Der Herr des Cringe - Lino Wirag - E-Book

Der Herr des Cringe E-Book

Lino Wirag

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Beschreibung

»Nicht schon wieder!«, denkt Bibbo Beuteschema, als Ganjalf der Gilbe erneut an seiner Schallplattentür scratcht. Der kleine Hiphop aus dem Aualand will doch nur seine Ruhe – und auf keinen Fall in den neuesten Wahnsinnsplan des exzentrischen Zauberers hineingezogen werden, der ihnen die Taschen mit klingenden Silbereisen füllen soll. Sausack, der dunkle Herrscher von Mördör, hat derweil ganz andere Probleme: Seine noch viel dunklere Schwiegermutter hat ihren Besuch angekündigt, und das Bling-Bling, das sie ihm zur Hochzeit gebastelt hat, ist plötzlich verschwunden … Diese absurde wie aberwitzige Tolkien-Parodie enthält mehr Bärte, mehr Witze (mit und ohne Bart) und mehr Fanservice als Peter Jacksons Gesamtwerk – großes elbfisches Ehrenwort!

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L. O. L. Wirag

Der HERR des CRINGE

L. O. L. Wirag

Der HERR des CRINGE

riva

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2022

© 2022 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Manuela Amode

Umschlagabbildung: Shutterstock.com/Nok Lek, Rudolph Kollewe, sergo1972

Abbildung Innenteil: shutterstock.com/Irina Qiwi

Satz: Achim Münster, Overath

eBook by tool-e-byte

ISBN Print 978-3-7423-2193-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1958-3

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1959-0

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Für Zucker, Abrahams & Zucker

Inhalt

Erstes und einziges Kapitel

Weitere Tolkien-Parodien in deutscher Sprache

Über den Autor

Erstes und einziges Kapitel

Ganjalf der Gilbe saugte die Lippen noch einmal tief in das Bienenwachs-Mundstück, um einen Zug aus seinem elbfischen Kampf-Didgeridoo zu nehmen. Er schmatzte zufrieden, erneut erfreut darüber, dass er sein mickriges Tonpfeifchen bei seinem letzten Besuch in den Wäldern von Klólóchrien gegen das dampfende Didge eingetauscht hatte. Es ging mindestens das Zehnfache hinein!

Zufrieden war er auch mit der – wie könnte man es nennen? – erlesenen Sélection eigener Manufaktur – klang doch gut! – aus urkischem Schädelsprenger und getrockneter Simbelmynë, die in der armlangen Röhre aus Entholz glomm. Sie füllte die Lungenbläschen erst wie zerfließende Marshmallows, bevor sie (zum Beispiel gerade jetzt) mit erfrischendem Prickeln über die Nebenhöhlen ins Gehirn aufstieg.

Der Zauberer freute sich darauf, seinen alten Freund wiederzusehen. Zumal Ganjalf etwas im Gepäck hatte, dass Bibbo Beuteschema sicher interessieren würde: viel, viel Geld. Oder, um ehrlich zu sein, die Aussicht auf viel, viel Geld.

Viel, viel Geld?

Ach was: viel, viel, VIEL Geld!

Ganjalf lachte furchterregend und erhob sich mit einem Ruck, den Kopf durch die eigene Rauchwolke stoßend, als sei er der Gipfel der Wetterspitze. Ein kurzer Schwindel erfasste ihn, der nichts mit dem urkischen Tabak oder dem schnellen Aufstehen zu tun hatte. Er hatte lediglich noch einmal an den genauen Betrag gedacht. Ob man ihn in elbfisches Ethereum umrechnete, in mördörsche Lewonzen, in Monopoly-Geld oder einfach in gängige Silbereisen: Es blieb – wie ging die albionische Redensart? – eine Fickladung von Geld. Er streichelte den Gedanken zärtlich wie ein heißes Lembas-Croissant. Sein Kopf war jetzt wieder klar. Und fast am Ziel war er zum Glück auch schon.

Hastig klopfte Ganjalf das dampfende Didge an der Rinde des nächsten Baumes aus, und glühender Tabak regnete auf die Wurzeln herab. Als der Baum eine Viertelstunde später erst einen langen, tiefen Schmerzensschrei und dann einen noch längeren und noch tieferen Fluch ausstieß, war der Zauberer schon über alle Berge: Berge, die langsam in wellenförmige Hügel übergingen, denn Ganjalf hatte gerade die Grenze zum Aualand überschritten, wo die Hiphops wohnten.

Die Sonne hatte sich bereits zu Nikotingelb herabgedimmt, aber der späte Himmel war trotzdem noch kirschblütenblau und fast leer gefegt, abgesehen von vier, fünf Wolkenfetzen, die sich tief im Westen polyamourös vereinigten und wieder trennten. Als Ganjalf so dahinschritt, fühlte er sich frei und beschwingt – was auch damit zu tun hatte, dass er unter seiner psychedelisch gebatikten Robe vollkommen nackt war.

Der Zauberer konnte nun schon die ersten Hiphop-Behausungen sehen. Unverkennbar waren die markanten kreisrunden Eingangstüren, die aus riesigen schwarzen Schellack-Scheiben bestanden. Aus der Ferne wirkten sie bedrohlich, als würden die Hügel einen mit riesigen schwarzen Pupillen anstarren, aber Ganjalf wusste, wie harmlos die Wesen waren, die dahinter hausten. Er folgte einem Pfad aus gelben Steinen, der ihn jetzt an einem niedrigen Gartenzaun aus geflochtenen Mikrofonkabeln vorbeiführte.

