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Februar, 1945. Eberhard Schmidt, Produktionsleiter der UfA, schmiedet einen kühnen Plan: Bevor die SS unliebsame Künstler loswerden kann, bringen sich einige von ihnen nach Mayrhofen in Sicherheit. In Tirol werden sie angeblich einen Film für den deutschen Endsieg produzieren. Doch was den Anschein eines Drehs hat, ist in Wirklichkeit ein Spiel mit dem Feuer. Das Team hat keinen Meter Film dabei! Während die Crew den Sieg der Alliierten herbeisehnt, entfacht sich zwischen den Schauspielern Luis Adrian und Lisa Lion ein ganz anderes Feuer.
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Seitenzahl: 319
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Anton Leiss-Huber
Der große UFA-Bluff
Roman nach einer wahren Geschichte
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieses Werk wurde im Rahmen des Neustart Pakets Freie Kunst mit einem Förderstipendium des Freistaats Bayern 2022 gefördert.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Erika Schmachtenberger / Ullstein Bild
ISBN 978-3-7349-3386-8
»Der Zweck heiligt die Mittel.
Auch die Schlafmittel.«
Erich Kästner in »Notabene 45«.
Der Schriftsteller hat darin den großen Bluff beschrieben,
bei dem die Nazis übers Ohr gehauen wurden,
um ihm und vielen anderen das Leben zu retten.
Über ihnen heulte der auf- und abschwellende Ton der Sirenen. Schritt für Schritt führte Luis seine Mutter den finsteren Gang entlang. Sie zitterte am ganzen Körper. Nach wenigen Metern passierten beide die Stahltür zum Luftschutzkeller. Drinnen brannte eine einzelne Glühbirne und tauchte die Bewohnerinnen des Hauses in ein diffuses Licht. Schweigend kauerten die Frauen auf ihren angestammten Plätzen. An diesem Abend hatte kein Unbekannter von der Straße den Weg in ihren Keller gefunden. Luis war der einzige Mann im Raum. Die alte Bormann, ihre Etagennachbarin, stand auf und verriegelte hinter ihnen die Tür. Ein Halbmond aus weißer Farbe auf der gegenüberliegenden Wand leuchtete Luis entgegen. Dort war die gekennzeichnete Stelle, an der das Mauerwerk am dünnsten war, um im Notfall einen rettenden Durchbruch einzuschlagen. Das würde seine Aufgabe sein. Luis und seine Mutter setzten sich auf die Bank darunter. Mit einem Blick kontrollierte er, ob die Spitzhacke neben ihm bereitlag. Keiner sprach ein Wort und der Klang der dumpfen Sirenen draußen verstummte. Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm machte sich breit. Luis atmete tief durch und konnte wieder einen klaren Gedanken fassen. Unerwartet tauchte seine Kollegin Lisa darin auf. Heute war in Babelsberg für sie ein Nachtdreh anberaumt worden. Er wünschte sich zu ihr und war doch gleichzeitig froh, diesen Abend bei seiner Mutter verbringen zu dürfen. Wer würde seine Rolle in »Ein Mädchen mit allen Vorzügen« übernehmen, wenn er die Nacht nicht überlebte? Wen würde die Produktionsleitung an Lisas Seite stellen? Würde die Ufa den Film zu Ende drehen, wenn er nicht mehr dabei war? Ganz bestimmt. Das Feuer der Flugabwehr riss ihn aus seinen Überlegungen. Nicht mehr lange und die Sprengkörper fielen vom Himmel. Das leise, immer lauter werdende Dröhnen explodierender Bomben näherte sich. Das Licht flackerte und die Beleuchtung erlosch. Plötzlich ertönte ein grelles Geräusch, aber kein Knall. Luis presste seine Finger in die Ohren und öffnete den Mund. Nun folgte eine gewaltige Detonation. Kalk rieselte von oben auf ihn herab. Die Stahltür wurde aus dem Mauerwerk gerissen und flog in den Kellerraum. Seine Mutter schrie. Rauch, Steine und Dreck fluteten herein. Luis fühlte, wie er hochgehoben wurde, und eine unsichtbare Kraft schleuderte ihn gegen die Wand. Sein Aufprall wurde vom Körper einer Frau abgefedert. Er verlor das Bewusstsein.
Die Straßen wurden breiter. Die Gebäude wichen Grünflächen. Berlin verblasste hinter ihnen. Krömer öffnete ein Seitenfenster, und die Fahrtluft kühlte die Hitze im Wagen. Luis fühlte den Schweiß auf seinem Nacken, wischte ihn mit seiner Handfläche weg und sah auf seine Knie hinunter. Seine Finger rutschten über den glatt polierten Umschlag der Einladung. Empfang zur Premiere von »Ein Mädchen mit allen Vorzügen« stand darauf in geschwungener Schrift. Darunter der Ort: »Inselstraße 8, Schwanenwerder«. Der Propagandaminister persönlich lud zu dieser Feier in seine Privatvilla. Die Filmvorführung hatte bereits am Nachmittag im Tauentzienpalast stattgefunden. Nach viel Applaus und Händeschütteln hatte Krömer, der Ufa-Chauffeur, Luis noch einmal in die Laubenkolonie gefahren, damit er sich umziehen konnte. Hier lebte er seit dem verheerenden Unglück. Tante Mine hatte bereits auf ihn gewartet und ihm den Anzug abgenommen. Den frisch geplätteten Smoking aus dem Fundus hatte sie bereitgelegt samt einem Blumenstrauß aus ihrem Garten für die Gastgeberin des Abends. Alles musste sehr schnell gehen, denn Minister Goebbels hasste es, wenn ihn seine Schauspieler warten ließen.
»Na, nervös?«, fragte Krömer.
»Ach, Otto«, seufzte Luis.
Krömer gab sich damit als Antwort zufrieden, schwieg und konzentrierte sich auf die Landstraße, die jetzt durch dichten Wald führte. Schwanenwerder kam näher.
