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„In meinem Kopf treffen 200 Milliarden Galaxien auf einmal zusammen und ich vergesse, in welcher ich wirklich existiere.“ So fühlt sich die einundzwanzigjährige Daniele, seit sie auf der Welt ist. Noch nie gab es ein „Dazwischen“, sondern immer alles oder nichts. Jahrelang lebt Dani auf ihrer eigenen Erde, nähert sich langsam der Sonne und verbrennt jeden Tag ein kleines Stück mehr. Bis sich eines Tages alles ändert und Dani im Universum strandet. In diesen dunklen Stunden entdeckt sie eine neue Galaxie. Und nennt sie Elaine. Sie wird zur größten Galaxie in ihrem Universum, mit Millionen bis Milliarden Sternen, die durch die Dunkelheit brechen. Mit so einer Helligkeit, Intensität und Stärke, dass Dani das schwarze Loch in ihrer Brust kennenlernt. Und nichts kann diesem Loch entkommen. Nicht einmal das Licht. Bitte lest die Inhaltswarnung vor dem Kauf.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Der grüne Fleck im Schwarz
Impressum
Inhaltswarnung
Kapitel 1 „Er ist tot. Endlich.“
Kapitel 2 „das Etwas“
Kapitel 3 „Am Morgen ist es vergessen“
Kapitel 4 „Es war nur ein Unfall“
Kapitel 5 „Dein Fehler“
Kapitel 6 „Das eigene Meer“
Kapitel 7 „All das ist normal“
Kapitel 8 „Gracie“
Kapitel 9 „Schlägt er dich?“
Kapitel 10 „Blut auf der Straße“
Kapitel 11 „Er ist das Monster“
Kapitel 12 „Verschwunden, allein gelassen, verstoßen“
Kapitel 13 „Zufälle gibt´s“
Kapitel 14 „Flug durch Gedanken“
Kapitel 15 „Gigantische, strahlende Kugeln aus Gas“
Kapitel 16 „Fußballtraining und Grasflecken“
Kapitel 17 „Er ist hier“
Kapitel 18 „Blut an der Hauswand“
Kapitel 19 „Emissionsnebel“
Kapitel 20 „Prom Night“
Kapitel 21 „Das Karussell“
Kapitel 22 „Das schwarze Loch“
Kapitel 23 „Bahngleis“
Kapitel 24 „Mein Geheimnis“
Kapitel 25 „Geh, aber komm wieder zurück“
Kapitel 26 „Die Welt geht nicht unter“
Kapitel 27 „Getrocknetes Blut“
Kapitel 28 „Schloss aus Kissen“
Kapitel 29 „Wut“
Kapitel 30 „Zwischen Leben und Sterben“
Kapitel 31 „Das Recht zu lieben“
Kapitel 32 „Wenn du eines Tages Kinder hast“
Kapitel 33 „Hoffnung“
Danksagung
Impressum
Talia May
© 2024 Talia May
Erste Auflage
Alle Rechte vorhanden.
Talia May
c/o Fakriro GmbH / Impressumsservice
Bodenfeldstr. 9
91438 Bad Windsheim
Website: taliamay.com
Online-Shop: www.taliamayonlineshop.de
Lektorat & Korrektorat: Astrid Schneider
Covergestaltung: Talia May
ISBN: 978-3-9826238-5-6
Diese Geschichte enthält Schilderungen/Erzählungen von/über Gewalt, Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern, selbstverletzen-dem Verhalten, Suizidalität, Selbstmord, Mobbing, Sexualität, sowie Kraftausdrücke und/oder andere nicht jugendfreie Themen.
Der grüne Fleck im Schwarz beschreibt das Leben von Dani, die, die Emotional instabile Persönlich-keitsstörung vom Borderline-Typ besitzt. Dies ist die Erzählung einer erkrankten Person. Borderline ist von Person zu Person unterschiedlich.
Ein tiefer Atemzug. Die leichte Sonne auf der vernarbten Haut und der Geruch des Winters, der in meine Nase steigt. Das Küchenfenster steht offen. Die Geräusche aus der Nachbarschaft verscheuchen die Stille. Mein Zeigefinger streift über die alte Buch-seite. Tausend Gedanken von mir. Die alten Gedanken, die ich vor Jahren niedergeschrieben habe, als mir nichts anderes geholfen hat. Tinte über Tinte, verschmiert. Die Schrift klar oder unleserlich. Ein schweres Gefühl liegt in meiner Brust, wenn ich mich an diese Tage erinnere. Heute wirken sie fast verblasst. Als wären sie nie passiert. Und doch sind sie passiert, waren sie da, waren sie echt und haben mich gezeichnet.
Ich lehne mich im Holzstuhl nach hinten, lasse den Blick im Haus umherschweifen, bis er an einem Foto stoppt und die Vergangenheit einfängt. Colin, Falko, Elaine und Pia. Die Geschichten, die wir mit-einander erlebt haben, stehen vor mir auf den alten Seiten des Notizbuches.
