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Seine Geburt, ein Verbrechen.
Seine Kindheit, eine Lüge.
Seine Magie, eine Bedrohung.
Seit über drei Jahrhunderten herrscht Frieden zwischen den Menschen und den Magiern der fünf Distrikte. Das gefährliche Halbblut ist ausgerottet, die Magier haben sich den Gesetzen der Magie verschrieben und folgen vermeintlich treu dem Menschenkönig.
Dieses Gleichgewicht wird auf die Probe gestellt, als man den 15-jährigen Ares entdeckt, den Bastard eines mächtigen Magiers und einer einfachen Gauklerin. Um festzustellen, ob er gefahrlos über seine Magie verfügen kann oder sein Halbblut ihn daran hindert, wird eine Prüfung angeordnet. Das Ergebnis entscheidet dabei über Leben und Tod.
Doch bevor es überhaupt dazu kommen kann, begeht Ares ein Verbrechen, das ihn zu einem Gejagten macht...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Emery J. Wright
Der Halbe Schwur
© 2022 Vanessa Reinmuth | Emery J. Wright
Website: www.emeryjwright.com
Umschlag, Illustration: Andrei Dragomir, basierend auf einer Illustration von Alexander Kulieshov
Umschlag, Buchtitel Schriftart: Oksana Shevchuk
ISBN
Paperback 978-0-646-88585-8
e-Book 978-1-7635323-0-4
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter:
Vanessa Reinmuth
Unit 2501 / 11 Angas Street
Meadowbank NSW 2114
Australien
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Für meinen Bruder und all jene großen Träumer, ohne die es keine Bücher gäbe.
Im abgesperrten Westflügel der kalidurischen Zitadelle steht ein nervös dreinblickender junger Mann vor einer Tür. Er zieht die Hand, die er bereits auf den Knauf gelegt hat, noch einmal zurück und atmet zittrig ein. Für die Dauer eines Herzschlags schließt er die Augen und als er sie wieder öffnet, blitzt aus ihnen eine grimmige Entschlossenheit. Er strafft die Schultern, umgreift den Türknauf so fest, dass seine Knöchel weiß hervortreten – und öffnet die Tür.
Das Zimmer ist trostlos. Abgesehen von einem Bett und einem Tisch mit vier Stühlen gibt es nichts, was diesem Raum einen Charakter verleihen würde. Das Fenster ist vergittert und obwohl es offen steht, ist die Luft abgestanden. Die Sonne versteckt sich hinter einer Wolkenwand, sodass der Raum in ein helles, kühles Licht getaucht ist.
»Ihr seid also der neue Vorleser, um den ich gar nicht gebeten habe«, murrt der Patient, der, auf einem der Stühle sitzend, mit einem kleinen Gegenstand in seinen Händen spielt.
Er hat nicht einmal aufgesehen, als sich die Tür öffnete, und er tut es auch jetzt nicht. Sein kahlgeschorener Kopf, die eingefallenen Wangen und das lange weiße Nachthemd lassen ihn aussehen wie einen alten, verbitterten Greis, obwohl er kaum älter als Mitte zwanzig ist. Sein Anblick erschüttert den Besucher, aber er gibt sein Bestes, es sich nicht anmerken zu lassen.
»So etwas in der Art«, sagt er, schließt sachte die Tür hinter sich und tritt näher. Dabei erhascht er einen Blick auf den Gegenstand, den der Patient unentwegt in seinen Händen knetet. Es ist ein ledernes Armband, in das ein weißlicher Kristall eingewoben ist.
»Dann könnt Ihr Euch gleich wieder verziehen, denn ich habe keine Lust, mir noch mehr Märchen, Chroniken und Gedichte anzuhören.« Die Worte des Patienten klingen so scharf wie ein Messer.
Der Besucher bleibt überrascht stehen und braucht einen Moment, um sich zu fangen. »Man sagte mir, der Kontakt zur Außenwelt sei ein wichtiger Bestandteil der Therapie und dass die Geschichten Euch womöglich dabei helfen, Euch wieder an etwas aus Eurer Vergangenheit zu erinnern.«
»Dann habt Ihr sicher auch gehört, dass ich Eure Vorgängerin fortgeschickt habe, weil es nicht so funktioniert hat, wie die Mediziner es sich erhofften. Ich erinnere mich ja doch bloß an die Geschichten, nicht aber an mein Leben außerhalb dieses Raumes. Wieso seid Ihr der Annahme, es besser zu machen?«
»Weil ich Euch nichts vorlesen werde. Die Geschichte, die ich für Euch habe, steht nirgends geschrieben und sie wurde auch noch nie erzählt.«
»Und wie zum Henker soll eine vollkommen unbekannte Erzählung dazu beitragen, meine Erinnerungen wieder zum Leben zu bringen?!«, bricht es aus dem Patienten heraus.
»Indem sie die Ereignisse der letzten zehn Jahre behandelt, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem man Euch hier einlieferte. Vielleicht wird das Eurem Gedächtnis auf die Sprünge helfen, vielleicht auch nicht, aber zumindest werde ich Euch nicht langweilen.«
Das sichert ihm nun doch die Aufmerksamkeit des Patienten. Dieser lässt von dem Gegenstand ab und mustert sein Gegenüber zum ersten Mal. Dabei erschrickt er, denn im fahlen Licht wirken die grauen Augen des Besuchers so kompromisslos wie ein herannahender Sturm. Eine feine, silbrige Narbe zieht sich entlang seines Wangenknochens. Vielleicht liegt es an seiner stattlichen Größe oder an seiner stolzen, aufrechten Haltung, aber seine Ausstrahlung ist wahrhaft einschüchternd. »Wie lautet Euer Name?«
»Ares. Und Eurer?«
»Teban.« Der kahle Mann kneift die Augen zusammen. »Gehört Ihr auch zu den Medizinern?«
»Was? Oh, Ihr meint wegen des Kittels?« Zu Tebans Überraschung beginnt Ares zu lachen. Es ist ein freundliches, warmes Geräusch, das völlig im Gegensatz zu seiner Erscheinung steht. Teban gefällt es, weil es nicht so steril und aufgesetzt wirkt wie der Rest seiner Umgebung.
»Nein, ich bin sicher vieles gewesen, aber ein Mediziner war ich nie. Man hat mir den Kittel beim Einlass gegeben, ohne ihn war es nicht gestattet, diese Räume zu betreten.« Ares’ Blick flattert auf den Boden.
Teban macht eine wegwerfende Handbewegung. »Kein Grund zur Verlegenheit. Ich kann mir sehr gut vorstellen, was in den Köpfen der Mediziner vorgeht. Man hat Euch die Kleidung und den Kittel gegeben, damit Ihr nichts hereinschmuggeln könnt, mit dem ich mich später verletzen könnte. Aber ich kann Euch beruhigen, mir fällt kein Grund ein, warum ich mir etwas antun sollte.« Er will einen heiteren Ton anschlagen, aber Teban merkt selbst, dass er die Bitterkeit nicht aus seiner Stimme verbannen kann.
»Könnt Ihr Euch denn an rein gar nichts erinnern?«, fragt Ares. Behutsam macht er zwei Schritte in den Raum hinein. Als Teban nicht reagiert, lässt er sich langsam auf einem der Stühle nieder.
»Das ist eine schwierige Frage. Ich kann mich daran erinnern, wie man Tee aufkocht, wenn man mich darum bittet. Ich kann mir die Schuhe binden, wenn ich einen Spaziergang machen möchte. Das Lesen und Schreiben habe ich auch nicht verlernt. Was die Geschichten angeht, so kommen sie mir alle bekannt vor und oft weiß ich längst, wie sie ausgehen, noch ehe man mir die Hälfte erzählt. Nie können sie mich überraschen und meist kann ich sie fehlerfrei nacherzählen, als hätte ich sie nicht zum ersten, sondern zum hundertsten Mal gehört. Aber egal, wie sehr ich mich bemühe, ich kann mich nicht daran erinnern, woher ich weiß, wie man sich die Schuhe schnürt. Wann habe ich gelernt, Tee aufzukochen? Wer hat mich im Lesen und Schreiben unterwiesen? Wie kommt es, dass mir alle Geschichten so vertraut erscheinen? Es ist zum Haareraufen! Ich weiß nichts über mich. Abgesehen von dem Quatsch, den mir die Horde Mediziner da draußen auftischen will.«
»Was sagen sie denn?«
Teban lacht freudlos. »Dass ich ein Hexer sei.«
»Könnten sie denn einen Grund haben, Euch anzulügen?«
»Was weiß ich. Nur, weil ich ein paar Runen lesen kann, macht mich das noch lange nicht zu einem Hexer. Oder macht es mich etwa zu einem Barden, dass ich all die Geschichten nachher doch kannte, die man mir vorgelesen hat?« Er hält das Armband vor sein Gesicht. »Das ist der einzige Gegenstand, der sich in meinem Besitz befand, als ich hier aufwachte. Sieht das wie Hexenwerk für Euch aus?«
Ares schüttelt den Kopf. »Es stehen keine Runen darauf.«
»Ganz genau.« Teban krempelt den rechten Ärmel hoch und legt seinen Arm so auf den Tisch, dass die Unterseite nach oben zeigt. »Ich besitze nicht einmal ein Gildenabzeichen. Ich bin kein Hexer. Aber wieso kann ich dann Runen lesen?«
Der Besucher schweigt, während Teban ihn andächtig beäugt. »Diese Geschichte, die Ihr mir erzählen wollt«, sagt er langsam, »ist das Eure Geschichte?«
Ares nickt. Er setzt zur Antwort an, hält dann aber inne und räuspert sich. »Dürfte ich Euch eine Frage stellen?«
Der Patient sieht ihn mit unbewegter Miene an. »Meinetwegen.«
»Wie steht Ihr zu Halbblut?«
»Halbblut?« Teban legt den Zeigefinger an seine Lippe und sinkt in sich zusammen. »Halbblut ist böse«, sagt er ohne jeden Ausdruck und schüttelt gleich darauf den Kopf. »Etwas sagt mir, dass ich das denken sollte, aber ich empfinde nichts dabei. Warum fragt Ihr?«
Ares presst die Zähne zusammen und versucht, sich innerlich gegen das zu wappnen, was kommen wird, sobald er die Worte ausspricht: »Weil ich ein Halbblut bin.«
Tebans Lachen schallt durch den Raum wie eine Ohrfeige. »Es gibt kein Halbblut. Der König würde so etwas nie erlauben-« Er stockt, lässt das Armband fallen und reibt sich die Schläfen. »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Eben schien es mir noch einleuchtend, und jetzt habe ich wieder nur das Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben.«
Ares wartet betreten, bis Teban die Hände sinken lässt.
