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Vor mehr als zehn Sommern endete die Liebesgeschichte von Juliet und Shirley mit gebrochenen Herzen. Ausgerechnet jetzt, wo die beste Freundin von Juliet heiratet, treffen die beiden wieder aufeinander. Genau an dem Ort, an dem alles begonnen hat. Liegt zwischen den beiden noch immer diese Anziehung oder war es einfach nur die Magie der ersten Liebe?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Die blauen Augen
Der Zufall
Vier Monate
Halt mich auf
Einfach so
Ich laufe weg
Wenn
Abschied
Ein Frühling
Ein Sommer
Ein Winter
Ein zweiter Frühling
Ein zweiter Sommer
Meine Freiheit
Wiedersehen
Freundschaft
Bücher von damals
Schlaflose Nacht
Roadtrip
Rote Lilie
Vergeude keine Zeit
Unsere Zukunft
Ihr Tag
Für immer
Impressum
Jahre zuvor
Eine Sommernacht. Laute Musik, stehende Hitze, glühende Haut, Gespräche, kein Zeitgefühl, Vertrautheit zwischen fremden Menschen. Wir stoßen an. Das Bier läuft über. Ich trinke schnell einen Schluck, höre das Lachen meiner besten Freundin, die ihre Hand auf meine Schulter legt. Ob sie sich über mich lustig macht, frage ich amüsiert. Grinsend schüttelt sie den Kopf. Ich trete einen Schritt zurück, sofort hält sie mich fest. Verwirrt schaue ich hinter mich, weiche einer Frauengruppe aus, die sich flüchtig entschuldigt und laut lacht. Für einen Moment gleitet mein Blick über die Gesichter, bis er an einem stoppt. Dunkelbraune Haut, Sommersprossen, Braids und ein Blau in ihren Augen, das selbst aus dieser Entfernung funkelt. Zwischen uns entsteht ein Blickkontakt. Meine beste Freundin will meine Aufmerksamkeit, doch sie bekommt sie nicht. Die Fremde sagt etwas zu ihrer Begleitung und dann kommt sie auf mich zu. Mein Herz schlägt schneller. Wir alle warten auf den Sonnenaufgang, die Seele tanzt in der Dunkelheit, in der Ungewissheit und der Versuchung, heute jemanden kennenzulernen, der alles verändern wird. Überrascht gebe ich einen Laut von mir, als die fremde Frau mein Bier klaut und einen Schluck trinkt. Ich frage, wie ihr Name ist. Shirley, antwortet sie, fragt nach meinem, Juliet. Ob ich tanzen kann. Ich strecke ihr meine Hand entgegen, die sie mit einem Strahlen annimmt.
Funken. Auf der Tanzfläche zwischen uns, zwischen unseren Körpern. Sie tanzt für mich, ihr Körper bebt für mich, ihr Atem kommt flach. Wir tanzen, duellieren einander, ausnahmslos. Es ist belebend, heiß, wundervoll, erwartungslos. Ich genieße es. Unsere Gesichter sind direkt voreinander.
„Woher kommst du?“, frage ich.
„England. Ich wohne in einem kleinen Dorf. Nicht weit weg von einer Stadt“, antwortet sie. England. Da wollte ich schon immer mal hin.
„Wie ist es da so?“
„Wie es da ist?“, wiederholt sie.
Ich nicke.
„Nun, ich schätze ganz nett, wenn ich noch immer dort wohne“, sagt sie und ich beginne zu lächeln, denn ich mag ihren Sarkasmus.
„Es gefällt mir dort“, fügt Shirley hinzu.
„Wirklich? Ich hätte gedacht, dass du es verabscheust“, meine ich und aus einem Lächeln wird ein Strahlen und ein inniger Tanz.