Pia ist vernünftig. Fair und ein Sonnenschein. Ge-füllt mit so viel Liebe. Wenn dich ihre blauen Augen finden, strahlen sie keine Kälte, sondern Wärme aus. Ihre helle Haut ist übersät mit Sommersprossen, die aus der Nähe wie Herzen aussehen. Sanft streife ich mit meinem Zeigefinger über die alte Zeichnung von ihr, die ich in langen Nächten angefertigt habe. Da sehe ich sie vor mir. Wie sie den Raum betritt. Mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie schenkt mir einen Blick und es fühlt sich an, als würde sie das Stück Hoffnung in meine Brust pusten. Und dann sind da die anderen Erinnerungen. Die, die ich meistens verdränge, wenn die Nächte laut und kalt waren.
Was hast du dir dabei gedacht? Warum hast du das getan? Was ist los mit dir? ICH WEIß ES NICHT, ICH WEIß ES NICHT ICH WEIß ES NICHT!
RAUS AUS MEINEM KOPF
BITTE BITTE BITTE
VERSCHWINDE LASS MICH ALLEIN
Wenn ich auf dem Boden lag und schrie, weil sich mein Körper nicht echt anfühlte, und ich wieder zurückwollte. Zurück in die Gegenwart. Mein Schreien war gefüllt mit Schmerz, aber Pia hielt mich fest. Sie streichelte über mein Haar und sprach die Worte, die noch immer in meinen Gedanken verwachsen sind:
„Alles ist in Ordnung. Ich bin hier. Du bist nicht allein. Atme. Alles wird gut. Atme. Ganz ruhig, gleichmäßig ein und aus. Ich habe dich. Niemand kann dir wehtun.“
Und wie mein Griff um ihren Körper stärker wurde. Wie ich es zuließ, für einen Moment zu zerbrechen. Bei ihr war ich in Sicherheit. Und dann der Morgen, wenn wir nebeneinandersaßen und ich ihr gestand, dass sich noch nie jemand so um mich gekümmert hatte. Wenn ich versuchte, meine Dank-barkeit in Worte zu fassen und alles, was es von ihr benötigte, ein Händedrücken war und das sanfte Lächeln, welches mir versicherte, dass alles, was sie tat, von Herzen kam. Weil sie sich um mich kümmerte. So wie eine Mutter. Eine Mutter, die dich mit allem, was sie ist, liebt.
Das laute Klingeln sorgt dafür, dass ich aus meinen Gedanken verschwinde. Irritiert sehe ich zur Haustür, lege das Notizbuch weg und stehe auf. Die Silhouette an der Tür kommt mir bekannt vor. Als ich sie öffne, blicke ich in vertraute, blaue Augen. Hektisch betritt sie das Haus. Amüsiert schließe ich die Tür und sehe Pia hinterher, wie sie zur Küche geht und die Einkaufstüte ablegt.
„Ich freu mich auch, dich zu sehen “, sage ich extra laut und fange das Lächeln auf ihren Lippen ein.
Am Holzesstisch sitzen wir nebeneinander. Stille liegt im Raum, während Pia durch die Seiten meines alten Notizbuches blättert. Ihre Augen schimmern. Und ich weiß, dass es schwer für sie ist. Meine Selbstmordgedanken. Der Wunsch, endlich zu sterben, damit alles aufhört. Pia atmet tief durch und sieht auf. Sanft berührt sie meine Hand.
„Wie geht es dir?“
Eine Frage, die ich an manchen Tagen kaum beantworten kann. Nur heute habe ich eine klare Antwort, denn heute haben wir alle eine Nachricht erhalten, die unser Leben verändert.
„Ich bin okay“, versichere ich und erwidere ihre Berührung. Pia schließt das Notizbuch, schnappt sich ein Puddingteilchen, welches vor uns auf dem Keramikteller liegt und beißt ab.
Ich kann nicht mehr atmen, alles ist zu viel, wann hört es endlich auf?
SO SCHLIMM WAR ES NICHT!
Die Nacht ist klar und kalt, die Straßen wie immer leer. Das Geräusch von Schuhen im Schnee er-füllt die Stille. Es sind ungefähr vier Stunden vergangen, seitdem ich losgelaufen bin, denn mein Kopf ist voll. Es fühlt sich an, als würde ich gegen das Ertrinken kämpfen. Seit Stunden. Ich will oben bleiben, nach Luft schnappen, doch immer wieder zieht mich eine Gestalt nach unten und ich kann kaum noch atmen. Bis sie irgendwann verschwindet und es ist, als hätte ich noch nie das Ertrinkens erlebt.
Hundemüde und gleichzeitig hellwach schließe ich die Haustür auf, gehe hinein und ziehe so leise wie möglich meine Schuhe aus, doch ich kann ihre Schritte hören. Natürlich hat sie nicht geschlafen. Wie könnte sie auch? Langsam hebe ich den Blick, schaue in ihr wunderschönes Gesicht und sehe dieses besorgte Funkeln in ihren grünen Augen. Die Hand auf dem Treppengeländer, das orangebraune Haar zerzaust zusammengebunden, kein einziges Wort gesprochen und trotzdem alles gesagt. Ich hänge meine Jacke auf, atme tief durch und schließe kurz die Augen.
„Mein Kopf ist voll“, erkläre ich mit leiser Stimme und da kann ich sie wieder hören, ihre Schritte. Eine Sekunde später schließt Elaine mich in ihre Arme. Wärme, Liebe und Sicherheit. Ihr vertrauter Duft, ihr fester Griff um meinen Körper und ihre sanfte Stimme in meinem Ohr.
„Ich bin hier“, flüstert sie.
Der Druck auf meiner Brust wird weniger.