Als er das Gartentor passierte, kamen drei kleine Hiphops an den Zaun gelaufen und staunten den Fremden aus sicherer Entfernung an. Ganjalf lächelte. Die Kleinen waren noch keine 42 oder 48 Jahre alt, nicht viel größer als drei Milcherzeugnisse und so ungewaschen wie er. Sie hatten vielleicht noch nie einen Menschen gesehen, geschweige denn einen Thetan der 10. Stufe wie Ganjalf. Der Zauberer winkte den Kindern im Vorbeischreiten zu, unbeholfen winkten sie zurück, wobei sie sich mit ihren Patschehändchen gegenseitig ins Gesicht schlugen. Ganjalf spürte einen Stich in der Brust, merkte dann aber, dass es nur die Nadel der Brosche war, die seinen Umhang zusammenhielt. Und doch: Niedlich waren sie anzusehen, die Kleinen in ihrer traditionellen Tracht, fast vollständig in ihren XXL-Trikots versunken. Der Bub glotzte Ganjalf durch eine Raster-Sonnenbrille aus Plastik an, die sein ganzes Gesicht bedeckte, eines der Mädchen lächelte mit glitzernden Zahnaufsätzen, das andere trug einen durchsichtigen Kopfstrumpf über ihren Cornrows. Und natürlich hatten alle drei gigantische Sneakers mit Fat Laces an den Füßen.

»Hast du Tnaller für uns, Uncle G.?«, fragte das Mädchen mit dem Kopfstrumpf.

»Ihr kennt mich?«, fragte Ganjalf und blieb stehen.

»Jeder im Tal weiß, dass du der Original Gangsta bist, Uncle G.«, sagte das Mädchen, »und dass du die besten Feuerwerke abfackelst.«

»Feuerwerk, sagst du?«, fragte Ganjalf und tat, als müsse er nachdenken, indem er wiederholt an seinem Bart zog. »Was war das noch mal?«

»Wenn man Ringe in allen Farben sieht, sogar in Oktarin!«, erklärte das Mädchen und begann, in seinen Riesensneakers auf und ab zu hüpfen. »Wenn es sich so anfühlt, als ob einem ein Vulkan im Magen explodiert und die Feuerfontäne bis zur Schädeldecke schießt.«

»Du kennst dich erstaunlich gut aus«, gab sich Ganjalf beeindruckt.

»Ich bin ja auch schon 38«, sagte die Kleine. »Mein Onkel hat gesagt, das letzte Feuerwerk, das du ihm gegeben hast, hat drei Tage und drei Nächte gedauert. Seither liegt er nur noch auf den Kanapees.«

»Auf dem Kanapee, meinst du?«, fragte Ganjalf.

»So belegte Schnittchen meine ich«, sagte das Mädchen. »Man kriegt ihn nicht mehr von der Anrichte runter. Seit Neuestem wälzt er sich auch in Russischen Eiern. Tante hat ihn völlig aufgegeben.«

»Tnaller«, sagte der Bub, der etwas langsamer war. Das zweite Mädchen schwieg, was wahrscheinlich an ihren Grillz lag, die aus zehnkarätigem Blei mit kindgerechten Quecksilber-Verzierungen bestanden.

»Also, kriegen wir jetzt was von deinem Stash, Uncle G.?«, fragte das Mädchen mit dem Kopfstrumpf und streckte die Ärmchen durch den Kabelzaun. »Das wäre sooo dope.«

»Habt ihr denn auch eure Eltern gefragt, ob ihr vor 18 Uhr schon ballern dürft?«, fragte Ganjalf schmunzelnd.

»Unsere Eltern sind tot«, sagte das Mädchen mit den Grillz auf einmal bestimmt und streckte ebenfalls die Hände aus. »When do we want it?«, skandierte sie. »Now!«

»Tnaller«, sagte der Bub, der jetzt ein wenig sabberte.

»Na dann wollen wir doch mal schauen«, schmunzelte Ganjalf und sprach jedes Wort langsam und genüsslich aus. Er hob mit reichlich Geschnauf seinen Seesack von der Schulter, stellte ihn ab, ging umständlich in die Knie, befasste sich dann eingehend damit, die Verschnürung aufzuziehen, und steckte endlich seinen Arm in den Sack, während die Kinder jeder seiner Bewegungen mit gebannten Blicken folgten.

Kurz blitzte das Bild eines übergewichtigen alten Mannes mit weißem Bart vor Ganjalfs innerem Auge auf, der in einem roten Gewand mit weißem Pelzbesatz über den Himmel schoss, aber er hielt es für einen Flashback.

»Mach hin, Alter, oder ich stech dich«, meldete nun das Mädchen mit den Cornrows sittsam sein Begehr bzgl. einer Beschleunigung der ganjalfschen Aktivitäten an, und wie auf ein Stichwort holte der Zauberer etwas aus dem Seesack und hielt es hoch. Es war eine Suppenterrine aus Rohirrim-Porzellan mit einem Sprung in der Schüssel. Ganjalf hätte schwören können, dass er sie zum ersten Mal sah.

»Kein Feuerwerk«, sagte er und warf das Porzellan über den Rücken. Es klirrte, und die Kinder kicherten.

Als Nächstes zog der Zauberer ein Paar stocksteife Unterbuxen aus dem Seesack, die vielleicht einmal schießer-weiß gewesen waren, aber jetzt eher nach Jackson Pollock aussahen.

»Auch kein Feuerwerk«, sagte Ganjalf und warf die U-Hosen hinter sich. Es klirrte, als sie zerbrachen.

Die Kinder kicherten noch einmal, aber schon verhaltener, und Ganjalf merkte, dass sie langsam ungeduldig wurden; vor allem daran, dass das Mädchen mit dem Durag auf einmal ein niedliches Butterfly hervorgezaubert hatte, dessen pinkfarbene Klinge sie jetzt in erstaunlicher Geschwindigkeit um ihren Mittelfinger rotieren ließ. Der kleine Junge zückte einen Fidget Spinner, schnitt sich aber beim Versuch, ihn anzutreiben, gleich in den Finger. Ganjalf beschloss, die Racker nicht länger auf die Folter zu spannen.

»Da haben wir es doch!«, rief er deshalb, zog einen schwarzen Aktenkoffer aus dem Sack und ließ ihn mit sattem Sounddesign aufschnalzen. »Zwei Beutel Gras«, zitierte Ganjalf murmelnd und kreiste mit dem Finger über dem Inhalt, »75 Kügelchen Meskalin, fünf Löschblätter extrastarkes Acid, ein Salzstreuer Kokain und ein Spektrum farbenfroher Upper, Downer, Heuler, Lacher ...«

Die Kinder fielen fast über den Zaun beim Versuch, einen Blick in den Koffer zu werfen, aber der Inhalt blieb ihnen tarantino.