Schwer atmend stehen wir an der Theke. Sie bestellt uns Getränke, während ich sie beobachte. Im Schein des Lichts leuchtet sie. Ihre Körperwärme ist intensiv, sie glüht regelrecht. Euphorie, Adrenalin, Serotonin. Alles miteinander vermischt. Shirley reicht mir ein Glas. Dankend nehme ich es in die Hand, stoße mit ihr an, doch sie sieht in diesem Moment zur Seite.
„Shirley … Das bringt Unglück.“
Blickkontakt. „Du hast mir beim Anstoßen nicht in die Augen gesehen.“
Ein Lächeln legt sich auf ihre Lippen. Vorsichtig legt sie ihren Arm um meine Taille, zieht mich zu ihr hin, so nah, bis sich unsere Münder fast berühren.
„Cheers“, haucht sie.
Wir blicken tief in die Augen des anderen. Als mich Shirley erneut auf die Tanzfläche ziehen will, stoßen wir gegen einen Typen. Sie kippt ihr Bier auf seinem Hemd aus. Ich kann nicht anders, sein Gesichtsausdruck bringt mich zum Lachen. Shirley fängt meinen Blick ein, grinst, bis ich sehen kann, dass der Kerl wütend wird. Ohne nachzudenken, schnappe ich sie an der Hand und ziehe sie hinter mir her. Wir verschwinden so schnell, wie wir können.
Der Mond scheint auf das Wasser hinunter. Der See ist leer. Shirley braucht mich nur einmal anzusehen, sie weiß, was ich vorhabe. Und sie wirft mir nicht gegen den Kopf, wie leichtsinnig die Idee ist, im Gegenteil. Sie zieht ihre Schuhe aus, schmeißt ihr Handy ins Gras und nimmt Anlauf. Augenblicklich renne ich ihr hinterher, juble und springe in das kalte Wasser. Wir atmen laut aus, streichen durch unsere Gesichter, sehen einander an. Sie beginnt zu schwimmen, ich lächle und folge ihr. Ihr Lachen ertönt und ich fühle mich so, als würde ich fliegen.
Wir liegen nebeneinander im Gras, sehen hinauf in den klaren Sternenhimmel. Meine Fingerspitzen fahren über die trocknen Grashalme, während ich ihren Kopf auf meinen Beinen spüre. Shirley strahlt Wärme und Leichtigkeit aus. In mir liegt eine Ruhe, die so angenehm ist, dass sie fremd wirkt. Lächelnd dreht sie ihr Gesicht in meine Richtung.
„Du bist hier aufgewachsen?“
Ich nicke, streiche durch mein nasses Haar und lächle sanft. Wir beginnen uns zu unterhalten, als würden wir uns jahrelang kennen. Als wären unsere Seelen alte Freunde. Und irgendwann, nach vielleicht Stunden, liegt sie direkt neben mir. So nah, dass ich ihren Atem auf meinen Lippen spüren kann. Sanft streiche ich mit meinem Daumen über ihre Wange. Shirley kommt mir noch näher. Münder, die sich sanft berühren. Ganz leicht, federleicht, legt sie ihre Lippen auf meine. Es ist ein unbeschwerter Kuss zwischen zwei jungen Menschen, der sich verwandelt. In Leidenschaft, einer Hand im Haar, lautes Atmen, bebende Herzen.
Summend, tanzend, küssend, klitschnass, führe ich sie an der Hand durch die Straßen, bis wir an meiner Wohnung ankommen. Ich öffne ihr die Tür, trete einen Schritt zur Seite.
„Die Dame.“
Shirley macht einen leichten Knicks, geht hinein und sorgt dafür, dass ich wie ein Idiot lächle. Es dauert nicht lange, da fallen die nassen Klamotten zu Boden. Die Wohnung beleuchtet durch das Mondlicht, die Kälte verbannt durch die Wärme unserer Körper. Wir beide sind unerfahren, und trotzdem, zusammen finden wir in diesen Stunden alle Antworten, die uns zeigen, wie intim eine neue Verbindung zwischen zwei Körpern sein kann.