Als sie das Tor erreichten, verlangsamte Krömer die Fahrt. Zwei Männer in Uniform traten aus dem Wachhäuschen. Einer von ihnen nickte kurz, als Luis ihm die Einladung durch das Limousinenfenster reichte und das Eingangsportal öffnete sich. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und rollte über den Kiesweg. Goebbels Villa lag vor ihnen, groß, massiv und furchterregend. Diener in Schwarz-Weiß säumten die Auffahrt, die Hände hinter ihrem Rücken. Krömer hielt direkt vor dem geschlossenen Portal und wünschte Luis einen schönen Abend.
»Ich parke hinten bei der Küche und warte dort auf dich. Lass einfach nach mir rufen, wenn du genug hast. Falls du heimlich ein oder zwei Flaschen rausschmuggeln kannst, sind Mine und ich dankbare Abnehmer.«
»So was von Ehrensache! Ich vergesse euch nicht.« Luis stieg aus und hörte, wie die Kiesel unter seinen Schuhen knirschten. Sein Blick kletterte an der Fassade empor. Unerwartet schwungvoll wurde die Tür aufgerissen. Im Licht erschien kein Diener oder Hausmädchen, sondern Magda Goebbels persönlich. Im Tauentzienpalast hatte sie durch Abwesenheit geglänzt. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass Luis dieser Frau leibhaftig gegenüberstand.
»Guten Abend«, wünschte sie höflich und ging in ihrem langen Abendkleid einen Schritt zur Seite, um Luis eintreten zu lassen. Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
Luis führte sie an seine Lippen. Auf jedem einzelnen ihrer Finger prangte ein Brillantring. »Mein Name ist Luis Adrian …«, begann er, wurde jedoch von Frau Goebbels Lachen unterbrochen.
»Entschuldigung, aber wer kennt Sie nicht, Herr Adrian«, sagte sie. »Seit Ihrem Debüt in ›Gewitter über der Heide‹ gehören Sie zu meinen Lieblingsschauspielern. Ein großartiger Film, der die deutschen Werte wirklich in den Mittelpunkt stellt. Und in Ihrem Abendanzug wirken Sie ja tatsächlich erwachsen, junger Mann.«
Luis bedankte sich mit einem Nicken und reichte ihr Tante Mines Blumenstrauß, den er mühsam und nervös von seinem Papier befreite. Über Magda Goebbels’ Gesicht huschte ein Lächeln, und noch ehe sie sich für Luis’ Geschenk bedanken konnte, meldete sich dienstbeflissen eines der Hausmädchen, das unauffällig im Hintergrund gewartet hatte.
»Gnädige Frau, ich stelle die Blumen in eine Vase.«
»Tun Sie das«, erwiderte die Gastgeberin, bevor sie sich wieder Luis zuwandte. »Ich war heute Nachmittag leider verhindert, aber mein Mann hat mir Großartiges von Ihnen berichtet. Und ich bin schon sehr gespannt auf ›Majestät lassen bitten‹. Kommen Sie mit dem neuen Projekt gut voran?«
Luis wollte antworten, aber Magda Goebbels sprach sofort weiter.
»Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.« Ihre Hand wies in die Eingangshalle in der schon Trubel herrschte.
Obwohl er pünktlich war, hatte sich der Rest der Ufa-Angehörigen, die an »Ein Mädchen mit allen Vorzügen« gearbeitet hatten, bereits eingefunden. Magda Goebbels ging voraus und war nach ein paar Schritten in der Masse verschwunden. Luis blieb stehen, um sich zu orientieren. Er hielt Ausschau nach Lisa, konnte sie aber nirgends entdecken. Die Villa war prachtvoll. Musik drang aus einem der seitlichen Räume an sein Ohr. Direkt im Eingangsbereich war eine Bar und ein langes Büfett aufgebaut worden, um das sich Gäste und Personal scharten. Eine Frau in Spitzenschürze bot ihm Sekt an, und am anderen Ende, wo eine große Freitreppe in den ersten Stock führte, hob jemand seine Hand, um Luis heranzuwinken. Es war Eberhard Schmidt, der Produktionsleiter. Dieser stand neben einem großen Nelkengebinde und wirkte sichtlich angespannt, was Luis nachvollziehen konnte. Auch er fühlte sich hier nicht wohl.
»Das Hühnchen ist zu vernachlässigen, die Kalbskoteletts sind ausgezeichnet, ebenso der Räucherfisch«, begrüßte ihn Eberhard.
»Du hast die Lage bereits sondiert«, sagte Luis und versuchte einen gelassenen Gesichtsausdruck, während er zu seinem Kragen griff, der unangenehm drückte. Er schielte zum Büfett und bemerkte, dass die anderen Gäste schon reichlich zugegriffen hatten. »Hast du Lisa irgendwo gesehen?«
»Leider nein. Vermutlich nimmt Goebbels sie in Beschlag. Ich mach eine weitere Runde«, sagte Eberhard und legte Luis die Hand auf die Schulter, um ihn in Richtung des Büfetts zu schieben. Ein Diener reichte beiden zwei leere Teller. Nachdem Luis und Eberhard sich an jeder Platte bedient hatten, zogen sie sich in eine ruhige Ecke zurück. Sie fanden eine Chaiselongue, die noch nicht besetzt war.
»Nachher gehe ich zur Küche und besteche die Mädchen mit Autogrammkarten«, sagte Luis mit vollem Mund. »Ich muss Tante Mine und Otto was mitbringen. Fleisch in solch einer Menge hat es lange nicht mehr gegeben.«
»Warte noch die Rede vom Goebbels ab, dann begleite ich dich hintenrum durch den Park.«
»Ich besorge uns allen ein Fresspaket.«
Als ihre Teller leer waren, schoben sich Luis und Eberhard durch den Pulk der Gäste und strebten der Musik entgegen. Ein Kammerorchester spielte Ufa-Schlager. Goebbels hielt Hof in seinem Wohnzimmer. Er war umringt von Männern in Uniform, die an diesem frühen Abend schon zu viel getrunken hatten. Neben der Tür war eine Ecke, in die sich beide zwängten und von der aus der gesamte Raum genau zu beobachten war. Doch auch hier konnten Luis’ Augen Lisa nirgends entdecken. Langsam machte er sich Sorgen. Sein Blick fiel auf die Hausherrin. Magda Goebbels scherzte gezwungen mit einem Mann aus der Tonabteilung. Plötzlich gab Goebbels einem Diener ein Zeichen, der daraufhin gegen sein Trinkglas klopfte. Der Propagandaminister trat aus der Gruppe heraus, und die Gäste, die sich eben noch am Büfett befunden hatten, kamen ins Wohnzimmer.