Ein lautes Piepsen weckt mich unsanft. Müde reibe ich mir die Augen und richte mich auf. Mein Blick fällt nach draußen. In meinem Kopf breitet sich der dunkle Nebel aus. Die warme Hand auf meinem Rücken rettet mich. Schnell sehe ich zu ihr und fange ihr Lächeln ein. Wie sie dort liegt, verschlafen, nicht ganz da, die Augen halb geschlossen. Sie spürt, dass ich davon schweife.
„Es ist alles okay“, flüstert sie. „Wir sind okay.“
Ich lege meine Lippen auf ihre Stirn, schließe die Augen und bleibe noch bei ihr, im Bett. Nah beieinander.
„Wir sind okay“, flüstere ich zurück.
Mit schnellen Schritten laufe ich über den eingeschneiten Kiesweg, bis ich den Blick meines Bruders einfange. Ein großes Lächeln entsteht auf seinen Lippen.
„Dani! Hey!“
Die pure Freude liegt in Colins Stimme. Strahlend nehme ich ihn in den Arm. Er hat ein breites Kreuz, riecht nach dem vertrauten Waschmittel und seine braunen Augen funkeln, als er mich ansieht. Neben seinem Hauptjob als Fußballtrainer arbeitet Colin ab und zu im Tierheim. Wir haben es vor ein paar Jahren von unserer Tante übernommen. Wenn ich bei ihm bin, ist da ein Stück Kindheit, welches ganz leicht in meinem Herzen aufblüht.
Gemeinsam mit meinem Bruder betrete ich die Gaststätte. Wir begrüßen die Wirtin und gehen nach hinten zu dem Ecktisch, an dem wir immer sitzen. Jeden Freitag. Und wie immer sind wir die Ersten. Als ich hier sitze, die leise Musik höre, die warme Luft spüre und die Geräusche im Hintergrund verschwimmen, ist die Erinnerung da, wie all das hier begonnen hat. Ich schaue erst auf, als ich eine kleine Diskussion mitbekomme, schaue ich auf. Ein Geschwisterpaar. Es bringt mich zum Lächeln. Colin sieht mich an. Er legt seinen Mantel über die Stuhl-lehne, streift über sein leicht eingeschneites, lockiges blondes Haar und nimmt Platz. Die streitenden Geschwister erinnern mich an uns.
Protestierend hielt ich den Kontroller in der Hand.
„Das ist nicht fair!“, meckerte Colin.
Ich zuckte mit den Schultern. „Du warst zu lang-sam!“
Er schüttelte den Kopf und funkelte mich an. Pia sah von ihrem Buch auf zu uns und wartete einen Moment ab.
„Ich bin jünger! Ich darf zuerst damit spielen!“
Colin verschränkte die Arme vor dem Brustkorb. „Das ist unfair!“
„Ihr zwei …“, begann Pia und kam zu uns. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich Angst. Angst, dass sie mir den Kontroller aus der Hand reißen würde und schrie, doch das tat sie nicht. Sie beugte sich zu uns nach unten.
„Ihr spielt Schere, Stein, Papier. Der Gewinner darf zuerst anfangen, einverstanden?“
Colin und ich sahen einander an und lächelten.
„Einverstanden!“
Eine weitere vertraute Stimme holt mich zurück. Hellhörig sehe ich an dem blassen Gesicht von Colin vorbei.
„Was für eine Ausrede hat er heute?“, fragt er amüsiert. Ich erwidere sein Lächeln, sehe zu dem großen Mann, der sich den Schnee von den Schultern klopft und mit der Wirtin spricht. Falko. Er ist immer zu spät. Egal, wie sehr er versucht pünktlich zu sein. Irgendwas kommt immer dazwischen.
„Leute! Es tut mir so leid“, sagt er direkt, als er am Tisch ankommt. Wir tauschen einen überraschten Blick miteinander aus, bis Colin zu ihm sieht.
„Keine spektakuläre Ausrede?“
Falko funkelt ihn an, nimmt Platz und streift seinen roten Cardigan zurecht.
„Nope. Heute bin ich einfach nur zu spät, weil ich kein Zeitmanagement habe.“
Sofort lache ich auf, was ihn zum Grinsen bringt.
Der Tisch wird voller und schlussendlich sitzen wir alle zusammen hier. Fünf Menschen, fünf unter-schiedliche Schicksale, doch eine Geschichte, eine Liebe, eine Vergangenheit, die uns alle verbindet.
„Darauf, dass er endlich tot ist!“, sagt Colin strahlend.
Wir heben die Gläser.
Er ist tot. Endlich.
Jahre zuvor
Mit einem Schwung lande ich neben meinem Vater auf dem schwarzen Sofa, und greife nach den Chips. Durch das offene Fenster gleitet die warme Sommerluft hinein. Der TV-Bildschirm erhellt das Wohnzimmer und die Stimme des Kommentators vertreibt die Stille. Heute ist ein guter Tag. Einer dieser Tage, die ich in meinem Kalender mit einem Stern vermerke, um mich daran zu erinnern, dass es sie gibt ‒ die guten Tage.
Wie gebannt starren wir nach vorn. Die Nachspielzeit beginnt. Kurz sehe ich zu Papa, wie er konzentriert die dunklen Brauen zusammenzieht, über seinen Bart streift und seine eisblauen Augen keine Sekunde vom Fernseher wandern.
