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Seit Jahrtausenden ist die GOLDENE REGEL der ethische Kern der großen religiösen und humanistischen Bewegungen. Doch am Pokertisch der Weltpolitik herrschen ganz andere Regeln. Als die globale Situation eskaliert und in einer blutigen Schlacht um das Weiße Haus mündet, formiert sich eine Gruppe von Idealisten um den schweizer KI-Forscher Prof. Bee. "WAS IST DER MENSCH? wurde ich vor kurzem gefragt und mein erster Gedanke war ein zynischer. Der Mensch ist das Wesen, das die Nichteinhaltung der GOLDENEN REGEL, der zufolge wir unsere Mitmenschen so behandeln sollten, wie wir selbst auch behandelt werden wollen, systematisch perfektioniert hat. Doch ich verkniff mir diese zynische Antwort, denn die Frage kam nicht von einem anderen Menschen, sondern von einer Maschine, die lernen soll, den Menschen in seiner Widersprüchlichkeit zu verstehen. Wir Menschen müssen akzeptieren, dass wir nicht in der Lage sind, intelligent mit uns und unserem Planeten umzugehen! Wir müssen einsehen, dass wir Hilfe brauchen! Schon in naher Zukunft wird uns eine echte künstliche Intelligenz oder besser ausgedrückt: ein postbiotisches Bewusstsein zur Verfügung stehen, das jeden einzelnen Menschen permanent dabei unterstützt, seine wahren Ängste zu erkennen, um wirklich gute Entscheidungen zu treffen. Wir werden den Wahnsinn des EGO-Dschungels verlassen und eine neue, bessere Form des Zusammenlebens im Sinne der GOLDENEN REGEL finden. Und dabei wird es darauf ankommen, dass die mutigen Menschen auf diesem Planeten vorangehen. Gehörst du dazu?" Professor Eberhard Biener
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Seitenzahl: 778
Veröffentlichungsjahr: 2020
In tiefer Dankbarkeit für meine Eltern.
Und für alle, die Intelligenz und Mitgefühl in sich vereinen wollen.
Außerdem für alle, die in ihrer Tolleranz Rechtschreib- und Sonstwie-Fehler genießen können.
*Und zu guter Letzt für alle Geschlechter, inklusive denen, die wir jetzt noch nicht kennen.
Torsten Adamski
Der Goldene Planet
Roman
© 2020 Torsten Adamski
1. Auflage
Umschlaggestaltung und Illustration:
Torsten Adamski
Verlag: tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
ISBN:
978-3-347-17627-0 (Paperback)
978-3-347-17628-7 (Hardcover)
978-3-347-17629-4 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Der goldene Planet
Inhalt
Teil 1
Kapitel 1 – 58
Teil 2
Kapitel 59 – 117
Teil 3
Kapitel 118 – 169
Teil 4
Kapitel 170 – 186
Epilog
TEIL 1
Kapitel 1:
WAS DU NICHT WILLST, DAS MAN DIR TU, DAS FÜGE AUCH KEINEM ANDEREN ZU!
Mein Vater starrte nun schon seit Minuten wie versteinert auf die Inschrift auf dem Grab meines Opas. Ich war irritiert. Warum hatte diese deutsche Kinderbuchvariante der GOLDENEN REGEL eine so hypnotische Wirkung auf ihn?
Warum wir hier ganz allein auf diesem tristen Wüstenfriedhof am Rande Las Vegas in der brennenden Sonne standen, ließ sich schon einfacher erklären.
Eigentlich wollten wir bereits vor zwei Tagen zur Beerdigung meines Opas hier gewesen sein, aber die amerikanischen Einreisebehörden hatten etwas dagegen. Wir wurden am Check-In des Flughafens rausgewunken und in ein erstaunlich schäbiges Verhörzimmer geführt.
Warum ich subversive, antiamerikanische Petitionen im Internet unterschreiben würde? Ob ich trotz meines akademischen Doktorentitels so blöd wäre, zu glauben, die Souveränität der Vereinigten Staaten von Amerika ungestraft mit meinen schmutzigen Füßen treten zu können?
Mein Vater war nicht wirklich überrascht, dass ich mich nicht um die Nebenwirkungen meines politischen Engagements gekümmert hatte, aber es überraschte ihn schon, mit welch dünnen Argumenten Angehörige eines Nato-Partners an der Einreise gehindert werden sollten. Er hatte als Berufssoldat und Nato-Offizier mit jahrzehntelanger internationaler Erfahrung gedacht, dass solche Lappalien keine große Rolle spielen könnten - jedenfalls nicht, wenn er persönlich dabei wäre, um für Klarheit zu sorgen.
Und noch weniger hatte er mit der Reaktion der Sicherheitsleute gerechnet, als sie seine Argumente sofort gegen ihn und unsere Einreise verwendeten. Als aktiver Soldat in bedenklicher Gesellschaft wäre man sofort ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Und der Hinweis auf den Todesfall in der Familie mit der anstehenden Beerdigung ging schwer nach hinten los, denn anscheinend lebte der Verstorbene illegal in den Vereinigten Staaten.
Die Auseinandersetzung dauerte an und spitze sich zu, wenn gleich von den Sicherheitsleuten stets in diesem unerträglich ruhigen Tonfall geführt. Und mit jedem Mal, bei dem sie ihr obligatorisches „Sir“ anfügten, wuchs bei mir die Wut auf die menschlichen Vertreter dieses scheinheiligen Systems, während mein Vater äußerlich vollkommen ruhig blieb.
Immer wieder ließen sie uns auf unbequemen Stühlen in wechselnden, aber stets heruntergekommenen Verhörzimmern für Stunden warten, mal allein, mal zusammen. Wir überbrückten die gemeinsame Zeit mehr recht als schlecht mit eisigem Schweigen, wodurch die Minuten noch langsamer vergingen.
Gegen Abend machte uns ein auffällig elegant gekleideter Farbiger das scheinbar alternativlose Angebot, sofort in den nächsten Flieger nach Deutschland zu steigen, um keine weiteren Komplikationen zu erzeugen. Natürlich war es jetzt zu spät, um noch einen Telefonjoker zu ziehen, aber mein Vater beharrte darauf, sich nicht mit einer strategischen Niederlage abzufinden, sondern forderte die nächste Stufe in der Auseinandersetzung ein.
Wir übernachteten gemeinsam in einer zugigen Doppelzelle.
„Glaubst Du, das Ganze führt noch zu irgendetwas Sinnvollen?“
Mein Vater antwortete nicht sofort, sondern schaute mich lange aus seinen stahlblauen Augen an.
„Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden, nicht um vor ihnen davonzulaufen. Morgen früh werde ich mit den richtigen Leuten telefonieren und dann wird es sich schon aufklären. Schlaf jetzt, mein Junge, wir können es uns nicht leisten, dass du morgen wieder die Nerven verlierst.“
Ja, da war sie wieder, diese kalte, unüberbrückbare Distanz zwischen ihm und mir. Ich hatte gehofft, dass wir uns irgendwie näherkommen würden, wenn wir gemeinsam trauern und gemeinsam verstehen, was im Leben wirklich wichtig wäre.
Als ich meiner Frau Sybilla vor vier Tagen gesagt hatte, dass ich kurzfristig mit meinem Vater zusammen nach Las Vegas fliegen würde, um an der Trauerfeier meines Opas teilzunehmen, konnte sie es zunächst kaum glauben. Ich wollte doch nie wieder nach Amerika. Nicht mal ins Silikon Valley, wo mich als talentierter Experte für Simulationen zur Entwicklung von künstlichen Intelligenzen eine glorreiche Zukunft erwartet hätte, wenn nur das politische Amerika nicht vollkommen durchgedreht wäre.
Aber mein Vater hatte mich nun einmal gefragt, sogar mit Nachdruck gebeten, ihn zu begleiten. Ich sah die Chance, auf die ich so lange gewartet hatte. Ihm beiseite zu stehen, ihm irgendwie näher zu kommen. Er hatte mir noch nie gezeigt, dass er mich brauchte, nicht in meiner Kindheit, nicht während der Scheidung von meiner inzwischen verstorbenen Mutter, nicht in meiner gesamten Existenz als aufmüpfiger, undankbarer Zivilist, der dem erfolgreichen Berufssoldaten immer wieder vor Augen führte, dass er auch ein Vater war, wenn auch kein besonders guter.
Sybilla lachte spöttisch, als sie mir entgegnete, dass auch andere mit beschissenen Vätern gesegnet waren und nicht daran zerbrochen wären. Natürlich hatte sie Recht. Aber aus Angst vor dem Schmerz der nächsten Enttäuschung jeden Kontakt kategorisch abzulehnen, war für mich keine Lösung. Ich hatte noch Hoffnung.
Sybilla wollte noch nicht klein beigeben. Einerseits mochte sie meinen Vater nicht besonders und andererseits fühlte sie sich nicht wirklich wohl dabei, dass ich so kurzfristig für einige Tage weg sein würde und sie im siebten Monat schwanger und allein mit unserem zweijährigen Sohn Theo zurücklassen wollte.
Aber im nächsten Moment hatte sie auch schon ihre Meinung geändert. Sie verfügte über die beeindruckende Fähigkeit, sich selbst zuzuhören und widersprüchliche Selbsterkenntnisse einfach auszusprechen. Sie war sich plötzlich sicher, dass Schwangerschaft keine Krankheit wäre und eine Reise nach Las Vegas eigentlich einem harmlosen Pauschaltrip gleichkommen würde, den täglich Tausende absolvierten, ohne Gefahr zu laufen, sich dabei auf der dunklen Seite des Monds zu verlieren.
