kindisch. »Dann könnten wir ja gleich eine Runde Kinderkarussell fahren.« Damit hatte sie sicherlich recht. Auf keinen Fall würde er zugeben, dass er recht gern Kettenkarussell fuhr. Mausi war ein Hauptgewinn, auch wenn es ihr an Humor fehlte. Aber sie war klug, ideenreich und kniete sich in alles hinein, was sie plante. Und sie war sexy. Ihre ständigen Ideen zu immer neuen Spielchen hielten Louis bei der Stange, auch wenn Mausis Wünsche manchmal absurd waren. Neulich hatte sie vorgeschlagen, gemeinsam in einen Swingerklub zu gehen. Das ging ihm dann allerdings doch zu weit. Er war ja für vieles offen. Aber zusehen, wie seine Maus jemand anderen vögelte, das würde er auf keinen Fall ertragen. Sie hatte nur mit den Achseln gezuckt und eine Weile hatte er befürchtet, sie würde ohne ihn gehen.

Von ihr kam auch sein Spitzname King Louis. Sid hatte ihn sofort begeistert übernommen und dennoch war Louis keineswegs sicher, dass seine Maus ihn als Kompliment gemeint hatte.

»Gib diesem kleinen Idioten bloß nicht die Waffe in die Hand.« Mausi war sehr skeptisch, was Sid anging. Sie hatte deswegen gezetert und ihn mit einem schweren Teller beworfen. Zum Glück konnte sie, wie die meisten Frauen, nicht gut werfen. Er grinste bei der Erinnerung an den Kartoffelbrei, der langsam von der Wand seiner Küche gerutscht war. Natürlich hatte sie ihm nicht geholfen, die Schweinerei wieder in Ordnung zu bringen. »Bin ich deine Putzfrau?« Anschließend jammerte sie über den kaputten Teller, obwohl es ja nicht ihrer gewesen war. Weibliche Logik! Sie hielt ihm außerdem einen Vortrag darüber, dass Frauen sehr wohl gut werfen konnten und dass er mal seinen Grips bemühen solle. Schließlich gebe es Profi-Handballerinnen. Ob er vielleicht glaube, die hätten alle einen Mann, der ihnen den Ball ins Tor trägt?

Sid würde er die Waffe jedenfalls tatsächlich nicht in die Hand geben. Der war doch glatt in der Lage, sich selbst in den Fuß zu schießen. Oder, schlimmer noch: ihm.

Im Vorratsschrank hatte er seit Wochen leere Konservendosen gesammelt. Nun warf er sie alle in einen großen blauen Sack und steckte die Pistole in seinen Hosenbund, nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass sie gesichert war.

»Was hast du vor, Louis?«

Er schrak zusammen. »Bist du ganz und gar bescheuert?«

Sid war klein und stämmig. Fett konnte er nicht genannt werden, obwohl er mindestens fünfzehn Kilo Übergewicht hatte. »Wieso, was hab ich nun schon wieder falsch gemacht?« Sid sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Du hast immer nur was zu meckern.«

»Weil du mir pausenlos auf den Sack gehst. Was schleichst du dich hier so an? Wo kommst du her?« Hätte er ihm bloß keinen Schlüssel gegeben. Jetzt war er keine Sekunde mehr wirklich sicher vor ihm.

»Ich sollte doch ein Prepaid-Handy kaufen. Bitte sehr, hier ist es.« Er hielt ihm ein schwarzes Handy entgegen, das irgendwann vor zehn Jahren mal modern gewesen war. Aber es würde seinen Zweck erfüllen.

»Hast du auch eine anonyme SIM-Karte bestellt?«

»Klar. Ist schon angekommen.«

Das war ausnahmsweise mal eine gute Nachricht. Vielleicht hatte er doch irgendetwas richtig gemacht. »Gib her.«

Sid reichte ihm ein durchsichtiges Plastikschächtelchen. »Da ist sie drin. Du musst sie aber noch freischalten.«

»Für wie blöd hältst du mich?«

Sid war immerhin klug genug, darauf nicht zu antworten.