Bis Ganjalf behutsam zwei bläulich schimmernde, glitzernde Lollipops aus dem Aktenkoffer hob, so groß und so rund wie die Augen der Kleinen, die jetzt staunend auf die Köstlichkeiten starrten. Das Butterfly wirbelte davon und blieb in einer Weinbergschnecke stecken.

»Die Elbfen nennen es kristallenes Met«, sagte Ganjalf und kam langsam auf die Kinder zu. Er drehte die Stiele zwischen Daumen- und Zeigefinger, sodass die Kristalllutscher funkelten wie kleine Discokugeln. »Die Elbfen behaupten, wenn man an diesen Metscheiben leckt, kann man sich aus drei Perspektiven gleichzeitig sehen: von oben, von mittelinksunten und durch eine Glasscheibe aus fließender Milch, über die jemand ein Leberwurstbrot reibt«, raunte Ganjalf. »Mit Gürkchen.«

Er drückte den Mädchen je einen Lolli in die entgegengereckten Hände, und die Kinder machten sich sofort über die blauen Schleckstängel her, als wären es koreanische Zuckerplätzchen, von denen ihr Leben abhing.

Ganjalf betrachtete lächelnd ihr zufriedenes Schmatzen, während er in seinen Bart murmelte: »Man wird allerdings auch sofort abhängig davon. Dann folgt: Beschaffungskriminalität, Entzugsklinik, Rückfall, Alien-Hand-Syndrom, Zungenreden. Und in spätestens hundert Jahren: Bahnhofsklo, Goldener Schleck, Himmelsbestattung.« Ganjalf hörte nicht auf zu lächeln, und die Mädchen waren zu beschäftigt, um ihm zuzuhören.

»Tnaller.« Eine Hand zupfte an Ganjalfs Robe.

Er hätte fast den Bub vergessen.

»Kommt sofort«, rief der Zauberer gut gelaunt und bückte sich noch einmal über seinen Aktenkoffer, dem er einen rot glänzenden, zylinderförmigen Gegenstand entnahm, etwa so lang wie ein Mittelfinger und an einem Ende mit einem schwarzen Drehrad versehen.

»Das ist der Shit der Firma Pritt«, reimte Ganjalf, nahm höflich den Deckel von der Hülse und drehte ein paar Zentimeter der weißen Masse ins Freie.

»Schön langsam lutschen«, ermahnte er und überreichte dem Kleinen den Klebestift. »Und wenn nichts mehr kommt, einfach weiterdrehen, gut? Ach so: Das Gefühl, die Zähne nicht mehr auseinanderzubekommen, ist ganz normal. Oder der Eindruck, dass deine Zungenspitze am Gaumenzäpfchen festhängt«, lachte Ganjalf.

»Tnaller«, sagte der Bub, biss einmal kräftig von dem Pritt-Stift ab, steckte sich den Rest ins linke Nasenloch und fiel um.

»Ausgezeichnet!«, freute sich Ganjalf, der es genauso gemacht hätte.

Er winkte den Kindern zum Abschied, die aber keine Notiz mehr von ihm nahmen, und rief noch einmal: »Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arm oder Außenminister oder das, was Sie dafür halten.« Es war schön, dachte der Zauberer, der Gemeinschaft etwas zurückgeben zu können. Dann schulterte er seinen Seesack, strich die Krempe seines Klappzylinders gerade, griff nach seinem Zanderstab – ein Zauberstab, der auch als Wanderstab diente – und setzte seinen Weg fort.

Es war nicht mehr weit zu Bibbos »Krippe«, wie dieser seine Behausung in der Hiphoppinger Mundart nannte. Nach einigen Minuten hatte der Zauberer das Zentrum des Marktfleckens passiert, wo sich auch die wichtigsten Bauwerke des Orts befanden: die öffentliche Beat-Schmiede, die CD-Brennerei des alten Funk, die Metzgerei des noch nicht so alten Disstrek, in der es ausschließlich Beef gab, sowie die Hausarzt-Praxis Dr. Dreh. Und natürlich die Raps-Mühle, die unablässig Verse drosch, in der man sich aber auch Pflanzenöl pressen lassen konnte, wenn man unbedingt wollte. Auf dem Marktplatz stand das offene Mikrofon, das jetzt, gegen Mittag, noch verwaist war, und am Rand des Platzes dampfte friedlich die Kläranlage, die man mit dem kleinen Atomkraftwerk zusammengelegt hatte, als jemandem aufgefallen war, dass man die Abwässer der Einwohner auch gleich als Kühlwasser für die Brennstäbe nutzen konnte.

Von hier aus musste Ganjalf nur noch seinem inneren Navigationsgerät folgen, das ihn 300 Meter die Hauptstraße hinunterschickte, dann auf der mittleren Spur – es gab ohnehin nur eine – rechts abbiegen, was ihm zu Fuß mühelos gelang, nach 150 Metern links abbiegen, bitte wenden (er war natürlich wieder zu früh abgebogen!), dann links und noch mal links. Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Er erkannte Bibbos Tür sofort wieder, obwohl es sich um eine der traditionellen schwarzen Rundpforten handelte, die überall im Aualand gleich aussahen. Die Hiphops behaupteten, dass ihre Türen in Wahrheit gigantische Schallplatten waren, die ihre Vorfahren den Steintrollen direkt vom Grammophonteller geklaut hatten, als diese gerade zu McTolkien’s gefahren waren. Aber das war natürlich gelogen. Jeder wusste, dass Trolle Mini-Disc hörten.

Dass Ganjalf die Tür sofort wiedererkannte, lag vielmehr daran, dass auf einem Schild neben der Tür unmissverständlich der Name »Bibbo Beuteschema« zu lesen war, zumindest dann, wenn es einem gelang, die Salzteig-Buchstaben im Bubble-Style zu entziffern, die in ungesunden Lebensmittelfarben glänzten.