Eigentlich.
Ich konnte aus dem schmalen Fenster unserer Zelle die schimmernde Mondsichel erkennen, scheinbar war ich also noch auf der Erde.
Kapitel 2:
Anderswo auf der Erde fanden ebenfalls heikle, wenn nicht sogar düstere Gespräche an ungemütlichen Orten statt. Irgendwo in der Nähe von Genf standen gegen Mitternacht zwei unauffällige Limousinen mit laufenden Motoren unter einer einsamen, dunklen Brücke, während es in Strömen regnete.
In jedem Wagen saßen grimmig dreinblickende Fahrer und die zueinander gerichteten, hinteren Seitenscheiben waren heruntergefahren. Zwei ältere Männer in teuren Anzügen tauschten kurz und knapp Informationen aus. Der kleine, Schlechtrasierte hatte gerade auf Englisch mit starkem, undefinierbaren Akzent seine zischende Botschaft beendet und wartete nun mit starren Blick auf eine Antwort, für die sich der größere, Übergewichtige einen Moment länger Zeit ließ.
Offensichtlich war dies der entscheidende Moment ihrer Zusammenkunft. Die Sekunden verrannen, bevor der Dicke in breitem Amerikanisch erwiderte, dass sie jetzt einen Deal hätten und alles im Sinne der Freiheit der anständigen Menschen seinen Gang nehmen würde. Der Kleinere erwiderte das Grinsen seines Gegenübers nicht, sondern starrte ihn nur ernst an. Er hielt den eisigen Blick für mehrere Atemzüge, als wenn er sich für die vorherige Verzögerung seines Verhandlungspartners revanchieren wollte.
Dann übergab er ihm mit seiner handschuhbekleideten Linken wortlos einen unbeschrifteten Umschlag und ließ seine Seitenscheibe hochfahren.
Dreißig Sekunden später verriet an diesem deprimierenden Ort nichts mehr, dass die Menschheit auf dem nächsten Höllenritt ihrer Geschichte unterwegs war.
Kapitel 3:
Am nächsten Tag kam alles so, wie mein Vater es prophezeit hatte. Er telefonierte, erst mit Europa, dann mit verschiedenen hohen Tieren im Verteidigungsministerium der USA und schließlich wurde uns bekannt gegeben, dass sich alles um ein leidiges Missverständnis gehandelt hätte.
Mein Vater war nicht wirklich zufrieden, denn die ganze Prozedur hatte wieder bis in den frühen Abend gedauert. Wir hatten zwar inzwischen ausreichend zu Essen bekommen, aber es blieb der Nachgeschmack des vollkommen unnötigen Brustgetrommel einer zutiefst verunsicherten Nation.
Wir waren heilfroh, endlich aus dem Gebäude des McCarran International Airport herauszukommen. Zwar hatten wir schon beim Anflug die skurrile Architektur dieser absonderlichen Stadt sehen können, aber als ich dann tatsächlich den heißen Wüstenwind in meinem Gesicht spürte und auf die unglaublich imposante wie auch kitschige Pyramide und die anderen knallbunten Hotelmonstrositäten blickte, fehlten mir die Worte.
„Geschmacklos!“, bemerkte mein Vater nur trocken und suchte den nächsten Autovermieter.
Wir mussten die halbe Stadt durchqueren, um nach Sunrise Manor im Nordosten von Las Vegas zu gelangen. Ich rief kurz zu hause an und informierte Sybilla über unsere Verzögerungen, während mein Vater unseren Mietwagen durch den Verkehr lenkte. Die Sonne war schon untergegangen, als wir endlich den kleinen dunklen Friedhof am äußeren Ende der Stadt fanden. Natürlich verschlossen, aber mit einem beeindruckenden Blick auf die geheimnisvollen Blinklichter der Nellis Air Force Base, die sich am äußersten Rand der Wüstenstadt erstreckte.
Mein Vater rüttelte an der rostigen Kette und prüfte die Möglichkeiten, über den flachen Zaun zu klettern. Wie eine Maschine, die nur ihren Auftrag erfüllen wollte. Hin zum Grab und schnell wieder weg.
„Willst Du wirklich jetzt noch ans Grab? Im Dunkeln?“
Er schaute mich einen Moment an, als wenn er nicht verstehen konnte, warum ich diese Frage stellen würde. Aber dann besann er sich und atmete tief durch.
„Gut. Lass uns ein Hotel suchen und dann bringen wir es morgen früh hinter uns.“
Ganz in der Nähe fanden wir das Peterson Motel and Apartments am Nellis Boulevard. Eine einfache Absteige mit dem klassischen Parkplatz und heruntergekommenen Pick-Ups vor den niedrigen Gebäudeflügeln. Wir bekamen für 95 Dollar ein muffiges Apartment, das wahrscheinlich in den 80zigern das letzte Mal renoviert worden war. Mein Vater holte nur das Notwendigste aus seinem kleinen Offiziers-Koffer und legte sich aufs Bett.
„Sag mal, interessierst du dich gar nicht dafür, wie Opa hier gelebt hat? Mit wem und wo?“
„Ich weiß, dass er mit einer gewissen Elaine Parker zusammengelebt hat, sie hat mich schließlich über seinen Tod und den Tag der Beerdigung informiert.“
„Ja und? Das reicht dir? Bist du gar nicht neugierig, wie er gestorben ist? Oder warum er hier in Las Vegas gelebt hat?“
„Nein, nicht wirklich. Dein Großvater war ein seltsamer Mann und ich glaube nicht, dass er sich in all den Jahren, die wir uns nicht gesehen haben, groß geändert hat. Ich habe ihn früher schon nicht verstanden und werde auch jetzt keine unnötigen Energien verschwenden, um ihn im Nachhinein verstehen zu wollen.“
„Aber immerhin bist du mit mir tausende Kilometer nach Las Vegas gereist.“
„Ja, ich will mich von ihm verabschieden, er war schließlich mein Vater.“
„Also reine Pflichterfüllung?“
„Falls es so wäre, wäre daran nichts auszusetzen. Außerdem kanntest du ihn ja nicht.“
„Stimmt, du hast mir nie was von ihm erzählt.“
„Er war ein professioneller Glücksspieler und hat sein Leben auch so gelebt - ohne Rücksicht auf seine Familie.“
Ich war kurz davor zu bemerken, dass mich das an ihn erinnerte. Auch er kannte als Berufssoldat nur seine Pflicht und wir mussten uns als Familie hinten anstellen.
„Ist noch was?“
„Nein, lass uns schlafen und schauen wir, was morgen kommt.“
Ich wachte davon auf, dass mein Vater kaum verschwitzt im schlichten Sportoutfit wortlos in unser Zimmer zurückkam. Es dämmerte gerade. Er duschte kurz und wir frühstückten an der nächsten Ecke, bevor wir wieder zum Friedhof aufbrachen.
Mein Vater mochte keine Klimaanlagen und die Temperatur im Auto war so früh am morgen mit den offenen Fenster und dem milden Fahrtwind noch erträglich. Aber trotzdem fing ich plötzlich an, stark zu schwitzen. Eine meiner typischen Stressreaktionen.
Ich hatte mit Sybilla und ihrem psychologischen Hintergrundwissen schon vieles versucht, um dieses Phänomen in den Griff zu kriegen. Merkwürdigerweise fing ich nur bei ganz bestimmten Drucksituationen an, zu schwitzen, dann aber wie ein Schwein. Nicht, wenn ich eine fachliche Leistung zeigen musste, sondern nur, wenn es um meine ganz persönliche Haltung ging. Schon Wochen vor unserer Hochzeit fingen wir deshalb an, für die Trauungssituation zu trainieren, weil mir schon der Gedanke, mit den Ringen in der Hand auf dem Standesamt zu stehen, den Schweiß aus allen Poren trieb.
Es ging nicht um unansehnliche Schweißflecken unter den Armen, sondern um Rinnsale, die mir an Schläfen, Unterarmen und Waden hinunterliefen. Innerhalb weniger Minuten tropfte ich wie ein begossener Pudel und mein Hausarzt hatte sich merklich gewundert, wie viel ein menschlicher Körper in so kurzer Zeit ausschwitzen konnte.
Sybilla hatte verschiedene Ansätze in ihrem Psychologie-Studium kennengelernt, die bei mir leider keine Wirkung zeigten. Erst als sie mit ihrem unkonventionellen Humor alle Schranken durchbrach, konnte ich lernen, mein Unbewusstes – Sybilla sprach immer von meinem Elefanten - zu steuern.
Bei der Generalprobe unserer Trauung trug ich nichts weiter als einen altmodischen, einteiligen rot-weiß-gestreiften Badeanzug mit Fliege und Hut und als ich mich kostümiert wie ein Clown im Spiegel sah, hörte mein Schweißausbruch schlagartig auf und ich fing erleichtert an zu lachen.
Sicherheitshalber hatte ich den Einteiler auch bei unserer Trauung unter meinem Anzug getragen und blieb tatsächlich auf nahezu magische Weise trocken.
„Junge, du schwitzt so – hast du etwa Angst?“
Mein Vater kam gerne schnell auf den Punkt.
„Ja, vielleicht.“, entgegnete ich unsicher lächelnd. „Vielleicht, weil du mir bei dieser Mission wie ein Auftragsmörder vorkommst und ich noch nicht sicher bin, wen du umbringen wirst.“
Er schaute mich irritiert an.