»Vielleicht hast du ja dieses Mal tatsächlich nichts Schlimmes angerichtet«, sagte Louis. Trotzdem, da war dieses seltsame Gefühl im Bauch. Es kam ihm wie eine Warnung vor.

»Sagst du mir nun, was du in der Kammer gemacht hast und was da drin ist?« Sid tippte mit seinem Fuß gegen den blauen Sack und zuckte zusammen, als es darin schepperte.

»Also gut, ich habe darin leere Konservendosen. Die brauche ich als Zielobjekte zum Üben.« Er nahm die SIG Sauer aus seinem Hosenbund und hielt sie in der ausgestreckten Hand. Sofort griff Sid danach, aber Louis zog sie schneller weg, als der sie ergattern konnte. »Finger weg.«

»Wo hast du die Waffe her?« Sid stand mit offenem Mund vor ihm und die Enttäuschung darüber, dass er sie nicht anfassen durfte, war ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich dachte, wir sind Partner.«

»Was hatten wir abgemacht? Wer bin ich?«

»Der Chef«, murmelte Sid.

»Und warum bin ich der Chef?«

»Ja, okay. Aber was hast du jetzt vor?«

»Ich werde Schießen üben.«

»Cool, ich will mit.«

Louis zögerte einen Moment und entschied dann, ihn tatsächlich mitzunehmen. Er steckte in der ganzen Planung mit drin. Und was sollte schon bei einer Schießübung schiefgehen?

Die Fahrt in das Stück Wald, das er für diese Aktion ausgewählt hatte, dauerte über die B432 nicht länger als eine Dreiviertelstunde. Sid plapperte pausenlos auf ihn ein. Schon nach der halben Strecke bereute Louis, ihn mitgenommen zu haben.

»Und wenn wir dann reich sind, fahren wir in die Karibik, erster Klasse oder heißt das jetzt Business-Class und wir wohnen in einem Fünfsternehotel und lassen uns Champagner und Mädels bringen und ...«

»Ruhe!«, donnerte Louis. »Mensch, halt endlich die Fresse oder ich setz dich hier raus und du kannst nach Hause laufen.«

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Sid zusammenzuckte. Gut so. Für den Rest der Fahrt sagte er tatsächlich nichts mehr. Und als er dann irgendwann anfing »Money, Money, Money«, zu singen, reichte ein kurzer Blick, um die helle Stimme wieder abzuschalten. Dafür begann er, seinen massigen Oberkörper im Rhythmus des Liedes von links nach rechts zu schaukeln. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Louis lenkte den Wagen auf den Parkplatz, den er schon vor Tagen ausgespäht hatte, und sie stiegen aus. Er drückte Sid den blauen Sack in die Hand. »Den trägst du.«

Sid tat, als würde er gleich zusammenbrechen, und grinste dabei gut gelaunt. Er stapfte vorneweg in einen kleinen Pfad hinein, der in den Wald führte. Die Konservendosen klapperten und schepperten pausenlos, als würde er sie wie eine Rumbarassel hin und her schütteln. Zu allem Überfluss begann er nun zu pfeifen.

»Was pfeifst du denn da schon wieder? Du machst einen Lärm, dass es hier wahrscheinlich in der Umgebung von zehn Kilometern kein lebendes Wesen aushält.«

»Mensch, du bist ein Kulturbanause. Das ist der ›Banana-Boat-Song‹. Harry Belafonte.« Wie um seine Worte zu bestätigen, begann er das Lied nun zu singen. Die Blechdosen klapperten den Takt dazu. Eine drohende Handbewegung brachte Sid schnell wieder zur Ruhe.

Das Wetter spielte mit und sie hatten noch mindestens drei Stunden Tageslicht. Louis glaubte nicht, dass er lange brauchen würde, um das Schießen und besonders das Zielen zu erlernen, auch wenn seine Bundeswehrzeit und sogar der letzte Jahrmarktbesuch lange her war.

Der Marsch dauerte ungefähr zwanzig Minuten. Dann öffnete sich der Wald und eine große Lichtung lag vor ihnen. In der Mitte standen einige Baumstümpfe, die Louis nutzen wollte, um die Dosen darauf zu drapieren.