Und natürlich daran, dass Ganjalf das magische Zeichen wiedersah, das er damals ins Türblatt geritzt hatte. Er blickte auf die Einkerbungen im Lack und musste sich eingestehen, dass er nicht mehr wusste, was sie zu bedeuten hatten. War es ein Abwehrzauber gewesen, das Haus vor Schaden zu schützen? Eine Elbfen-Rune, die er auf seinen Reisen erlernt und wieder vergessen hatte? Ein Gaunerzinken, der dem Kundigen mitteilte, dass es hier einen Teller Suppe gab, wenn man so tat, als sei man schwerhörig auf dem linken Fuß?

Ganjalf musterte noch einmal das Symbol, das so eindeutig seine Handschrift trug: die längliche Form in der Mitte, die kraftvoll nach oben strebte, darunter die zwei Halbkreise, die eher schlaff und ...

»Den Dödel, den du da reingekratzt hast, hab ich nie wieder rausbekommen«, unterbrach eine Stimme seine Gedanken. »Gar nicht so lustig, wenn man wieder nüchtern ist, gell? Ich muss die ganze Tür neu machen, hat der Plattenbauer gesagt. Wäre sowieso besser, weil: Dann soll ich gleich auf Polyvinylchlorid umsteigen, wegen der Dämmung.« Die Stimme kam aus dem Nichts. »War mir dann aber zu teuer.« Wobei mit Nichts das suppentellergroße Loch gemeint war, das sich genau in der Mitte der kreisrunden Tür geöffnet hatte.

»Bibbo, alter Kriegsverbrecher!«, rief der Zauberer erfreut und äugte ins Loch, hinter dem allerdings kaum etwas zu erkennen war. »Herrscher der hundert Handschmeichler! Schau mal, wer auf einen kleinen Talk, Walk and Smoke bei dir vorbeischaut.« Ganjalf zeigte mit beiden Daumen schwungvoll auf sein Gesicht und bohrte sich dabei versehentlich den rechten Daumen ins Auge.

»Du kommst hier nicht rein«, sagte das Loch.

»Bibbo, alter Ulknudelsalat!« Ganjalf lachte eine Nuance zu laut und wedelte mit dem Zeigefinger vor dem Loch herum, das international anerkannte Zeichen für Du-kleiner-Scherzkeks-du. »Lustig, wirklich lustig. Zum Willkommen. Ein lustiger Willkommensjokus. Tritt die Tür ein, bring Freude rein. Hoho.« Er machte eine kleine Pause. »Aber jetzt mach mal auf hier, bitte. Ich hab dir auch was mitgebracht.«

»Du kommst hier nicht rein«, wiederholte das Loch, jedes Wort betonend, vor allem aber die Worte »hier«, »du«, »rein«, »kommst« und »nicht«.

»Gilt das auch für alte Freunde?«, schmeichelte Ganjalf und bemühte sich, seiner Stimme einen warmen Ton zu geben.

»Wo siehst du hier einen alten Freund?«, fragte das Loch.

»Du hast mir auch gefehlt, gerade noch gefehlt!«, nahm Ganjalf einen neuen Anlauf. »Apropos kleiner Scherz: Wie sagt der Zwerg aus dem Erzgebirge, wenn er draußen im Kalten steht, einen weiten Weg hinter sich hat und es gleich dunkel wird?« Für die Auflösung imitierte Ganjalf den erzgebirgischen Dialekt: »Er fragt: Gänsefleisch ma de Diere uffmachn? Nu? Gänse?«

»Gar nicht schlecht gespielt der Witz«, gab das Loch zu. »Er geht aber noch weiter. Die Tür sagt nämlich: Du kommst hier nicht rein.«

»Ey, Bibbo, Spaß am Dienstag mal beiseite hier«, sagte Ganjalf und trat näher an das Loch heran, hinter dem er aber kaum mehr wahrnehmen konnte als einen Hauch Head Accident by Capital Bra. »War ein echt langer Weg jetzt. Bin extra von, Dings«, er knetete seinen Bart, »aus dem Langsamen See hergekommen. Hergeschwommen. Nur um dich zu sehen. Brudi.« Er pausierte. »Bro.« Pausierte noch mal. »Bra.« Es wurde nicht besser.

»Mir voll egal«, sagte das Loch. »Du bist hier nicht mehr willkommen. Und du weißt auch genau, warum.«

»Nee, weiß ich jetzt nicht mehr so genau«, log Ganjalf, »hab ich vergessen. In meinem Alter, weißt du, da vergisst man sogar manchmal, vor dem Pinkeln die Hose aufzumachen, weißt du. Fatal am Urinal. Können wir das nicht drinnen besprechen?«

»Will dir mal auf die Sprünge helfen«, sagte das Loch. »Weil: Bin ich nett.«

Hinter der Tür begann es zu rascheln. Dann erschien ein schmales Stück Papier in der Öffnung, das mit winzigen Zahlen bedruckt war, schob sich hindurch und wurde dabei immer länger und länger, wie eine weiße Zunge, die sich langsam entrollte. Erst als das Ende des Papierbands den Boden erreichte, hielt es inne.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Bibbo an der Zettelschlange vorbei durch das Loch.

»Sieht nach Papier aus«, antwortete Ganjalf. »Ich dachte erst: vielleicht ein Duschvorhang oder Pizzateig, aber jetzt sehe ich: Nope, eindeutig Papier. Ist es ne sehr breite Luftschlange? Feierst du da drin gerade ne Party? Lädst du mich ein?«

»Das ist eine Reisekostenabrechnung.«

»Oh, die bösen Reisekosten, grrr, die hinterfotzigen«, empörte sich Ganjalf und wedelte mit dem Zanderstab, »du solltest dringend mit ihnen abrechnen! Was haben Sie dir nur angetan, o zärtlicher Bibbo mein? Soll ich ihnen eine Lektion im Kieferbruchrechnen erteilen?«

»Es reicht völlig, wenn du bezahlst, was du versprochen hast: dass du bezahlst.«

»Ich habe –?«

»Tu nicht so blöd. Bevor wir losgezogen sind, hast du klar und deutlich gesagt, dass alle Reisekosten auf dich gehen. Haben alle gehört.«