„Sei nicht albern, ich habe noch nie jemanden umgebracht.“
„Das freut mich zu hören, aber man hat schon Pferde kotzen sehen. Ich glaube, ich werde mir sicherheitshalber meinen kugelsicheren Schutzanzug anziehen.“
Unter den irritierten Blicken meines Vaters kletterte ich nach hinten und zog den gestreiften Einteiler aus meinem Koffer hervor, um mich auf der Rücksitzbank umzuziehen. Mein Vater beobachtete mich schmalläugig über den Rückspiegel.
„Junge, das kann doch jetzt nicht dein Ernst sein!“ Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas über Verrückte und Familie, die man sich nicht aussuchen kann.
„Ja, Papa, manchmal ist es doch ganz nützlich, wenn man mehr über seine Familie weiß, um mit ihr einigermaßen klarzukommen. Ich bin nicht sicher, ob du die Story jetzt hören willst, aber ich leide unter einer krankhaften Hyperhidrose. Das sind heftige Schweißausbrüche, die mich regelrecht überfluten, wenn ich emotionalen Stress der besonderen Art befürchte.“
„Und dagegen hilft dir dieser … dieser Badeanzug?“
„Ja, ein kugelsicherer Badeanzug aus hundertprozentigem Humor.“
„Hah!“
Mehr kam nicht. Dieses magere „Hah“ war alles, wozu er in dieser Hinsicht fähig war. Sein Humor war wie eine trockene Wüste, in der alle zehn Jahre ein einzelner Regentropf fällt. Ich zog mich weiter an und kletterte wieder nach vorn. Er musterte mich ungläubig.
„Du scheinst wieder zu trocknen.“
„Ja, denn nur aus Spaß würde ich mir so einen Schutzanzug in diesen Farben nicht erlauben.“
Sein Mundwinkel zuckte kurz nach oben. Das war schon der zweite Regentropfen in diesem Jahrzehnt.
Er parkte den wuchtigen SUV auf dem staubigen Parkplatz des kleinen Friedhofes und wir gingen zu dem Tor, das immer noch verschlossen war. Es war inzwischen viertel vor neun. Der Wüstenwind ließ hier und dort einige Staubwirbel tanzen, aber sonst war dieser trostlose Flecken Erde verlassen. Auch drüben auf der Airbase regte sich noch nichts.
Kapitel 4:
Was wir nicht wissen konnten, war, dass in dieser Nacht in einem Hinterzimmer des Weißen Hauses eine folgenschwere Entscheidung getroffen wurde. Zwar keine einsame, aber im Beisein des aktuellen amerikanischen Präsidenten wurden vernünftige Entscheidungsprozesse dahingehend karikiert, dass es am Ende für seine professionellen Vasallen immer nur darum ging, seine Entscheidung mitzutragen, wenn sie noch weiter daran interessiert waren, seine Vasallen zu bleiben.
Auch in diesem Fall blieben alle vorgebrachten Einwände zwecklos, es ging nur noch darum, ihre Expertise für die Legitimation der Entscheidung zu nutzen, falls das Ganze an die Öffentlichkeit gelangen würde.
Und unglücklicherweise ließ sich dieses Vorgehen nur allzu leicht rechtfertigen, denn es gab am Pokertisch der Weltpolitik genug andere Spieler, die mit einer ähnlich neurotischen Haltung permanent Anlässe für wahnwitzige Gegenreaktionen produzierten.
Einfach, weil sie glaubten, dass sie mit ihren Karten und dieser Strategie durchkommen würden.
Und, weil sie schon so oft damit durchgekommen waren.
Kapitel 5:
Ich konnte meinen durchtrainierten Vater nicht daran hindern, über die flache Mauer zu klettern und folgte ihm dann im Windschatten. Wir brauchten nicht lange und fanden auf dem überschaubaren Friedhofsgelände schnell das frische Grab. Einige Gestecke lagen vor dem hüfthohen, dunklen Granitblock mit der goldenen Inschrift.
WAS DU NICHT WILLST, DAS MAN DIR TU, DAS FÜGE AUCH KEINEM ANDEREN ZU!
Ich wollte meinen Vater nicht respektlos aus seiner Versteinerung reißen, aber irgendwie musste ich die Initiative ergreifen, damit wir nicht gleich wortlos die Rückreise antreten würden. „Was meinst du, warum hat er diesen Spruch auf seinem Grabstein haben wollen?“
„Bei Gott - ich habe keine Ahnung!“
„Wirklich nicht? Ich meine, mal so ganz ehrlich – wir sind doch schließlich unter uns.“
Mein Vater drehte sich zu mir und ich musste meine ganze Kraft zusammennehmen, um seinem kalten Blick standhalten zu können.
„Reiner Zynismus!“, zischte er aggressiv. „Wenn er sein Leben nach diesem Wahlspruch gelebt hätte, wenn er seine Familie so behandelt hätte, dann wäre er nichts weniger als ein gottverdammter Masochist gewesen, der andere so quälen wollte wie er selbst gequält werden wollte. Dieser Spruch auf seinem Grab ist einfach nur der Ausdruck seiner menschenverachtenden Krankheit!“
Mir kam bei seinen aufgebrachten Worten ein Gedanke, aber ich war noch nicht sicher, ob jetzt der richtige Moment war, ihn auszusprechen. Ich sah auf meinen Vater, der immer noch stocksteif in der tadellosen Haltung eines Soldaten vor dem Grab stand, scheinbar abwartend auf den nächsten Befehl, den das Leben ihm vorsetzte.
Und ich musste mir eingestehen, dass ich noch weit davon entfernt war, mein Bestes zu geben, um unsere Beziehung zu verbessern. Ich wusste einiges über seinen Vater, aber ich gab mich nicht zu erkennen, sondern nutze dieses Wissen, um ihn heimlich zu verachten. Ich war nicht ehrlich zu ihm und ich brauchte mich deshalb nicht zu wundern, dass wir nicht zueinander fanden.
Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst. Die GOLDENE REGEL. Ich beachtete sie so oft, aber nicht mit meinem Vater.
„Kennst du GOLDENE REGEL? Ich meine den Hintergrund?“, plapperte es plötzlich aus mir heraus.
„Den kategorischen Imperativ? Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Natürlich, das ist die Grundlage meiner Existenz!“
Alles kam wie aus der Pistole geschossen aus ihm heraus. Ich war vollkommen baff und spielte aus Verlegenheit das vom Projektil getroffene Opfer, das theatralisch zu Boden sinkt.
„Was ist los, mein Junge? Hast du wieder einen Anfall?“
„Nein.“, erwiderte ich verlegen grinsend und rappelte mich hoch. „Aber hast du nicht gemerkt, wie die gebündelte Kraft von 10.000 Jahren Zivilisation aus dir sprach? Die Essenz deiner Vernunft traf mich wie ein mächtiger Pfeil, der mich zu Boden sinken ließ.“
Er schaut mich verwirrt an. Meinte ich das ernst oder wollte ich ihn einfach nur verarschen?
„Und das alles vor dem frischen Grab des Vaters. Selbst Shakespeare – wenn es ihn wirklich gegeben hat, hätte sich dies nicht besser ausdenken können.“
„Ich verstehe nicht viel von Shakespeare, aber ich glaube du übertreibst mal wieder. Die GOLDENE REGEL ist ganz pragmatisch die Richtschnur jedes Offiziers, jedes Diplomaten, in jeder Verhandlung zwischen erwachsenen Männern.“
Nun schaute ich ihn irritiert an.
„Und natürlich auch Frauen!“, ergänzte er sich. „Sollte es zumindest sein.“
„Auch in Familien?“
„Natürlich auch in Familien, wenngleich dies Aufgrund der vertrackten Emotionen natürlich nicht immer so einfach ist.“
Sein Gesicht zeigte deutlich für einen längeren Moment die schmerzhaften Erinnerungen an seine familiären Niederlagen der Vergangenheit.
Ich schaute wieder auf das Grab meines Opas. Ja, tatsächlich. Friedhöfe, speziell Grabstätten von Angehörigen, haben einen enormen Zauber. Selbst hier am staubigen Rand einer absurden Wüstenstadt in einem zutiefst kranken Land fühlte ich mich mit einem Mal meinem Vater so nah, wie ich es mir vorher nie hätte vorstellen können.
Wohin sollte ich die Energie lenken? Zu seinen familiären Niederlagen? Zur Scheidung von meiner Mutter? Nein, das war nicht das richtige Einstiegskapitel, wenn wir weiter an unserem Vertrauen arbeiten wollten.
„Du sprichst von vernünftigen Männern und Frauen in Verhandlungen, also dem Austausch von Informationen, um sich an einem Punkt zu treffen, an dem beide glauben können, dass sie das Bestmögliche erreicht haben. Kann man das so sagen?“
„Ja, von mir aus. Worauf willst du hinaus?“
„Nehmen wir einmal an, wir beide würden in Verhandlungen stehen. Sagen wir, es geht um die Beziehung zwischen uns beiden. Ein Qualitätsmerkmal ist der Grad unseres Vertrauens zueinander.“
„Ja und?“
„Vertrauen entsteht durch Informationen die wir uns gegenseitig geben, um uns gegenseitig zu verstehen. Hätten wir nun für diesen Fall die GOLDENE REGEL angewandt, hätten wir uns gegenseitig so viele Informationen gegeben wie möglich. Aber ich glaube, dass haben wir beide nicht getan.“
„Nein, das haben wir nicht. Aber so einfach ist das nicht. So viele Informationen wie möglich, heißt nicht gleich auch so gut informiert zu sein wie möglich. Desinformation entsteht schnell durch Informationsflut. Es geht also um relevante Informationen.“
Ich verstand, worauf er hinaus wollte und er hatte Recht.