»Leg den Sack da neben die Stümpfe und dann stell auf jeden ein paar Dosen, hübsch nebeneinander.« Sid gehorchte fröhlich. Scheiße, seine gute Laune war wirklich nervtötend.

»Jetzt gehts los.« Sid tanzte von einem Bein auf das andere und erinnerte an Rumpelstilzchen.

Diesmal ließ Louis ihn gewähren. Er war selbst aufgeregt und freute sich auf die Schießübung.

»Du solltest jetzt besser hier anrücken. Ich habe inzwischen die Pistole vorbereitet. Also komm mir besser nicht ins Schussfeld. Bei allem, was du dir heute geleistet hast, könnte ich sonst der Versuchung vielleicht nicht widerstehen.« Er wedelte mit der SIG Sauer und Sid beeilte sich, zu ihm zu kommen.

Dann standen beide ungefähr zwanzig Meter von den Zielen entfernt. Louis entsicherte die Waffe, hob sie und zielte mit ausgestrecktem Arm. Dabei kniff er ein Auge zu und versuchte, in gerader Linie über Kimme und Korn zu peilen. Der Knall war ohrenbetäubend und der Rückschlag schien ihm fast das Handgelenk zu brechen.

Sid hielt sich die Ohren zu, hüpfte auf und ab und jammerte. »Ich bin taub, ich höre nichts mehr.« Er öffnete und schloss seinen Mund, verrenkte dabei seinen Unterkiefer zu absurden Grimassen.

Louis rieb sich das schmerzende Handgelenk. »Hab ich getroffen?«

»Vielleicht die Krone der alten Kiefer da vorne.« Sid, offenbar von seiner Taubheit genesen, feixte. Er steckte die Zeigefinger in die Ohren und bohrte darin. »Ist es normal, wenn es in den Ohren pfeift?«

»Bei dir piept es ja wohl eher.«

Sid legte den Kopf schief, als würde er nachdenken. »Nein es pfeift.«

Warum hatte er nur den Schalldämpfer und die Ohrenschützer vergessen? Louis zog ein Papiertaschentuch aus seinem Rucksack und drehte damit vier kleine Pfropfen. Zwei davon gab er Sid, der sie sich eilig in die Gehörgänge stopfte.

Diesmal umfasste Louis sein rechtes Handgelenk mit der Linken, zielte erneut und drückte ab. Der Knall war immer noch sehr laut, aber es war doch erträglicher.

»Wieder nichts«, sagte Sid und erntete einen bitterbösen Blick für sein Grinsen.

»Wir müssen näher rangehen,« sagte Louis.

Sie verkürzten den Abstand zu den Dosen um die Hälfte. So sollte es besser gehen.

Er brauchte noch zehn Schüsse, bis er das erste Mal traf. Die Dose wirbelte durch die Luft und blieb dann im Moos liegen.

»Getroffen!«, jubelte Sid. »Du hast es geschafft, Chef!«

Louis grinste. »Beim Bund war ich ein super Schütze. Der Beste im ganzen Bataillon.« Er wiederholte das Ganze noch etliche Male, bevor er das Gefühl hatte, dass er zumindest für seinen Zweck wieder gut genug schießen konnte.

»Darf ich es auch einmal versuchen?«

»Meinetwegen, aber sei vorsichtig«, sagte Louis nach kurzem Zögern.

Sid nahm die SIG ehrfürchtig in die Hand, drehte und wendete sie, zielte spielerisch auf Louis’ Gesicht.

»Bist du bescheuert?«, schrie der und warf sich auf den Boden.

»Entschuldige«, sagte Sid und senkte die SIG, sodass der Lauf erneut auf Louis gerichtet war.

Ein Schuss löste sich und schlug einen halben Meter neben Louis’ Kopf in den Waldboden. Der sprang auf und schlug Sid die Waffe aus der Hand. Die Ohrfeige, die Sid anschließend kassierte, ließ ihn einige Schritte zurücktaumeln. Am liebsten hätte Louis ihn richtig vermöbelt, aber er brauchte ihn noch und außerdem schien er schuldbewusst genug zu sein. Also beließ er es dabei. »Du bist der größte Idiot, den Gott je erschaffen hat.«

Sid rieb sich die rote Wange und schwieg.