»Sogar Taubnús, Sohn von Ôrwachs?«

»Sogar der.«

»Reisekosten, Reisekosten«, gab sich Ganjalf nachdenklich. »Wer kann schon sagen, was eine Reise wirklich kostet? Was ein einzelnes Reiskorn kostet?« Er jonglierte die Argumente: „Beziehungsweise, was sind schon die monatelangen Strapazen, die fünfundzwanzigstündigen Tagesmärsche, die kleinen und großen Stichwunden, letztlich auch die finanziellen ...«, er suchte ein positives Synonym, »... Investitionen einer gemeinsamen Reise, eines gemeinsamen Abenteuers, im Vergleich zu dem unermesslichen immateriellen Gewinn, den man daraus zieht? Der ja mit Geld überhaupt nicht aufzuwiegen ist? Den man in Lewonzen oder Streuseltalern noch nicht einmal denken kann ...« Der Zauberer zögerte – dann legte er nach: »Ohne gleich total raffgierig rüberzukommen, gigantisch geldgeil.«

»Mir total egal, 82231 Silbereisen macht das«, sagte das Loch total raffgierig und gigantisch geldgeil. »Die 78 Egli hinter dem Komma erlasse ich dir. Plus die Kosten für die neue Tür. Wenn ich den KVA wiedergefunden habe.«

»Aber Bibbo, lieber guter Bibbo! Bimbolf!«, Ganjalf klang plötzlich flehentlich, »wo soll ich denn jetzt 82 Silbereisen ...«

»82231«, verbesserte ihn Bibbo.

»...82 und noch mal 231 Silbereisen hernehmen? Ich bin doch extra hergekommen, weil ich kein –«, hätte Ganjalf sich fast verplappert, »ich meine, extra hergekommen, weil ich dir deine Spesen endlich zurückzahlen will. Genau! Weil du ja so recht hast. Mit allem. Mit Zinsen!«

»Na, dann ist ja alles gut.« Bibbo klang komischerweise wenig überzeugt. »Dann mal her damit.« Im Loch erschien eine stark behaarte Handfläche.

»Das Problem ist nur, ich habe den Schulranzen mit dem Geld ...«

»Den Schulranzen mit dem Geld«, wiederholte Bibbo ausdruckslos.

»... im Hotel gelassen. Im Hotelsafe. Und der hat eine Zeitschaltuhr. Der Safe. Deshalb komme ich erst morgen wieder ran an das Geld.« Ganjalf schüttelte eine zürnende Faust. »Du, das tut mir voll leid jetzt. Sonst hätten wir das gleich hier beglichen. Ehrlich jetzt.«

»In welchem Hotel bist du denn abgestiegen?«

»In dem ... mit dem Dach. Und den Fenstern. Die nach draußen zeigen.«

»Die Alte Feuerwache meinst du? Gleich am Marktplatz? Mit der Rutschstange, die direkt ins Frühstückszimmer führt?«

»Ja, genau die«, behauptete Ganjalf.

»Ist abgebrannt, die Alte Feuerwache. Hatten ironischerweise keine Brandschutzanlage«, sagte Bibbo und zog die Hand schon mal zurück.

»O nein, dann ist mein schöner Schulranzen vielleicht auch abgebrannt!«, rief Ganjalf dramatisch und rang die Hände. »Mit deinem Geld drin!«

»Ist aber schon letztes Jahr abgebrannt, das Hotel«, sagte Bibbo.

»Vielleicht bin ich ja schon letztes Jahr da abgestiegen?«, riet Ganjalf, nahm den Klappzylinder ab und kratzte sich am Kopf, in dem schon ein neuer Hirnfurz gärte. »Als ich sagte, dass du dein Geld natürlich mit Zinsen bekommst, hab ich da erwähnt, dass die elbfische Notenbank ihren Leitzins inzwischen ins Negative gesenkt hat? 99,9 Prozent ins Negative, wenn ich die ›Finanz-Nachrichten aus Durchschnittserde‹ richtig gelesen habe«, improschauspielerte Ganjalf weiter und zeichnete mit dem Zanderstab eine absteigende Linie in die Luft. »Das hat natürlich zur Folge, was mir echt unglaublich leidtut, dass deine Reisekostenabrechnung jetzt, wo ich sie dir gerade ...«

Bibbo hörte nicht mehr hin. Er trat einen Schritt von der Tür zurück, senkte den Kopf und starrte auf seine Sneaker. Er seufzte tief. Es hatte ja keinen Zweck, dachte der Hiphop. Sein Geld würde er ohnehin nicht wiedersehen. Nicht, dass er auch nur einen Moment daran geglaubt hatte. Dann konnte er sich genauso gut anhören, welchen Wahnsinnsplan Ganjalf diesmal verfolgte.

Als der Zauberer das letzte Mal vor seiner Tür aufgekreuzt war – wie lange war das jetzt her? Erst ein Jahr? –, hatte er Bibbo und einen Batzen gemischter Zwerge monatelang in einen solch ohrenbetäubenden Unsinn verwickelt, dass sie alle fast mit dem Leben dafür bezahlt hätten. Ein Unsinn, der ihm noch dazu keinen schnöden Silbereisen eingebracht hatte. Gut, immerhin hatte er das –

»Ey, Bibbo, ey!«, zischte es direkt vor ihm. Der Hiphop fuhr zusammen. Ein kreisrunder Ausschnitt aus Ganjalfs Gesicht, der von den Brauen bis zur Unterlippe reichte, grinste ihn durch das Türloch an.

»Sprichst du jetzt mit dir selbst? Kann sehen, wie sich deine Lippen bewegen«, sagte der Ausschnitt. »Bist du high, oder was? Wenn nicht, kann ich helfen.«

Ganjalf gluckste und schielte mit einem Auge nach rechts oben und mit dem anderen nach links unten, und Bibbo hatte die unschöne Gelegenheit, das Gesicht des Zauberers aus der Nähe zu studieren: die tiefen Tränensäcke, die bis auf die Mundwinkel hingen; die dritten Zähne, krumm und braun wie die Latten eines Jägerzauns; die große Nase, von dicken Adern umspannt, wie ein Butternusskürbis in einem Gemüsenetz.