Als die Sonne meine Haut erwärmt, die Vögel bereits singen, werde ich langsam wach. Verschlafen öffne ich die Augen, blinzle ein paar Mal, bis ich mich strecke und umsehe. Sie ist nicht mehr hier. Mit einem Ruck stehe ich auf, entdecke den kleinen Zettel beim Seitenschrank und schnappe ihn mir.
Sehen wir uns wieder? Shirley
Ihre Worte lassen mich lächeln, denn ich weiß, dass sie weiß, dass sie keinen Sinn ergeben. Wir haben keine Nummern ausgetauscht, keine vollständigen Namen, nichts. Sollten wir uns wiedersehen, wäre es Schicksal. Ich falte den Zettel zusammen, sehe nach draußen, spüre die frische Morgenluft und bilde mir ein, dass ihr Parfüm auf dem Blattpapier haftet. Insgeheim hoffe ich, dass wir uns wiedersehen werden.
Eine unerträgliche Hitze, warme Haut, dankbar für jeden Windzug, der mich erreicht und im Hintergrund ertönt die helle Stimme meiner Mutter. Blaue Augen, die mich anfunkeln. Umgeben von Natur, Grün, Bäumen, Büschen, Beeten. Ich bin bei meinen Eltern. Erneut die Stimme meiner Mutter, die mich bittet, den neuen Apfelbaum noch etwas nach links zu rücken. Und natürlich gehe ich ihrer Bitte nach.
Meine nackten Füße wandern über das trockene Gras hinüber zur alten Holzbank, die unter der großen Birke steht. Dankbar nehme ich die Wasserflasche, die mir meine Mutter entgegenstreckt, ab. Ich trinke einen Schluck. Erfrischt sehe ich sie an, entferne ein Blatt aus ihrem schwarzen Haar und bitte sie mir etwas Wasser in die Hände zu gießen. Genüsslich schließe ich die Augen, als ich die Kälte auf meiner warmen Haut spüre. Ich lehne mich zurück, das lauwarme Holz trifft auf meinen Rücken und ich lausche den Vögeln.
„Juliet?“, beginnt meine Mutter.
Ein Tonfall, der mir bekannt ist. Ich möchte dir etwas sagen, doch ich weiß bis jetzt nicht wie. Vielleicht werde ich direkt oder indirekt sein, noch habe ich es nicht entschieden. Diese Art. Ich lasse die Augen geschlossen, bitte sie zu sprechen und im nächsten Moment teilt sie mir mit, dass mein Vater zwei neue Aushilfen erwartet, die hier wohnen werden. Als wäre es ein Weckruf, ein Alarmschlag, reiße ich die Augen auf.
„Wie bitte?“
„Du hast mich schon verstanden“, sagt sie und natürlich habe ich das, nur wäre mir lieber, sie nicht verstanden zu haben. Verständnislosigkeit liegt in meinem Blick und doch ist der Drang, sie nicht zu verärgern größer. Was können ein paar Wochen schon bewirken, denke ich mir. Was soll passieren, in einem unerträglich heißen Sommer. Alles und gar nichts. Seufzend berührt Mama meine Hände.
„Bitte sei nicht zu direkt und…komm vorbei.“
Direkt. Etwas, was auf viele Arten und Weisen interpretiert werden kann.
„Direkt?“, wiederhole ich.
„Denke zweimal über deine Worte nach“, bittet sie mich. Am liebsten würde ich die Augen verdrehen, doch ich tue es nicht. Ich nicke flüchtig.
„Sie studieren übrigens. Etwas weiter weg von hier.“
„Mama.“
„Ich erwähne es nur.“
Sie will, dass ich gehe, dass ich die Welt entdecke. Doch ich will nicht. Ich werde hierbleiben.