Sie beendeten die Übungen und machten sich auf den Rückweg, ohne noch ein Wort miteinander zu wechseln. Sid begann wieder, ein Lied zu pfeifen. Diesmal reichte ein Blick, um ihn zum Schweigen zu bringen.

Das Schießen hatte länger gedauert als gedacht. Die Sonne verbarg sich bereits hinter den Wipfeln der hohen Fichten. Es würde bald stockfinster im Wald sein. Louis drehte sich um und erstarrte.

»Wo ist der Sack mit den Konservendosen?«

Sid zuckte zusammen, wurde blass und blieb stumm.

»Es ist zu dunkel, wir können unmöglich zurückgehen. Du bist ein hoffnungsloser Idiot. Ich hätte gute Lust, dich hier allein zu lassen.« Louis näherte sich Sid mit geballter Faust, packte ihn am Kragen und schüttelte ihn, sodass sein Kopf vor- und zurückschlug.

»Du hättest ja auch daran denken können«, murmelte Sid und riss sich los.

»Wag es nicht, mich zu kritisieren«, brüllte Louis.

»Schon gut.« Der Kleine nahm die Pfropfen aus den Ohren und trottete mit gesenktem Kopf hinter Louis her.

War es notwendig, die Konservendosen morgen zu holen? Wahrscheinlich nicht. Wer sollte schon in dieses abgelegene Waldstück gehen. Na ja, ein Förster, das könnte schon sein. Aber der würde vermutlich an einen Umweltsünder glauben. Und selbst wenn er die Schießübungen erkannte – wer sollte sie mit ihnen in Verbindung bringen? Louis schob den Gedanken beiseite.

Das Auto kam in Sicht und Louis öffnete es mit der Fernbedienung. »Los, steig ein, du Versager, bevor ich es mir anders überlege und dich hier zurücklasse.«

Kapitel 3

Samstagabend

»Mama, ich bin los!«, rief sie durch die geschlossene Tür ins Wohnzimmer.

»Komm und zeig dich noch mal.«

Seufzend öffnete Jenna die Tür und ging hinein. »Was denn noch?«

»Hast du Geld mit und dein Handy?«

»Klar, alles dabei und ich pass auf mich auf, gehe mit niemandem mit und trinke keinen Alkohol.« Sie leierte es herunter und drehte sich dann um. »Ich muss los, Philip wartet auf mich.«

»Er soll dich wieder nach Hause bringen. Nicht, dass du allein bei Dunkelheit durch den Wald radelst.«

»Ja, Mama. Alles cool.«

Sie ging hinaus und hörte dann schon die Fahrradklingel. Philip stand an der Gartenpforte und öffnete ihr, als sie mit ihrem Rad aus dem Schuppen kam. Wie immer, wenn sie ihn sah, spürte sie ein Kribbeln im Bauch. Er war der bestaussehende Typ in der Schule. Groß und schlank mit dunklen Locken. Aber das Beste an ihm waren seine grünen Augen. Sie war verliebt, das wusste sie, und es hatte sie heute überrascht, als er sie anrief. Es war das erste Mal, dass sie mit ihm allein ins ›Enjoy‹ ging.

Er umarmte sie kurz. »Cool, dass du mitkommst.«

»Als Mama gehört hat, dass ich mit dir losziehe, war sie zufrieden.« Jenna kicherte. »Du bist ein Sohn aus gutem Haus, das genügt ihr.«

»Na, was für ein Glück. Sag ihr nächstes Mal, ›aus sehr gutem Haus‹«. Er grinste breit und ihr wurde kurz heiß.

»Dann lass uns los.«

Sie fuhren den Waldweg schweigend durch die Dunkelheit. Die hellen Fahrradlampen leuchteten ihnen den Weg durch die flackernden Schatten der hohen Fichten. Vor dem ›Enjoy‹ standen bereits etliche Räder und auch einige Autos. Es war noch früh, bestimmt würde es später voller werden. Das war jeden Samstag so. Jenna würde nie verstehen, warum man nicht schon früher Party machen konnte. Wenn es nach ihr ginge, dann dürfte es immer schon um acht oder neun anfangen.