„Meinst du, wir verlieren heute?“, frage ich ihn.
Sofort schüttelt er den Kopf, nippt an seiner Glasflasche und rückt ein Stück nach vorn.
„Die schaffen das, wart nur ab!“
Ich mag diese Momente. Wenn wir zwei so zusammensitzen und der Fußball uns verbindet. Es bringt mich zurück in meine Kindheit. An die Tage, als ich am Seitenrand stand, auf den Schultern meines Bruders und Papa beim Spielen zusah. Mit diesem Leuchten in den Augen und der puren Freude in der Brust. Wie Mama neben uns stand, Papa laut anfeuerte und wir nie ein Spiel von ihm verpassten. Das waren unfassbar viele gute Tage.
In der letzten Spielminute verschafft sich unsere Mannschaft einen Vorteil. Sofort richten wir uns auf, halten den Atem an, bis der Schuss fällt. Der Spieler zieht ab und … Jubel. Papa und ich schreien so laut wir können. Freude schießt durch mich durch. Überglücklich nimmt Papa mich in den Arm, haucht einen Kuss auf meinen Haaransatz und ich genieße den vertrauten Duft seines Parfüms, die Wärme seiner Umarmung und die Größe seines Lächelns.
Es gibt oft gute Tage. Wenn sie passieren, vergesse ich alle anderen Tage. Und meistens spreche ich mit meinem besten Freund Falko über die sie. Er kennt sie. Die Besonderheit von ihnen. Genauso wie Colin. Manchmal glaube ich, dass ich diejenige bin, die gar nicht versteht, wie besonders sie sind. Vielleicht liegt es daran, dass sich nichts verändert. Da ist immer der gleiche Ablauf.
Mit einem Satz springe ich aus dem Bett, verhake mich mit meinem Fuß fast im Laken und taumle über den kalten Holzboden in Richtung Tür. Mein Herz macht einen Aussetzer, mein Haar liegt zerzaust über meinen schmalen Schultern und genervt streife ich mir den viel zu langen Pony aus dem Gesicht. Ich reiße meine Zimmertür auf, sprinte förmlich durch den Flur, bis ich am Badezimmer ankomme und volle Kanne gegen die Tür knalle, weil sie abgeschlossen ist. Laut fluchend halte ich mir die Nase, nehme das amüsierte Lachen aus dem Raum wahr und verziehe die Augen zu einem Schlitz.
„Was machst du hier drin?“, meckere ich.
Eine Sekunde später öffnet mein älterer Bruder, der Schulschwarm mit dem lockigen blonden Haar und den Grübchen, die Tür.
„Ich glaube nicht, dass dein Name hier irgendwo steht“, meint er und scannt die Holztür ab.
„Du hast dein eigenes Bad!“
Er nickt langsam. „Wohl wahr, aber die Dusche hier mag ich mehr.“
Genervt rolle ich die Augen, zwänge mich an ihm vorbei und laufe direkt in die Duftwolke seines Parfüms, die so heftig ist, dass ich das Fenster aufreiße, nach Luft schnappe und ihm einen düsteren Blick zuwerfe.
„Würdest du mir jetzt etwas Privatsphäre lassen? Ich komme sonst noch zu spät!“
Colin stellt seinen Deoroller beim Waschbecken ab, tätschelt flüchtig meinen Kopf und schlendert seelenruhig aus dem Raum.
Hektisch wühle ich durch meinen sortierten Kleiderschrank, in dem ich trotz der Ordnung nie das finde, was ich suche. Erst die linke Seite, dann das rechte Regalbrett, bis ich mir meinen Lieblingshoodie, den dunkelblauen, schnappe und überziehe, mein noch nasses Haar dabei gekonnt ignoriere, nur um es eine Minute später hochzubinden.
Kaum gehe ich die knarrende Holztreppe nach unten, singt Colin in der Küche und bereitet sein Frühstück vor. Ich stelle meinen abgenutzten Rucksack an der Haustür ab, ziehe eine schwarze Jacke über und stecke den Hausschlüssel in die vordere Tasche meiner Jeanshose.
„Fährst du mit mir oder mit Falko?“, ruft Colin einen Augenblick später, während ich mir meine Chucks zubinde.
„Mit Falko“, rufe ich zurück, verschwinde durch die Hintertür nach draußen und schnappe mir mein hellgrünes Bike aus der leeren Garage. Normalerweise steht dort Papas glänzender Sportwagen. Im Moment befindet er sich auf einer dieser Veranstaltungen, bei denen er seinen teuren Anzug trägt, das braungraue Haar so ordentlich gekämmt hat, als wäre er so geboren und die Augen so funkelnd, dass er jeden Gesprächspartner von seinen Worten überzeugt. Allein die Vorstellung daran, lässt mich fast kotzen.
Der Reifen meines Rads zischt über den kalten Betonboden, der in ungefähr einer Stunde dank der Sonne kochen wird. Ich biege die nächste Straße nach links ab. Vor mir erscheint das altbekannte Backsteinhaus mit der weißen Haustür, und mein bester Freund, der bereits auf seinem Rad sitzt, durch die Gegend schaut und wartet. Lächelnd läute ich die Fahrradklingel, was mir seine Aufmerksamkeit verschafft. Sofort tritt er in die Pedale, um auf der Straße neben mir zu fahren.