Als der späte Nachmittag anbricht, liege ich auf der Eckbank im Hinterhof, starre nach oben in den Himmel, der von keiner einzigen Wolke bedeckt ist. Vollkommen frei. Die Sonnenstrahlen liegen auf meinen Waden, lassen meine Haut glühen und die Stille wird vom Flattern der Blätter meines Notizbuches unterbrochen. Frustriert sehe ich hinüber auf die leeren Seiten, die zerstörten Entwürfe und die verlorene Inspiration. Ein sanftes Lächeln erscheint auf meinen Lippen, denn das Blätter flattern wird von einer männlichen Stimme übertönt, die mir bekannt ist. Der Mann mit dem blonden, lockigen Haar. Dias. Uns verbindet Freundschaft, Intimität, Vertrauen. Er kennt meinen Körper und ich kenne seinen. Seit unzähligen Sommern. Mein Blick trifft auf seinen. Blaue Augen treffen auf grüne.
„Womit habe ich deinen Besuch verdient?“, frage ich lächelnd, aber er wirkt verärgert. Einen kurzen Moment wartet er ab, bis er laut seufzt und ins Haus geht. Verwirrung macht sich in mir breit. Mit schnellen Schritten folge ich ihm.
„Was ist denn?“
„Was ist denn?“, wiederholt er.
Ich nicke.
„Du vergisst jedes Mal, was wenn wir etwas ausmachen.“
Stirnrunzelnd beobachte ich ihn. Wie er hin und her läuft, sein Hemd offen, die hellen Haare auf seiner Brust und der leichte Sonnenbrand.
„Was habe ich wieder vergessen?“
Dias versucht sauer zu bleiben, doch ein Blick von mir reicht, um ihn zu tauen. Die Flammen, die zwischen uns brennen, zerstören jedes Eis. Lächelnd nähere ich mich ihm, lege meine Hände um seinen Kragen und atme den Duft seines Körpers vermischt mit Sonnencreme ein.
„Du wolltest mir beim Putzen im Restaurant helfen“, sagt er und ich kann mich wieder daran erinnern.
Vor dem großen Haus mit der weißen Fassade und der dunkelblauen Eingangstür bleibe ich stehen. Für einen kurzen Moment sehe ich hinaus auf das Meer. Ein Lächeln legt sich um meine Lippen, denn das Geräusch der Wellen, wenn sie gegen die Felsen prallen, ist Musik in meinen Ohren.
„Versuchst du Zeit zu schinden?“, fragt Dias, der neben mich tritt und mein Lächeln erwidert.
„Vielleicht“, antworte ich, krame den Schlüssel aus meiner Hosentasche und öffne die Tür.
Im Hintergrund läuft leise Musik. In meiner Hand halte ich den kalten Lappen und lasse ihn über die braunen Tischplatten fahren. Es vergehen ein paar Stunden, bis ich von draußen Geräusche höre. Neugierig sehe ich auf und entdecke eine Frauengruppe an der Tür. Ein Blick und schon hat sie meine volle Aufmerksamkeit. Schnell blinzelnd gehe ich hinter die Theke und ich will sie nicht wie eine Vollidioten anstarren, aber ich kann nicht anders. Die blauen Augen. Als sie meinen Blick einfängt, liegt ein nahes, warmes Lächeln auf ihren vollen Lippen. Anstatt wegzusehen, hebe ich den Kopf etwas, lasse das geschlossene Lächeln geschehen. Sie kommt in meine Richtung. Das Glas in der Hand, das Geräusch von Ringen, wenn sie auf den harten Rand treffen. Und dann steht sie direkt vor mir.
„Shirley.“
Ich habe sie nicht vergessen und sie mich ebenfalls nicht.
„Juliet“
Gänsehaut.
„Wärst du damit einverstanden, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?“
Kein wie geht es dir. Kein schön, dich zu sehen. Kein, ich denke noch an unsere gemeinsame Nacht. Sie ist genauso wie du. Mein Nicken reicht ihr aus. Strahlend stellt sie das Glas vor mir ab, kramt einen Zettel aus ihrer Jeans und lässt mich keine Sekunde aus den Augen.
„Kurze Antworten reichen. Hauptsache du antwortest.“
Ich nicke erneut.