»Hoffentlich dauert das nicht zu lange«, raunte Luis Eberhard zu.
»Herzlich willkommen in meinem Haus, meine verehrten Damen und Herren«, begann Goebbels und es kehrte schlagartig Ruhe ein. »Heute feiern wir nicht nur die Premiere eines außergewöhnlichen Films, sondern auch den Triumph der deutschen Kultur über die zersetzende Macht fremder Einflüsse!«
Die Uniformierten klatschten heftig Beifall, in den die Ufa-Angehörigen nach und nach einstimmten. Die Gruppe hob die Hand zum deutschen Gruß und brüllte: »Heil Hitler.«
Der Ton fuhr Luis direkt in seinen Körper. Das Summen in seinem Ohr wurde stärker. Es begleitete ihn, seitdem er verschüttet worden war.
»Während jenseits des Atlantiks …«, fuhr Goebbels fort, nachdem sich wieder alle beruhigt hatten, »die Scheinwelt Hollywoods ihre glitzernden Lügen verbreitet, stehen wir hier zusammen, um den wahren Geist des Kinos zu ehren. Hollywood versucht, mit seinen Bildern unsere Werte zu untergraben. Dort wird das Profane zum Ideal erhoben und die Seele der Völker vergiftet. Aber das deutsche Kino ist anders. Es ist nicht bloße Unterhaltung, es ist Ausdruck unseres Volkes, seiner Stärke und seiner Bestimmung. Mit ›Ein Mädchen mit allen Vorzügen‹ beweisen wir, dass der deutsche Film nicht nur besser, sondern erhabener ist. Unsere Filme tragen keine leeren Versprechen, sondern zeigen die Wahrheit, die uns leitet und erhebt. Sie sind ein Spiegel unserer Größe und ein Leuchtfeuer für die ganze Welt. Sehen Sie diesen Film nicht nur als Kunstwerk, sondern als Zeichen des kommenden Sieges unserer Kultur über die Lügen Hollywoods. Denn während die anderen im Morast versinken, führen wir die Welt in eine neue Ära. Eine Ära des deutschen Geistes. Ich danke Ihnen allen, die zu diesem Werk beigetragen haben. Sie haben nicht nur einen Film geschaffen, sondern ein Manifest unserer Überlegenheit. Heil Hitler!«
Applaus brandete auf, statt eines kollektiven »Heil Hitler« hörte man dieses Mal allerdings nur vereinzelte Stimmen den deutschen Gruß rufen.
Luis lehnte sich zu Eberhard hinüber. »Pass auf! Wetten, dass er gleich noch über den Endsieg redet?«
»Muss ich gar nicht wetten«, gab Eberhard zurück.
Goebbels verneigte sich nach allen Seiten und machte eine ausladende Bewegung, dass allen Anwesenden klar war, der Propagandaminister holte gerade Luft für das Finale seiner Rede. »Der Endsieg steht nun unmittelbar bevor! Nur durch unsere eiserne Entschlossenheit und den gemeinsamen Willen unseres Volkes wird es gelingen. Gerade jetzt zeigt sich die wahre Stärke der deutschen Nation. Kein Opfer ist zu groß, wenn wir geschlossen hinter dem Führer stehen. Der Triumph des deutschen Geistes ist unausweichlich!«
»Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich brauch ’nen Magenbitter«, sagte Luis und nutzte den Geräuschpegel im Raum, um diese Zweideutigkeit auszusprechen. Durch den aufbrandenden Jubel hatte er Mühe, sein eigenes Wort zu verstehen.
Eberhard nickte und deutete zur Bar in der Eingangshalle. Luis drehte sich um. Dabei schob sich in sein Blickfeld, wonach er den ganzen Abend gesucht hatte: Lisa. Sie schien eben erst angekommen zu sein, denn sie hatte den Sommermantel über ihrem Kleid noch nicht abgelegt. Auch Eberhard hatte sie entdeckt. Doch irgendetwas stimmte mit ihr nicht. Sie konnte ihr Lächeln nicht die ganze Zeit über aufrechterhalten. Die beiden beeilten sich, zu ihr zu kommen.
»Einfach schlimm!«, sagte sie leise, als sich die drei gegenüberstanden. Mit bebenden Händen schlang sie den Mantel fester um sich, obwohl die Wärme in der Eingangshalle allen den Schweiß ins Gesicht trieb.
Eberhard reagierte mit Unverständnis. »Unser Film ist doch gelungen.«
»Ihr habt es also noch nicht gehört?« In Lisas Augenwinkel zeigten sich Tränen.
»Wovon sprichst du?«
»Marie-Luise vom Kostüm und ihre Kinder …« Lisa versagte die Stimme. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich wieder im Griff hatte. »Ich habe es vorher erst erfahren. Am liebsten wäre ich nicht gekommen. Sie haben es gestern Abend nicht mehr in den Keller geschafft und sind alle in der Wohnung verbrannt. Vermaledeiter Krieg! Das ist doch alles sinnlos, aber keiner tut was dagegen.« Sie drohte, die Fassung zu verlieren.
Augenblicklich hakten Luis und Eberhard sie unter. »Behalte jetzt noch für einen Moment deine Contenance!«, flüsterte Luis ihr eindringlich ins Ohr. Sie nahmen den hinteren Ausgang zum Park, um das Goebbels’sche Wohnzimmer zu umgehen.
Lisa schaffte es die Treppe hinunter zum Rasen, dann sank sie in sich zusammen. »Wir werden alle sterben!«
Luis setzte sich zu ihr und nahm ihre zitternde Hand in die seine. »Vielleicht in sechzig Jahren, aber jetzt nicht.«
»Es kann jederzeit passieren.« Lisa wirkte, als würde sie durch Luis hindurchsehen.
Aus der Villa näherte sich ein Diener und erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei.