„Du bist fast zu spät“, stichelt Falko.
Wenn er direkt neben mir fährt, kann ich sein blumiges Waschmittel einatmen, welches mich immer wieder beruhigt, weil es so vertraut ist. Schon seitdem wir klein sind, benutzt seine Mutter dasselbe. Es ist eins der Dinge, die sich nicht geändert haben. Im Gegenteil zu seiner Größe. Früher war ich immer größer, heute thront er über mir mit fast zwei Köpfen und sogar über Colin mit einem. Breite Schultern, Kinnlanges dunkelbraunes Haar, hellbraune Augen und dieses ansteckende schiefe Grinsen.
„Mein allerliebster Bruder hat wieder mein Badezimmer benutzt, deswegen bin ich fast zu spät“, erkläre ich und beobachte Falko dabei, wie er mit dem Rad Achten fährt. Amüsiert sieht er mich über die Schulter an.
„Die gleiche Prozedur wie immer?“, fragt er, was mich augenblicklich strahlen lässt. Ich nicke und es dauert vielleicht fünf Sekunden, bevor Falko heftig in die Pedale tritt. Wie jeden Morgen liefern wir uns ein Wettrennen. Und wie jeden Morgen gewinne ich.
Die erste Stunde nach den Sommerferien ist immer die schlimmste. Ich kämpfe gegen das Einschlafen an, lasse den Blick im Innenhof umherschweifen und Falko kritzelt in seinem schwarzen Notizbuch herum. Vorne an der kaputten Tafel steht unser Deutschlehrer, der beim Reden so heftig gestikuliert, dass es ihn zum Schwitzen bringt. Im Sonnenlicht schimmern die Schweißperlen auf seiner Glatze. Sein Unterricht ist langweilig. Totlangweilig.
Auf dem Weg zum Fachraum für die nächste Stunde, läuft Colin Falko und mir über den Weg. Colin ist eine Klasse über uns. Es ist fast unangenehm, wenn er bei uns steht, weil er an der Schule ein Star ist. Der Bruder, der das Fußballteam jedes Jahr zum Erfolg schießt, und daneben die Schwester, die die Rolle als Klassensprecherin viel zu ernst nimmt und sich immer fehl am Platz vorkommt. Dabei bin ich von Menschen umgeben, die mich sehen. Nur versteht mein Kopf das nicht.
„Wie siehts aus, kommst du heute Abend zum Zocken vorbei?“, fragt Colin meinen besten Freund, während wir durch den überfüllten Flur gehen.
„Wenn Dani damit einverstanden ist“ Er grinst mich an. Gespielt genervt verdrehe ich die Augen, zucke mit den Schultern und tue so, als wäre ich unentschlossen.
In der Mittagspause sitzen wir im Innenhof zusammen auf den Steinen in der Sonne. Falko zeichnet wieder, ich zupfe nachdenklich an meinem Hoodie herum und begrüße flüchtig unsere anderen Freunde. Annie, das rothaarige Mädchen mit dem lautesten Lachen, welches ich jemals gehört habe, und Esme, ihre feste Freundin, deren dunkles lockiges Haar bei jeder Bewegung mitschwingt. Ich mache ein Stück Platz, lehne mich an der Hauswand ab und fange den fragenden Blick von Falko ein, bis er lächelt. Manchmal scheint er mit seinen Gedanken woanders zu sein. In seinen Zeichnungen. In dem, was er erschafft. Aber wenn er zurückkommt, ist es so, als wäre nie etwas gewesen. So geht es mir, wenn nach den schlechten Tagen ein guter kommt.
„Und? Wie waren eure Ferien?“, fragt Annie, die das Haar von Esme zusammenbindet.
Ich zucke mit den Schultern, was so viel bedeutet wie mittelmäßig. Wie jeden Sommer war ich zu Hause, während Colin mit seiner Freundesgruppe weggefahren ist, Falko mit der Familie, Papa mit Arbeitskollegen. Ab und zu war ich bei Pia, die beste Freundin meiner Mutter. Für uns ist sie wie Familie. Die Gartenarbeit, um die ich mich für sie kümmere, hat gutgetan. Falko scheint nur auf die Frage gewartet zu haben. Sofort springt er auf und greift um sein dünnes Handgelenk. Eine Sekunde später streckt er mir ein grünes Perlenarmband mit einem kleinen goldenen Stern entgegen.
„Das habe ich für dich besorgt, als ich am Meer war“, sagt er laut. Das passiert immer mit seiner Stimme, wenn er voller Endorphine ist, fast explodiert vor Freude und nicht abwarten kann, darüber zu sprechen. Mein Herz flattert umher. Er legt das Armband um mein Handgelenk und zeigt mir seins. Das Gleiche, nur in blau.
„Freundschaftsarmbänder also?“, frage ich schmunzelnd, was er sofort erwidert und neben mir Platz nimmt.
„Übrigens, Dani, wir haben im Fußballteam noch einen Platz frei“, meint Esme plötzlich.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich zu ihr.
„Und?“
Ich ziehe das Wort extra lang. Falko tritt mit seinem Fuß leicht gegen meinen und ich hebe die Hände. Da ertönt es, das laute Lachen von Annie.
„Manchmal bist du wirklich verpeilt, kann das sein?“
Ich grinse.