„Was glaubst du, warum träumen wir?“
„Um der Realität zu entkommen.“
„Wie definierst du Kunst?“
„Kunst lässt einen Menschen etwas fühlen.“
„Glaubst du an Seelenverwandte?“
„Ja.“
„Glaubst du an zweite Chancen?“
Augenblicklich lache ich auf. „Nein.“
Shirley lässt den Zettel sinken. „Glaubst du nicht, dass sich Menschen verändern können?“
„Doch.“
„Warum glaubst du dann nicht an zweite Chancen?“
Ich zucke mit den Schultern. „Intuition.“
Sie nickt und sieht auf ihre Zeilen. Nachdenklich runzle ich die Stirn.
„Und du?“
Blickkontakt.
„Ob ich an zweite Chancen glaube?“
Ein Nicken.
„Ja.“ Eine kurze Antwort, doch mit so viel Sicherheit, Stärke, Überzeugung, dass es mich für einen Moment sprachlos macht.
„Was war bisher dein größter Fehler im Leben?“
Ich beginne zu lächeln.
„Jemandem eine zweite Chance zu geben.“
Augenblicklich lacht sie auf. Flatterndes Herz. Vielleicht war es dein Lachen oder deine Augen oder dein Lächeln. Es könnte dein Haar gewesen sein, oder deine Stimme oder deine Persönlichkeit, was auch immer es war, es hat mich angezogen.
„Wo ist dein Lieblingsort auf der ganzen Welt?“
„Vielleicht fünfzehn Minuten von hier entfernt“, lasse ich sie wissen. Und ich kann die Neugier in ihrem Blick erkennen.
„Ach ja?“
Ich nicke. Sie sieht wieder auf ihr Blatt und im nächsten Moment wird sie von einer ihrer Freundinnen gerufen. Flüchtig, als wäre es nicht von großer Bedeutung, verabschiedet sie sich. Shirley stellt sich an die halbhohe Mauer, redet mit ihren Freundinnen und sieht kein einziges Mal zurück. Mit ihren Fingern streicht sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, doch sie fällt immer wieder zurück. Flüchtig mustere ich ihr Rad und entdecke nach ein paar Sekunden den Platten. Ich verschwinde von der Theke, besorge unsere Fahrradpumpe und gehe nach draußen zu der Gruppe. Ein lautes Räuspern von mir genügt, um jegliche Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Augenblicklich sieht sie auf.
„Wenn du so weiterfährst, wirst du beim nächsten Regen ausrutschen.“
Ich greife nach der Pumpe aus meiner hinteren Tasche und zeige sie ihr.
„Gutes Argument“, sagt Shirley, tritt einen Schritt zur Seite, damit ich zum vorderen Reifen komme. Ich geh’ auf die Knie. Die amüsierten Sprüche ihrer Freundinnen entgehen mir nicht. Shirley kann sich ihr Lächeln nicht verkneifen. Amüsiert sieht sie weg, versucht ernst zu werden, doch es funktioniert nur bedingt. Ihre dunkelbraune Haut ist verziert von sanften, kühlen Untertönen und Sommersprossen, die sich über die freie Haut, die ich sehen kann, erstrecken.
Es dauert ein paar Minuten, kostet Kraft, doch ich bekomme den Reifen vollkommen aufgepumpt. Jedoch rate ich ihr, ihn demnächst wechseln zu lassen. Shirley nickt kurz und ich richte mich langsam auf.
„Dein Restaurant?“
„Das meiner Eltern. Ich kellnere hier.“ Flüchtig zeige ich auf ihren Reifen. „Wärst du so einfach weitergefahren?“
Sie nickt.
Ich runzle die Stirn. „Ziemlich schlechte Idee“, sage ich und sie lächelt sanft, zuckt kurz mit den Schultern.