»Ich hab ne Idee, wie wir unfassbar viel Moola machen«, sagte der Ganjalf-Gesichtsausschnitt jetzt und ließ seine Pupillen in die Augenmitte zurückspringen. »Komm, mach einfach die Tür auf, füll den Teekessel mit Wick Vaporub und Fanta, und ich erklär dir alles, ist quasi schon abgezapft und originalverkorkt, so easy wird das, und nachher machen wir fifty-fifty«, behauptete der Zauberer kühn.

Das wird ein schöner Scheißdreck werden, dachte Bibbo unter seiner gelb getönten Sonnenbrille. Wenigstens hatte er den Alten zur Strafe etwas im Kalten stehen lassen. Dann atmete er noch mal tief ein, tief wieder aus, und entsperrte schließlich den schweren, gut einszwanzig langen Tonarm, der die schallplattene Tür verriegelte.

Fünf Sekunden später standen sich Ganjalf der Gilbe und Bibbo Beuteschema zum ersten Mal seit Monaten wieder gegenüber.

»MC Bibbo in dem Haus!«, rief Ganjalf und breitete die Arme aus.

»Salve, alter Elbfenschänder«, nickte Bibbo und musste jetzt doch grinsen, »du bist ja noch hässlicher geworden. Dachte, das geht nicht. Trittst du schon auf deine Falten, alter Mann?«

Dann griff er Ganjalf erst mal tüchtig an die Nüsse, sodass der Zauberer gackernd zusammenfuhr.

Der dunkle Herrscher saß auf dunklem Thron und las in einer dunklen Schriftrolle. Er furchte die dunklen Augenbrauen unter seinem dunklen Helm, aber es half nichts. Er konnte nichts erkennen. Es war einfach viel zu dunkel.

»Mach doch mal einer Licht an!«, befahl Sausack.

Einer, der sich in einen alten Spüllappen gewickelt hatte, huschte aus den Schatten hervor, die den Thron umgaben, und machte, knipps, das Licht an, genauer: die Leuchte Baustråla, ein darmgeblasenes Einzelstück aus urkischer Hornhaut, das über dem Kopf des dunklen Herrschers baumelte. Sausack hatte es dort hängen lassen.

Einer verbeugte sich stumm und zog sich lautlos ins Dunkel zurück.

Bei Licht betrachtet, saß Sausack jetzt auf seinem schon viel helleren Thron und konnte endlich auch die Schriftrolle entziffern.

Das war also die Rohfassung von »Der Herr des Cringe«, ein Buch, das in Sausacks ruchlosem Riva-Verlag erscheinen sollte. Das verwerfliche Verlagshaus gehörte ebenso zum miesen Medienimperium des dunklen Herrschers wie die fiesen Fachzeitschriften »Men’s Sickness«, »Hörzu oder stirb« und »11 Feinde«.

Und da Sausack ein Verleger in der Tradition großer Geister wie Axel Springer oder Hubert Burda war, ließ er es sich nicht nehmen, alle Publikationen, die sein Haus verließen, persönlich zu verschlechtern. Deshalb zückte der dunkle Herrscher jetzt einen blutgefüllten Flipchart-Marker und eine schwere Tipp-Ex-Maus und machte sich damit über den »Herr des Cringe« her, dass die Satzzeichen flogen.

Schon nach wenigen Minuten hatte das Manuskript stark an Qualität verloren, weil Sausack es mit windigen Witzchen aus dem Weltbild-Worstseller »Die 101 besten Dad Jokes« angereichert hatte. Außerdem war es ihm gelungen, zwei Plotlöcher in die Handlung zu graben und einen Kontinuitätsfehler im Buch unterzubringen, der dafür sorgte, dass eine brennende Kerze plötzlich länger wurde, nachdem man umgeblättert hatte. Nach weiteren zehn Minuten beschloss er, dass das Werk jetzt abominabel genug sei, um in den Druck zu gehen, und nahm sich außerdem vor, im dunklen Duden nachzusehen, ob das Wort »abominabel« wirklich bedeutete, was er glaubte.

Halt, eins fehlte noch! Er, Sausack, kam ja selbst in dem Buch vor, in mindestens fünf Kapitellen oder wie das hieß. Er griff erneut zum Flipchart-Marker und schüttelte ihn, um das Blut in Wallung zu bringen.

Der UNFASSBAR GUT AUSSEHENDE UND VOLL SYMPATHISCHE dunkle Herrscher, DER AUCH RIESIG MÄCHTIG UND KRASS STARK WAR, machte noch einige REIN STILISTISCHE Verbesserungen im Manuskript, bevor er die Schriftrolle zusammenschnalzen ließ. UNHEIMLICH REICH WAR ER AUCH!!!

»Nimm doch mal einer das Gedöns hier«, rief Sausack und winkte mit dem Manuskript.

Einer kam erneut aus den Schatten gekrochen, nahm das Gedöns und kriegte zum Dank die Tipp-Ex-Maus an den Kopf geworfen.

»Was steht denn als Nächstes auf der To-do-Liste?«, fragte der dunkle Fürst.

»Meinen eure nokturnale Niederträchtigkeit die To-do-Liste oder die Tod-oh-Liste?«, fragte einer.

»Ich habe eine Tod-oh-Liste?«, fragte Sausack, ehrlich überrascht.

»Da stehen alle drauf, die versehentlich und unerwartet eines grausamen Todes sterben werden«, sagte einer, »zum Beispiel Nenn-Großtante Karlheinze.«

»Ich habe eine Nenn-Großtante Karlheinze?«, fragte Sausack, ehrlich überrascht.