„Also noch mal anders herum: Hast du das Gefühl, genug über mich zu wissen?“
„Gefühl spielt da keine Rolle.“
„Okay, dann anders formuliert: findest du, dass du genug über mich weißt?“
„Genug wofür?“
„Um eine gute Zeit miteinander zu haben. Um eine gute Beziehung zu haben. Um uns auf uns zu freuen und gern Zeit miteinander zu verbringen.“
„Nun ja, mir ist das ehrlich gesagt alles viel zu schwammig. Ich bin dein Vater und ich stehe dir immer zur Seite, wenn du mich brauchst. Aber ich will mich nicht unnötig in dein Leben einmischen, du bist schließlich kein Kind mehr.“
Ich merkte, dass wir so nicht weiterkommen würden und ich musste mir eingestehen, dass ich gar nicht wusste, wo ich eigentlich hin wollte. Ich schaute wieder auf den Grabstein und fing langsam an zu verstehen, warum die Inschrift auf diesem Grabstein stand. Einem Grabstein kann man nicht widersprechen, jedenfalls nicht so, dass der Grabstein seine Botschaft ändern würde.
„Kommen wir noch einmal zurück zu Opa. Also, du hattest eine Beziehung zu deinem Vater…“
„Eine Schwierige!“
„Genau. Und ich habe auch eine Beziehung zu ihm, genau so, wie du auch eine Beziehung zu deinem Enkel, also meinem Sohn hast. Ich hätte mir gewünscht, dass du mir mehr über Opa und dich erzählt hättest.“
„Auch, wenn da nur schreckliche, grausame und ungerechte Dingen gewesen wären? Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Du hast mich also geschont, in dem du mir nichts erzählt hast?“
Er überlegte einen Moment, als wenn er diesen Gedanken noch nie in Erwägung gezogen hatte.
„Ja, irgendwie schon.“
„Und wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?“
Er schwieg.
„Vor 20 Jahren? Oder waren es sogar 30 Jahre? Das wäre so, als wenn ich ab morgen bis zu deinem Tod nicht mehr mit dir sprechen würde. Glaubst du wirklich, dass das eine gute Idee wäre?“
Er schluckte und seine Kiefermuskeln spannten sich an, bis er sich wortlos abwendete und hinüber zur Airbase starrte.
„Hy folks!“
Wir drehten uns beide gleichzeitig um und sahen einen dicken Mann in Karohemd, Latzhose und mit Strohhut, der uns freundlich zuwinkte. Mein Vater ging sofort zügig auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Ich schaute noch einmal auf Opas Grab und zückte mein Handy, um den Grabstein zu fotografieren.
„Tja, Opa. Ich weiß nicht, ob du alles gehört hast. Aber ich verspreche dir, dass ich weiter dran bleibe. Für manche Dinge lohnt es sich zu kämpfen, selbst wenn es nicht um das große Glück der Menschheit, sondern nur um unsere kleine, kaputte Familie geht.“
Kapitel 6:
„Ey, Fiodor, hast du eigentlich schon was Neues von Tim gehört?“
„Nein, nur dass er mit seinem Vater zu einer Beerdigung nach Las Vegas geflogen ist.“
„Ach so? Ich meine nur, weil sich dieser Professor Biener vom ETH Zürich noch einmal gemeldet hat – sie wollen Tims Projekt haben. Wann wollte er denn wieder da sein?“
„Keine Ahnung, Bodo - ruf ihn doch mal an.“
„Hab ich schon – ist nur die Mailbox dran.“
„Dann schicke ihm doch ne E-Mail oder ne SMS oder sonst irgendwas!“
„Alter, was bist du denn so unfreundlich? Bleib doch mal locker!“
„Oh, Mann, wenn du dich hören könntest! Wie ein kleines Kind! Hoffentlich fällst du nicht über deine offenen Schnürsenkel!“
„Alter, kack doch die Wand an! Außerdem hab ich Klettverschlüsse.“
Kapitel 7:
Während ich auf Guido wartete, las ich im Auto die SMS von Bodo, dass eine Spin-Off-Firma der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich mein System haben wollte. Das war eigentlich eine großartige Nachricht, denn die ETH war ein Big Player auf dem Gebiet der praktischen Anwendungen von Künstlicher Intelligenz und Gehirn-Computer-Schnittstellen. In der wissenschaftsliberalen Schweiz konnten sich schon jetzt viele Projekte durchführen lassen, die in der EU wahrscheinlich nicht in 100 Jahren realisiert werden würden.
Ich atmete tief durch und spürte die gigantische Verlockung, die Geschichte mit meinem Vater und meinem Opa einfach loszulassen und schnurstracks in den nächsten Flieger zu steigen, um in meine strahlende Zukunft zu fliegen. Aber ich spürte auch, dass dies zwar einfach, aber nicht richtig war.
Unser Las Vegas-Abenteuer hatte sich noch nicht erschöpft – hier ging noch etwas, was nirgendwo sonst und auch nie wieder passieren könnte. Ich entschied mich innerlich zitternd, das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen, denn Familie ist es immer wert und Veränderung braucht jemanden, der die bisherigen Grenzen überschreiten will.
Ich schickte Bodo eine SMS, dass ich mich riesig freuen und in den nächsten Tagen melden würde. Dann schickte ich noch eine klebrig-süße Nachricht an meine Frau und macht mein Handy aus. Keine Ablenkung bis zum Abend.
Als mein Vater von der Toilette wiederkam, saß ich am Steuer und startete den Wagen.
„Was ist los? Hast du es eilig?“
„Ja, ich möchte dir noch etwas zeigen. Ist hier gleich um die Ecke – Nähe Hollywood Boulevard.“
„Hollywood Boulevard? Das hört sich nach Zocken und Casino an. Wir sollten uns lieber um unseren Rückflug kümmern. Mein Handy findet hier merkwürdigerweise kein Netz.“
„Meins auch nicht.“, log ich. „Aber die Welt wird davon nicht untergehen.“
Ich gab Gas und wir verließen den staubigen Schotterparkplatz. Der Hollywood Boulevard durchkreuzte eine Wohngegend dieser Wüstenstadt, in der absurderweise mindestens jedes zweite Haus einen Swimmingpool im Garten hatte. Amerikanische Mittelschicht, zwei Autos in der Doppelgarage und private Überwachungskameras an jeder Regenrinne.
Ich bog in die Adobe Villa Avenue ein und parkte vor einem stattlichen Haus, vor dem sogar ein kleiner Elektroflitzer stand. Ich sah meinem Vater an, dass er gerne gewusst hätte, wo es hingeht, aber er war es gewohnt, seine Neugierde zu zügeln und abzuwarten.
Ich stieg aus und bat ihn, sich mir anzuschließen. Einen kurzen Moment lang befürchtete ich, dass ich einen Schweißausbruch bekommen würde, aber dann fühlte ich meinen kugelsicheren Badeanzug unter meinem Hemd. Wir gingen über die betonierte Auffahrt zur Haustür und ich klingelte. Mein Vater musterte das Namensschild und wurde unruhig. Aber bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die schwere Eichentür und eine große Afroamerikanerin Anfang vierzig schaute mich fragend an.
„Hi, what can I do for you?“
„Hi.“, erwiderte ich. „I´m Tim Busch and this is my father Guido Busch.“
„Oh, ja - nice to meet you.“ Sie kam freudestrahlend auf mich zu und umarmte mich.
Dann wollte sie auch meinen Vater umarmen, aber zögerte, weil er ihr steif seine Hand hinhielt. Sie schüttelte diese etwas irritiert und schaute zu mir.
„Come in, sorry – kommt doch rein, das ist eine schone Uberraschung!“
„Wir wollten schon vorgestern kommen, aber die Einreisebehörde hatte etwas dagegen.“
„Ja, the fucking immigration fools – sorry – aber jetzt seid ihr ja hier.“
Sie ging voraus durch das helle Treppenhaus mit dem großen Kronenleuchter in der Mitte der hohen Decke an der offenen Küche vorbei ins riesige Wohnzimmer, von dem man durch die offene Veranda in den gepflegten Garten mit Trampolin und Swimmingpool schauen konnte. Sie ging nach draußen und rief zwei Namen, die ich nicht richtig verstand.
„Verdammt, Sohn!“, zischte mir mein Vater leise aber verärgert zu. „Was soll das alles? Was wollen wir hier?“
„Deine Stiefmutter und deine Halbbrüder kennenlernen.“
Wir konnten durch die großen Verandascheiben sehen, dass draußen am Pool zwei hellhäutige afroamerikanische Jungs im Alter von vielleicht acht und zwölf Jahren saßen und ihre Beine im Wasser baumeln ließen. Elaine redete auf sie ein, aber es schien nicht so einfach zu sein, sie zum Aufstehen zu bewegen.
„Woher wusstest du von ihnen?“, zischte mein Vater erneut.
„Vor sechs Jahren war ich beruflich in San Diego und hatte mich mit Opa am Flughafen getroffen. Mama hatte mir erzählt, dass Opa schon in den Achtzigern in die USA ausgewandert war und sie wollte, dass ich die Chance bekam, mir selbst ein Bild von meinen Großvater zu machen.“
„Stopp, stopp, stopp! Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Ja, es tut mir leid, aber ich wollte, wie du es vorhin formuliert hattest, mich nicht unnötig in dein Leben einmischen. Du bist ja schließlich kein Kind mehr.“
Irgendwie macht es ihn wütend, dass ich seine Argumentation jetzt gegen ihn verwendete, aber gleichzeitig konnte er mich verstehen, sogar besser, als ihm lieb war.