„Ich hätte jemanden fragen müssen.“
„Wir alle benötigen manchmal ein wenig Hilfe. Daran ist nichts verwerflich“, versichere ich. Als ihre Freundinnen, die bereits etwas entfernt stehen, nach ihr rufen, tauschen wir einen schnellen Blick miteinander aus. Sie steigt aufs Rad und entfernt sich. Neugier steigt in mir auf. Ich bin neugierig darauf, was hinter diesem Gefühl in mir steckt, dass mir sagt, dass ich dich kenne. Vollkommen unüberlegt frage ich sie, wohin sie fahren. Shirley bleibt stehen, sieht über die Schulter zu mir.
„Keine Ahnung“, ruft sie mir entgegen.
„Keine Ahnung?“, wiederhole ich.
Ich bin neugierig auf dich. Viel zu neugierig.
„Was für eine Frage hast du mir bis jetzt noch nicht gestellt?“
Sie grinst. „Was ist das Spontanste, dass du in letzter Zeit getan hast?“
Und ich spüre den Nebenton in ihrer Stimme, das Verlocken, die Neugier, der kleine Hauch von Hohn. „Wäre es spontan, wenn ich dir meinen Lieblingsort zeige?“, rufe ich ihr entgegen.
„Eventuell“
Ich drehe mich um und sprinte regelrecht ins Restaurant. Verwirrt sieht mich Dias an, dem ich den Ladenschlüssel entgegenwerfe.
„Bis nachher“, sage ich, gehe wieder nach draußen und steige auf mein Rad. Spontan. Einfach so. Keine Zeit verschwenden, keine Chance, keinen Gedanken.
Mit einem Stoß fahre ich los.
„Folgst du mir?“, frage ich sie.
„Ich folge dir“
Als wir am Waldrand ankommen, steige ich vom Rad und warte auf Shirley. Ich sehe über die Schulter zu ihr, wie sie elegant vom Fahrrad steigt und mich ansieht und ihre Braids über die Schulter legt.
„Hier lang“, sage ich.
Wir laufen einen kleinen Weg entlang, vorbei an den vielen Bäumen, die den Platz verstecken. Der Schatten tut gut. Hier oben fühlt sich der Wind intensiver an. Normalerweise komme ich am Abend her, wenn es schon dämmert und ich mir sicher bin, dass ich allein sein werde. Ich verbringe Stunden damit, die Landschaft zu betrachten, auf das Meer zu sehen und nachzudenken. Lächelnd blicke ich zu Shirley, deren Augen in der Sonne funkeln.
„Abends ist es hier immer leer.", lasse ich sie wissen, trete durch das kleine Gebüsch hindurch zum Felsen. Kaum bin ich nicht mehr von Bäumen umgeben, erhellt mich die Sonne mit ihrer ganzen Kraft. Gespannt beobachte ich Shirley, die aus dem Gebüsch tritt, sich Blätter aus den Braids streicht und vom Ausblick gefangen ist. Wir stehen auf einem kleinen Felsen hoch oben an einer Bucht. Unten hört man das Wasser gegen das Gestein schlagen, die lauten Wellen.
„Wunderschön, oder?", frage ich und setze mich.
„Atemberaubend“, haucht Shirley, setzt sich neben mich. Und wenn ich Shirley nun ansehe, ist da ein angenehmes Gefühl. Ihr Gesicht ist vertraut. Als hätte ich diese Sommersprossen schon gezählt, jedes Detail eingefangen.
„Es gefällt dir, oder?“
Shirley sieht mich an. „Natürlich. Ich meine … das ist … unfassbar. Sieh dir diese Aussicht an“, schwärmt sie und es sorgt dafür, dass ich lächle. Wir sehen einander an, schweigen, hören das Meeresrauschen, das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen. Die Sonne scheint auf uns hinab.
„Juliet?“
Sprich ihn noch mal aus. Sag meinen Namen noch einmal. So leicht, entfernt und nah. Als würden wir uns kennen und gleichzeitig nicht.
