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Zwei spannende Fantasy-Abenteuer für Kinder und Jugendliche ab 11 Jahren! Aber auch Erwachsene werden ihre Freude daran haben! Die Geschichten sind mit dem bekannten Detektiv Gummimann, der die Fähigkeit hat, sich gross und klein zu machen. Diese Fähigkeit hilft ihm, Fälle zu lösen, bei denen andere Detektive scheitern. Aber sie muss ein Geheimnis bleiben, nur ausgewählte Bekannte von ihm, dürfen davon wissen, sonst würde er von Anfragen überrannt. Gummimann ist ein normaler Mensch, kein Held! Beim ersten Fall wird er von einem Herrn Jaeger beauftragt, drei verschwundene Bilder zu suchen. Dieser Jaeger ist ein unsympathischer Mensch und Gummimann traut ihm nicht. Er bekommt von ihm ein Bild, auf dem der vermutliche Ort der Bilder zu sehen seien. Und überraschenderweise findet es sie auch damit. Doch die Bilder zu bekommen ist mit vielen Hindernissen verbunden, bei denen nur seine Fähigkeit hilft. Dieser Jaeger glaubt, dass diese Bilder ihn zu einem angeblichen Schatz führen sollen, und als er ihn nicht findet, vermutet er, Gummimann hätte ihn gestohlen. Er zwingt Gummimann, mithilfe der Bilder ihn zu holen. Aber die Bilder führen ihn nicht zu einem Schatz, sondern in eine andere Welt. Jaeger ist verschwunden, dafür trifft er drei Jugendliche, die zu wissen glauben, wo Schatz ist. Er lernt dabei den Herrn des Lichtes kennen, der das Land beschützen soll, aber nicht kann. Denn der Schatz, ein gläserner Schmetterling, ist die Verbindung zu ihm. Doch der Schmetterling und der Herr des Landes sind verschwunden. Um wieder nach Hause zu kommen und das Land zu schützen, muss er sie mithilfe der drei Jugendlichen suchen. Es muss schnell gehen, denn der Herrscher eines anderen Landes, will dieses überfallen … Ein Jahr später kommt er ein Hilferuf aus diesem Land und Gummimann weiss, dass etwas Schreckliches geschehen sein muss. Widerwillig geht er zurück, und was er dann erlebt, sprengt alle seine Vorstellungen. Der Herr des Lichtes ist verstummt und eine fremde, unheimliche Macht will in die Ländereien eindringen. Seine Hilfe im Kampf gegen diese Macht bringt ihn an seine Grenzen.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Tino Keller
DER HERR DES LICHTES
Detektiv Gummimanns unheimliche Erlebnisse
Ein überarbeiteter Sammelband der Bücher
‘Das Geheimnis der Bilder’ und ‘Nachtjäger’
Fantasy-Abenteuer
für Mutige ab 12 Jahren
Überarbeitet im Januar 2024
Erstausgaben 2014, 2015
Informationen über den Autor und die Bücher auf
www.tinokeller.ch
E-Mail: [email protected]
Februar 2024
Wie sein Name, so ist auch er besonders! Kennt man seine Fähigkeit, weiss man, warum er so heisst. Er kann seine Grösse verändern, sich gross und klein machen. Klein wie eine Maus und ungefähr drei Meter gross. Er muss es nur wollen, schon schrumpft oder wächst er. Doch lange kann er nicht in der veränderten Grösse bleiben, denn je kleiner oder grösser er sich macht, desto anstrengender wird es für ihn. Er selbst beschreibt es so: Es ist, wie wenn man dringend aufs Klo muss und nicht kann, und es braucht Kraft.
Detektiv Gummimann hält seine Fähigkeit geheim und nur seine engsten Kollegen wissen davon. Würde es publik werden, würde das Interesse an ihm so gross, er könnte seinen Beruf als Privatdetektiv nicht mehr ausüben. Aber das Kennen seiner Fähigkeit wird auch geschützt, sollte ihn jemand beobachten und will es weitererzählen, so vergisst er es wie ein Traum. Nur wenn man das Geheimnis nicht weitergibt, bleibt es.