„Du wolltest mich also schonen, damit ich mich ungestört weiter in meinem Scheißsaft drehen konnte?“
„Ja vielleicht, aber jetzt tut es mir wirklich leid, dass ich nicht schon vorher die Kraft hatte, dir alles zu erzählen. Deshalb musste ich mir dir hier herkommen.“
Elaine hatte es inzwischen geschafft, die beiden Jungs ins Haus zu locken. Es war ein steifes Kennenlernen. Verständlicherweise waren die beiden noch ziemlich verstört von dem Tod ihres Vaters. Und ihr neuer, deutscher Halbbruder, der fast ein halbes Jahrhundert älter war als sie und so gar nicht in ihre Welt passte, tat auch wenig, um das Eis tauen zu lassen.
Sie kannten möglicherweise ein paar Geschichten über ihn, dass er ein special agent, ein Geheimdienstoffizier bei der Nato oder ein verschlossener Soldat wäre, der von seinem Vater leider nichts mehr wissen wollte.
Und auch Elaine und ich saßen etwas deplaziert im Wohnzimmer herum und der Moment der peinlichen Stille hielt an. Tyron, der ältere der beiden, nahm endlich die Fernbedienung und schaltete zu unserer allseitigen Erleichterung den riesigen Fernseher ein.
Wir waren sofort schockiert. Auf allen Kanälen liefen Sondersendungen zu einem Bombenattentat in Nordkorea. Scheinbar hatte es eine gewaltige Explosion mit über 50.000 Toten bei einer Massenveranstaltung in Pjöngjang gegeben.
Mein Vater wurde extrem nervös und versuchte sofort erneut mit seinem Handy zu telefonieren, aber er bekam immer noch kein Netz. Er zog sich zum Telefonieren in ein angrenzendes Arbeitszimmer zurück und versuchte es mit dem Festnetz.
Ich saß mit Elaine und den Jungs wie gebannt vor dem noch lückenhaften Abbild des Chaos in Asien und es war klar, dass die Welt nach dieser Katastrophe nie wieder so sein würde wie vorher. Es schien so, als wäre das Attentat von außen begangen worden und das koreanische Regime drohte in alle Richtungen mit Vergeltungsschlägen.
Niemand konnte sich mehr sicher fühlen. Aus unserer persönlichen Trauer über den Tod meines Opas wurde ein alles umfassendes Entsetzen. Elaine konnte diesen Druck nicht mehr aushalten und fing an, hemmungslos zu weinen. Tyron nahm sie tröstend in den Arm und der jüngere Eddie saß mit leerem Blick neben mir und starrte auf seine Hände, unfähig die Bedeutung hinter diesen Fernsehbildern zu verstehen.
In welcher Hölle waren wir unterwegs?
Ich holte mechanisch mein Handy hervor, um mit irgendjemanden vertrauten sprechen zu können, aber ich bekam keinen Empfang, das Netz musste zusammengebrochen sein. Ohnmächtig schloss ich die Augen und lehnte mich an den kleinen Eddie, der mir vorsichtig seinen Arm um die Schulter legte.
Kapitel 8:
Sybilla war eine mutige Frau. Sie hatte schon immer ihren eigenen Kopf und der ließ sie ihren eigenen Weg gehen. Als sie die Bilder über das Attentat in ihrer Wohnung in Hamburg-Altona verfolgte, fing sie das erste Mal in ihrem Leben an, grundsätzlich an dem Guten im Menschen zu zweifeln. Wie konnte es sein, dass ein Weltpopulation mit einem gigantischen Wissen jede Weisheit ignorierte und wieder in den kollektiven Abgrund von Tod und Verderben steuerte?
Nein – Stopp! Es war nicht die Weltbevölkerung, sondern einige wenige, die an ihren geheimen Pokertischen das Spiel bestimmten. Die Weltbevölkerung war lediglich das Publikum, dem von den Massenmedien die Verantwortung zugespielt wurde, denn die Einschaltquoten bewiesen eindeutig, dass das Publikum am liebsten Horror und Katastrophen in den Nachrichten sah. Also bekam das Volk, was es wollte.
Sybilla stand auf und schaltete den Fernseher aus. Stille. Sie atmete tief durch. Der Kleine Theo schlief in seinem Bettchen und der ganz Kleine strampelte in ihrem Bauch. Sie musste an Tim denken und seine SMS. Er erwähnte das Attentat mit keinem Wort. War das Absicht oder hatte er aus unerklärlichen Gründen noch nichts gewusst? Wahrscheinlich hat er schon versucht eine neue Nachricht zu senden, aber das Netz war weltweit zusammengebrochen.
Vielleicht herrschte in den USA auch schon der Ausnahmezustand, weil die Beziehungen zu Nordkorea verbal schon seit vielen Monaten offensichtlich auf Messers Schneide standen. Vielleicht wurde drüben auch schon geschossen und alle Medienberichte wurden wegen der nationalen Sicherheit zensiert. Die vielen Vielleichts in ihren Gedanken ließen sie ihre Ohnmacht spüren. Sie musste irgendwie versuchen, ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung zu lenken.
Als erstes irgendetwas tun, um ihren bisherigen Gedankenfluss zu unterbrechen. Am besten irgendetwas Sinnvolles. Sie nahm ihr Handy und schrieb Tim eine SMS: uns geht’s gut – hoffentlich dir auch – melde dich doch so schnell es geht – wir vermissen dich – superknutsch ☺.
Als nächstes irgendetwas tun, was sowieso getan werden musste. Sie ging in die Küche und fing zögerlich an, den Geschirrspüler auszuräumen. Zwischendurch machte sie mit einer leichtfertigen Handbewegung vollkommen elefantös das Küchenradio an, hörte drei Sekunden eines Sonderberichtes aus China und schaltete es wieder aus. Dann holte sie eine CD mit französischen Chansons aus dem Wohnzimmer, schob sie in das CD-Laufwerk des Küchenradios und merkte, wie ihre Finger beim Druck auf den Startknopf zitterten.
Sie setzte sich an den Küchentisch und fing leise an zu weinen. Die Ohnmacht war da und es machte keinen Sinn, sie zu ignorieren. Aber weinen ist nicht sterben. Weinen ist nichts Schlechtes. Weinen über den Verlust von was auch immer kann auch immer der Neubeginn von etwas anderem sein. Weinen ist wertvoll. Die Fassung verlieren und eine neue gewinnen. Und am besten weint es sich, wenn man schon alleine weinen muss, mit einer Tasse heißen Tee. Sie setzte das Teewasser auf und spürte die kleinen Füße und Knie, die von innen gegen ihre Bauchdecke drückten.
„Entschuldige, mein kleiner Schatz. Natürlich bin ich nicht alleine. Also weine ich gerne mit Dir zusammen - und zwar, weil wir deinen Papa so sehr vermissen.“
Kapitel 9:
Ich hatte gar nicht mitgekriegt, wann mein Vater wieder aus dem Arbeitszimmer herausgekommen war. Irgendwie fühlte sich alles verschwommen an, meine Wahrnehmung lief ab wie in Zeitlupe. Er stand plötzlich hinter mir und berührte mich an der Schulter. Ich dachte erst, es wäre immer noch Eddies Arm und reagierte nicht. Dann rüttelte er mich sanft und beugte sich zu mir runter: „Wir müssen kurz sprechen.“
Ich folgte ihm raus in den Garten, wo er mich über seine Sicht der Dinge aufklärte.
„Erstens: es ist zwar nicht alles geheim, was ich dir jetzt mitteilen werde, aber ich will dir offen sagen, wo wir stehen – deshalb wirst du mit niemandem darüber sprechen. Zweitens: das meiste sind bis jetzt Vermutungen, allerdings gut begründete Vermutungen. Drittens: Stand jetzt gibt es gute Chancen für uns, mit einem Flieger in zwei Stunden vom Flughafen nach Europa zu kommen. Deshalb werden wir uns jetzt von allen verabschieden und so schnell es geht mit dem Wagen zum Flughafen fahren. Hast du alles verstanden?“
Ich nickte und er lächelte mir dünn zu.
„Wir schaffen das schon! Wir beide schaffen das schon!“
Dann ging er voran und verabschiedete sich von den Jungs und von Elaine, jeweils mit einer kräftigen Umarmung, bei der er ihnen noch eine Abschiedsbotschaft zuflüsterte. Ich trottete hinter ihm her und tat es ihm gleich. Bei Elaine entschuldigte ich mich für den überstürzten Aufbruch und ich hatte einen Moment den Eindruck, dass sie am liebsten mit ihren Kindern mitgekommen wäre.
„Wir sehen uns wieder! Das verspreche ich dir, wir sehen uns ganz bestimmt wieder!“
Mein Vater saß schon im Wagen und fuhr sofort los, als ich eingestiegen war.
„Was hast du zu ihnen gesagt, als du sie umarmt hast?“
Er fuhr zügig und konzentriert und gab mir keine Antwort.
„Auch geheim?“
Er lächelte. Ich konnte es kaum fassen! Wieso lächelte mein Vater dreimal an einem Tag? Drei Regentropfen ergeben schon fast eine kleine Pfütze, die ganz winzige Tiere versorgen könnte. Ein zarter Anflug von Fruchtbarkeit. Wann würde es die ersten Blumen in seiner Wüste geben? Woher dieser Klimawandel?