„Hm?“ Ich schaue Shirley nicht an, streiche mit meiner Hand über den trockenen Boden neben mir und sehe die tausend Fragezeichen, die in meinem Gedächtnis aufkommen, weil ich nicht weiß, was sie fragen wird. Fragen über Fragen. Welche Antwort werde ich geben? Etwas Ehrliches oder eine Lüge? Wen kümmert es bei fremden Menschen schon? Ihre Fingerspitzen treffen auf meinen warmen Unterarm. Ich sehe zu ihr. Shirley verweilt in dieser Position. Sie geht nicht weiter. Meine rötliche Haut schimmert in der Sonne.
„Willst du schwimmen gehen?“
Augenblicklich beginne ich zu lächeln. „Schwimmen?“
So wie damals. Sie nickt. Ein Windstoß erwischt uns, ihr Parfüm steigt in meine Nase, ein Kribbeln zischt durch meinen Brustkorb hindurch.
„Ja, lass uns schwimmen gehen.“
Ich folge ihr. Mit bedachten Schritten läuft sie über den weichen Sand, schiebt ihr Fahrrad mit einer Hand und sieht immer wieder zu mir. Als wolle sie sichergehen, dass ich nicht verschwinde. Das würde ich nicht. Nicht ohne mich zu verabschieden und unseren Abschied unnötig in die Länge zu ziehen, weil sie mir ein altes Gefühl wiedergibt. Ich habe es verloren und sie besitzt es im Überfluss. Das Rauschen der Wellen wird lauter. Ein paar Meter vom Meer entfernt bleiben wir stehen. Shirley zieht ihre Schuhe aus, verstaut ihr Handy darin und läuft voraus. Blitzschnell lasse ich mein Rad in den Sand fallen und renne zum Meer. Es ist befreiend. Das kühle Nass auf der heißen Haut. Die Stille unter Wasser. Ein Rausch von Glücksgefühlen, Spannung und gleichzeitig loslassen, alles entgleite. Es fällt von meinen Schultern ab. Ich tauche auf, lächle, sehe hinüber zu ihr. Und für eine Sekunde muss ich meinen Atem wiederfinden. Unsere Blicke verfolgen einander, während das Meer uns keinen Moment gibt stillzuhalten. Vielleicht hätte ich Angst gehabt zu ertrinken, wenn ich allein wäre, dass ich die Kontrolle gegen die starken Wellen verliere, doch mit ihr hier zu sein, wiegt mich in Sicherheit. Würde ich ertrinken, würde sie mich aus dem Wasser ziehen.
„Das ist das zweite Mal, dass ich spontan mit dir schwimmen gehe.“
Grinsend sehe ich sie an. „Plant die Dame ihre Ausflüge an das Gewässer meist?“
Sofort spritzt sie mir Wasser ins Gesicht, was mich lachen lässt.
„Tatsächlich…plane ich sehr gern. Bei mir ist eigentlich alles geplant.“
„Auch deine Zukunft?“
„Ja, ich weiß schon, dass ich Lehrerin werde.“
„Und was machst du in deiner Freizeit? Außer alles zu planen?“
„Stinknormales Zeug … Lesen … Ausgehen.“
„Gut einstudiere Antwort“, sage ich grinsend und sie erwidert es.
Still sind wir hier im Meer, lassen uns auf dem Rücken treiben und lauschen den Wellen. Flüchtig, vorsichtig, unabsichtlich, berühren sich unsere Hände. Immer wieder. Ich sehe zu Shirley, die die Augen geschlossen hat und genießt. Sanft und bedacht verschränke ich meinen kleinen Finger mit ihrem. Ein weiches Lächeln entsteht auf ihren Lippen. Für einen kurzen Moment bin ich verwundbar, offen, als könnte sie alles fragen. Und ich bin dankbar, dass sie nichts sagt. Rein gar nichts. Sie erwidert nur den leichten Druck um meinen Finger und lässt nicht los. Und irgendwie ist das mehr wert als jedes Wort.