Dragon stand an der Bar und nickte ihnen zu. »Was trinkt ihr zwei?«

»Ein Bier für mich.«

»Ich nehm eine Cola Light«, sagte Jenna.

Sie gingen an einen runden Stehtisch am Rand der Tanzfläche. Die Getränke kamen und Philip zahlte für beide. Rammstein dröhnte aus allen Lautsprechern. Die Bässe wummerten, sodass der Boden unter ihnen vibrierte. Philip griff nach ihrer Hand.

»Komm, tanzen.«

Jenna mochte Rammstein nicht besonders, aber sie tanzte gern. Sie übte ihre Tanzbewegungen hin und wieder vor dem Spiegel, schließlich wollte sie nicht nur tanzen, sondern dabei auch noch möglichst sexy aussehen. Sie beobachtete Philip, der in peinlich wilden Verrenkungen der Musik folgte. Der hatte definitiv nicht geübt. Ziemlich auffällig, fand Jenna. Sie würde es nicht wagen, sich so zu bewegen. Dann begann er, Luftgitarre zu spielen, bog sich nach hinten, stampfte mit den Füßen, schlug in wildem Rhythmus unsichtbare Akkorde. Ihr war das ein bisschen zu auffällig, aber sie musste zugeben, dass es trotzdem irgendwie ziemlich gut aussah.

Es waren noch nicht viele Leute auf der Tanzfläche, aber alle sahen ihm zu, besonders die Mädchen. Und er war mit ihr hier. Jenna tanzte jetzt ausgelassener, aber ohne groteske Verrenkungen. Sie wusste, dass sie beobachtet wurde – nicht nur von Philip – und schüttelte ihre lange Mähne im Takt der Musik.

»Du blutest für mein Seelenheil …« Philip sang jetzt laut mit. Was für ein gruseliger Inhalt. Jenna fand viele Rammstein-Texte ziemlich krank. Philip kannte den ganzen absurden Text auswendig. Sie hoffte, dass er nicht so tickte. Irgendwo hatte sie gelesen, dass das Stück in Deutschland nicht veröffentlicht werden durfte, und fragte sich kurz, ob das stimmte, wenn das ›Enjoy‹ es spielte. Unter ihren Freundinnen war sie nicht die Einzige, die Rammstein nicht so toll fand. Ihr waren die Texte einfach zu krass.

»Mein Herz brennt …« Etwas langsamer, aber der Titel war ebenso scheußlich. »Sie kommen zu euch in der Nacht …«, sang Philip. Jenna hatte ein wenig das Gefühl, dass sie für ihn gar nicht mehr existierte und kehrte zum Tisch zurück. Von da aus beobachtete sie ihn und es gab keinen Zweifel, dass sie recht gehabt hatte. Er bemerkte überhaupt nicht, dass sie nicht mehr bei ihm war.

Sie hielt sich an ihrer Cola fest und hoffte auf andere Musik. Ihr Versuch, gute Laune auszustrahlen, misslang gründlich. Wäre sie nur nicht mitgegangen.

Ein Typ stellte sich an ihren Tisch. Er war von oben bis unten tätowiert. Zumindest jedes Stück Haut, das sie sehen konnte. Sie mochte sich nicht vorstellen, wo er noch weitere Tattoos versteckt haben könnte.

»Na, allein hier?«

Was war das denn für eine einfallslose Anmache. »Get lost!« Sie schrie gegen die Musik an. Selbst in ihren Gedanken fiel es ihr schwer, den Lärm als Musik zu interpretieren.

»Schlechte Laune?«

Sie zeigte dem Tätowierten den Mittelfinger. Der zuckte die Schulter und zog ab.

Philip kam wieder an ihren Tisch. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß und seine grünen Augen leuchteten. »Die Musik ist so cool.«

Er trank sein Bier mit großen Schlucken leer.