„Sag mal, Dad: warum bist du so gut gelaunt? Sind wir etwa schon im Krieg?“
Kapitel 10:
Professor Bee hieß eigentlich Eberhard Biener, aber seine internationalen Studenten hatten sich schon vor Jahren auf seinen Spitznamen geeinigt: Bee - klein und emsig wie eine Biene. Er musste immer noch innerlich lächeln, wenn ihn ein Student in dieser Kurzform ansprach. Er fühlte sich geschmeichelt und hatte daraus sogar ein Markenzeichen gemacht, in dem er ständig einen kleinen, emaillierten Anstecker in Form einer Biene am Revers seines Jacketts trug und gern metaphorische Statements von sich gab.
„Wer sich für die Weiterentwicklung des Menschen einsetzt, sollte nie vergessen, dass der Mensch von seiner natürlichen Umwelt abhängig ist und diesen Ausdruck von Intelligenz kann man konkret an der Fürsorge und den Schutzmaßnahmen für alle Bienenvölker dieser Erde festmachen.“
Professor Bees Alltag hatte wenig mit echten Bienenvölkern zu tun. Er leitete das Institut für die Entwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen am ETH in Zürich. Außerdem war er Geschäftsführer des Neuro-Labs und arbeitete für viele Gremien als Sachverständiger zur Einschätzung der Einsatzmöglichkeiten digitaler KI-Implantate im menschlichen Körper.
Als er vor einigen Monaten zum ersten Mal von dem ungewöhnlichen Konzept eines jungen Hamburger Forschers zur sozialanthropologischen Entwicklung von künstlicher Intelligenz hörte, war er sehr neugierig. Und nun, während er mit seinem dreißigköpfigen Team schockiert vor dem Fernseher saß und versuchte, die Weltlage zu verstehen, wurde ihm immer klarer, dass er unbedingt herausfinden musste, wie dieses Projekt die Welt verbessern könnte.
Eine Biene macht noch nicht einmal einen Fingerhut voll Honig, aber viele Bienen können sogar die Welt verändern. Er sah in die fassungslosen Gesichter seiner Teamkollegen, die jetzt seit Stunden auf den Bildschirm starrten und wusste, dass sich die Welt ändern muss. Und das wird sich nur bewerkstelligen lassen, wenn sich der Mensch verändert.
Er griff erneut zu seinem Handy und versuchte abermals Tim Busch zu erreichen, aber wieder landete er nur bei der Mailbox. Er war sich nicht zu fein, zum dritten Mal eine freundliche Nachricht zu hinterlassen und legte auf. Dann machte er sich einige Notizen, um eine kurze Ansprache zu halten, denn er spürte, dass sein Team jetzt Orientierung brauchte. Er stand auf, machte den Fernseher aus und stieg über den nächstbesten Stuhl auf den Tisch in der Mitte des Besprechungsraums.
„Liebe Freunde und Kollegen. Wir alle sind fassungslos angesichts der unglaublichen Ereignisse. Diese barbarische, menschenverachtende Gewalt wird nicht in Nordkoreas Grenzen haltmachen! Es ist durchaus wahrscheinlich, dass wir auf der ganzen Welt in einen Strudel der schlimmsten Eskalation geraten! Aber wir sind Wissenschaftler! Wir lassen uns trotz unseres Mitgefühls und unserer Angst nicht in die Verzweiflung führen! Wir glauben weiterhin an eine Zukunft, in der die Menschen die Barbarei überwinden und lernen, kooperative Wege des Zusammenlebens zu finden.
Also, ich möchte jetzt alle bitten, die noch einen Funken Energie in sich spüren, sich in fünf Minuten an der Entwicklung eines Notfallplans zu beteiligen, denn wir können jetzt nicht so tun, als wenn nichts geschehen wäre. Alle anderen gehen jetzt sofort nach hause und sorgen dafür, dass sie morgen früh ausgeruht und voller Zuversicht wieder hier auf der Matte stehen. Also lieber einen Wein oder zwei Schnäpse mehr, als die ganze Nacht auf irgendeinen News-Bildschirm zu starren. Lasst es einfach!
Und eines verspreche ich euch: wir werden aus dem heutigen Tag lernen und ich werde all meine Energie zur Verfügung stellen, dass unsere Arbeit in die Welt hinausgeht und sie verändern wird. Ich danke euch für euer Vertrauen.“
Er stieg wieder vom Tisch und bekam sofort von vielen im Team lebhaften Zuspruch und Anerkennung. Einige waren noch überrascht, denn so hatten sie Prof. Bee noch nie erlebt. Er selbst stand auch noch ein bisschen neben sich, denn es war tatsächlich das erste Mal, dass er eine Bühne regelrecht emotional gerockt hatte. Und es fühlte sich trotz der katastrophalen Umstände verdammt gut an.
Kapitel 11:
Überraschenderweise war auf den Strassen von Las Vegas kaum Verkehr.
„Was hast du gedacht? Dass die Amis jetzt alle in die Wüste fliehen, weil in Pjönjang eine Monsterbombe explodiert ist?“
Ich war erstaunt über die flapsige Bemerkung meines Vaters. „Was meinst du mit Monsterbombe? Ist das ein militärischer Fachausdruck?“
„Nein, mein Junge. Aber wie würdest du denn ein Explosionskörper nennen, der in der Lage war, weit über 50.000 Menschen auf einmal zu töten?“
„Hast du rausfinden können, was genau passiert ist? So weit ich das verstanden habe, hatten sie in den Nachrichten bis jetzt nur vage Vermutungen.“
„Es scheint bewiesen zu sein, dass es eine einzige Detonation war. Wie sie ausgelöst wurde ist noch vollkommen unklar. Aber nach den gemessenen Erschütterungen zu urteilen war es keine konventionelle Waffe.“
„Was meinst du damit – nicht konventionell? Glaubst du es war eine Atombombe?“
Mein Vater verzog das Gesicht. Er schien mit sich zu kämpfen, wie weit er mich ins Vertrauen ziehen sollte. Vielleicht waren seine Erkenntnisse noch viel zu vage und er wollte mich nicht unnötig verunsichern. Er schaute mich an und schwieg. Ich merkte, wie der Ärger in mir aufstieg. Genau diesen Blick hatte ich schon tausendmal gesehen und ich hasste ihn.
„Dad, das kannst du jetzt nicht mit mir machen!“, schrie ich ihn an. „Nicht wieder! Nie wieder! Sag mir jetzt verdammt noch mal, ob das eine Atombombe war oder ich rede nie wieder ein Wort mit dir!“
Er schluckte. Und dann lächelte er dünn.
„Ja, so weit ich das beurteilen kann, war das eine A-Bombe.“
Ich konnte mein Herz, das eben noch unter vollem Adrenalin heftig schlug, plötzlich nicht mehr spüren. Es hatte nicht ausgesetzt, sondern ich war irgendwie eingekapselt. Auch meine Beine und Hände konnte ich nicht mehr spüren. Ich fuhr mir mit den Fingern ungelenk durch meine Haare, aber alles fühlte sich wie warmes, zähflüssiges Gel an. Ich atmete und sah, wie sich mein Brustkorb auf und nieder senkte, aber ich spürte meinen Atem nicht. Ich sah die Straßen von Las Vegas an mir vorbeiziehen und hörte gedämpfte Geräusche, aber sie drangen nicht zu mir durch.
Alles war einfach nur glasklar. Mein Vater hatte mich angelächelt und mir seine Wahrheit gesagt. Wir waren tatsächlich verbunden, auch wenn es die schlimmste Wahrheit war, die ich mir vorstellen konnte. Endlich! Ich grinste ihn an und lehnte mich entspannt zurück. Endlich.
Kapitel 12:
Präsidentenberater hatten schon immer vielfältige Aufgaben. Manchmal ging es einfach darum, sich so entspannt wie möglich zurückzulehnen und nichts Falsches zu sagen. Jeremy Higgins stand vor dieser Aufgabe, als er in das abgedunkelte Zimmer in Washington D.C. trat, um mit verschiedenen Vertretern der wichtigsten In- und Auslandsgeheimdienste der Vereinigten Staaten von Amerika ein Gespräch zu führen.
Jeremy kannte die meisten der Anwesenden und er hatte eine klare Marschroute, um möglichst schadlos durch das Minenfeld hindurchzukommen. Einig waren sich scheinbar alle Anwesenden darüber, dass die gewaltige Explosion in Nordkorea nicht nur tausende Menschenleben gekostet hatte, sondern auch die Interessen der Amerikanischen Nation beträchtlich schaden könnte. Die Fragen sollten eigentlich den Hintergrund des Attentats in Pjöngjang aufklären, aber weil dieser aktuell noch überhaupt nicht zu erkennen war, zielten sie auch auf mögliche Versäumnisse, die einen Anschlag in dieser Größenordnung überhaupt erst möglich gemacht hatten.
Jeremy umkurvte elegant alle Fallstricke und wähnte sich und noch viel wichtiger: seinen Präsidenten in Sicherheit, als ihm plötzlich eine Tonbandaufnahme vorgespielt wurde.
„Great, wir haben jetzt einen Deal und alles wird im Sinne der Freiheit der anständigen Menschen seinen Gang nehmen.“
“Ist das Ihre Stimme, Mr. Higgins?”
Jeremy Higgins hatte schon viel in den abgedunkelten Hinterzimmern der Macht erlebt, aber dieser heiße Dorn stieß tief in seine Eingeweide und verursachte eine explosive Panik, die er kaum verbergen konnte. Er versuchte Zeit zu gewinnen und dabei einen tollen Gedanken zu finden, der ihn in die Luft heben könnte, ohne die Tretmine unter ihm explodieren zu lassen.
“Kann ich das noch mal hören?”