»Aber natürlich. Wir schnappen nur etwas frische Luft«, wimmelte Eberhard ihn ab, sodass der Mann wieder verschwand. »Wir gehen zum See«, sagte Eberhard schnell und schritt voran. Nach wenigen Metern wandte er sich noch einmal um. »Zweihundertmeterregel! Und jetzt kommt.«
Luis half Lisa auf die Beine und beide folgten Eberhard. Als sie fast das Ufer erreicht hatten, entfaltete sich bereits das sanfte Spiel der Wellen als Geräuschkulisse.
»Um etwas offen auszusprechen, hält man immer einen Abstand von mindestens zweihundert Metern zum Geschehen.«
Lisa nickte zaghaft. »Oder stellt den Wasserhahn an.« Ihre Stimme war belegt und sie räusperte sich. »Ich weiß. Verzeihung.«
»Wer hat dir das von Marie-Luise und den Kindern erzählt? Wie konnte so etwas passieren? Warum hat sie es nicht mehr runter in den Keller geschafft?«
»Das weiß ich alles nicht. Vorher, als ich aus dem Tauentzienpalast raus bin, hat es mir Ekki Kyrath erzählt. Er war ganz außer sich. Sein Kameraassistent hat im selben Haus wie Marie-Luise gewohnt. Aber ihm ist nichts passiert.«
Sie blieben vor der Uferlinie stehen und richteten ihre Blicke auf den See, hinter dem die Abendsonne gerade unterging.
Eberhard sprach, ohne die beiden anzusehen. »Gut, ich sage euch jetzt die Wahrheit. Es wird so weitergehen, das kann ich nicht leugnen.« Er drehte sich um und schaute nun direkt in Lisas Augen. »Aber wenn wir den Kopf verlieren, haben wir gar keine Chance mehr, dies alles zu überleben. Glaube mir, Lisa, ich suche für uns fieberhaft nach einem Ausweg, denn wenn wir mit den Dreharbeiten zu ›Majestät lassen bitten‹ durch sind, ist für die meisten meiner Männer erst mal Schluss.«
»Das heißt dann Front«, fügte Luis an und ihm wurde kalt und heiß gleichzeitig.
»Für einen weiteren Film haben wir immer noch keine Genehmigung erhalten.« Eberhard musste schlucken. »Spätestens Ende des Jahres wird ein großer Teil von uns gehen müssen.«
Das Rot des Sonnenuntergangs wirkte mit einem Mal bedrohlich. Keiner sprach mehr. Luis bemerkte, wie seine Knie weich wurden. Lautstark atmete er ein und drückte seine Schultern zurück.
»Wenn keine Filme mehr gemacht werden, sind wir Kanonenfutter.« Es schmerzte ihn, sich dieser Wahrheit zu stellen.
»So sieht es leider aus«, sagte Eberhard und schluckte erneut. »Wir reißen uns jetzt zusammen!« Er legte seine Arme um Lisa und Luis. »Genug von dem Thema für heute. Lisa, vielleicht solltest du Goebbels jetzt deine Aufwartung machen. Er wundert sich sicher schon, wo sein Nachwuchsstar steckt.« Zaghaft nickte sie. »Kommt ihr mit?« Sie versuchte zu lächeln.
»Ich begleite Luis noch schnell zur Küche. Vielleicht fällt was für zu Hause ab.«
Die drei gingen zur Villa zurück und trennten sich an der Treppe, durch die sie das Gebäude vorher verlassen hatten. Das Fest war noch in vollem Gange. Auf dem Weg zur Küche verlangsamte Luis seine Schritte, bis er abrupt stehen blieb. »Hast du Zigaretten dabei?«
Eberhard schüttelte den Kopf. »Sieht zurzeit mau aus.«
Drinnen wurde es unvermittelt lauter. Das Geräusch von zu Bruch gegangenem Glas und Beifallsbekundungen drangen zu ihnen. Der Empfang schritt anscheinend seinem eskalativen Höhepunkt entgegen. Luis sah sich nach allen Seiten um. Niemand war in ihrer Nähe. »Erkläre mich bitte nicht für verrückt, aber mir ist gerade was eingefallen. Für den kommenden Endsieg brauchen sie doch einen großen Film, der diesen feiert.«
»Du glaubst doch nicht wirklich daran?« Eberhard hob seine Augenbrauen.
»Doch!«
Eberhards Finger bohrten sich in Luis’ Schultern, dann sagte er betont leise, aber bestimmt: »Es wird keinen Endsieg geben! Wie naiv bist du eigentlich?«
»Du hast mich missverstanden.« Luis schüttelte Eberhards Griff ab. »Wer A sagt, muss auch B sagen.«
Eberhard fuhr sich über das Kinn. »Du meinst also …«
»Wenn doch angeblich der Endsieg kurz bevorsteht, ist es wichtig, dass die Ufa weiter produziert. Vielleicht ja auch nicht in Berlin, sondern am Arsch der Heide. Dort, wo keine Bomben fallen.«
Eberhards Gesichtsausdruck munterte Luis auf, weiterzusprechen.
»Lange dauert der ganze Mist sicher nicht mehr, und dann sollten wir definitiv weit weg von Berlin sein.«
Luis saß an der Bar und nippte an seinem Korn aus einem schweren kristallenen Whiskyglas. Der Schnaps erfüllte seinen Zweck, entspannte seine Nerven und bestärkte die Ordnung seiner Gefühlswelt. Seine Hand griff nach dem Zigarettenpäckchen, das vor ihm lag. Der alte Mann hinter dem Tresen hatte seine Bewegung aus dem Augenwinkel mitbekommen und beeilte sich, ihm Feuer zu geben. Sein erster Zug war ein Seufzer, dann rauchte er ruhiger. Dazwischen führte Luis das Glas zum Mund. Der Schnaps brannte in seiner Kehle. Es gab Rotwein, Bier oder Klaren. Nichts anderes, obwohl die Getränkekarten nach wie vor auf dem Tresen standen und eine Auswahl an internationalen Drinks mit deutschen Namen für die Gäste auflisteten. Im Keller des Hotels stapelten sich die Weine, nicht aber die Spirituosen, weil der Reichsaußenminister, der hier mittwochs zum »Jour fixe« lud, kein Cocktailtrinker war, dafür ein ausgewiesener Weinkenner. Minister von Ribbentrop versammelte die verbliebenen Diplomaten der Hauptstadt um sich und durch die Säle des Adlon wehte noch einmal die maue Kopie des weltmännischen Glanzes von früher.