»Ich bestell uns einen Cocktail, okay? Sex on the Beach?«

Das klang immerhin vielversprechend.

Dragon kam mit den Cocktails und wollte gleich kassieren. Philip winkte ab. »Später.«

Die Musik wurde weicher und Philip zog sie erneut auf die Tanzfläche. Er begann, sich im Rhythmus zu wiegen, nahm ihre Hände und legte sie sich um die Taille. Gemeinsam tanzten sie und Jenna schloss ihre Augen. Endlich! Sie schmiegte sich an seine Brust und spürte seinen Steifen an ihrem Unterleib. Sie tat, als merke sie es nicht und der Druck seines Unterleibes wurde stärker. Eine Hand schlich vorne unter ihren Pulli und hinauf zu ihren Brüsten. Streichelte und drückte. Sie holte tief Luft, hoffte gleichzeitig, dass niemand es bemerkte. Philip zitterte und das steigerte ihre Erregung, sodass sie die Welt um sich herum vergaß und nicht einmal merkte, dass die Musik erneut lauter und chaotischer wurde. Sie bedauerte es, als er die Hände wieder unter dem Pulli hervorzog, aber dann nahm er ihren Kopf in die Hände und berührte ihre Lippen mit seinem Mund behutsam und zart. Sie erstarrte kurz, dann wurde auch ihr Mund weich und sie öffnete ihn, als sie seine Zunge spürte, die sich den Weg zwischen ihre Zähne bahnte. Sie fühlte den Kuss wie in Zeitlupe, genoss die feuchte Berührung. Alles war sanft und warm und sie fiel in seine Zärtlichkeit, als habe es nie etwas anderes gegeben.

Dann ließ er sie los, sah sie aus grasgrünen Augen an und lächelte. Sie hob eine Hand und streichelte seine gerötete Wange. Seit sie sich in ihn verliebt hatte, hatte sie den Kuss hundert Mal geträumt. Aber dies war die Wirklichkeit und übertraf den Traum. Ihr war warm.

Sie gingen Arm in Arm zurück an ihren Stehtisch. Emma trank einen Schluck des Cocktails. Die Musik machte eine Pause und der Klingelton eines Handys holte sie zurück in die Wirklichkeit. Philip zog sein Smartphone aus der Hosentasche und las etwas. Er wurde blass. Seine Augen wurden groß und er stützte sich auf dem Stehtisch auf.

»Was ist los, Philip? Ist jemand gestorben?« Sie glaubte, sie hätte einen Witz gemacht, aber er reagierte nicht.

»Na gut, ich bin dann mal zum Klo.« Jenna wandte sich ab und ging in Richtung Garderobe, wo sich die Toiletten hinter einem schweren Vorhang verbargen. Was war das für eine Nachricht gewesen? Ganz offenbar waren es keine guten Neuigkeiten. Mist! Das würde ihr den schönsten Abend ihres Lebens verderben.

Philip war nirgends zu sehen, als sie zum Tisch zurückkehrte. Sie sah sich um. Seine Freunde standen am Tresen und versuchten, sich in Gesprächen gegen die laute Musik durchzusetzen. Vielleicht war er auch zum Klo gegangen. Sie wartete, tippte mit dem Mittelfinger den Takt des Liedes, das sie nicht kannte. Ein weiterer Song kam, der Rhythmus diesmal wieder schneller, die Wörter aggressiv und misstönend.

Jenna verließ ihren Platz und durchwanderte den Club. Keine Spur von Philip. Hatte er sich mit dem Kuss übernommen? War es eine Art Flucht? Oder hatte es etwas mit der Textnachricht zu tun? Sie verstand es nicht. Ging sogar zum Männerklo und öffnete die Tür. »Philip, bist du hier? Geht es dir gut?«

Ein Junge kam heraus. Er stank nach Alkohol und seine Augen waren glasig. Er taumelte, als er an ihr vorbeiging. Stieß sie dabei unsanft an.