Die Geschichte, ›der Herr des Lichtes‹, spielt in einer anderen Welt, die sich stark von unserer Welt unterscheidet, das macht sie besonders interessant. Beim Überarbeiten war es oft so spannend, ich musste vorauslesen, wollte wissen, wie es weitergeht, obwohl ich es vor fast zehn Jahren selbst geschrieben habe. Aber ich habe sie gekürzt, Unnötiges weggelassen und sie fliessender geschrieben. Jetzt liest sie sich gut, und die Spannung wurde erhöht. Nicht nur für Kinder sind diese Geschichten lesenswert, auch für Erwachsene jeden Alters.
Der Name ›Gummimann‹ bezieht sich natürlich auf seine Fähigkeit. Ich kenne niemanden, der so heisst. Eigentlich ist sein vollständiger Name Martin Gummimann, aber alle, auch er selbst, nennen ihn nur mit dem Nachnamen.
Es gibt viele Geschichten mit ihm, manche wurden nur erzählt, andere aufgeschrieben, viele vergessen. Im Buch ›Gummimann legt los‹ sind einige der Ersten zu lesen. Doch im Laufe der Zeit haben sich seine Fähigkeiten verändert. Am Anfang konnte er sich wesentlich kleiner und auch dick und dünn machen, doch das nahm den Geschichten viel Spannung. Jede Situation konnte er durch Verändern seiner Gestallt lösen. Die Geschichten wurden durch das eher langweilig, auch beim Schreiben. Einst brauchte er noch einen Fingerring, um sich zu verändern, doch auch der verschwand plötzlich.
Trotz Wegfall einiger seiner Fähigkeiten ist Gummimann etwas Besonderes und Liebenswertes geblieben. Man muss ihn einfach gerne haben. Er ist ein normaler Mensch mit Angst, Wut, Freude und Unsicherheit.
Sein bester Freund ist Sir Clearwater, der ihn oft begleitet. Er ist Chef des Schweizer Geheimdienstes, Sektion Nordwestschweiz, ist immer weiss angezogen, und trägt einem Panama Hut. Doch in diesen Geschichten hier spielt er nur eine Nebenrolle.
Die unheimlichen Abenteuer von Detektiv Gummimann versprechen ein fesselndes Leseerlebnis, das sich zu geniessen lohnt! Aber etwas Mut braucht es schon!
Tino Keller
Es war ein herrlicher Morgen, ein angenehm kühler Wind wehte. Noch waren keine Leute unterwegs. Gummimann genoss es, so zu joggen. Frühling im Baselbiet. Das Blühen der Kirschbäume, der blaue Himmel und der Duft und die Geräusche des Waldes, führten bei ihm zu einem Hochgefühl. Ab und zu blieb er stehen, trippelte an Ort, um den Rhythmus nicht zu verlieren, und schaute über die Felder mit den blühenden Bäumen oder ins Tal.
Im Moment hatte er nur kleinere Fälle, die nicht besonders wichtig waren, das gab ihm mehr Zeit und die nutzte er unter anderem, für seine tägliche körperliche Ertüchtigung. Von Wallgisdorf aus, von den Einwohnern Wallgis genannt, joggte er, an den Wiesen und Feldern vorbei den hinteren Wallgberg hinauf, dann weiter durch den Wald und durch das Wallgtal zurück zum Dorf. Ihm schien es kein langer Weg zu sein, obschon es mehr als zwölf Kilometer waren, mit etlichen Steigungen, die es in sich hatten. Beim Aussichtspunkt, auf der Vorderseite des Wallgbergs, blieb er trippelnd stehen, sah zum nördlich gelegenen Basel hinunter, verfolgte den Lauf des Rheins und schaute dem emsigen Treiben der Stadt zu. Von dort waren es noch etwa drei Kilometer bis Wallgisdorf. Auf seiner Route durch die Wälder war er meist allein, und genau das genoss er. Manchmal überlegte er, ob er laut singen sollte, doch aus Rücksicht auf die Waldtiere, liess er es bleiben.
Jetzt noch das letzte Gefälle, dann im Wallgtal die happige Steigung hinauf und er wäre, nach einem kurzen Spurt durchs Dorf, wieder zu Hause. Er wohnte noch nicht lange dort, erst nach seinen Erlebnissen in Amerika zog es ihn aufs Land. Hier war er schneller in der Natur und trotzdem nahe bei der Stadt. Mit dem Auto war es eine Viertelstunde oder eine halbe Stunde, mit dem Bus bis Liestal.