„Kann sein …“
Falko legt seinen Arm über meine Schultern. Mir ist klar, was jeder in der Schule denkt. Die zwei Verrückten, die immer aufeinandersitzen, das offensichtliche Pärchen. Dabei sind wir wie Geschwister. Außerdem bin ich an Frauen interessiert, nicht an Kerlen, nur wissen das vielleicht drei Leute.
„Ich will damit sagen, dass ich dich direkt ins Team bekommen könnte, schließlich weiß ich, wie gut du spielst. Wir könnten jemanden wie dich im Mittelfeld gebrauchen“, meint Esme.
Keine Ahnung, wie Menschen mit Komplimenten umgehen. Wenn es jemand weiß, bitte sagt mir Bescheid, denn ich habe nicht den leisesten Schimmer. Meistens lächle ich einfach und das reicht aus.
Wenn da immer der gleiche Ablauf ist, erscheint eine einzelne Veränderung wie ein ganz neues Leben. Entweder ist das gut oder schlecht. Wie sich herausstellt, erscheint in diesem Schuljahr ein neues Mädchen. Und ich verliere direkt mein Herz.
Gut einen Monat, nachdem wir uns zum ersten Mal begegnet sind, findet der jährliche Tag der offenen Tür statt, bei dem Colin, Falko und ich Kuchen verkaufen, um die Renovierung der Turnhalle zu finanzieren. Während Falko durchs Schulgebäude schlendert und für uns Werbung macht, bleibt Colin bei mir. Er steht neben mir, eingekleidet in seinem neuen dunkelgrünen Fußballtrikot, das alle Blicke auf ihn ziehen lässt. Als ich mich umsehe, entdecke ich das Mädchen aus der Parallelklasse. Mein Herz beginnt stärker zu pochen. Sie trägt ihr blondes Haar zusammengeflochten und scheint ihren Eltern die Schule zu zeigen. Manchmal tauschen wir Blicke aus. Oder ein Lächeln. Oder ein flüchtiges Hi. In der hinteren Tasche meiner Jeans steckt der kleine Zettel, den ich schon vor Wochen geschrieben habe, doch traue ich mich nicht, ihn ihr zu geben.
„Du starrst.“ Colin lacht leise.
Erschrocken sehe ich in seine Augen, die immer schimmern, wenn er über das ganze Gesicht strahlt. Mit seinem Blick deutet er zum Mädchen. Augenblicklich werden meine Wangen warm, ich erröte und schaue weg. Es bringt ihn erneut zum Lachen und mich zum Schmunzeln. Peinlich berührt streife ich eine dunkle Haarsträhne nach hinten, sehe zu Boden und wippe auf der Stelle hin und her.
„Soll ich dir Flirttipps geben?“, fragt Colin.
Sofort schüttle ich den Kopf.
Gespielt beleidigt verschränkt er die Arme vor seiner breiten Brust.
„Ich bin ein Profi!“, beteuert er, was mich nur mehr amüsiert. Als ich wieder in den langen Flur schaue, fange ich direkt den Blick des Mädchens ein, und ich glaube, dass mein Herz einen Purzelbaum schlägt. Als wären da tausende Lichter in meiner Brust, die die ganze Stadt, wenn nicht sogar die ganze Welt, erhellen. Und wie gut fühlt sich das an? Wenn ein anderer Mensch nur dich allein ansieht und dabei das schönste Lächeln auf den Lippen trägt?
„Wann genau sprichst du sie denn mal an?“, fragt Colin.
Ich zucke schnell mit den Schultern. Wieso sollte ich denn? Dieser Moment war bereits alles, was ich wollte. Mit Worten kann man so viel zerstören, so viel kaputtmachen und ausrichten.
Ungefähr drei Stunden später, als es bereits dämmert, verlassen Colin, Falko und ich das Schulgebäude. Dabei entgeht mir nicht, wie mein Bruder seine rundliche Brille aufsetzt. Manchmal riskiert er lieber die Kopfschmerzen, als sie zu tragen, was ich albern finde. Wen interessiert es schon, was die Leute über sein Aussehen denken? Falko schnappt sich sein Fahrrad. Während Colin zum Wagen von Papa geht, bleibe ich noch einen Augenblick bei meinem besten Freund, der sein Haar nach hinten streift und aufs Rad steigt. Ausnahmsweise sind wir jetzt gleichgroß. Mit einem kurzen Nicken deutet Falko zum Auto.
„Du kommst klar?“
Manchmal unterhalten wir uns über die schlechten Tage. Aber nur kurz. Wenn wir auf unserem Aussichtspunkt, dem alten Dach einer Ruine, sitzen, Pizza essen und er meinen Blick einfängt. Er sagt, dass meine Augen weniger funkeln, wenn mein Herz blutet. Dass er Angst hat, dass ich eines Tages den letzten Funken in mir verliere. Wir sagen nie wirklich, was uns Kummer bereitet, und trotzdem scheinen wir es zu verstehen. Uns zu verstehen. Ganz ohne Worte.
Sanft berühre ich Falko an der Schulter.
„Ich komme klar.“
Wie immer macht es sich Colin auf der Rückbank gemütlich, während ich in den Beifahrersitz sinke. Die altbekannte 80er Musik spielt, das Fahrerfenster ist ein Stück nach unten gelassen und die milde Sommerluft fliegt hinein. Es steht ein Geruch, den ich noch nie mochte. Wenn du mich fragst, riecht der Innenraumduft meines Vaters nach süßlicher Alkoholkotze. Nur würde ich das niemals laut sagen.