Jeden Mittwoch kreuzte Luis dort auf, denn an den runden Tischen hatten neben den Botschaftern und Attachés auch die übrig gebliebenen Künstler ihren Platz gefunden. Freundlich plänkelte er sich von Gespräch zu Gespräch und war penibel darauf bedacht, mit jedem, den er für wichtig erachtete, ein paar Worte zu wechseln, bevor er nach Hause radelte.
Generalintendant und Staatsschauspieler Gründgens saß neben der Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt und einem unbekannten jungen Mann in Uniform an deren Stammplatz in der Ecke nahe der Heizung. Gründgens prostete wie gewohnt einmal am Abend auffällig zu Luis herüber, der bei jedem »Jour fixe« auf dem gleichen hohen Stuhl an der Bar thronte. Er wusste, dass er dem Generalintendanten des Preußischen Staatstheaters gefiel. Die Bühnen hatten seit über einem Monat dichtgemacht, trotzdem sprachen alle Gründgens noch mit seinem Titel an. Wie einen König ohne Land, der trotz aller Umstände noch Majestät genannt wurde.
Zur Untermalung erklang Musik vom großen Bechstein-Flügel. Der Klavierspieler war amputiert, er hatte an der russischen Front das rechte Bein verloren. Dies bereitete ihm zwar Probleme mit den Pedalen, schlug sich aber nicht so gravierend auf sein Spiel nieder, dass es den Gästen etwas ausgemacht hätte. Er erfreute die Anwesenden mit jazziger, aber nicht zu anstößiger Musik.
Der Ellenbogen des alten Barkeepers schien den Rhythmus zu imitieren, und je abenteuerlicher sich die Harmonien entwickelten, umso mehr ließ er sich mit seinem Tablett zu Manövern hinreißen, die jedem Kölner Köbes die Blässe des Dilettanten ins Gesicht getrieben hätten.
Die Standuhr in der Ecke schlug zur vollen Stunde und in diesem Augenblick neunmal. Der Pianist änderte den Stil und wurde volkstümlicher, was die ganze Grazie der Vorführung des alten Mannes zwischen den Tischen und hinter dem Tresen tilgte. Wenn eine beschauliche und weinselige Stimmung herrschte, gab der Pianist immer das deutsche Repertoire mit weinerlichen Untertönen zum Besten. »Ännchen von Tharau ist, die mir gefällt«.
Luis hob sein Glas gegen das Licht und blickte darauf, wie sich das Licht an den unterschiedlichen Kanten im Inneren brach. Alle Farben des Regenbogens zeigten sich. Er trank und setzte das Glas auf seinem Oberschenkel ab, während er sich im Raum umblickte. Die Flickenschildt zog an einer Zigarette, stets darauf bedacht, jede ihrer Bewegungen mit großem Pathos auszuführen. Die beiden Männer an ihrem Tisch waren derweil in ein Gespräch vertieft. Der Herr Generalintendant trug sein Monokel, das von einem Lichtstrahl getroffen, wie zuvor Luis’ Glas, die charakteristischen bunten Farben zurückwarf. Als die Flickenschildt sich zum Abäschern nach vorn beugte, traf Luis ihr Blick. Mit einem Lächeln forderte sie ihn auf, zu ihr hinüberzukommen.
»Ich wechsle zum Tisch des Generalintendanten«, sagte er und der alte Herr hinter dem Tresen versicherte, dass er einen frischen Korn und seine Zigaretten an den neuen Platz bringen würde. Das herbe Lächeln der Flickenschildt wurde größer, je näher Luis kam. Er streckte seine Hand aus und hauchte ihr einen Kuss zwischen den kleinen und den Ringfinger.
Der Generalintendant unterbrach das Gespräch und nickte, während der Mann in Uniform zur Begrüßung aufstand.
»Von Rissen«, stellte er sich vor. Sein Rang war der eines SS-Sturmbannführers. In der Wehrmacht entsprach das einem Major. Luis wunderte sich, wie ein Mann, kaum älter als er, die Karriereleiter schon so weit hinaufgeklettert sein konnte. Von Rissen bot ihm den Stuhl zu seiner Linken an, der zwischen ihm und der Flickenschildt stand. Luis setzte sich und musterte den Sturmbannführer im Halbdunkel. Er war ein ungewöhnlich gut aussehender Mann, zwischen Anfang und Ende zwanzig, und seine feinen, ebenmäßigen Zähne unterstrichen sein ironisches Lächeln, das er nie ablegte. Sein blondes Haar trug er etwas länger, als es die Vorschrift erlaubte. Akkurat hatte er es oben und an den Seiten glatt nach hinten gekämmt und einen ordentlichen Scheitel gezogen. Luis sah den Hornkamm und den Pomade-Pott auf dessen Frisiertisch direkt vor sich. Als von Rissen sich ihm zuwandte, erkannte Luis einen Schmiss aus der Studentenzeit auf der linken Wange und noch mal einen kleineren am Kinn. Diese Narben waren so fein, dass Luis auf den Gedanken kam, ob von Rissen aus Gründen der Eitelkeit einen Arzt daran gelassen hatte, damit ihn die Narben nicht zu sehr entstellten.
Der Barkeeper brachte Luis’ Korn und seine Zigaretten auf einem silbernen Tablett. Alle am Tisch prosteten sich zu, und Luis sah auf von Rissens Hände. Sie waren manikürt. Am Handgelenk trug er eine Breguet-Armbanduhr aus Gold. Unbezahlbar. Angeblich waren Napoleon und Alexander von Humboldt Kunden der Schweizer Uhrmacher-Firma gewesen. Somit befand sich von Rissen in guter Gesellschaft. Das Hemd unter der akkurat sitzenden Uniform war maßgeschneidert. In keinem Kaufhaus wurden Kragen und Manschetten so meisterhaft angepasst. Der Sturmbannführer war etwas Besonderes.
Luis’ Vorstellung übernahm der Generalintendant, wobei ihm von Rissen signalisierte, dass er wusste, wen er vor sich hatte. »Sie kennen Luis Adrian?« Der Sturmbannführer nickte.