Beim Eingang zum Wallgtal hörte er Schritte hinter sich, die schnell näher kamen. Jemand schien mit grossem Tempo zu joggen. Diese Geschwindigkeit würde er nicht lange durchhalten, ausser es wäre wirklich ein Top-Sportler. Die Schritte begannen ihn einzuholen. Da tauchte zu seiner Rechten ein stark schnaufender Mann auf, der ihn aber nicht überholte, sondern sich ihm anpasste.
»Sie sind doch Privatdetektiv, stimmt's?«, der Mann konnte vor Anstrengung kaum sprechen.
»Ja, bin ich, warum wollen Sie das wissen?«
»Man sagt, Sie seien der Beste auf diesem Gebiet«, sprach er keuchend weiter.
Gummimann fühlte sich zwar geschmeichelt, war aber skeptisch. Einfach so unterwegs angesprochen zu werden, war sehr unüblich.
Der Weg wurde steiler. Auch Gummimann kam ausser Puste. Durch das Gespräch rannte er schneller, als er das an dieser Stelle gewohnt war.
»Man sagt noch viel, wenn der Tag lang ist.«
»Ja, ich weiss«, der Mann verlangsamte keuchend und Gummimann auch, bis beide still standen. »Aber ich hätte einen Auftrag für Sie. Können wir uns für einen Moment setzen?« Er hatte Mühe mit dem Reden und rang nach Luft.
Gummimann willigte ein. Sie setzten sich auf einen Baumstamm, der am Wegrand, mit anderem Holz, für den Abtransport bereitlag. Geduldig wartete er, bis der Mann, ohne nach Luft zu schnappen, reden konnte.
Der Mann war mittleren Alters, so gegen vierzig, hatte kurze, dunkle Haare mit einer modernen Frisur. Er trug eine diskrete Brille und einen Anzug, der zum Joggen überhaupt nicht geeignet war. Auf einer Bank oder als Politiker wäre er mit dieser Aufmachung besser durchgegangen.
»Joggen ist nicht so meine Sache. Sie sind Herr Gummimann.« Gummimann nickte. »Man sagte mir, dass ich Sie hier treffen könnte. Mein Name ist Robert Jaeger, ich bin Kunstsammler und Besitzer einer Galerie in Basel. Ich habe ein grosses Problem, ich brauche Ihre Fähigkeiten als Detektiv.«
»Schön und gut, aber in Sachen Kunst kenne ich mich überhaupt nicht aus, ich glaube kaum, ihnen wirklich helfen zu können. Aber trotzdem, worum geht es?«
»Ja, nun«, Jaeger schaute sich um, als ob er sich vergewissern wollte, dass niemand lauschte. »Es wurden mir drei Bilder gestohlen. Drei wertvolle Bilder von Daniel Progard. Was sie darstellen, weiss ich nicht, ich hatte sie nie gesehen, meist zeigen sie freizügige Damen. Ich nehme nicht an, dass sie Progard kennen. Er lebte von lange in Paris, hatte dort auch seine meisten Bilder gemalt und starb 1982 an Krebs. Seine Bilder sind einzigartig, sie berühren den Betrachter auf eine kaum erklärbare Weise.«
»Und Ihnen wurden die Bilder aus Ihrer Galerie gestohlen? Gibt es Fotos davon?«
»Nein, nicht aus meiner Galerie, es gibt auch keine Fotos davon und ich habe sie, wie gesagt, noch nie gesehen. Sie verschwanden auf dem Weg zu mir. Aber ich habe ein Bild von ihm, das den Ort zeigen soll, wo die Bilder zu finden sind.«
»Und dieser Progard soll damals schon gewusst haben, wo seine Bilder im Jahre 2014 bei einem Diebstahl versteckt werden? Das glauben Sie ja selbst nicht. Das ist unmöglich.«
»Ich sagte Ihnen schon, die Bilder sind einzigartig und wenn Sie das Bild betrachten, verstehen Sie es. Ich möchte einfach, dass Sie mir die Bilder zurückbringen.«
Gummimann war aufgestanden und schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Das ist schwer zu glauben, ich brauche Bedenkzeit. Ich muss es mir zuerst durch den Kopf gehen lassen.«
Jaeger erhob sich auch und schaute Gummimann lange und bittend an. Es sah nicht aus, als gebe er sich einfach so geschlagen.