»Ihr besitzt also Magie? Wenn das so ist, dann könnt Ihr doch einfach damit mein Gedächtnis wiederherstellen, oder?«, spottet der Patient, aber in seiner Stimme schwingt eine leise Hoffnung, die sein Gegenüber unerwartet trifft.
»Ihr würdet wollen, dass ich meine Magie an Euch anwende?«, fragt Ares stockend.
»Vorausgesetzt, Ihr könnt mein Gedächtnis wieder auf Vordermann bringen«, bestätigt Teban.
Ares zieht ein ungläubiges Gesicht. »Ehrlich gesagt, so etwas habe ich noch nie gehört. Die meisten Menschen wollen das Weite suchen, wenn sie hören, was ich bin. Dass mich einmal jemand bittet, meine Magie zu benutzen... Das ist...« Hilfesuchend sieht er hinüber zu Teban, dessen Augen belustigt aufblitzen.
»Verrückt? Nun, vielleicht bin ich ja deshalb hierhergekommen.« Er lehnt sich vor. »Die wenigsten Menschen können nachvollziehen, in welcher Situation ich mich befinde. Die Leute wissen nicht, wie es ist, sich nicht an das Gesicht seiner eigenen Mutter erinnern zu können.«
Der Besucher reibt sich den Nacken. »Ich kann Euch nicht mit meiner Magie heilen.«
»Nein? Warum nicht?«
»Eben darüber will ich mit Euch sprechen.«
»Ach, darum geht es in Eurer Geschichte?«, schnauft Teban verächtlich. »Warum Ihr einem Gedächtnislosen nicht helfen könnt?«
Ares zieht die Augenbrauen zusammen. Das Grau seiner Augen wirkt auf einmal bedrohlich wie eine Gewitterwolke. »Sie handelt von einem götterverdammten Krieg! Ich wünschte, ich könnte behaupten, es sei eine heitere Geschichte, die ein friedvolles Ende für all jene verspreche, die darin vorkommen, aber das kann ich nicht. Denn wann immer es um Magie geht, geht es zugleich auch um Verlust. Das ist etwas, das ich früh lernen musste, und daher ist meine Geschichte immer ein Kampf ums Menschsein gewesen. Und ja, in gewisser Weise geht es auch darum, warum meine Magie nicht dazu taugt, Euer Gedächtnis wiederherzustellen.«
Teban hebt beschwichtigend die Hände. »Ich sehe schon. Es ist Euch ernst. Na schön, erzählt sie mir. Es ist ja ohnehin nicht so, als ob ich etwas Besseres zu tun hätte.«
Eine kurze Stille entsteht zwischen den beiden Männern, in der Ares sein Gegenüber mustert. »Wisst Ihr um die Bedeutung der Zahl Fünf in den Distrikten?«
Teban zieht eine Augenbraue hoch und schmunzelt. »Geht am besten davon aus, dass ich nichts weiß und erzählt mir Eure Geschichte so, wie Ihr es für richtig erachtet.«
Ares nickt und atmet tief ein. »Die Fünf ist eine Glückszahl in den Distrikten. Deshalb findet man sie überall. Im fünften Monat, dem Mai, häufen sich nicht zufällig die Hochzeiten. Ein Kind im Mai zu gebären, wird gemeinhin als gutes Omen verstanden. Und besonders abergläubische Gastwirte sind darauf bedacht, die Fünf in der Benennung ihrer Gasthäuser zu verwenden. Die Bedeutung dieser Zahl ist auf den Jahrhundertkrieg zurückzuführen.«
Er hebt eine Hand und spreizt die Finger. »Während die Menschen fünf Finger an jeder Hand besaßen, mit denen sie ihre Waffen schmiedeten und ihre Kämpfe fochten, so wussten die Gläsernen und ihre Nachkommen, die Blaublutmagier, sich eines Menschen durch das Nutzen ihrer fünf Sinne zu bemächtigen. Es lag also nahe, dass es auch fünf Zugeständnisse und fünf Einschränkungen geben sollte, die dem Krieg zwischen ihnen ein Ende setzten. So wies man den fünf stärksten Magierfamilien Distrikte zu, für deren Schutz sie fortan verantwortlich waren. Gleichzeitig wurden die fünf Magiegesetze eingeführt, die den Gebrauch der Magie gegen menschliche Bewohner der Distrikte untersagte. Deshalb also kommt der Zahl Fünf eine wichtige Bedeutung zuteil, weil sie für Neubeginn und Einheit in den Distrikten steht. Sie symbolisiert den Frieden zwischen den Magiern und den Distriktlern.«
Ares lässt die Hand sinken. »Anders verhielt es sich bei uns im Steppenvolk, das sich aus Clans, Stämmen und anderen kleinen Gruppen zusammensetzte. Der Krieg war alles andere als spurlos an unserem Volk vorbeigegangen und im Gegensatz zu den Distriktlern hatten wir keinen Frieden mit der Magie geschlossen, weshalb wir voller Abneigung ihr gegenüber aufwuchsen. Ich wurde in einen Gauklerstamm hineingeboren und bevor die Magie eine Rolle in meinem Leben spielte, lebte ich ein entbehrungsreiches, aber an sich unbeschwertes Leben. Niemand von uns besaß mehr, als er mit zwei Händen tragen konnte, und das war genug. Mein Stamm gab hauptsächlich Vorführungen in den Grenzdörfern der Distrikte. Obwohl wir im Grunde dem verfeindeten Steppenland angehörten, ließen uns die Grenzwächter stets passieren, denn man sah in uns fahrendem Volk keine Gefahr. Weder die Distriktler, noch die kriegerischen Clans der Steppe machten einen Hehl daraus, dass sie uns für ein wenig einfältig hielten. So behandelte man uns hier wie dort mit verächtlichem Wohlwollen.«
Ein Seufzen entfährt ihm, als müsste Ares die Erinnerung abschütteln. »Das alles änderte sich urplötzlich eine Woche nach meinem fünfzehnten Geburtstag. Da ich nun volljährig war, hatte mein Großvater mir erlaubt, mit dem Trupp meines Onkels nach Kelvort zu reisen, der Hauptstadt des dritten Distrikts, wo eine Zählung stattfand. Eine Zeremonie, bei der die Erhebung von Baronennachwuchs gefeiert wird. Wir waren einige Tage zuvor angekommen und die Feierlichkeiten befanden sich bereits im vollen Gange. Obwohl wir sehr beschäftigt waren, da wir mit den Auftritten unser letztes Einkommen vor Wintereinbruch sichern mussten, drückte mein Onkel am Tag der Zählung ein Auge zu und erlaubte meinem besten Freund Cade und mir, die Stadt auszukundschaften. Weder Cade noch ich hatten je eine Zählung gesehen. Deshalb – und weil ich bei schlechter Gesundheit war und wir nicht wussten, ob ich je die Chance bekäme, eine weitere zu erleben – entschied Cade, dass wir sie uns zumindest dieses eine Mal aus der Ferne anschauen sollten. Fernab der Blassen, wie wir die Magier nannten. Doch das Schicksal hatte etwas anderes für mich geplant.«
Inmitten der Stadt Kelvort befindet sich eine alte Tennre-Kirche, die im Krieg zwischen den Distrikten und der Steppe ins Kreuzfeuer geraten war und dabei zur Hälfte zerstört wurde. Ihr Glockenturm ragt wie ein abgebrochener Zahn in die Höhe, viele ihrer Dachplatten sind locker, an manchen Stellen fehlen sie sogar ganz, das weiße Fensterglas ist zerborsten und die Steinwände sind auf der Westseite eingestürzt. Ein Feuer hat die Holzbänke und den Altar zerstört und den Innenraum der Kirche schwarz verfärbt. Für die Distriktler war sie lange Zeit ein Mahnmal, eine Erinnerung an die Gefahr, die ihnen durch die Steppenclans drohte, und deshalb hatte man sie nie restauriert.