»Ihre Darstellung des Bauernjungen in ›Gewitter über der Heide‹ ist mir, was sage ich, dem ganzen Reich in Erinnerung geblieben. Wie der Bursche seine Familie bis zum eigenen Ende verteidigt. Phänomenal!«
Auf das Lob seiner unbekannten Bewunderer entgegnete Luis stets mit denselben Worten: »Vielen Dank. Es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Die Kollegen waren fantastisch und wir haben als Ensemble gut harmoniert.«
»Ja, aber Sie sind herausgestochen. Glauben Sie mir, Sie haben eine glänzende Zukunft vor sich.«
Luis ließ keine Gefühlsregung bei dem Wort »Zukunft« zu.
»Ganz bestimmt«, schloss sich Elisabeth Flickenschildt an.
»Kommen Sie doch mal wieder raus nach Zeesen«, forderte Gründgens ihn auf. »Meine Frau und ich würden uns sehr freuen.«
»Die Ufa gönnt mir gerade keine Verschnaufpause.«
»Wie ist die Arbeit mit Steudtner? Er soll eigen sein«, zeigte sich Gründgens über Luis’ gegenwärtigen Regisseur unterrichtet.
»Er ist sehr genau.« Mehr ließ sich Luis nicht entlocken. Er riskierte einen verstohlenen Blick zur Heizung, in der er ein Abhörgerät entdeckte.
»Das kann ich bestätigen.« Elisabeth Flickenschildt lachte.
Ein monumentaler Gongschlag erfüllte die Bar und hallte von allen Seiten wider. Auch in den angrenzenden Räumen erklang das Gleiche, als würde der Ton die Anwesenden zum Essen rufen. Der Klavierspieler nahm augenblicklich die Hände von den Tasten und die Gespräche der Gäste verstummten. Für einen Moment herrschte Stille. Elisabeth Flickenschildt wurde blass. Die Menschen standen auf.
»Waren Sie hier schon einmal im Bunker?«, wandte sich von Rissen unbeeindruckt an Luis. Mit der Hand wies der Sturmbannführer zum Treppenhaus, das ins Souterrain führte. »Ich lasse Ihnen den Vortritt.«
»Es ist eine Premiere. Ich glaube in diesem Punkt für uns alle zu sprechen«, sagte Gründgens und reichte Elisabeth Flickenschildt seinen Arm. »Bisher waren wir immer schon zu Hause.« Beide überspielten ihre Anspannung. Die Art und Weise hatte viel Theater an sich. »Führen wir unser Gespräch einfach unten weiter.« Sie setzten sich an die Spitze der sonderbaren Prozession, in die sich alle Gäste einreihten. Die Gruppe strebte der Treppe zum hoteleigenen Frisiersalon im Untergeschoss entgegen.
Luis spürte seinen beschleunigten Herzschlag, die Trockenheit im Mund, glaubte, das Zusammenziehen seiner Eingeweide zu bemerken. Er erinnerte sich, dass ihm die Soldaten genau dieses Gefühl beschrieben hatten, nachdem sie den Befehl zum Sturmangriff bekommen hatten. Er würde sich nie daran gewöhnen. Zur Sicherheit legte er seine Hand auf das Geländer. Angst war ein schlechter Begleiter, wenn man in der Höhle des Löwen unterwegs war. Er sah sein Gesicht in den goldumrahmten Spiegeln an der Wand vorüberziehen. Von außen konnte niemand erkennen, was wirklich in ihm vorging. Er kam vom Film und nicht wie die Herrschaften Gründgens und Flickenschildt vom Theater. Luis hatte sich früh zu absoluter Disziplin gezwungen. Ohne diese machte man keine Karriere, schon gar nicht bei der Ufa. Er hatte gleichaltrige Kollegen untergehen sehen, weil sie den eigenen Schlendrian nicht im Griff hatten. Man musste immer auf den Punkt konzentriert sein, egal, ob man vor der Kamera ablieferte oder seinem Chef gegenübersaß.
Bis zum Angriff dauerte es nach seinen Berechnungen noch eine Viertelstunde. Der Barkeeper hatte erzählt, dass einer der Angestellten grundsätzlich das Ohr am Radioapparat hatte. Sobald Voralarm durchgegeben wurde und die Stadt Gardelegen zwischen Hannover und Berlin in der Nachricht vorkam, schlugen die Kellner die Gongs. Fünf bis zehn Minuten später heulten die Sirenen durch die Straßen der Hauptstadt. Von da an blieb nicht mehr viel Zeit, bereits dann fielen die ersten Bomben.
Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und nahm die Stufen ins Untergeschoss. Immer im Blick der Nacken von Elisabeth Flickenschildt. Sie war etwas größer als er und hatte bleiche Haut. Die oberen Nackenwirbel zeichneten sich darunter ab. Ein zartes Muttermal am Schulterblatt schaute noch gerade so unter dem Kragensaum hervor. Der Kragen formte ein leichtes Dekolleté und zeigte hinten ebenfalls mehr als die typische Sonntagsbluse. Selbst hier, in dieser Situation, erregte Luis der Anblick, ihm wurde heiß. Er nahm einen tiefen Atemzug.
»Waren Sie selbst schon mal dort?«, hörte er die Stimme des Sturmbannführers wie aus weiter Ferne. Luis schüttelte den Kopf, da er nicht mitbekommen hatte, worauf von Rissens Frage abzielte.
»Ich versichere Ihnen, Bad Doberan ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert«, fuhr der Sturmbannführer fort. Er sprach von der Ostsee.
Ein gebückter Mann in blauer Livree stand im hinteren Bereich des Salons und wies der Menschenschlange den Weg zwischen den Frisierstühlen hindurch zur Schleuse des Bunkers. Die Hand, mit der er winkte, war eine Prothese.
Der Sturmbannführer öffnete die beiden oberen Knöpfe seiner Uniform, griff in die Innentasche und holte ein Schriftstück hervor. »Wir nehmen es hier sehr genau«, sagte er.
Luis betastete seine Hosentasche nach dem Zugangsausweis, den alle Anwesenden beim Betreten dem livrierten Angestellten präsentierten. Von Rissen ging zügig voran und bat Gründgens, Elisabeth Flickenschildt und Luis, ihm durch ein Gewirr von stickigen Gängen zu folgen. Einzelne, enge, zellenartige Zimmer tauchten links und rechts auf.