»Am Geld soll es nicht liegen, sagen Sie mir, was so ein Einsatz kostet. Es ist mir wirklich sehr wichtig, geben Sie mir möglichst bald Bescheid, es eilt, vielleicht sind sonst die Bilder für immer verschwunden oder beschädigt. Hier ist meine Karte, bitte beeilen Sie sich. Ich warte auf Ihren Anruf.«
Er drückte Gummimann eine Visitenkarte in die Hand, verabschiedete sich und ging langsam das Tal hinunter. Gummimann drehte die Karte mehrmals um, als ob er so weitere Informationen darauf finden könnte. Alles kam ihm sehr eigenartig vor. Wie soll ein Bild von einem Maler, der vor mehr als dreissig Jahren gestorben war, zu Bildern führen, die jetzt gestohlen wurden. Jaeger war irgendwie speziell, vielleicht ein Spinner. Langsam ging er durch das Tal nach Hause, es beschäftigte ihn. Joggen war jetzt nicht mehr so wichtig, seine Gedanken kreisten um den eigenartigen Auftrag.
Zu Hause angekommen, setzte er sich an den Küchentisch, er wollte mit Sir Clearwater reden, vielleicht kannte er diesen Jaeger oder den Maler.
Alle paar Tage telefonierte er mit ihm. Clearwater war ein guter Freund und Berater, der ihm oft weiterhalf und gute Ratschläge gab. Er arbeitete beim Schweizer Geheimdienst. Sie vertrauten sich und halfen einander, sollte Not am Manne sein. Clearwater und seine Mitarbeiter waren die Einzigen, die das Geheimnis seiner Fähigkeit, sich gross- und kleinzumachen, kannten.
Dieser Jaeger beschäftigte ihn und da war Clearwater der richtige Gesprächspartner. Er nahm sein Handy und wählte.
»Clearwater«, erklang die sympathische Stimme des älteren Herrn.
»Gummimann. – Hallo Sir Clearwater, alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?«
»Ja, vielen Dank, alles ist bestens und bei Ihnen auch, hoffe ich. Aber so, wie ich Sie kenne, wollen Sie sich nicht nur über mein Befinden erkundigen. Es geht um mehr.«
»Sie haben mich durchschaut.« Gummimann lachte,
»Da bin ich mal gespannt, ich höre.«
»Heute wurde mir ein Auftrag angeboten.«
»Das ist doch schön.«
»Ja sicher, aber der ist seltsam, ich habe noch nicht zugesagt. Darum wollte ich Sie um Rat fragen.«
Er erklärte Clearwater den Sachverhalt.
»Das heisst, Sie wollen, dass ich mich über Robert Jaeger erkundige. Das kann ich machen. In Basel gibt es eine Galerie Jaeger, das weiss ich, aber ihn selbst kenne ich nicht. Den Maler, wie hiess er gleich …?«
»Daniel Progard.«
»Progard, habe ich noch nie gehört, aber das heisst nicht, dass es ihn nicht gibt. Ich kenne viele Maler, aber längst nicht alle, da kann ich Ihnen vermutlich kaum weiterhelfen. Am besten ist, sich im Internet zu informieren. Ich werde mich aber trotzdem umhören.«
»Das habe ich gehofft. Ich werde mich ins Internet stürzen. Wenn Sie aber etwas über diesen Jaeger herausfinden, haben Sie mir schon viel geholfen. Sie haben da mehr Möglichkeiten. Vielen Dank, Sir Clearwater, ich warte auf Ihren Anruf. Ich glaube, ich sage mal zu. Irgendwie reizt mich der Auftrag. Ich kann immer noch aussteigen, wenn ich merke, dass es mich überfordert.«
»Sobald ich mehr weiss, werde ich mich melden.«
»Vielen Dank, Sir Clearwater, bis bald.«
Gummimann hängte auf und stellte seinen Computer an. Ein Ausflug ins Internet war immer spannend. Während der PC im Wohnzimmer hochfuhr, ging er in die Küche und holte sich ein paar Brote und Käse, sein Morgenessen. Es dauerte, bis er den Browser vor sich hatte. Auf Google gab er Daniel Progard ein. Es gab Hunderte von Einträgen über ihn. Meistens waren es Galerien, die Bilder von ihm ausstellten. Einige wenige hatten noch kurze Biografien dabei, aber überall stand ungefähr dasselbe: wann er geboren wurde, wo er arbeitete, wann er starb. Eine Biografie war etwas ausführlicher, sie erwähnte den Krebs-Tod Progards in einer psychiatrischen Klinik in Frankreich. Wo das war, darüber gab sie keine Auskunft. Seine Bilder zeigten meist nur leicht bekleidete Frauen, liegend, schön, aber nichts Umwerfendes. Gummimann war eher enttäuscht, er fand die Bilder fantasielos, immer das Gleiche. Er fuhr den PC herunter und schaute noch lange auf den leeren Bildschirm.