Cade und ich hatten uns in die Ruine geschlichen und waren den halbwegs intakten Treppenaufgang des Glockenturmes hinaufgestiegen. Vereinzelte schmale Fenster ließen Wind hineinströmen und Sonnenlicht durch das Gemäuer auf die verwitterten Stufen fallen. Trotzdem hingen Kalk und Feuchtigkeit so schwer in der Luft, dass ich schon glaubte, sie auf meiner Zunge schmecken zu können.
Dementsprechend erleichtert war ich, als die Stufen knapp unterhalb des Kirchendaches ein jähes Ende fanden und wir wieder unter wolkenlosem Himmel standen. Nur noch die rissige Ostmauer und die Trümmer zu unseren Füßen erinnerten daran, dass die Treppe einst weiter hinaufgeführt hatte.
Durch den Seiltanz waren Cade und ich Höhen bereits gewöhnt. Der Gedanke, was geschehen würde, wenn einer von uns eine falsche Bewegung machte, quälte mich deswegen nicht so sehr, wie er es vielleicht hätte tun sollen, als ich mich auf Cades Schultern stellte und nach der Dachkante griff, um mich daran hochzuziehen.
»Und? Kannst du die Arena sehen?«, rief Cade mir von unten zu, kaum dass ich mich hochgehievt hatte.
Langsam richtete ich mich auf und machte ein paar Schritte das Dach hinauf, während mir eine frische Novemberbrise das Haar aus der Stirn wehte.
Das gute Wetter hatte die Distriktler hinaus auf den Markt und die Straßen getrieben, sodass wir am Morgen gutes Geld mit unseren Auftritten verdient hatten. Doch erst hier oben, in etwa vierzig Metern Höhe, wurde mir bewusst, dass die Zählung auf keinen besseren Tag hätte fallen können. Wir hatten nämlich einen geradezu ungehinderten Blick auf die Zeremonienhalle und die ovale Arena, von der uns nur eine Häuserreihe und die Zuschauertribüne trennten.
Es war also nicht weiter verwunderlich, dass Cade und ich nicht die Einzigen waren, die auf die Idee gekommen waren, die Zählung vom Dach der alten Kirche aus zu beobachten. Ringsum hockten bereits zerlumpt aussehende Jungen und Mädchen. Straßenkinder, vermutete ich. Die meisten von ihnen waren Schleicherbastarde und teilten zumindest die dunkle Haarfarbe und den bräunlichen Hautton mit Cade und mir, deshalb fühlte ich mich nicht so unwohl, wie ich es getan hätte, wenn alle von ihnen reinblütige Distriktler gewesen wären.
Die Kinder musterten mich flüchtig, ehe sie sich wieder ihren Gesprächen widmeten, ihre Augen wie gebannt auf die Arena gerichtet. Mein Blick schweifte über sie hinweg und blieb dann an dem Seil hängen, welches um das Überbleibsel einer Steinstatue gebunden war, die auf dem Dachfirst platziert war. Ich klaubte es auf und schaute fragend in die Runde, in der Hoffnung, mein eigenes Seil nicht unter dem Mantel hervorholen zu müssen. Niemand protestierte und so lief ich zurück zur Dachkante und warf das Ende hinunter zu Cade.
»Ja«, sagte ich. »Die Arena ist gut sichtbar.«
»Der Balkon auch?«, fragte Cade, mit vor Aufregung leuchtenden Augen. »Du weißt schon, dieser Große, wo sie die Verkündungen machen?«
»Wir können alles von hier sehen.«
»He, du da!«, rief eine Kinderstimme hinter mir. »Was für eine Sprache sprecht ihr da?«
Ich drehte mich um und fing den neugierigen Blick eines blonden Jungen. Er saß neben einem kleinen Mädchen mit einem ähnlich breiten Kinn und schmalen Augen. Der Junge war eines der älteren Kinder hier, aber er war doch ein paar Jahre jünger als ich.
»Tinurisch«, antwortete ich ihm knapp und nahm mir vor, von nun an nur Distriktlerisch zu sprechen, damit wir keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenkten. Immerhin hatten Cade und ich uns aus ebendiesem Grund entschieden, statt unserer Gauklertracht gewöhnliche Kleidung zu tragen.
»Die Sprache der Gaukler? Ha! Jetzt fällt mir auch wieder ein, warum du mir so bekannt vorkommst!«, rief der Junge. »Ich habe dich vorhin unten auf der Bühne auf dem Marktplatz gesehen. Du bist einer von denen, ein Gaukler!«
Die Blicke aller Kinder glitten zu mir.
»Das stimmt«, murmelte ich und rieb mir den Nacken.
Der Junge grinste. »Du hast echt verdammt gut jongliert. Meine Schwester hat’s geliebt. Kannst du's uns nochmal zeigen?«
»Ich habe leider nichts zum Jonglieren dabei«, sagte ich. Doch als ich den enttäuschten Blick des Mädchens sah, holte ich ein Filztäschchen aus meiner Hosentasche hervor, in der ich das Kartendeck aufbewahrte, das Cade mir zu meinem Geburtstag geschenkt hatte. »Aber wie wär’s mit einem Kartentrick?«
Das Mädchen lächelte scheu.
Ich mischte die Karten, während ich auf sie zulief, und hielt sie ihr hin. »Such dir eine aus. Aber zeig sie mir nicht.«
Das Mädchen zog eine Karte, warf einen kurzen Blick darauf und nickte mir zu. Ich schloss meine Augen, nahm sie ihr wieder aus den Fingern und steckte sie zurück in das Deck, um es durchzumischen. Dann fächerte ich die Karten abermals vor ihr auf, diesmal mit der Vorderseite nach oben, und tat verwirrt, während ich darauf hinabsah.
»War es diese Karte?«, fragte ich nach einigem Zögern und hielt ihr eine hin.
Das Mädchen schüttelte verlegen den Kopf.
»Hm«, machte ich. »Was ist mit dieser?«
Sie gluckste und schüttelte erneut den Kopf.
»Ach, Mist. Das funktioniert doch sonst immer so gut... Oh, was ist das denn?« Ich streckte meine Hand nach ihrem Ohr aus und bemerkte noch, wie ihr Bruder sich verspannte, bevor ich meinen Arm wieder zurückzog und ihr eine Karte vor das Gesicht hielt. »Das konnte ja gar nicht klappen, weil die Karte die ganze Zeit hinter deinem Ohr war!«
Ein paar der Kinder klatschten und lächelten. Auch das Mädchen kicherte und lehnte sich gegen ihren Bruder, der sie daraufhin in den Arm nahm.
»Wie hast du das gemacht? Mit Magie?«, fragte sie mich mit piepsiger Stimme.
Magie?
Ich verzog mein Gesicht, doch bevor ich etwas darauf erwidern konnte, lachte ihr Bruder auf. »Natürlich nicht, du Dummchen! Er kommt aus der Steppe. Da gibt es keine Magie. Und was soll das überhaupt für Magie sein? Blaublutmagie wohl kaum und Hexerei auch nicht. Nein, die Gaukler kennen nur Taschenspielertricks und die haben nichts mit Magie zu tun.« Er wandte sich wieder mir zu. »Das stimmt doch, oder?«
»Keine Magie, nur flinke Finger«, bestätigte ich.
»Wie heißt du eigentlich?« Der Junge rückte zur Seite, um mir neben sich auf dem Dachfirst Platz zu machen.
»Ares«, sagte ich, während ich mich neben ihm niederließ.
Die Augen des Jungen weiteten sich und er zeigte hastig auf Cade, der mittlerweile auf das Dach geklettert war. »Und wie heißt der?«
Cade war hochgewachsen und drahtig. Wo immer er hinging, fiel er sofort durch seine selbstsichere, lockere Haltung auf. Deshalb war ich nicht überrascht, als die Mädchen rundum zu tuscheln begannen und ihm interessierte Blicke zuwarfen, nachdem er sich zu voller Größe aufgerichtet hatte.
»Das ist Cade.«
»Cade und Ares«, nuschelte der Junge.
Als er bemerkte, dass ich ihm einen verwirrten Blick zuwarf, räusperte er sich und sah zur Arena. Gerade wollte auch ich ihn nach seinem Namen fragen, da quetschte sich Cade zwischen mich und die Statue.
»Netter Kartentrick«, sagte Cade grinsend und raunte mir dann mit einem gespielten Husten zu: »Angeber.«
»Selber«, raunte ich zurück.
Er legte mir seinen Arm um den Nacken. »Wird da etwa jemand frech?«
»Das sagt der Richtige!« Ich versuchte mich von ihm zu befreien, doch er drückte mich mit seinem Gewicht hinunter und rieb seine Fingerknöchel an meinem Schädel.
»Hör auf!«, rief ich, halb belustigt, halb verärgert.
»Du willst, dass ich aufhöre? Heißt das, du gibst zu, dass ich der Stärkere von uns beiden bin?«
»Niemals!«
»Ach ja? Und wie sieht’s jetzt aus?«
»Autsch! Lass mich los!«
»Erst, wenn du mir sagst, wer der Stärkste ist.«
»Du! Du bist es!«
»Und der Klügste und Schönste?«
»Alles du! Und jetzt hör auf!«
Endlich ließ er mich los. Ich rieb mir missmutig den schmerzenden Kopf, während er sich lachend zurücklehnte.