Meine Gedanken sind leise. Auf meinen Schultern lastet keine Schwere. Da ist nichts. Und es fühlt sich wundervoll an. Wieder sehe ich zu ihr. Dieses Mal öffnet sie die Augen und eine Gänsehaut fliegt über meinen Körper. Unsere Berührung endet. Wir treiben nicht mehr auf dem Rücken.
Ich schwimme zurück ans Ufer und steige aus dem Wasser. Hinter mir kann ich ihre Präsenz spüren. Flüchtig sehe ich zu ihr und fange ihr Lächeln ein.
„Danke für deine Zeit“, sagt sie.
Röte steigt in meinen Wangen auf. Keck grinse ich.
„Nun, ich hatte ohnehin nichts vor heute, also … “
„Natürlich. Ganz vergessen“, meint Shirley und zwinkert mir zu. Bevor sie geht, bevor sie wieder verschwinden kann, halte ich sie am Arm fest, ziehe sie zu mir. Nahe Lippen. So wie damals.
„Küss mich“, haucht sie.
Und ohne zu zögern, vereine ich unsere Münder. Mein Herz bebt. Ich kann sie spüren, schmecken, riechen, alles. Warme, feuchte Lippen, die einander treffen, immer und immer wieder. Vielleicht ist es der Sommer, der uns so verrückt nacheinander macht. Was auch immer es ist, es ist magisch und ich liebe es. Das hier. Ungezwungen, ein wundervolles Gefühl, sorglos frei. Strahlend entfernen wir uns voneinander. Sie muss gehen, leider. Shirley schnappt sich ihr Fahrrad und als sie sich ein Stück von mir entfernt, frage ich, ob wir uns wiedersehen werden.
„Das entscheidet das Schicksal, nicht ich“, ist ihre letzte Antwort, die sie mir gibt, bevor sie verschwindet. Und ihre Worte verwirren mich bis ins Unermessliche, nur scheint der letzte Blick, den sie mir schenkt, wichtiger zu sein. Er sagt genug, er gibt mir genug und der Nachgeschmack ihrer Lippen auf meinen ist alles, was ich brauche.
Und wie es im Sommer so ist, ziehen die Tage schneller an uns vorbei. Der Morgen kommt, der Morgen geht. Die Sonne bleibt, die Hitze steht, die Badehosen hängen auf dem Balkon in der Sonne, um zu trocknen. Ich verschwinde in meinen Gedanken und kehre immer wieder zurück. An den einen Sommertag. An eine Sommernacht. Die hellblauen Augen. Das Lächeln. Die Lippen. Die Hand auf meiner nackten Haut. Egal, wie viele Tage an mir vorbeiziehen.
Stille liegt im warmen Zimmer. Ich sitze am Schreibtisch, arbeite an alten Entwürfen und meine Gedanken kreisen herum. Im Kopf eine Melodie von einem alten Song, der vorhin im Radio lief. Als ich ein lautes Ausatmen höre, sehe ich über die Schulter zum Bett. Adele, meine beste Freundin, die sich einen meiner Lieblingsromane ausgeliehen hat. Das blonde Haar ausgebreitet auf dem Bett, der Blick nach oben, auf die gelblichen Seiten. Und ich erinnere mich, was in dem Buch geschrieben steht. Schicksal. Schicksal. Schicksal. Und es dauert so lange zu begreifen, dass es keine Zufälle gibt, wenn es um das Schicksal geht. Aber wenn wir es verstehen, ist es immer schon zu spät. Nachdenklich runzle ich die Stirn, sehe zum Papierstapel, die Zeichnungen, die ich alle gesammelt habe. Vorsichtig ziehe ich eines der zerknitterten Blätter heraus und entdecke die Bleistiftzeichnung eines Kleides, welches ich für sie entworfen habe.
„Das ist Shirley“
Augenblicklich zucke ich zusammen, lege die Zeichnung weg und drehe mich um, sehe zu Adele, während sie sich eine Haarsträhne aus dem schmalen Gesicht streicht und versucht, an das Blatt zu kommen.