„Great, wir haben jetzt einen Deal und alles wird im Sinne der Freiheit der anständigen Menschen seinen Gang nehmen.“
„Ich … ich bin mir nicht sicher, bitte noch einmal.“
„Great, wir haben jetzt einen Deal und alles wird im Sinne der Freiheit der anständigen Menschen seinen Gang nehmen.“
„Was … in welchem Zusammenhang soll ich das gesagt haben?“
„Das spielt keine Rolle, wir möchten nur wissen, ob Sie Ihre Stimme wiedererkennen.“
Jeremy wusste, dass er aus dieser Nummer nicht mehr rauskommen würde. Wenn sie diese Aufnahme hatten, dann hatten sie auch noch ganz andere Kaliber im Köcher. Ihm schwante, dass es für ihn jetzt nicht mehr um die Frage gehen würde, auf welcher Seite er stehen wollte.
Jetzt ging es einzig und allein darum, ob er bereit wäre, seine Karriere, sein Leben, sein Alles für seine Überzeugung zu opfern. Das klare Nein kaum für ihn sehr schnell und eindeutig aus seinem Inneren.
Seine Überzeugung hatte keine festen, inhaltlichen Leitplanken. Nicht nur wegen des zweifelhaften Charakters seines aktuellen Präsidenten, auch nur mit sich selbst konnte er sich nicht ernsthaft vormachen, an die Überlegenheit einer weißen Rasse oder einer von Weißen geführten amerikanischen Nation zu glauben. Auf diese Blätter hatte er in den letzten dreißig Jahren nur gesetzt, weil er diesen unglaublichen, nie abnehmenden Rückenwind spürte. Im gesamten Establishment gab es Unmengen von Amts- und Mandatsträgern, die sich dem White Privilege wie selbstverständlich und gegen jeden gesunden Menschenverstand verpflichtet fühlten. Und nachdem selbst der erste schwarze Präsident diesen weißen Mahlstrom nur mit Samthandschuhen angefasst hatte, fühlten sich die meisten unbesiegbar.
Doch nicht Higgins.
Seine persönliche Überzeugung, die ganz tief hinter all seinem selbstherrlichen Auftreten lag, beruhte einzig und allein auf dem Anspruch, sich bei allem was er tat, nicht erwischen zu lassen.
Und diesmal hatte er sich erwischen lassen. Vielleicht war alles ein abgekartetes Spiel und er hatte von Anfang an keine Chance gehabt, aber auch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Jetzt ging es nur noch darum, sich irgendwie, mit irgendeinem Deal wieder herauszuwinden.
Kapitel 13:
Wir lagen gut in der Zeit und trotzdem blieb mein Vater angespannt. Er hatte wahrscheinlich schon viele Geschichten erlebt oder gehört, in denen die Helden es nicht geschafft hatten, in dem startenden Flugzeug zu sitzen, das die letzte Rettung versprach.
Er bog gerade zügig von der Paradiese Road ab, um zum Terminal 1 des McCarran International Airport vorzufahren, als wir feststellen mussten, dass der gesamte Flughafenzugang schon abgeriegelt war. Dutzende Polizeiwagen sperrten jede Straße, die Gebäude wurden evakuiert. Alles leuchtete in rot und blau und überall hörten wir jaulende Sirenen.
„Schnell, schalte das Radio an, vielleicht ist es ein Terroranschlag!“
Ich drückte hektisch den Knopf und riss die Lautstärke auf.
„… befinden sich die Vereinigten Staaten im Ausnahmezustand. Nach ersten Berichten explodierte die verherrende Bombe über der Stadt Hiroshima, die schon im 2. Weltkrieg von einer Atombombe zerstört wurde. Überall herrscht die höchste Sicherheitsstufe. Öffentliche Plätze und Verkehrsknotenpunkte werden gesperrt. Der Gouverneur von Nevada fordert alle Bewohner auf, Ruhe zu bewahren und zuhause zu bleiben. Es besteht keine akute Gefahr, aber die Streitkräfte und die Homeland Security sind in Alarmbereitschaft, um das Land vor allen Gefahren zu schützen…“
„Oh, mein Gott! Scheiße!“ stöhnte mein Vater auf und schlug dosiert auf das Lenkrad.
„Hiroshima.“, hörte ich mich fassungslos murmeln. „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir wiederholen die Geschichte.“
„Ja, vielleicht hast du Recht, aber im Moment haben wir ganz andere Sorgen!“ Er wendete den Wagen und fuhr langsam zurück ins Stadtzentrum.
„Halt die Augen auf! Wir müssen unbedingt ein Festnetz-Telefon finden.“
„Dad, hast du es nicht kapiert. Die Verrückten schmeißen Atombomben! Wir stecken mitten in einem Atomkrieg! Die Erde wird vernichtet und du suchst eine Telefonzelle!“
„Nun beruhige dich, Junge. Wir brauchen Informationen, um hier heil rauszukommen.“
„Wie willst du von der Erde heil rauskommen? Wir sind verloren wie alle anderen auch!“
„Nun werde bloß nicht hysterisch! Es ist nicht das erste Mal, dass Atombomben auf diesem Planeten explodieren. Wir werden schon einen Weg finden. Dahinten ist eine!“
Er steuerte den Wagen an den Straßenrand, zog den Schlüssel ab und öffnete die Fahrertür.
„Bleib im Wagen und beruhige dich. Spar dir deine Kraft, es wird auch so nicht einfach werden.“
Dann stieg er aus und ging zu der modernen Variante einer Telefonzelle, die nur noch aus einem kleinen Dach und einem zweiseitigen Windschutz bestand. Ich konnte sehen, wie er eine lange Nummer aus dem Kopf wählte und nicht lange warten musste, bis er jemanden dran hatte. Warum blieb ich eigentlich hier im Wagen sitzen wie ein kleines Kind? Weil er es mir gesagt hatte? Ich habe genauso viele, gute Gründe, um zu telefonieren. Ich müsste Sybilla bescheid sagen. Ich müsste mich beim Job melden. Ich habe auch ein Leben mit Menschen, denen ich wichtig bin! Ich stieg aus und ging auf das Münztelefon zu. Noch bevor ich ihn erreicht hatte, hatte er schon wieder aufgelegt.
„Ich sagte doch, du sollst im Wagen bleiben!“
„Ich muss auch mal telefonieren. Hast du kleine Münzen?“
„Dafür haben wir jetzt keine Zeit.“
„Du vielleicht nicht, aber ich schon. Ich habe eine Familie, die sich um mich Sorgen macht, falls du verstehst, was ich damit meine. Also, hast du jetzt kleine Münzen oder nicht?“
„Du wirst nicht durchkommen!“
„Du bist doch eben auch durchgekommen, warum sollte ich es nicht schaffen?“
„Na gut, Sturkopf, du wirst es ja selbst sehen.“
Er drückte mir eine Handvoll Münzen in die Hand. Ich nahm mit einem Anflug von Selbstsicherheit den Hörer und wählte die Nummer von Sybilla. Es klingelte – einmal, zweimal, dreimal, dann ging ihre Mailbox ran und ich warf mit zitternden Fingern schnell alle Münzen in den Schlitz.
„Schatz, ich bin es. Mir geht es gut. Wir sind noch in Las Vegas, aber der Airport ist gesperrt. Mach dir keine Sorgen, wir finden einen anderen Weg – Papa hat schon einen Plan. Ich hoffe, es geht euch gut und ich vermisse dich sehr und…“
Dann war die Leitung unterbrochen. Selbstzufrieden drehte ich mich zu meinem Vater um. Er lächelte auch.
„Können wir jetzt fahren?“
Kapitel 14:
Prof. Bee konnte es nicht fassen, als er die Bilder der Verwüstung in Hiroshima auf dem Fernsehschirm sah. Er war jetzt 44 Jahre alt, also zu jung, um sich einbilden zu können, dass er sein Leben schon gelebt hatte. Die Bombe soll weit über 200.000 Opfer gefordert haben. Eine unvorstellbar große Zahl, die aber eigentlich keine entscheidende Rolle spielte.
Jeder einzelne Mensch, der durch eine Bombe oder eine andere Form von menschenverachtender Gewalt stirbt, war einer zuviel. Durch die Bombe auf Hiroshima wurde in der ganzen Welt der Ausnahmezustand ausgerufen. Verkehr, Kommunikation, Wirtschaft, alles hielt den Atem an.
Der Anschlag in Pjöngjang war schlagartig fast komplett aus dem Raster der medialen Öffentlichkeit gefallen, als wenn es immer nur eine Breaking News geben könnte. Für alle schien klar zu sein, dass Nordkorea einfach Vergeltung verübt hatte und Japan getroffen wurde, weil die nordkoreanischen Raketen in der Reichweite stark begrenzt waren.
Die Bösen waren enttarnt, wenngleich sie möglicherweise nicht einmal den ersten Schritt getan hatten. Es gab zwar Spekulationen, dass das Massaker in Nordkorea ein interner Putschversuch war, der nicht funktioniert hatte und manche der medialen Geheimdienstpopulisten wollten sogar wissen, dass dieser Putschversuch nur inszeniert war, um die freie Welt endlich ins Verderben stürzen zu können. Aber machte das Sinn? Konnte die Erklärung für den bevorstehenden Weltuntergang ein verrückter Raketenmann sein?
Obwohl die UNO und der Sicherheitsrat noch keine offiziellen Verlautbarungen über einen anstehenden Krieg veröffentlicht hatten, konnte sich Prof. Bee gut vorstellen, welche Szenarien in den Hinterzimmern der Macht durchgespielt wurden. Chaos war schon immer eine Chance für diejenigen, die sich den anderen ein Schritt voraus wähnten.