„Und? Wie lief es?“, fragt Papa.
„Eigentlich ganz gut.“ Ich zucke mit den Schultern. Als die Hand von Colin um meinen Sitz erscheint, weiß ich sofort, was er ansprechen will. Mahnend drehe ich mich zu ihm um.
„Sei still!“, nuschle ich.
Er grinst. „Wusstest du, dass Dani ihren ersten Schwarm hat?“
„Colin!“
„Ach wirklich?“ Papa klingt amüsiert und neugierig. Gibt es noch was Schlimmeres, als das hier? Laut seufzend lehne ich mich im Sitz zurück.
„Das Mädchen war bei uns am Stand. Die beiden haben sich nur angestarrt. Aber es war niedlich.“ Colin stupst leicht gegen meine Schulter, doch ich winke ab.
„Es war peinlich!“
„Hey, sieh es so, es ist besser, dass du nichts gesagt hast“, beginnt Papa. Hellhörig sehe ich zu ihm, lasse mich kurz von seinem Haar ablenken, welches zerzaust im Wind herumweht. Sein Blick trifft flüchtig meinen.
„Da du den Mund gehalten hast, hast du dich vor einer Ablehnung bewahrt.“
Und vielleicht soll es ein Witz sein. Vielleicht sollte es mich nicht überraschen, weil er solche Dinge oft sagt, aber es trifft mich. Mit aller Wucht. Schnellblinzelnd starre ich ihn an.
„Wie meinst du?“
Er lacht auf und deutet mit seiner Hand auf meine Klamotten.
„So wie du angezogen bist, wird wohl keiner etwas von dir wollen. Komm schon Dani, das weißt du doch selbst.“
Deswegen mag ich die Stille. Wenn wir nichts sagen, damit nichts in meinem Kopf herumschwirrt. Ich mag das Nichts. Was ich nicht mag, ist wenn das Etwas kommt. Weil ich es meistens nie wieder rausbekomme. Die Hand von Colin an meinem Arm erschreckt mich.
„Das Mädchen hat sie die ganze Zeit angestarrt. Außerdem mag ich den Style von Dani, er ist locker und cool. Gib mir mal etwas ab!“, faselt Colin. Er will mir ein gutes Gefühl geben, aber es funktioniert nicht. Ich bleibe still. Über meine Lippen kommt kein Wort mehr und ich denke nur noch an das Etwas. Aus dem guten Tag, wird ein schlechter. Und ein Stern weniger im Kalender.
Nachts, wenn sie alle schlafen, sitze ich vor dem offenen Fenster in meinem Zimmer und sehe nach draußen. Zum Wald. Manchmal, wenn es regnet, und ich den Duft einatme, fühle ich mich lebendiger als am Tag. Das hier ist meine Zeit. Wenn ich schlafe, kommt es mir so vor, als würde ich Zeit vergeuden. Ich mag es nicht. Nur heute … heute ist da dieser Schatten im Blickwinkel. Immer wieder sehe ich nach hinten, in das kahle Zimmer, zum Schreibtisch, zum Bett, zum Kleiderschrank, aber niemand ist hier. Es ist nur in meinem Kopf. Da sind Kreise aus Linien, voll mit Farbe, und sie vermischen sich, so lange, bis sie alle nur noch schwarz sind und irgendwie alle gleich, weil jeder Gedanke auf dasselbe hinauswill, und trotzdem habe ich keine Ahnung, was ich denken soll. Verwirrend, oder?
In einem Moment wirkt alles heil. Stabil und sicher. Bis es dann wieder zerbricht. Sind wir Menschen gebrechlicher als Glas? Manchmal kommt es mir so vor. Oder vielleicht sogar sehr oft. Ein Glas kann bei einem Fall überleben. Vielleicht zerbricht es nicht. Ein Mensch, der zerbricht augenblicklich, wenn er auf dem Boden aufschlägt.
Es ist ein sonniger Nachmittag, den ich im Wohnzimmer auf dem großen Sofa verbringe und an meinem Erdkundeprojekt arbeite. Obwohl die Abgabe erst in drei Wochen ist, werde ich wahrscheinlich schon heute Abend damit fertig sein. Unzufrieden starre ich auf meine Zeichnung. Irgendwas stört mich. Es ist noch nicht gut genug. Also mache ich das, was ich immer mache. Ich schicke Falko ein Bild meiner Arbeit.
Dani:
Sei ehrlich, was sagst du dazu?
Falko:
Es sieht unfassbar gut aus!!! Ich bin nicht überrascht!
Dani:
Irgendwie gefällt es mir nicht.
Falko:
Auch das überrascht mich nicht :D Es ist perfekt, vertraut mir! Lass es bis morgen so. Wenn es dir dann immer noch nicht gefällt, helfe ich dir beim neuen.
Als sich die Haustür öffnet, sehe ich auf. Colin und Papa sind zurück. Nur in einer deutlich schlechteren Stimmung als sie weggefahren sind. Mit gerunzelter Stirn beobachte ich meinen Bruder. Papa reicht ihm eine Einkaufstüte, die er nur desinteressiert abnimmt. Ich stehe auf, nähere mich den beiden langsam und frage, ob etwas vorgefallen ist. Papa winkt ab, doch Colin sieht direkt zu mir und zeigt auf ihn.