Ein lauter Jubel stieg zu uns empor und der Junge neben mir riss seinen Arm nach vorne, um auf die Arena zu zeigen, wo zwei weißhaarige Gestalten gerade dabei waren, ihre Stellung auf zwei gegenüberliegenden Emporen einzunehmen. »Das sind die Auguren! Die magische Kampfelite des Königs!«
Die beiden Gestalten in den dunkelblauen Roben verbeugten sich knapp vor der Menge, dann breiteten sie die Arme aus und eine erwartungsvolle Ruhe kehrte ein. Diese war jedoch nur von kurzer Dauer, denn als am Rande der Arena ein vergittertes Tor hochgezogen wurde, durch das zehn kräftige Männer von Wachen mit Hellebarden getrieben wurden, ging das Gebrüll wieder los.
Die Männer blickten sich gehetzt um. Trotz des frostigen Windes trugen sie bloß Lendenschürze, Lederharnische und Sandalen. Man hatte ihnen Schwerter und Schilde in die Hände gedrückt, aber sie hielten sie nicht mit der Überzeugung eines Gladiators, der sich gezwungen sah, um sein Leben zu kämpfen, sondern eher locker wie ein Bauer seine Mistgabel. Zwei von ihnen ließen ihre Waffen sogar fallen, ein Weiterer versuchte, den sich zurückziehenden Wachen hinterherzulaufen.
Die Auguren hatten in der Zwischenzeit ihre Arme wieder gesenkt und wandten sich nun von der Menge ab, um so nah an den Rand ihrer Emporen zu schreiten, dass sie die gesamte Arena überblicken konnten. Sie verbeugten sich voreinander und nachdem sie sich wieder erhoben hatten, erstarrten alle Gladiatoren mit einem Mal. Nur die zwei, die ihre Waffen fallen gelassen hatten, bückten sich zunächst, um sie aufzuheben, bevor sie die starre Haltung ihrer Kameraden einnahmen.
»Siehst du den auf der rechten Seite?«, flüsterte der Junge seiner Schwester zu. »Man nennt ihn Dorian den Strahlenden. Er ist einer der stärksten Auguren des Reiches. Natürlich lebt er wie alle anderen von denen im ersten Distrikt, seine Vorfahren aber kamen von hier.«
Die Augen des Mädchens weiteten sich.
»Dorian der Strahlende«, wiederholte Cade neben mir und als ich ihm einen Seitenblick zuwarf, erschreckte mich die Begeisterung in seinem Gesicht.
Die Gladiatoren marschierten auf die Mitte der Arena zu, wo ein Richter eine dicke Linie aus hellem Sand in den Staub gezogen hatte. Die Bewegungen der Männer waren gleichmäßig wie die eines eingeübten Heeres. In der Mitte angekommen, teilten sie sich ohne sichtbare Absprache in zwei Mannschaften aus jeweils fünf Kämpfern auf, die breitbeinig gut zehn Schritte voneinander entfernt in Position gingen.
»Du weißt, dass sie von den Blassen kontrolliert werden?«, fragte ich Cade. »Dass sie nichts von dem steuern können, was mit ihnen geschieht?«
»Ach, macht euch keine Sorgen«, kam der Junge Cade zuvor. »Für die Spiele nehmen sie nur Verbrecher, die längst verurteilt sind.«
»Das lassen sie die Distriktler glauben«, flüsterte ich Cade auf Tinurisch zu. »Aber sie nehmen auch ausländische Sklaven und Schleicher. Schleicher wie dich und mich.«
Cade schmunzelte. »Oh Mann. Du wirst so wie Lewjn, ich seh’s schon kommen.« Er setzte eine mürrische Miene auf, den Kopf zur Seite geneigt, die Arme verschränkt und die Stirn in tiefe Falten gelegt. Auf Tinurisch sagte er: »Tu dies nicht, tu das nicht. Halte dich von den Blassen fern, sonst fressen sie dich. Die Magie ist ja so böse. Buhu.«
Ich prustete los und schlug ihm gegen die Seite. »Hör auf, meinen Großvater nachzuahmen, du Idiot!«
Er rieb sich die Schulter und antwortete grinsend: »Was denn? Ist doch wahr. Du hast schon den gleichen grimmigen Blick wie er!«
Die begeisterten Rufe der Zuschauer schwollen an, als die zwei Gladiatoren-Gruppen sich aufeinander zubewegten. Anfangs wirkten ihre Bewegungen steif, dann begannen sie zu rennen und krachten schließlich wie zwei geballte Fäuste gegeneinander. Fast glaubte ich das Scheppern von Metall auf Metall zu hören, doch der tosende Beifall der Zuschauer verschluckte alle Geräusche.
Als der erste Gladiator zu Boden stürzte, wurde das Gekreische sogar so laut, dass ich mir am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Einer der Auguren zuckte zusammen, als sein Gladiator mit einem Speer der gegnerischen Mannschaft aufgespießt wurde. Die anderen Gladiatoren aus seiner Gruppe erstarrten für einen Augenblick, fingen sich aber gleich wieder. Der Kampf ging weiter.
»Wie machen die das bloß?«, fragte Cade ehrfürchtig. »Wie kann ein einziger Augur so viele Gladiatoren kontrollieren?«
Der Junge neben mir räusperte sich. »Auguren sind in der Lage, ihren Geist zu zersplittern und diese Splitter mithilfe ihrer Magie auszuschicken, um die Kontrolle über fremde Körper zu erlangen«, erklärte er, sichtlich zufrieden, sein Wissen mit uns zu teilen. »Dadurch ist es ihnen möglich, ganze Armeen zu steuern. Natürlich nur ausländische Truppen. Distriktler können sie nicht steuern, wegen der Fünf Gesetze der Magie.«
Noch ein Gladiator ging zu Boden und die Menge jubelte.
»Glückstreffer«, murrte der Junge.
»Fünf gegen drei«, bemerkte Cade. »Dieser Dorian ist wohl doch nicht so gut.«
Der Junge schnaubte. »Er würde selbst dann gewinnen, wenn er bloß noch einen Mann auf dem Feld hätte!«
Einer von Dorians Gladiatoren wurde nun von drei Gegnern bedrängt. Zwar hielt er sich wacker und parierte jeden Schlag mit seinem Schwert, als hätte er nie etwas anderes gemacht, dennoch wurde er immer weiter zurück an den Rand der Arena gedrängt.
Ich hatte das Ganze mit morbider Faszination beobachtet und wollte meinen Blick gerade abwenden, da machte der Gladiator einen Sprung nach vorne und rammte einem seiner Gegner seine Klinge knapp unterhalb der Achsel ins Fleisch - genau dorthin, wo der Harnisch seinen Oberkörper nicht verdeckte. Dieser Stoß war zu gezielt gewesen, um ein Zufall zu sein. Selbst jemandem wie mir, der vom Kämpfen wenig Ahnung hatte, war sofort klar, er hatte nur darauf gewartet, dass einer seiner Gegner einen Fehler machte und die Deckung vernachlässigte.
Mehrere Schwalle Blut ergossen sich im Rhythmus seines Herzschlages aus der Wunde des Verletzten. Er machte noch zwei Schritte zurück, ehe seine Knie nachgaben und er rückwärts in den Staub der Arena fiel. So blieb er liegen, während der Augur, der ihn gesteuert hatte, plötzlich zu wanken begann. Im selben Augenblick geriet auch der Angriff seiner Mannschaft ins Stocken.
Das war alles, was Dorian gebraucht hatte.
Seine letzten drei Gladiatoren, die zuvor noch zurückgewichen waren und einen defensiven, ja beinahe schwächlichen Eindruck vermittelt hatten, stürzten sich jetzt auf ihre Gegner. Sie schlugen dabei nicht auf alles ein, was in ihre Reichweite kam. Vielmehr waren ihre Attacken zielgerichtet und kaltblütig. Jede Wunde, die sie dem Gegner beibrachten, war blitzschnell, sauber und tödlich. Sie trafen Hals, Unterbauch und Oberschenkel. Der Gegenangriff dauerte nur wenige Sekunden, aber der Kampf war entschieden.
Dorian war der Sieger.
»Hast du das gesehen?!«, schrie Cade, der aufgesprungen war und wild gestikulierte.
Die Menge brüllte vor Begeisterung. Auch ich konnte nicht verleugnen, wie mein Herz raste, obgleich ich nicht begriff, wie ich mich hatte mitreißen lassen können, wo doch dort, in der Arena, sieben Menschen ihr Leben gelassen hatten. Sie hatten den Schmerz gespürt und den Tod auf sich zukommen sehen und waren doch machtlos gewesen, sich selbst zu verteidigen. Stattdessen hatte einer der Auguren ihre Körper befehligt.