»Hey, pass gefälligst auf, du Spacko.«

Er sah sie nur verständnislos an und torkelte weiter. Sie nahm allen Mut zusammen und betrat die stinkende Toilette, ignorierte den erstaunten Blick eines Mannes, der pinkelnd am Urinal stand und nun hektisch seinen Hosenstall schloss. Philip war nicht hier. Eilig lief sie wieder zurück. Am Tresen fragte sie Tommy, ob er Philip gesehen hatte.

»Nö, schon ne Weile nicht. Zuletzt, als er mit dir geknutscht hat.« Ein anzügliches Grinsen folgte den Worten.

»Dragon, hast du Philip gesehen?«

»Ich glaube, der ist gegangen, schon vor einiger Zeit.«

»Aber warum?«

»Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, dass er eure Drinks nicht bezahlt hat. Zwanzig Euro macht das bitte.«

»Wieso ich? Du kennst ihn doch, er wird schon zahlen, irgendwann.«

»Weil du einen davon getrunken hast und weil ihr zusammen hier wart. Ich bin kein Kreditinstitut. Auch nicht für Philip.«

Sie holte ihre Geldbörse hervor und zahlte die Zeche. Kurz überlegte sie, ob sie ein Trinkgeld geben sollte, entschied sich aber dagegen. Philip würde ihr einiges erklären müssen.

Kapitel 4

Sonntagmittag

»Telefon für dich!«, rief Mama von unten.

»Ja, bring’s mir hoch!«

»Mach dich gefälligst auf den Weg hierher, Jenna Paulsen. Ich bin nicht dein Laufbursche.«

Da bat sie mal um einen kleinen Gefallen, aber Mama war immer so und nannte es Erziehung. Ha, sie war sechzehn Jahre alt und musste nicht erzogen werden. Nicht so wie ihr jüngerer Bruder. Benni war wirklich frech. Aber er war ja so klein und niedlich, ihm verzieh man alles in diesem Haus. Zehn Jahre und klein. Lächerlich! Als sie so alt war, hieß es immer: »Du bist doch die Große.«

Sie erhob sich langsam und rutschte das Treppengeländer hinunter. Mama konnte das nicht leiden, darum machte es ihr umso mehr Spaß.

Dieses Mal erntete sie nur einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen. Mama reichte ihr das Telefon, drehte sich um und verschwand in der Küche. Jenna verscheuchte Benni, der wie immer seine Nase in ihre Angelegenheiten stecken wollte, bevor sie wieder hinauf in ihr Zimmer ging und in den Hörer sprach.

»Philip, menno! Du hättest dich ruhig mal früher melden können.« Es dauerte einige Sekunden, bevor sie jemanden hörte. Das war definitiv nicht Philip.

»Jenna, hier ist Emma Scharfing, die Mutter von Philip.« Ihre Stimme klang atemlos.

»Frau Scharfing?«

»Ist er bei dir? Hat er die letzte Nacht bei dir verbracht?«

»Was? Nein, natürlich nicht.« Ihre Mutter würde sie steinigen, wenn sie einen Jungen bei sich schlafen ließe.

Philips Mutter weinte, das hörte sie deutlich. »Er ist nicht nach Hause gekommen und ans Telefon geht nur die Mailbox.« Sie schniefte und war gar nicht so leicht zu verstehen zwischen den Schluchzern.

»Hier ist er jedenfalls nicht gewesen.«

»Ihr wart doch gestern in der Disco zusammen, oder?« Discos gab es schon seit hundert Jahren nicht mehr. Aber ihre Mutter nannte den Club auch so.

»Ja, im ›Enjoy‹, aber Philip ist dann abgehauen. Hat mir nicht mal Bescheid gesagt. War einfach weg. Ich bin echt sauer.«

»War er betrunken?«

»Nö, glaube nicht. Wir haben getanzt.« Und natürlich auch rumgemacht. Sie hatte seinen Steifen an ihrem Bauch gefühlt. Aber das hatte sie sich nicht anmerken lassen.

»Und wann ist er verschwunden?«

»Er hat irgendeine SMS bekommen und war damit beschäftigt. Ich bin dann kurz zum Klo, und als ich wiederkam, war er weg.«

»Um wieviel Uhr war das?«