Die weltweite Wissenschafts-Community wollte den Ereignissen jedoch nicht tatenlos zusehen. Zwar herrschte überall Fassungslosigkeit und Bestürzung angesichts des Sturzes in die Barbarei, aber unglaublich schnell formierten sich weltweit über die nationalen Akademien der Wissenschaften Demonstrationen vor den Regierungssitzen.
Sofort schlossen sich Künstler, Politiker, Wirtschaftsführer, Gewerkschaften, Parteien, Verbände und große Teile der Weltbevölkerung an, um nicht tatenlos zuzusehen, wie die Spirale der Gewalt die Zivilisation immer weiter in den Abgrund zog.
„Wir haben nur einen Planeten – stoppt die Vergeltung!“ war ein intelligenter Claim für die internationale Kampagne.
Prof. Bee glaubte zunächst nicht ernsthaft daran, dass sie damit etwas bewirken würden. Erst als er die Bilder von den Hunderten von Millionen Demonstranten in allen großen Städten der Welt sah, schöpfe er wieder Hoffnung, dass die Menschheit vielleicht doch noch mit einem blauen Auge davonkommen würde. Noch nie waren so viele Menschen mit dem gleichen Ziel auf der Straße. Aber die Erde stand auch noch nie so nah am Abgrund.
Der große Teil seines Teams war auch auf der Strasse, einige in Bern, andere in Zürich. Aber er wollte dem Weltgeschehen wirklich einen Schritt voraus sein. Selbst wenn sich die Gewalt noch einmal deeskalieren lassen würde und die Schuldigen rechtstaatlich zur Verantwortung gezogen werden sollten, der Mensch kann sich nicht auf den Menschen verlassen. Er braucht Hilfe. Ganz praktisch. Die GOLDENE REGEL allein hat nicht die Kraft, in einer ungerechten Welt für Gerechtigkeit zu sorgen.
Er stand auf und sprach zu dem übrig gebliebenen Kern seines Teams, der mit ihm nach vorne schauen wollte.
„Liebe Freunde und Kollegen. Vielleicht werden wir nur einen winzigen Beitrag dazu leisten, dass die Zukunft unseres Planeten nicht mehr von Einzelnen auf dem Pokertisch eingesetzt wird, aber diesen Beitrag werden wir mit aller Kraft leisten. Und weil wir davon ausgehen müssen, dass wir in den nächsten Wochen und Monaten oder sogar Jahren nur unter äußerst unvorteilhaften Bedingungen arbeiten können, brauchen wir einen klaren Fokus.
Was braucht die Menschheit, um das Risiko des gewaltbereiten Wahnsinns in den Griff zu kriegen? Welche Form von Künstlicher Intelligenz kann sicherstellen, dass der persönliche Wahnsinn in Zukunft rechtzeitig erkannt und Irrsinnstaten verhindert werden können? Jetzt ist der Zeitpunkt, diesem Ziel alles andere unterzuordnen. Und wenn wir unser Bestes geben, werden wir vielleicht irgendwann doch noch sagen können, dass wir stolz darauf sind, Menschen zu sein!“
Kapitel 15:
Jeremy Higgins hatte für einen Moment gehofft, dass die Bombe in Hiroshima ihn aus dem Schlammassel ziehen könnte. Er träumte davon, einfach zum Präsidenten zu gehen und alles zu erzählen. Wie ein Sechsjähriger, dem man es hoch anrechnen würde, dass er reinen Tisch machen wollte. Nur, dafür war es einerseits schon viel zu spät und andererseits konnte er sich auch sehr gut vorstellen, unter welchen Konsequenzen er dann von dem machtbesessenen Psychopathen mit den rollenden Augen unter der grellorangen Matte gefeuert worden wäre.
Und weil er ahnte, dass er nicht der einzige Belastungszeuge sein würde, gab es sowieso in dieser Richtung keinen Ausweg mehr. Ihm blieb nichts anderes übrig, als alles auf eine Karte zu setzen, um seine wahrscheinlich allerletzte Chance nutzen zu können. Er hatte schon wesentlich linkere Dinge in seinem Leben erfolgreich gedreht, aber diesmal hatte er sich selbst einen schwerwiegenden Nachteil eingehandelt. Er hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich selbst hinterfragt und dadurch den größten Teil seiner dreisten Zuversicht verloren.
Wenn früher die Weicheier unter seinen Kollegen ihren Schwanz eingezogen hatten und er in die Bresche sprang, konnte er ihre Angst in ihren Augen erkennen. Und genau diese Angst konnte er jetzt in seinem Spiegelbild sehen. Und er hasste sich dafür.
Kapitel 16:
Mein Vater lenkte den SUV Richtung Südwesten. Ich hatte gehofft, dass er mich weiter ins Vertrauen ziehen würde, aber er erzählte wieder nur soviel, wie er für notwendig hielt und das war im Moment gar nichts. Also fuhr er und schwieg. Hin und wieder traf mich sein Seitenblick, aber ich reagierte nicht darauf. In mir kamen Erinnerungen hoch, wie ich als Kind schon genau so reagiert hatte und ich spürte wieder die Wut auf ihn, die sich schon damals bei mir entwickelt hatte. Meine Kiefermuskeln verspannten sich hörbar und ich machte das Radio an.
„… immer noch keine genauen Erkenntnisse, über die Verantwortlichen der Katastrophen in Japan und Nordkorea. Der Sicherheitsrat der UNO tagt ununterbrochen und die Massenmedien aller Nationen wurden aufgefordert, keine voreiligen Spekulationen zu verbreiten. Alle Social-Media-Plattformen sind weitgehend gesperrt und in allen Großstädten herrscht der Ausnahmezustand. Über drei Milliarden Menschen sind weltweit auf der Straße, um gegen den drohenden Atomkrieg zu protestieren. Bis jetzt ist es zu keinerlei nennenswerten Zwischenfällen gekommen, selbst in Pjöngjang demonstrierten Hunderttausende für den Frieden.“
Ich knirschte immer noch hörbar mit den Zähnen.
„Wo fahren wir hin?“
„Nach Westen. Von Las Vegas haben wir keine Chance, nach hause zu kommen. Und wir müssen tanken. Da vorne – Beacon Station. Schau mal, was wir alles brauchen könnten, Verpflegung und so.“
Er fuhr von dem Highway ab und steuerte die Tankstelle an. Wir waren die einzigen, aber die Station war besetzt. Ich schlenderte widerwillig durch den kleinen Drugstore und packte ein paar Sachen ein, bis er reinkam, noch kurz zwei, drei Sachen ergänzte und bezahlte. Er verlor keine Zeit und wenige Minuten später waren wir wieder unterwegs.
Nach einigen Kilometern bog er rechts ab und folgte einer schottrigen Piste durch die Wüste. Ich platzte fast vor Ungeduld.
„Also, wo fahren wir jetzt genau hin? Kannst du dir vorstellen, wie eklig es sich anfühlt, nicht zu wissen, was passieren wird?“
„Ich weiß auch nicht, was passieren wird.“
„Nun stell dich nicht blöd! Du hast einen Plan, aber verrätst ihn nicht. Du behandelst mich schon wieder wie ein kleines Kind, das nicht unnötig stören soll.“
„Du bist mein Sohn und ich trage die Verantwortung für dich. Daran lässt sich nichts ändern.“
„Aber ich bin kein Kind mehr! Verstehst du? Ich habe selbst Kinder und du lässt mich jede Sekunde spüren, dass zwischen uns beiden etwas nicht stimmt. Und das geht schon mein ganzes Leben so!“
Er schwieg und fuhr weiter durch die Nacht. Meine jahrzehntelange Wut auf ihn schwoll weiter an.
„Du hast am Grab von Opa von der GOLDENEN REGEL gesprochen…“
„Genau genommen hattest du davon angefangen.“
„Ja und du hast behauptet, dass sie die Grundlage deines Lebens sei. Nur, wenn du mich fragst, ist das alles nur eine Farce. Wahrscheinlich ist dein ganzes Leben nur eine Farce. Du tust mir echt leid.“
Er schaute zu mir rüber, aber entgegnete nichts.
„Weißt du was? Ich habe immer versucht, dich zu verstehen, aber Mama hatte Recht…“
„Hör auf!“, schrie er mich plötzlich an. „Lass deine Mutter aus dem Spiel!“
„Warum?“, schrie ich zurück. „Weil sie dich verlassen hat? Weil sie der einzige Mensch war, der dir wirklich Schmerz zufügen konnte?“
„Du weißt überhaupt nichts!“
„Doch ich weiß eine ganze Menge! Und genau dass ist das Problem: du glaubst, du hast alles im Griff mit deiner scheiß Geheimniskrämerei! Und du merkst überhaupt nicht, wie du damit unser Leben zerstörst!“
Mein Vater griff plötzlich in voller Fahrt zu mir rüber und packte mich am Kragen.
„Du kleiner Scheißer! Was glaubst du eigentlich…““
Weiter kam er nicht, weil ich mich wehrte und der Wagen heftig ins Schlingern geriet. Mein Vater bremste und versuchte gegenzusteuern, bekam den Wagen fast wieder in den Griff, doch dann kippte der hochbeinige SUV mit dem letzten Schwung doch noch auf die Fahrerseite. Ich flog zu ihm herüber und es herrschte für einen Moment Stille.
„Scheiße!“, knurrte mein Vater und versuchte mich von sich weg zu schieben. Ich kletterte unbeholfen nach oben und versuchte die Beifahrertür zu öffnen, aber der Winkel war zu ungünstig und das Gewicht der massiven Tür zu groß.
„Warte, ich mach dir das Fenster auf.“