Die Auguren aber waren unverletzt und ließen sich nun feiern wie Helden, während die überlebenden Gladiatoren sichtlich verstört, von den Wachen hinaus eskortiert wurden. Sie hatten schon ein paar Meter zurückgelegt, als einer von ihnen sich jäh aus der Gruppe löste, auf eine der blutüberströmten Leichen zusprang und sie an sich drückte. Mit Schrecken beobachtete ich, wie die Wachen versuchten, ihn von dem Toten wegzuzerren. Vergeblich. Der Mann machte keine Anstalten, sich von der Stelle zu rühren, ganz gleich wie sehr sie ihn schlugen und anschrien. Schließlich trat eine der Wachen hinter ihn, löste einen Knüppel aus seinem Gürtel und zog ihn ihm quer über den Hinterkopf. Der Mann erschlaffte und sein Griff um die Leiche löste sich. Die Wachen packten ihn an den Armen und zogen ihn aus der Arena. Eine Spur Blut färbte den Sand dunkel.
»Dorian der Strahlende«, murmelte Cade, dessen Augen auf dem Blassen klebten. »Findest du nicht, dass allein der Name schon nach etwas Großem klingt?«
»He!«, brüllte jemand von der Straße hinauf. »Kommt da runter, ihr Strolche! Ich habe die Wachen gerufen!«
Die Straßenkinder fuhren alle gleichzeitig hoch und stoben auf die Ostseite des Daches zu, wo sich die Treppe befand. Langsam stand ich auf, verwirrt über ihre heftige Reaktion. Auch der blonde Junge war aufgesprungen und winkte uns hektisch zu sich. »Folgt mir, ich kann euch durch die Gassen sicher zurück zum Marktplatz schleusen!«
Ich sah zu Cade, der bloß mit den Schultern zuckte, sich dann aber dem Jungen und seiner Schwester anschloss.
Wir waren die Letzten, die sich am Seil in den Treppenaufgang hinabhangelten, der bereits von dem Keuchen und den eiligen Schritten der Kinder erfüllt war. Die feuchte Kälte brannte mir schon nach kurzer Zeit in den Lungen, doch ich zwang mich dazu, mit Cade und dem fremden Geschwisterpaar mitzuhalten, die die Treppe geradezu hinunterflogen. Als wir die letzten Stufen hinter uns gebracht hatten und in den Kirchengang stützten, zitterten mir die Beine.
Vor uns flitzten die Kinder über moosbewachsene Mauerbrocken hinüber zur Westseite. Auch wir steuerten darauf zu und kletterten dort über die eingestürzten Wände. Ich sehnte mich nach einer Pause, als wir auf die Seitenstraße hinaustorkelten. Cade jedoch eilte dem Jungen unermüdlich hinterher und die Furcht, ihn aus den Augen zu verlieren, trieb mich dazu an, ihm hinterherzurennen.
Wir hatten die Straße zur Hälfte überquert, als ein Schrei erscholl. Ich sah erschrocken nach rechts. Vier Männer in roten Uniformen, waren von der Hauptstraße aus mit Knüppeln bewaffnet um die Ecke gebogen. Ich erhaschte noch einen Blick auf das kreischende, um sich schlagende Mädchen, das von einem der Männer am Arm gepackt worden war, bevor ich hinter Cade in den Schutz einer schattigen Gasse tauchte.
Eine kühle Brise fegte zwischen den Häusern, schaffte es aber nicht, den allgegenwärtigen Gestank von Urin und Erbrochenem zu vertreiben, der sich hier festgesetzt hatte. Streunende Hunde und Katzen flohen vor uns oder kauerten sich winselnd und fauchend zusammen. Kelvort war nicht so wohlhabend wie die anderen vier großen Distrikthauptstädte, das zumindest hatte Großvater mir erzählt, und je weiter wir uns von der Arena entfernten, desto mehr sah ich von dieser Armut. Steinhäuser wichen bröckelnden Bauten, die Gassen wurden schmaler, finsterer und der Gestank beißender.
Irgendwann stolperten wir über eine Gruppe zusammengesunkener Gestalten, die sich eng nebeneinander hockend vor- und zurückwiegten, die Arme fest um sich geschlungen und die Köpfe gesenkt.
Als wir uns näherten, schaute eine der Gestalten aus ihrer Trance auf. Es war eine Frau mit dunklem, schütterem Haar. Ihr Blick war starr und ihre grünlich verfärbten Lippen waren zu einem schaurigen Lächeln verzogen.
»Nicht hinsehen«, flüsterte Cade.
Das wollte ich auch nicht, aber da war etwas in ihren Augen, ein verzweifelter Wahnsinn, der mich gefangen hielt. Plötzlich riss sie ihren Mund auf, doch anstatt Zähne, sah ich bloß Zahnfleisch und eine grüne Zunge. Cade zog mich weiter und es gelang mir endlich, meinen Blick von ihr fortzureißen. Ein Schauer lief mir über die Haut, als ihr schrilles Lachen hinter uns erschallte.
Der Junge vor uns hatte unbeirrt weiter über die Spiele geplappert. Sein ganzer Frust richtete sich auf die Wachen, die ihn darum gebracht hatten, die eigentlichen Kämpfe zwischen den Auguren zu sehen. Weder er noch seine schüchterne Schwester schienen etwas von den Nachtkreuzsüchtigen mitbekommen zu haben oder vielleicht waren die beiden solche Begegnungen bereits gewöhnt.
Ich war froh, als wir die Gasse hinter uns ließen und in eine etwas breitere abbogen. Allerdings war mir der Schweiß auf die Stirn getreten und ich hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu kriegen, weshalb ich meinen Hemdkragen ein wenig lockerte. Cade, dem das nicht entgangen war, hielt an und sagte dem Jungen, dass wir eine Pause bräuchten.
»Ist dein Freund in Ordnung?«, richtete der Junge das Wort an Cade, während ich mich gegen eine Hauswand lehnte und mir mit einer Hand ans Herz griff. »Seine Lippen sind blau.«
Cade stellte sich vor mich. »Es geht ihm gut.«
Der Junge runzelte die Stirn, beließ es aber dabei.
Wir warteten, bis ich mich erholt hatte, und liefen dann weiter. Ich hatte meine Orientierung schon vor geraumer Zeit verloren, doch etwas sagte mir, dass wir uns vom Marktplatz wegbewegten und nicht darauf zu.
Dieses ungute Gefühl wandelte sich in Gewissheit, als wir eine Gasse betraten, in der sich ein kräftig aussehender Mann neben einer Tür an die Wand gelehnt hatte. Er warf uns nur einen flüchtigen Blick zu, nickte dem Jungen zu, der uns einige Schritte voraus war, und verschwand dann in dem heruntergekommenen Gebäude. Ein Schwall schräger Musik erbrach sich dabei in die Gasse und verstummte wieder, nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war.
Cade und ich blieben gleichzeitig stehen.
»Cade«, murmelte ich. »Ich glaube nicht, dass-«
»Ich weiß.« Er ballte die Fäuste. »He«, rief er dem Jungen zu. »Du führst uns nicht zum Marktplatz zurück. Wohin zur Hölle bringst du uns?«
Der Junge hielt inne. Als er sich zu uns umdrehte, war sein Gesicht ohne jeden Ausdruck, während seine kleine Schwester sich hinter ihn drückte. »Er sucht nach euch.«
Cade schwieg.
»Wen meinst du?«, fragte ich. »Wer sucht nach uns?«
»Ich werde zu ihm gehen«, sagte Cade schnell, »aber vorher bringe ich Ares zurück zu unserem Trupp.«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Der Hehler will euch beide sprechen.«
»Was für ein Hehler?« Ich blickte zwischen dem Jungen und Cade umher. »Warum will er mit uns sprechen?«
Cade fuhr zu mir herum. Eine für ihn sehr untypische Dringlichkeit flackerte in seinen Augen. »Geh zu deinem Onkel! In diese Richtung!« Er zeigte in die Gasse, aus der wir gerade gekommen waren. »Dort sollte der Marktplatz sein. Halte dich stets an die breiten Straßen. Ich werde nachkommen, sobald ich-«
Die Tür schlug auf und abermals flutete Musik und Gelächter die Gasse und verebbte wieder.
»Dachte ich mir doch, dass ich ein paar Ratten gehört habe«, raunte eine dunkle, knarzende Stimme.
Cades Schultern verkrampften sich, als er an dem Jungen vorbei zur Tür sah, wo eine hagere Person erschienen war. Der Mann war ganz in Grau gekleidet. Auch seine Haare, die er sich zurückgebunden hatte, waren grau und selbst seine Haut wirkte farblos auf mich. In einer Hand hielt er eine Pfeife.
»Cade, mein Freund«, sagte er und breitete die Arme wie zur Begrüßung aus, bevor er einen Schritt auf uns zumachte. Dabei ertönte ein klackendes Geräusch und mein Blick fiel auf den hölzernen Stumpf, der unter seinem rechten Hosenbein hervorlugte.
»Du hast mich ja gar nicht aufgesucht in den letzten Tagen. Und nach deinem Auftritt heute bist du einfach in der Menge verschwunden. Du trägst noch nicht einmal deine Gauklerkleidung. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du versuchst mir auszuweichen.«
»Das hatte nichts mit dir zu tun«, behauptete Cade mit fester Stimme. »Wir sind bloß sehr beschäftigt gewesen und wollten uns heute die Zählung ansehen.«
»Dann versuchst du also nicht, deinen kleinen Freund von mir fernzuhalten? Da bin ich aber erleichtert.«
Cade knirschte mit den Zähnen. »Wie ich sagte: Es hatte nichts mit dir zu tun. Weswegen möchtest du mich sprechen?«
An der Pfeife ziehend hinkte der Mann auf eine Kiste zu, die ein paar Meter vor uns stand, und ließ sich ächzend darauf nieder. Außer seiner puffenden Atmung und meinem klopfenden Herzen hörte ich kein Geräusch in der Gasse.