»Kommen Sie bitte mit nach hinten.« Der Sturmbannführer kannte sich aus. »Dort stehen die gemütlicheren Sessel.«
Nach weiteren Schritten öffnete von Rissen eine Tür auf der linken Seite, blieb im Gang stehen, in den die Menschen von der Schleuse her drängten, und deutete in den Raum. »Wir haben noch freie Platzwahl.« Bei dem Lachen, das sich anschloss, zeigte er seine makellosen Zähne.
Die Luft roch stumpf nach Farbe. Elisabeth Flickenschildt presste sich ein Taschentuch auf die Nase.
»Das wird gleich besser, wenn die Lüftungsanlage volle Pulle läuft«, beruhigte sie von Rissen. »Dieser ganze Bau ist ja noch etwas frisch. Gute eineinhalb Jahre alt.«
»Es wirkt so, als wären Sie öfter hier«, wandte sich Luis dem Sturmbannführer zu.
Gründgens legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Sturmbannführer von Rissen ist der Leiter des Diplomatenbunkers hier.«
Luis kam ein erstauntes »Schau an« über die Lippen. Er hatte sich gefragt, was von Rissens Aufgabe war, aber darauf wäre er nicht gekommen.
Über das Gesicht des Sturmbannführers glitt sein typisches ironisches Lächeln, er fletschte die Zähne und kniff ein Auge zu. »Sozusagen der Luftschutzwart des Adlonkellers.« Er nahm Haltung an und salutierte, denn Joachim von Ribbentrop setzte einen Fuß in die Tür und winkte hinter sich auf den Korridor. »Hier meine Herren.«
Dem Außenminister in Uniform folgten zwei Männer in braunen Anzügen und den dazugehörigen Mänteln über ihren Armen.
»Mein Pelz«, entfuhr es Elisabeth Flickenschildt erschrocken, als ihr klar wurde, dass die Männer oben an der Garderobe gewesen waren, bevor sie ihren Weg in den Bunker gefunden hatten. Umgehend wandte sie sich dem Ausgang zu, doch von Rissen hielt sie zurück. »Gnädige Frau, dafür ist jetzt keine Zeit mehr.«
Die Mundwinkel der Schauspielerin zuckten und ihre weit aufgerissenen Augen wurden kleiner. Sie neigte ihren Blick. »Wie dumm von mir.« Kopfschüttelnd sank sie auf einen beigen Ledersessel. Während von Ribbentrop es ihr gleichtat, blieben seine Begleiter unschlüssig stehen, als könnten sie sich in fünf Minuten wieder auf den Nachhauseweg machen.
Luis verstand ihr Verhalten nicht, denn es waren genügend Sitzgelegenheiten für alle vorhanden. Gründgens und er zögerten nicht lange und nahmen neben Elisabeth Flickenschildt, gegenüber dem Außenminister, Platz. Luis’ Atem wollte sich nicht beruhigen. Er ging leise und schnell, aber oberflächlich. Um Ruhe zu finden, musste er die Luft bewusst tiefer in seine Lunge ziehen. Wichtig war, nicht zu laut dabei zu werden, um die Aufmerksamkeit der anderen keinesfalls auf seine Anspannung zu lenken. Er wollte nicht wirken wie ein Feigling.
Von Rissen lehnte mit beiden Handflächen an der Türzarge und beobachtete die Menschen auf dem Korridor, die gesittet die unterschiedlichen Bereiche aufsuchten. Unerwartet stand der blau livrierte Mann, der vorher den Einlass an der Schleuse kontrolliert hatte, neben ihm und balancierte ein Tablett mit einer Flasche Rotwein und einer Flasche Klaren auf seiner gesunden Hand. Passende Gläser für alle klirrten darauf. Als er eintreten wollte, schüttelte von Rissen den Kopf und nahm ihm das Tablett aus der Hand. »Danke.« Er trug es selbst zu dem kleinen Beistelltisch in der Ecke hinüber und der Mann in Livree schloss von außen die Tür.
Das Klicken empfand Luis als unangenehm. Er, der Platzangst normalerweise überhaupt nicht kannte, spürte ein beklemmendes Gefühl in sich aufsteigen. Es begann mit einem Ziehen im Brustraum und ergriff schnell von seinem ganzen Körper Besitz. Es war, als würden sich kräftige Hände um seinen Hals legen und langsam zudrücken. Mit höchster Konzentration kämpfte er dagegen an und atmete gleichmäßig die Luft tief ein und wieder aus.
Die beiden Herren im braunen Anzug hatten sich vor der geschlossenen Tür postiert und blickten auf den Parkettboden. Nachdem sie sich nicht vorgestellt und bisher auch kein Wort von sich gegeben hatten, vermutete Luis, dass es sich um von Ribbentrops Leibwächter handelte. Der Außenminister bediente sich derweil großzügig am Rotwein.
Von Rissen hob die Flasche Klaren an. »Wem darf ich etwas Gutes tun?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verteilte er den gesamten Inhalt auf sechs Gläser und bot jedem, außer von Ribbentrop, eines an. Zuerst zögerten die beiden Unbekannten am Eingang, aber nachdem der Außenminister ihnen zugenickt hatte, griffen sie beherzt zu.
»Auf unseren geliebten Führer«, sagte von Rissen, schlug die Hacken zusammen und legte seine Lippen an den Rand des Glases. Alle wiederholten das eben Gehörte, und Luis nahm einen großen Schluck in der Hoffnung, dass die Wirkung bald einsetzte. Vorher in der Bar war er kaum dazu gekommen, seine beiden Schnäpse auszutrinken. Jetzt würde er erst einmal genug Zeit haben.
Niemand sprach ein Wort. Eine seltsame Stille dehnte sich aus, die durch ein leises Surren aus dem Lüftungsgitter an der Decke durchbrochen wurde. Luis empfand das Schweigen als belastend, ihm fiel jedoch weder ein Witz noch eine Frage ein, mit der er es kurzzeitig hätte unterbrechen können.