»Seit gestern nicht mehr«, sagte einer und strich den Namen durch. »Ist von einem Klavier überfahren worden, o Khan aller Khane.«

»Überraschend, denke ich mal?«

»Vollkommen überraschend«, sagte einer. »In ihrer Badewanne.«

»Oh, äh, ausgezeichnet«, sagte Sausack, »wunderbar niederträchtig. Genau, was ich wollte. Schickt einen Kranz, auf dem steht: Hier kompostiert eine Portion Tote Oma.«

»Köstlich, ganz köstlich, eure Pestilenz.«

»Man muss halt Blutwurst, Leberwurst und Zwiebeln mögen«, sinnierte Sausack. »Wo war ich? Ach so, Tod-oh-Liste schön und gut, aber To-do-Liste war natürlich gemeint.« Er klackte mit langen, dünnen Fingern auf die Armlehne seines Throns, aber nicht, um ungeduldig zu wirken, sondern einfach, weil er das Geräusch von Metall auf Holz mochte.

»Selbstverständlich, o Cäsar der Cenobyten«, schmeichelte einer. »Sie gestatten, dass ich vorlese? Punkt eins: Zähne putzen, Zahnzwischenräume säubern, Zunge schrubben.«

»Das verschieben wir mal auf später«, winkte der dunkle Lord ab.

»Ihr Befehl ist mein Wunsch«, sagte einer, »Dentalhygiene ist wie immer verschoben.« Was einer nicht sagte: Dass ganz Mördör wusste, dass Sausacks Mund eine Kauleiste ihr Eigen nannte, die denken ließ, man habe das Bernsteinzimmer wiederentdeckt.

»Punkt zwei«, fuhr einer fort, »Augentropfen, wegen der schweren Bindehautentzündung. Sieht doch furchtbar aus, wenn Ihr Auge so rot und brennend in Ihrem Leuchtturm hängt, meine Abscheulichkeit, nicht wahr? Wäre es nicht schön, wenn alle sehen könnten, was für strahlende blaue Augen sie eigentlich haben?«

»Näääh«, murrte Sausack, der nicht gern den Helm abnahm, und klackerte weiter auf seiner Lehne. »Verschieben. Hat die Liste meine Frau geschrieben?«

Einer zog es vor, nicht zu antworten, sondern fuhr fort: »Ist verschoben. Punkt drei: Das Handtuchregal im elbfischen Seniorenstil, das so steht, dass man das Badezimmerfenster nie richtig aufbekommt.«

»Verschieben«, stöhnte Sausack.

»Wohin?«

»Ins ...«, Sausack dachte kurz nach, »... Häkelzimmer.«

»Wird verschoben, Ihro Ungnaden«, buckelte einer. »Item vier: Tarifverhandlungen mit der IG metallverarbeitende Urks.« Bevor Sausack etwas erwidern konnte, hatte einer schon »Verschieben?« vorgeschlagen.

»Wart ma. Haben wir noch diese Trolle?«, fragte Sausack. »Die Streikbrecher?«

»Wir haben noch die Bande Steintrolle, die sich ›Die Herren der Schlagringe‹ nennen«, sagte einer. »Sind allerdings keine Streikbrecher, sondern Streikendenzerbrecher.«

»Umso besser«, knurrte Sausack. »Schickst du die zu den ›Verhandlungen‹.« Er machte sich nicht einmal die Mühe, die Anführungszeichen anzudeuten.

»Wird erledigt, o Kalif anstelle des Kalifen«, bestätigte einer. »Punkt fünf: Nächste Woche ist Hochzeitstag, und wir brauchen noch ein Geschenk für die werte Gattin.«

Sausack erschauderte kurz, während sich das Klackern seiner Finger intensivierte. Hinter jedem mächtigen Mann stand bekanntlich eine unsympathische Frau. Eine Frau, die dafür sorgte, dass der Mann möglichst wenig Zeit zu Hause und möglichst viel Zeit mit seinem Beruf (Macht) und seinen Hobbies (Machtausbau) verbrachte.

»Was gab’s noch mal zum letzten Hochzeitstag?«

»Zehn Tage im Kerker, in Ketten, bei nassem Toastbrot, mit Vegemite, in Einzelhaft«, sagte einer. »Abgesehen von den Ratten«, fuhr einer fort, »bis Sie auch die Ratten in Ketten legen ließen, o Erniedriger der Entengrütze.«

»Sie hatte sich doch Urlaub an einem einsamen Ort gewünscht«, murrte Sausack, erhob sich und fing an, seinen Thron zu umrunden. Einer folgte ihm eilfertig mit der To-do-Liste.

»Worüber würde sie sich besonders freuen?«, grübelte Sausack. »Was würde ihre Augen zum Leuchten bringen?«

»Ein niedlicher kleiner Warg?«, schlug einer vor. »Mit extrafluffigem Fell und einer Schleife um den Hals?«

»Ausgezeichnet! Dann schenken wir ihr das genaue Gegenteil!«, rief der dunkle Herrscher und lachte. »Treib mir so’nen ausgemusterten Kampfelefant aus dem Tierheim auf, okay? Am besten kurz vor Olifantenfriedhof. Oh, und auf keinen Fall stubenrein.«

»Sehr wohl«, bestätigte einer, korrigierte den Sitz seines Spüllappens und schluckte. Jetzt kam ein kritischer Punkt, und einer versuchte, so nebensächlich wie möglich zu klingen: »TOP sechs: Zum Hochzeitstag wird auch Frau Schwiegermutter erwartet, o Schah der Schaben.«

Sausack erstarrte. Hinter jedem mächtigen Mann stand bekanntlich eine unsympathische Frau, hinter der eine noch viel, viel unsympathischere Frau stand, was dazu führte, dass der Mann noch viel, viel mehr Zeit in seinem kombinierten Thronsaal-Büro mit Macht und -ausbau verbrachte.

Anderswo wäre so eine Aussage übrigens als sexistisch wahrgenommen worden, aber in Durchschnittserde wurde nie viel Wert auf differenzierte Frauenrollen gelegt.

»Faaaaack!«, ordnete Sausack seine Gefühle. »Das bedeutet bestimmt, dass wir den ganzen Plunder wieder rausholen müssen, den sie uns geschenkt hat.« Er stöhnte.