»Wer ist das?«, flüsterte ich Cade zu.
Bevor dieser mir antworten konnte, zuckte der Kopf des Mannes zur Seite und sein Blick bohrte sich in den des Jungen neben uns. »Verschwinde.«
»Erst, wenn ich meinen Lohn bekommen habe«, stotterte der Junge, »dafür, dass ich die beiden zu Euch gebracht habe.«
»Hörst du schlecht?! Ich sagte, du sollst dich verpissen!«
Die Unterlippe des Jungen begann zu zittern und für einen Moment war ich mir sicher, er würde in Tränen ausbrechen. Doch dann biss er sich auf die Lippe, warf Cade und mir einen bösen Blick zu und eilte mit seiner Schwester davon.
Der Hehler wandte sich wieder an Cade: »Nicht ich will etwas von dir, sondern du willst etwas von mir. Oder brauchst du nun doch kein Geld mehr?«
Cade kniff die Augen zusammen. »Darum geht es also? Dass du Arbeit für mich hast?«
»Aber selbstverständlich. Du bist eine meiner tüchtigsten Bienchen, obwohl wir uns viel zu selten sehen.«
»Und wie viel wird dabei für mich herausspringen?«
»Ich kann dir keine feste Zahl nennen, aber ich garantiere dir, dass es mehr sein wird, als in all den Jahren zusammen.«
Das schien Cade hellhörig zu machen. »Wann brauchst du mich?«
Der Hehler schmunzelte. »Jetzt sofort.« Er kaute ausgiebig auf dem Mundstück seiner Pfeife herum, bevor er sie aus dem Mund zog und damit auf mich zeigte. »Aber deinen Freund hier wirst du mitnehmen.«
»Nein«, sagte Cade augenblicklich »Gib mir jemand Anderen mit. Einen deiner Straßenjungen.«
Ich hatte dem Gespräch aufmerksam gelauscht und obgleich ich nicht verstand, wovon genau die beiden wirklich sprachen, trafen mich Cades Worte wie ein Schlag. Wollte er tatsächlich lieber mit einem Fremden zusammenarbeiten als mit mir?
»Entweder er ist dabei, oder ich werde nie wieder Geschäfte mit dir machen«, blaffte der Hehler. »Dann wird das Einkommen, das du mit deinen Auftritten in deinem bunten Kostümchen verdienst, leider ausreichen müssen, für was auch immer du so händeringend Geld benötigst.«
»Warum ausgerechnet er?«, rief Cade. »Sieh ihn dir an, er ist krank! Sein Herz ist schwach und er ist ständig in Atemnot und hustet! Er ist nicht fähig, für dich zu arbeiten!«
Krank? Schwach? Nicht fähig? Mir stockte regelrecht der Atem. Ich wusste ja selbst, ich konnte kaum mehr eine Viertelstunde jonglieren, ohne dass mir die Luft ausging und sich mein Sichtfeld zusammenzog. Oh ja, ich war mir meiner eigenen Schwäche nur allzu bewusst, doch ich hatte nicht gewollt, dass jemand anders ihr auf die Schliche kam, und deshalb hatte ich mein Training nie versäumt und mich nie vor Auftritten gedrückt. Mein Körper, meine Lungen und mein Herz gehörten mir und ich bestimmte ihre Grenzen, nicht andersherum!
Deshalb hatte ich längst einen Schritt nach vorne gemacht, bevor ich begriff, was ich da tat. »Ich werde es tun!«
Cade riss mich am Mantel zurück. »Halt die Klappe«, zischte er. »Lass mich das regeln und geh zurück zu deinem Onkel.« Als ich mich nicht rührte, schubste er mich grob gegen die Schulter. »Los!«
Doch ich hatte meinen Entschluss gefasst und so blieb ich an Ort und Stelle stehen und fixierte den Hehler. »Ich will die Arbeit machen.«
»Einverstanden.« Der Mann klopfte den Tabak aus, steckte seine Pfeife dann in den Umhang und erhob sich, um zu uns herüberzuhinken.
»Nein, Ares«, flehte Cade. »Bitte geh jetzt. Vertrau mir-«
»Was soll der Unsinn, Cade?«, fuhr der Hehler dazwischen. »Ares ist doch sicher ein Mann, der seine eigenen Entscheidungen fällen kann, nicht wahr?«
Ich blinzelte, weil mir etwas an seinem Ton nicht behagte, nickte dann aber zögerlich.
Cade schloss kurz die Augen, bevor er sich vollends zu dem Hehler umdrehte. »Er weiß nicht einmal, worüber wir reden!«
Ich warf ihm einen hitzigen Blick zu. »Dann sag es mir doch!«
Aber Cade senkte bloß den Kopf.
Es war der Hehler, der mir schließlich antwortete: »Es geht um einen Einbruch.«
Ganze drei Atemzüge lang dauerte es, bevor mein Verstand diese Worte verarbeitet hatte.
Natürlich hatte ich immer gewusst, dass Cade alles andere als ein Unschuldslamm war, aber dass nun von Einbrüchen die Rede war, schockierte mich. Ich suchte seinen Blick, doch er schaute noch immer auf seine Füße.
»Du begehst Einbrüche?«, fragte ich tonlos.
Cade ergriff mich am Oberarm, fletschte die Zähne und zog mich ein paar Schritte rückwärts. »Lass ihn da raus, Hehler!«
Der Mann zog die Brauen hoch. »Der Junge hat bereits zugestimmt. Das heißt, es besteht eine Abmachung zwischen ihm und mir. Dir, Cade, bleibt nur noch die Wahl, ob du ihm helfen wirst oder nicht.«
»Ich brauche Ares aber nicht für den Einbruch. Ich kann das alleine machen!«
»Wie gesagt, die Abmachung zwischen deinem Freund und mir ist gültig, so oder so. Und sicherlich wird Ares nicht so dumm sein, sie zu brechen. Er will die Stadt ja unversehrt verlassen, nicht wahr?«
Mir wurde übel, als mir aufging, dass ich einen großen Fehler begangen hatte.
Der Hehler trat wieder an uns heran. Ein herbes, rauchiges Aroma umgab ihn und ich unterdrückte den Drang, zu husten. Er musterte mich mit schwachem Interesse. »Hast du denn schon einmal gestohlen?«
Ich lief rot an, schwieg aber, denn ich konnte nicht wissen, ob die Antwort mich in Schwierigkeiten bringen würde oder nicht.
»Er hat Brot gestohlen«, ächzte Cade. »Und Handschuhe und Seife. Sonst nichts!«
»Das reicht vollkommen, damit er sich ein Bild davon machen kann, was ihn erwartet«, sagte der Mann. Er legte seine Hände auf die Oberschenkel und beugte sich leicht zu mir herunter. »Die Villa, in die du einbrechen wirst, befindet sich im oberen Viertel der Stadt. Also dort, wo die Adligen leben. Du erkennst sie an den blauen Ziegeln. Zwar steht das Haus bis zum Abend leer, aber die Straßen werden patrouilliert. Besonders heute zur Zählung. Das heißt, du wirst sehr vorsichtig sein müssen. Verstehst du das?«
Auf was hatte ich mich bloß eingelassen?
Cade lachte humorlos. »Das soll wohl ein Witz sein, Hehler! Oder willst du etwa, dass man uns entdeckt?«
Der Mann richtete sich wieder auf und wandte seinen Kopf zu ihm. »Ich bewundere dich für deine Kühnheit, Cade. Nicht wenige Male habe ich dir deswegen Dinge durchgehen lassen, für die andere mit ihrem Leben bezahlen mussten, aber gerade überspannst du meine Geduld.«
Cade ließ sich dadurch nicht einschüchtern. »Dann gib mir einen Grund, warum du willst, dass er dabei ist. Dir kann es doch egal sein, wie und mit wem ich die Arbeit erledige.«
»Sieh es als deine Strafe dafür an, dich vor mir versteckt zu haben«, sagte der Hehler eisig. »Außerdem könnt ihr zu zweit mehr tragen. Das vergrößert den Ertrag für mich und damit auch für euch.«
Eine Weile starrten sie sich an, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Ich sah zwischen den beiden umher, wagte aber nicht, das Schweigen zu brechen. Es kam mir vor, als fochten sie einen stummen Kampf miteinander aus, den Cade schließlich verlor, als er seinen Blick auf den Boden senkte.
Der Hehler lächelte zufrieden. »Es wird eine Menge zu stehlen geben, und ich werde euch reichlich belohnen. Für jeden Wertgegenstand, den ihr mir holt, gibt es einen Aufschlag. Das ist doch genau die Chance, um die du mich immer gebeten hast, oder nicht?«
Cade rührte sich nicht. Nicht einmal dann, als der Hehler seine Hand ausstreckte und seine Wange tätschelte. Er biss bloß sichtlich die Zähne zusammen.