„Es gab Probleme mit den Eintrittskarten, also ist er wieder laut geworden.“
Papa bleibt still.
„Laut geworden?“, frage ich nach.
Colin seufzt und verschwindet die Treppe hinauf. Irritiert sehe ich ihm nach. Papa interessiert es nicht. Er setzt sich aufs Sofa und macht den Fernseher an. So wie immer. Schnell schnappe ich mir mein Zeug und gehe nach oben. Vor der Zimmertür mit dem Fußballposter bleibe ich stehen und klopfe an. Colin scheint einen Moment zu überlegen, ob er mich reinlässt, bis er die Tür einen Spalt öffnet. Ich trete ein, schließe sie hinter mir und sehe ihm dabei zu, wie er seine Jacke auszieht und sich aufs Bett schmeißt.
„Was genau ist passiert?“
„Das, was immer passiert, Dani.“
Du weißt, was das bedeutet. Und trotzdem tust du so, als wüsstest du es nicht.
„Er hat jeden Mitarbeiter angeschissen, obwohl die nicht mal was dafür konnten! Es war sein Fehler! Er hat die falschen Tickets gebucht, aber nein, jeder andere ist schuld!“
„Du hast dich die ganze Woche auf das Spiel gefreut“, flüstere ich.
Colin nickt und streift sich mit den Händen durchs Gesicht.
„Sie haben ihm angeboten, die Tickets ausnahmsweise zu tauschen, aber ich hatte keine Lust mehr … Ich wollte einfach nur nach Hause.“
Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen. So traurig. Es ist, als könnte ich seine Traurigkeit in meiner Brust spüren.
„Und das Geilste ist“, setzt Colin an, und deutet auf die Einkaufstüte neben dem Bett, „er hat mir dann ein Trikot gekauft und erwartet, dass alles wieder gut ist.“
Egal, wie sehr du dich anstrengst, wütend zu bleiben, es funktioniert nicht. Am nächsten Morgen sitzt du schon wieder am Frühstückstisch und lachst mit ihm. So ist es immer. Was gestern war, ist vergessen und hinter uns. Genauso geht es Colin. Ich mag diese kleinen Momente am meisten. Wenn wir hier sitzen, im Hintergrund das Radio läuft und Papa mir ein Marmeladenbrot macht.
„Wie wäre es, wenn wir spielen gehen?“, fragt er uns beide.
Colin tauscht einen vielsagenden Blick mit mir aus. Seine Augen funkeln. Ich strahle und sehe zu Papa.
„Das wäre perfekt!“
Dieses Geräusch der Fußballschuhe, wenn sie auf den Betonboden treffen, ist Musik in meinen Ohren. Es sind die rot-weißen, die Pia mir geschenkt hat. Ich trage sie, solange ich kann. Es ist ein milder Samstagmorgen. Die Sonne geht langsam auf, in der Luft steht der Tau und die Welt schläft noch. Papa wirft mir einen Fußball zu, den ich übers feuchte Gras schlittern lasse. Auf dem Platz fühle ich mich, als könnte ich fliegen. Als wäre alles andere weg. Mein Kopf ist frei, geordnet, still. Durch mich zischt der Rausch der Endorphine. Zufrieden sehe ich zu Colin, der zum alten Metalltor geht und sich aufwärmt.
„Wie wollen wir spielen?“, fragt Papa, als er auf dem Rasen sitzt und seine alten Stollenschuhe anzieht.
Ich zucke mit den Schultern. „Ihr zwei gegen mich.“
Grinsend richtet er sich auf.
„Dann zeig mal, was du drauf hast, Kleines.“
In jedem meiner Schüsse liegt ein Stück Ballast. Ich schieße ihn weg. So heftig, dass es manchmal fast wehtut. Immer und immer wieder. Mein Herz rast. Die Luft wird warm. Der Stoff meines Trikots weht im Wind. Mit bebendem Brustkorb stehe ich auf dem Platz, streife eine nasse Haarsträhne hinter mein Ohr und beobachte die Bewegungen meines Vaters. Hier, in diesen Momenten, will ich ihm beweisen, wie viel ich draufhabe. Wie ähnlich wir uns im Fußballspiel sind. Ich renne los. So schnell ich kann, dribble ihn aus und ziehe ab. Tor. Sein Klatschen macht mich glücklich. Es erfüllt mich mit Stolz. Meine Taktik funktioniert noch zwei weitere Male. Beim dritten Versuch grätscht er in meine Beine und erwischt dabei mit voller Wucht meinen rechten Fuß. Ein heftiger Schmerz zischt durch mich durch. Ich pralle auf dem nassen Gras auf, halte mir den Fußknöchel und Tränen steigen mir in die Augen.
„Dani!“ Keine Sekunde später kniet Colin neben mir und sieht mich besorgt an. Ich deute nur flüchtig auf meinen Fuß, denn der Schmerz ist heftig.
„Das läufst du wieder raus, keine Sorge“, höre ich Papa sagen und spüre kurz seine Hand auf meinem Rücken. „Komm, steht auf.“
Ich drehe mich zwar um, doch Colin lässt nicht zu, dass ich versuche aufzutreten. Er kocht vor Wut. Beschwichtigend lege ich meine Hand auf seinen Unterarm.