Der Außenminister trommelte mit den Fingernägeln auf der Armlehne seines Sessels und blickte in die Runde. »Drei Schauspieler zusammen in einem Raum und keiner sagt was. Das erlebt man selten.« Seine Begleiter und von Rissen lachten nach einer kurzen Pause. »Können Sie nicht irgendwas rezitieren?« Von Ribbentrop hatte Elisabeth Flickenschildt ins Auge gefasst, die Gründgens mit einem Hilfe suchenden Blick streifte.
»Eine ausgezeichnete Idee. Etwas aus ›Faust‹, Elisabeth«, ermunterte sie der Generalintendant. »Die Verse der Hexe«, konkretisierte er seinen Vorschlag.
Die Flickenschildt hüstelte. »Du musst verstehn! / Aus eins mach zehn, / und zwei lass gehn, / und drei mach gleich, / so bist du reich …« Jedes r rollte sie mehrmals auf der Zunge. Die Bühnenaussprache unterschied sich deutlich vom Film. Auf Luis wirkte die Rezitation affig.
Gründgens unterbrach seine Nachbarin. »Nicht die Hexenküche, Elisabeth. Lieber die Walpurgisnacht. Oder was meinen Sie, Herr Reichsaußenminister?«
»Walpurgisnacht«, stimmte von Ribbentrop zu.
Gründgens streckte affektiert seinen Arm durch. »Mephistopheles tanzt mit der alten Hexe: ›Einst hatt’ ich einen wüsten Traum, / da sah ich einen gespaltnen Baum, / der hatt’ ein ungeheures Loch; / So groß es war, gefiel mir’s doch‹.«
Von Ribbentrop lachte verhalten.
Wieder erhob die Flickenschildt ihre Stimme und setzte an der von Gründgens gewählten Stelle mit dem Tonfall der alten Hexe ein: »Ich biete meinen besten Gruß / dem Ritter mit dem Pferdefuß! / Halt er einen rechten Pfropf bereit, / wenn er das große Loch nicht scheut.«
Der Außenminister applaudierte und lachte dabei schallend. »Goethe war ein richtiges Schwein!« Er sah zu Luis herüber. »Was können Sie aus dem Stand aufsagen, Herr Adrian?«
»Nicht viel, ich bin beim Film.«
Von Rissen machte sich bemerkbar. »Was sagen Sie in ›Gewitter über der Heide‹ noch mal? In der Szene als Sie und die anderen Burschen auf der Brücke vor dem Dorf stehen und der Großgrundbesitzer seine Schergen schickt, um die Steuer einzutreiben und die Häuser der säumigen Schuldner niederzubrennen.«
»Den Boden, den meine Vorväter mit ihrem Blut verteidigt haben, werde ich nicht kampflos aufgeben. Heute sterben wir nicht!«
»Das war’s. Bravo! Aus Ihrem Mund bekommt jedes Wort eine immense Kraft. Ich habe Gänsehaut. Auf das, was wir lieben: Unser Volk, unser Reich, unsern Führer!«
Von Ribbentrop sprang auf, was die Übrigen dazu veranlasste, seinem Beispiel zu folgen. »Unser Volk, unser Reich, unsern Führer!«, erklang es von allen Seiten.
Luis wurde bei jedem Wort lauter. Die Beschwörungsformel fühlte sich gut an und verscheuchte seine Angst. Sie war trotzdem falsch. Als ihm dieser Gedankenfetzen erschien, wusste Luis, dass er aufhören musste, das scharfe Zeug in sich hineinzukippen. Er schwankte zwischen der vermeintlichen Sicherheit des Alkohols und der Klarheit seiner Gedanken, wenn er sein Hirn nicht dadurch vernebelte.
Von Ribbentrop sank in seinen Sessel zurück, schwenkte sein Weinglas und gab mit der Hand ein Zeichen, dass sich alle anderen auch wieder setzen sollten. Luis erinnerte das gönnerhafte Gebaren des Außenministers an einen Schmierenkomödianten, der versuchte, Kaiser Franz Josef von Österreich darzustellen. Es fehlte nur noch der Wiener Akzent und das »Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut.«
»Ich war ja längere Zeit Botschafter in London«, begann von Ribbentrop, und alle wussten, dass es zu einer seiner ausschweifenderen Anekdoten kommen würde. »Die Briten, und das habe ich schon damals gesagt, die Briten haben einen Charakterzug an sich, der Grund allen Übels ist: den Snobismus. Diese sogenannte ›upper class‹ denkt, sie ist gesellschaftlich überlegen und stellt das bei jeder nur erdenklichen Gelegenheit zur Schau. Dabei haben sie nicht den geringsten Grund dazu. Alles dumme Emporkömmlinge. Und der Pöbel auf der Straße ist ein ungebildetes Pack. Fünfundneunzig Prozent der Briten können nicht bis drei zählen.« Von Ribbentrop blickte in die Runde. »Nennen Sie mir nur eine Kleinigkeit, in der die Briten wirklich besser sind. Wo sind sie uns überlegen?«
Da es höchstwahrscheinlich die Royal Air Force war, die draußen den Angriff auf Berlin flog, fand Luis die Frage unangebracht, wenn nicht gar sarkastisch.
»Alles, was ich in den Londoner Salons gesehen habe, war nur eine schlechte Nachahmung dessen, was wir hier schon seit Langem tun. Das fängt bei der Musik an und hört bei der Malerei auf. Waren Sie in London schon mal im Theater?« Nachdem keiner auf von Ribbentrops Frage reagierte, beantwortete er diese selbst. »Nein. Da haben Sie nicht das Geringste verpasst. Englische Operette ist mit Katzengejaule vergleichbar. Nicht umsonst übersetzen die Briten unsere Stücke. ›Die lustige Witwe‹ heißt dort ›The Merry Widow‹. Klingt wirklich abscheulich in Englisch. Diese Sprache eignet sich nicht zum Singen.«
»Was halten Sie von Shakespeare?«, warf Gründgens ein.
»Überhaupt nichts«, sagte von Ribbentrop. »›Der Kaufmann von Venedig‹ ist sein einziges brauchbares Stück. Sonst nur Mist. Sie haben das doch oft gespielt, oder?«
Der Generalintendant deutete ein Nein an.