»Ihr solltet jetzt aufbrechen«, sagte der Hehler. Er wandte sich von uns ab und hinkte zurück zu der Tür, aus der er getreten war. »Ich erwarte euch in drei Stunden in der Antiquitätenhandlung. Lasst mich nicht warten.«
Cade packte mich sofort am Handgelenk und eilte durch die Gassen. Sein Griff war fest und sein Rücken verspannt, weswegen ich mir die Fragen zunächst verbiss, die sich hinter meiner Stirn aufgetürmt hatten. Ich folgte ihm bloß, bis er schließlich anhielt und mich losließ.
»Scheiße!«, stieß er hervor und raufte sich die Haare. »Warum bist du nicht gegangen, als ich es dir gesagt habe?! Hast du eine Ahnung davon, wie gefährlich dieser Mann ist?!«
»Aber warum hast du dann überhaupt für ihn gearbeitet?«, fragte ich verwirrt. »Schuldest du ihm etwa Geld?«
»Nein.«
»Ist es wegen Nachtkreuz?«
»Natürlich nicht!«
»Warum dann?«
Cade gab mir keine Antwort darauf. Stattdessen murmelte er nur: »Lass es uns einfach so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
Ich hatte noch nie einen Einbruch begangen und allein bei der Vorstellung wollte sich mir der Magen umdrehen. Was, wenn wir erwischt wurden? Es gab schlimme körperliche Strafen auf solche Vergehen. Ich hatte sogar mal einen Bastard in einem der Grenzdörfer getroffen, dem man beide Hände und Füße dafür abgehackt hatte.
»Wir müssen das doch nicht wirklich machen, oder? Wir könnten zum Trupp-«
Ein Klirren, gefolgt von eiligen Schritten, ließ mich zusammenschrecken. Ich blickte über die Schulter und sah nur noch eine zierliche Gestalt in einer Gasse verschwinden. Mit geweiteten Augen und laut hämmerndem Herzen drehte ich mich wieder zu Cade, der sich beeilte, seine eigene Nervosität mit einem unbeteiligten Stirnrunzeln zu kaschieren.
»Wenn ich es könnte, würde ich dich zu unserem Trupp zurückschicken«, sagte er mit gesenkter Stimme und legte mir beide Hände auf die Schultern, »aber der Hehler hat seine Augen und Ohren überall und ich brauche das Geld. Du wirst also mitkommen müssen.«
Als er meine wachsende Furcht bemerkte, lächelte er mir ermutigend zu. »Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich ins Haus schleusen und dort wartest du in einem der Räume, bis ich fertig bin. Komm jetzt.«
Trotzdem zitterten mir die Knie, als wir auf ein Dach kletterten, um uns dort umzublicken. Der Wind hatte zugenommen und biss in meine Ohren. Nicht einmal die Sonne vermochte die Kälte zu vertreiben, die sich in meine Glieder geschlichen hatte. Aus den Augenwinkeln sah ich die alte Kirche sowie die Arena, aber ein Meer aus ziegelroten Dächern trennte uns nun von ihnen. Ich verfluchte mich innerlich dafür, je ein Wort mit dem Jungen gewechselt zu haben. Hätte ich ihm doch bloß nicht unsere echten Namen genannt!
»Es ist dort«, murmelte Cade und als ich mich zum ihm umdrehte, zeigte er auf das Dach eines weit entfernten Hauses, das durch seine blauen Ziegel herausstach. »Es wird uns bestimmt eine Stunde kosten, dorthin zu gelangen.«
Mit mir vermutlich sogar noch länger, dachte ich bitter, ließ die Worte aber unausgesprochen.
Wir kletterten wieder hinunter und arbeiteten uns stillschweigend durch Seitenstraßen vor, bis wir die Gegend erreichten, wo sich die Villen der Adligen befanden. Die Häuser hier waren mit bunter Farbe bemalt und wirkten auf mich fast genauso riesig wie die Ruine der Tennre-Kirche. Es gab sogar einige kleine Plätze, an denen Brunnen und Bänke standen und die Straßen hier waren alle frei von Unrat. Es stank auch nicht so fürchterlich wie dort unten in den schmalen Gassen.
Durch den langen Marsch war ich wieder erschöpft und so war es Cade, der eines der Dächer erklomm, um herauszufinden, wie wir uns unserem Ziel am besten nähern konnten, während ich unten stand und mich in den Schatten einer Hausmauer drückte. Schwere Schritte echoten durch die Straßen, obgleich ich niemanden ausmachen konnte. War das die Stadtwache?
Ich verlagerte mein Gewicht. Meine Kleidung war schmutzig und zerlumpt, meine Stoffschuhe löchrig. Abgesehen davon waren Cade und ich Schleicher. Wenn die Stadtwache uns hier erfasste, würde sie uns fraglos verhaften, ganz gleich, ob wir irgendwo eingebrochen waren oder nicht...
Etwas umgriff meine Schulter.
Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr ich herum, doch es war nur Cade. Er zog mich ein paar Schritte rückwärts, tiefer hinein in die Schatten, und schaute mit zusammengekniffenen Augen an mir vorbei auf die Straße wie ich es zuvor getan hatte, den Finger an die Lippen gehoben.
Wenige Sekunden später stampften zwei grimmig aussehende Stadtwachen an unserem Versteck vorbei. Ihre Blicke schweiften wachsam über die Gegend und als einer von ihnen dabei in unsere Richtung sah, gefror ich. Für einen schrecklichen Moment war ich überzeugt, er hätte uns gesehen, aber dann wanderten seine Augen einfach über uns hinweg.
»Wir müssen uns über die Dächer fortbewegen«, sagte Cade, sobald die beiden Männer außer Sichtweite waren. »Die Stadtpatrouille ist überall. Außerdem stehen die Häuser nah genug aneinander, um über sie zum blauen Haus zu gelangen. Glaubst du, du kannst noch klettern?«
Ich nickte.
»Dann komm.« Er bedeutete mir, ihm zu folgen und wir erklommen ein verwaistes Malergerüst, das sich an der Wand eines Hauses emporräkelte, und schwangen uns von dort auf das Dach. Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis wir unser Ziel erreichten. Allerdings hatten die Kletterei und das Springen von Dach zu Dach meine Lungen strapaziert und deshalb waren wir gezwungen, uns einige Minuten flach auf die Ziegeln zu legen, während die Stadtwache die Straßen unter uns abmarschierte. Ich musste mir beide Hände vor den Mund pressen, um den Hustenanfall zu dämpfen. Cade beobachtete mich besorgt, bis die Attacke verklungen war und die Wachen weitergezogen waren.
»Es ist schlimmer geworden«, stellte er fest, als er mich auf die Beine zog.
Das wusste ich selbst, aber ich hatte kein Verlangen, darüber zu reden. Also fragte ich: »Wie lange arbeitest du schon für diesen Hehler?«
»Seitdem dein Großvater mir erlaubt, mit den Trupps herzukommen. Also seit drei Jahren«, brummte Cade, bevor er sich umdrehte und über den Rand des Daches auf einen weitläufigen Balkon sprang. Ich tat es ihm gleich.
Er lehnte sich gegen die Balkontür, um zu horchen, was dahinter vor sich ging, ehe er seine Dietriche hervorholte und zwei dünne Stäbe in das Schlüsselloch schob. Doch kaum dass er ein wenig Druck verübte, schwang die Tür von alleine auf. Wir warfen uns verdutzte Blicke zu. Cade fasste sich als Erster und stand auf, um die Dietriche zurück in seinen Gürtel zu haken.
Er holte noch einmal tief Luft und verschwand durch die Tür. Ich wischte mir die Hände an der Hose ab und blieb auf dem Balkon stehen, bis ich von der Straße her die schweren Schritte der Stadtpatrouille vernahm und kurzerhand beschloss, Cade zu folgen, obwohl alle meine Sinne mir das Gegenteil rieten.
Der Raum war üppig dekoriert. Vor den in Nussholz verkleideten Wänden standen mehrere mit Gold verzierte Möbelstücke. Der Boden war mit hellen Kacheln ausgekleidet, die im Licht der späten Mittagssonne glänzten. Es hing ein schrecklicher, süßlicher Geruch in der Luft, der mich an faulende Rosen erinnerte, und die Wärme, die im Zimmer vorherrschte, ließ meine Finger schon nach kurzer Zeit kribbeln.
Cade lauschte bereits an der Zimmertür, als ich eintrat. Auch diesmal schien er nichts Auffälliges auszumachen, wie ich aus dem erleichterten Blick schlussfolgerte, den er mir über die Schulter zuwarf. Dann nahm er plötzlich Anlauf und glitt auf seinen Stoffsohlen geräuschlos über den Boden, bis er vor einer Kommode zum Halten kam. Mit schnellen Fingern öffnete er deren oberste Schublade, zerwühlte die säuberlich gefaltete blaue Kleidung, die darin verstaut war und zog eine goldene, mit himmelblauen Schmucksteinen verzierte Halskette hervor. Er warf sie in die Luft und fing sie wieder auf, bevor er sie mit einer geschmeidigen Bewegung in seine Manteltasche gleiten ließ.
Eine wilde Entschlossenheit sprang mir aus seinem Gesicht entgegen. »Vielleicht gelingt es uns, so viel Geld aufzutreiben, dass wir dich endlich zu einem Heiler schicken können.«
Und da fiel es mir wie Schuppen vor den Augen.