»Das Porträt des Hochzeitspaars aus Bügelperlen«, fing einer an, aufzuzählen. »Die Vase in anatomischer Herzform. Der Schokospringbrunnen für den Vorgarten.« Sausack machte bei jedem Begriff übertriebene Stöhn- und Sterbegeräusche. »Pat, der Keramikhund. Der Klodeckel mit dem ironischen Spruch.«

»›Eigentlich ist es ja keine Klobrille, sondern ein Klomonokel‹«, erinnerte sich Sausack an die Inschrift.

»Der Eierschalensollbruchstellenverursacher«, fuhr einer fort. »Das Bling-Bling –«

»Halt mal«, unterbrach Sausack. »Was war das noch?«

»Eine Art ... Schmuck?«, sagte einer vorsichtig. Es war nicht leicht zu beschreiben. »Sie hat es selbst gemacht. War sehr stolz darauf. Eure Hinterfotzigkeit haben vor einigen Monaten extra die Geister abgeordnet, es auf keinen Fall aus den Augen –«

»Ach so, ach so, weiß schon«, winkte Sausack ab, dem es tatsächlich gelungen war, den Gedanken an die peinigende Preziose erfolgreich zu verdrängen. »Das muss auf jeden Fall wieder in die Vitrine gegenüber von der Eingangstür. Gab auch noch so’nen rotierenden Präsentierteller dazu. Am besten gleich.«

Das viele Entscheiden, Erinnern und Delegieren hatte Sausack hungrig gemacht. Er legte ein paar Schritte zum eiskalten Büfett zurück, das natürlich so dermaßen im Dunkeln lag, dass er kaum erkennen konnte, was es gab. Sausack glaubte, angebrütetes Schnabeltierei entdecken zu können und Muttermilchmozzarella. Und war das Walnusseis vom lebenden Blauwal?

Er hob ein Schnabeltierei hoch und schnupperte durch den Helm daran, aber roch natürlich nichts.

»Warum sagst du denn nichts mehr?«, fragte Sausack und schob sich ein Ei unter den Helm, ohne es zu schälen.

»Weil ... es gibt da ein bisschen ein Problem«, fing einer an.

»Wn-a-n-onmmm?«, fragte Sausack, der gerade den Mund voll hatte.

»Also, das Bling. Das hat schon länger keiner mehr gesehen.«

»Hä-wm?«, machte Sausack und spuckte Schnabeltierbröckchen gegen die Innenseite seines Helms. »Waf haft du ge’ade gefagt?«

»Dass eure Düsternis extra die Geister abgeordnet hat, das Bling auf keinen Fall aus den Augen zu –«

»Nein, danach!«

»Dass es da ein bisschen ein Problem gibt.«

»Nein, noch danacher!«

»Dass das Bling schon länger keiner mehr gesehen hat.«

»Das habe ich verstanden! Was soll das heißen, länger? Wie lang denn nicht?«

»So ... sechs Monate?«, riet einer.

Der dunkle Lord stand plötzlich genau vor einem und sah einen aus feuerumrandeten, lidlosen Augen an, deren schwarze Pupillenschlitze sich öffneten wie Fenster zum Nichts – zumindest hätte er das getan, wenn Sausack endlich mal den beschissenen Helm abgenommen hätte. Einer wünschte sich nicht zum ersten Mal, er hätte mehr anzuziehen als einen Spüllappen.

»Nashgûlash!«, befahl Sausack, und einer meinte, einen Hauch von Furcht in der Stimme des dunklen Herrschers zu verspüren. »Die Nashgûlash her – und zwar ey-ess-ey-pi. Ich will Antworten!«

»Werde sofortige Kümmerung einleiten, o Baron der böswilligen Belastungen.«

»Gut, gut«, machte Sausack, der immer gerne mit neuen Amtstiteln bedacht wurde; eine Schwäche, die einer kannte und ausnutzte.

Sodass einer eine halbe Stunde später vermeldete: »Die Blinggeister sind jetzt hier, oh Verfechter der unguten neuen Unsitten.«

»Sehr gut«, klackerte Sausack, der sich wieder auf seinen Thron zurückgezogen hatte. »Soll’n nur reinkommen.«

Ganjalf schlug die Augen auf. Als Erstes sah er eine Art Zimmerdecke, was schon mal ein gutes Zeichen war. Und als er an sich herunterblickte, zwei junge Hiphops.

Der erste kniete neben ihm auf dem Boden und war so vertieft darin, seinen Bauch mit einem Edding zu bemalen, dass er nicht bemerkte, dass der Zauberer schon wach war. Wobei mit ›seinem‹ Ganjalfs Bauch gemeint war, der weiß, knochig und erratisch behaart aus einer Lücke in seiner Robe schimmerte. Der Filzstift kitzelte ein wenig, und als Ganjalf noch einmal die Augen schloss, meinte er, zu erkennen, dass der Junge die vertrauten Umrisse der Rune nachzeichnete, die der Zauberer damals in Bibbos Haustür geritzt hatte.

Der zweite junge Hiphop war damit beschäftigt, Ganjalfs Zehennägel rot zu lackieren, praktischerweise gleich mit einer Spraydose.

Ganjalf begann, sich zu regen und zu räuspern – und sofort kreischten die jungen Hiphops auf, ließen klackernd Stift und Spraydose fallen und stürmten davon, dass die Türe schlug.

Apropos Türe – wo war er noch mal? Ach ja, in einem begehbaren Kleiderschrank. Ein Kleiderschrank, der ausschließlich mit Sneakers gefüllt war, von denen einige sogar noch das Preisschild trugen. Offensichtlich hatte er hier geschlafen, stellte der Zauberer zufrieden fest, während seine rechte Hand nach dem Tabak suchte.

Vielleicht hatte er nachts einen Schuhladen geerbt? Oder jemand hatte ihn mit einem Schuhlöffel verwechselt?

Solche Gedanken gingen Ganjalf nach dem Aufwachen häufig durch den Kopf, allerdings auch vor dem Einschlafen und in der Zeit dazwischen. Plötzlich fiel dem Zauberer wieder ein, wo er war: bei seinem alten Freund Bibbo. Das war fast noch besser!