»Deswegen?!«, keuchte ich. »Deswegen begehst du Einbrüche?!«
»Psst, nicht so laut!«
»Du weißt doch, dass ich nicht von Magie geheilt werden will!«, flüsterte ich.
»Die Mediziner haben gesagt, es sei deine einzige Chance, also werden wir sie nutzen.«
»Ich will sie aber nicht nutzen! Es ist meine Entscheidung wie ich sterbe, nicht deine!«
»Genau das ist es ja. Du fürchtest dich vor dem Tag, an dem dein Herz nachgibt oder es nicht mehr in der Lage ist, das Wasser aus deinen Lungen zu halten. Du kannst deinen Großvater und deine Mutter anlügen so viel du willst, aber mich kannst du nicht täuschen, denn jedes Mal, wenn du in Atemnot gerätst, sehe ich die Panik in deinen Augen. Du willst nicht auf diese Weise sterben.«
»Es ist aber nun einmal das Schicksal, das die Götter für mich vorgesehen haben.«
Cade schnaubte. »Die Götter.«
»Ja, die Götter!«
»Und was genau erwartest du von mir? Dass ich einfach danebenstehe und zugucke, wie du stirbst, weil dein Großvater dir eingeredet hat, die Magie sei schlecht, wo sie doch das Einzige ist, das dich retten kann?« Er bleckte die Zähne. »Scheiß auf deinen Großvater! Scheiß auf das Schicksal und Scheiß auf die Götter! Ich werde dich nicht sterben lassen! Und wenn ich dich erst bewusstlos schlagen muss, um dich in eines der Heilerhäuser zu schleppen, so sei es!«
Ich machte große Augen. »Das würdest du nicht tun!«
»Oh, und ob ich das tun werde, du verfluchter Sturkopf.« Er biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. »Genug davon. Lass uns später darüber reden. Ich werde jetzt da rausgehen und den Auftrag erfüllen, während du hier wartest, in Ordnung?«
»Nach allem, was du mir gerade erzählt hast, glaubst du ernsthaft noch, dass ich dich die ganze Arbeit machen lasse? Vergiss es. Ich werde dir helfen.«
»Das wirst du nicht!«
Ungeachtet seiner Worte wollte ich mich an ihm vorbeischieben, doch er stieß mich zurück.
»Ares, du wirst dieses Zimmer nicht verlassen, bis ich fertig bin«, knurrte Cade.
Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. Er wurde nicht oft handgreiflich, schon gar nicht mir gegenüber. Es war ihm also ernst und deswegen versuchte ich es anders: »Bitte lass mich dir helfen. Zusammen können wir schneller-«
»Verdammt nochmal, tu dieses eine Mal das, was ich dir sage! Der Hehler hat mich zwar noch nie angelogen, aber etwas an dieser Sache ist faul. Hast du noch dein Seil?«
Als ich bloß das Kinn reckte, trat Cade einen warnenden Schritt auf mich zu. »Das Seil, Ares.«
Noch ein paar Momente stand ich starr und trotzig da, dann ließ ich meine Schultern hängen und öffnete meinen Mantel, um ihm einen Blick auf das Seil zu gewähren, das ich mir über dem Hemd um meinen Bauch gewickelt hatte.
»Gut. Ich werde mich beeilen. Wenn irgendetwas schiefgehen sollte, dann wirst du dich damit vom Balkon hinunterlassen und wegrennen so schnell du kannst, hörst du mich?«
»Ich bin nicht schwach«, platzte es aus mir hervor.
Cade sah mich verwirrt an, ehe sich eine leise Erkenntnis in seine Augen schlich. »Sagst du das wegen vorhin? Ich habe nur versucht, dich aus der Sache herauszuhalten. Natürlich bist du nicht schwach. Wir alle wissen das. Der Einzige, der es nicht weiß, bist du selbst.«
Ich starrte ihn finster an. »Warum hast du mir dann nicht vom Hehler erzählt?!«
»Später«, brummte Cade und wandte sich von mir ab, um zur Tür zu huschen. »Ich will hier so bald wie möglich weg.«
Er wich mir aus, das war mir klar. Cade schien mich sehr wohl für zu schwach zu halten, um ihm bei diesen Dingen helfen zu können. Das Erbärmliche war, ich konnte es ihm nicht einmal wirklich übelnehmen.
»Ich wollte nicht, dass du weißt, wie ich das Geld aufgetrieben habe«, flüsterte Cade da. Er hatte mir den Rücken zugedreht und die Hand auf die Klinke gelegt. »Ich hatte Angst, du würdest es dann erst recht nicht annehmen.«
Ich öffnete den Mund, um ihm zu sagen, dass ich das Geld nicht angenommen hätte, ganz gleich wie er es sich beschafft hätte, doch da hatte er schon das Zimmer verlassen und die Tür hinter sich geschlossen.
Eine gespenstische Stille legte sich über den Raum.
Nachdenklich setzte ich mich im Schneidersitz auf den Boden und zupfte missmutig an einer Naht meines Ärmels. Selbst wenn ich zulassen würde, dass Cade mich zu einem Heilerhaus brachte, wie würden Großvater, Mutter und der Rest meines Stammes darauf reagieren? Die Magie war eine Grenze, die wir nicht überschritten. Sie war Tabu. Und ich war nicht bereit, meine Familie zu verlieren, nur weil ich zu feige war, meinem Schicksal entgegenzutreten.
Dennoch verbat es mir mein Gewissen, meinen besten Freund all die Arbeit machen zu lassen. Abgesehen davon konnten wir Geld immer gut gebrauchen.
Ich hörte auf, mit der Naht zu spielen. Zwar hatte Cade mir verboten, den Raum zu verlassen, aber vielleicht fand ich ja noch etwas Wertvolles hier. Ich stand also wieder auf und begann, wie Cade zuvor, die Schubladen der Kommode zu durchsuchen. Ich tastete die Kleidung ab, konnte aber zu meiner Enttäuschung nichts finden. Gerade wollte ich die unterste Schublade wieder schließen, da fiel mir ein dunkelblauer Umhang mit einer silbernen Stickerei ins Auge.
Mit einem Mal wurde mir eiskalt.
Blau und Silber...? War das etwa...?
Nein. Das konnte nicht sein. Auf gar keinen Fall. Oder?
Mach dich nicht lächerlich! Wieso soll der Hehler Cade zu so etwas anstiften? Niemand würde das wagen.
Aber was, wenn es doch das war, was ich befürchtete. Die Stickerei... ich konnte nur einen Teil davon sehen, aber sie sah aus wie ein...
Benommen streckte ich meine Hand nach dem Kleidungsstück aus. Meine Finger gruben sich in den samtweichen, edlen Stoff. Mit trockenem Mund zog ich an dessen Enden und entfaltete den Umhang, um die Stickerei aus der Nähe zu betrachten: Ein silberner Kreis.
Das Zeichen der Inquisition.
Bei den Dämonen!
Ich ließ den Umhang los, als hätte ich mich daran verbrannt und machte sogar einige Schritte rückwärts.
Wir sind dabei, die Inquisition auszurauben!
Nacktes Entsetzen erhob sich in mir. Ein paar Sekunden verweilte ich so, ehe ich die Kontrolle über meinen Körper zurückerlangte.
Cade. Ich muss ihn warnen!
Ohne nachzudenken, stürzte ich aus dem Zimmer. Ich fand mich auf einem umlaufenden Balkon wieder, der um einen quadratisch angelegten, überdachten Innenhof herumführte. Darunter gab es noch zwei weitere Etagen. Auf der rechten und linken Seite verband jeweils eine Wendeltreppe alle Stockwerke miteinander. Fackeln hingen in Halterungen an den Wänden und tauchten den ganzen Hof in ein schummriges Licht. Auf Anhieb konnte ich um die zwanzig Türen ausmachen.
Auch erhaschte ich einen kurzen Blick auf Cade, der gerade in einem der gegenüberliegenden Räume verschwand.
»Cade!«, zischte ich.
Natürlich hatte er mich nicht gehört, also rannte ich los. Ich hatte nicht einmal die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als mir schwindelig wurde und ein scharfer Stich durch meinen Brustkorb schoss. Ich hielt mich am Geländer fest und bemühte mich, meine Atmung unter Kontrolle zu kriegen, doch stattdessen überkam mich ein starker Hustenreiz.
»Wer macht da so einen Lärm?«, rief jemand verärgert.
Alles in mir erstarrte. Selbst mein Herz setzte kurz aus. Ich sank in die Hocke und presste mich an die Wand, die Hände vor den Mund gedrückt, während mir schlagartig bewusst wurde, dass der Hehler sehr wohl gelogen hatte.
Die Villa war nicht leer.
Wir waren nicht allein.
Gleich mehrere Türen öffneten sich in den unteren Stockwerken. Es traten junge Frauen und Männer heraus. Allesamt hatten sie längliche Gesichter und Haare und Haut so weiß wie der Mond.
»Klingt, als müsse da jemand mal dringend zu einem Heiler!«, hörte ich einen spotten.
»Kann man denn nicht mal bei den Meditationsübungen ein wenig Ruhe haben?«, zischte ein anderer.
»Spinnt ihr? Wieso schreit ihr jetzt alle rum?«
Das ist eine verdammte Inquisitorenschule!, dachte ich fassungslos.