Warum waren Jaeger die Bilder so wichtig? Warum stiehlt sie jemand? Warum musste es plötzlich so schnell gehen? Das waren Fragen, die er sich stellte.
Er betrachtete Jaegers Visitenkarte und überlegte, ob er ihm jetzt oder in ein oder zwei Stunden oder vielleicht sogar erst abends anrufen sollte. Normalerweise freute er sich über neue Aufträge, aber diesmal hatte er ein befremdendes Gefühl. Den Grund kannte er nicht.
Mit dem Handy in der Hand schaute er durch das Wohnzimmerfenster in den Garten und dachte darüber nach. Nach einigem Abwägen entschied er, sich schon jetzt zu melden, hinauszuschieben würde ihm keine Ruhe lassen. Er wählte Jaegers Nummer. Nach zweimal klingeln wurde abgenommen.
»Jaeger.«
»Hallo Herr Jaeger, Gummimann, ich habe es mir überlegt, ich nehme den Auftrag an.«
»Es freut mich, das zu hören.«
»Okay, soll ich zu Ihnen kommen?«
»Nein, treffen wir uns beim Aussichtspunkt mit Blick nach Basel. Dort werde ich Ihnen alles geben, was Sie brauchen. Dann können Sie mir auch den Preis für Ihren Einsatz nennen.«
»Das geht schon, ist aber eher ungewöhnlich. – Wann?«
»16.00 Uhr, geht das?«
»In Ordnung, 16.00 Uhr, beim Aussichtspunkt.«
Sie beendeten das Gespräch und Gummimann schüttelte ungläubig den Kopf.
»Macht mit mir im Wald ab, eigenartig, sehr eigenartig«, sagte er laut zu sich. »Klienten haben manchmal schon komische Wünsche.«
Genau um 16.00 Uhr, traf er beim Aussichtspunkt ein. Robert Jaeger sass schon auf der grünen Holzbank und blickte zur Stadt. Es war ruhig, nur einige Vögel trällerten ihre Lieder und ein Kuckuck rief.
Gummimann überlegte, wie viel Geld er bei sich hatte, der Volksmund sagt: Das Geld, das man beim Ruf eines Kuckuck bei sich trägt, hat man das ganze Jahr. Viel war es nicht.
Er setzte sich zu Jaeger auf die Bank. Dieser trug noch den gleichen Anzug wie am Morgen. Das weisse Hemd hatte er gewechselt, die Schweissflecken waren verschwunden, auch trug er eine andere Krawatte, eine dunkelblaue mit kleinen Ottifanten.
»Hallo, Detektiv, schön, dass Sie gekommen sind, ich befürchtete schon, Sie würden es sich anders überlegen.«
»Ich war nahe daran, muss ich zugeben. Ihr Spezialwunsch, sich hier zu treffen, irritierte mich. Es ist nicht üblich, es heimlich im Wald zu tun. Ausser, Sie führen etwas im Schilde.«
»Nein, keine Angst, da ist nichts Ungesetzliches. Aber ich will nicht gesehen werden. Es braucht niemand von den gestohlenen Bilder zu wissen. Es macht einen sehr schlechten Eindruck und könnte den einen oder anderen dazu verleiten, bei der Konkurrenz auszustellen. So bleibt es unter uns. Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen, Herr Gummimann.«
»Können Sie. Was ist nun genau meine Aufgabe?«
»Wie schon gesagt, die Bilder wiederzubeschaffen. Ich habe hier das Bild von ihm.« Er holte es aus seiner Umhängetasche, wickelte es aus einer Schutzhülle und zeigte es ihm. »Da sehen Sie, in diesem Gebäude sind sie vermutlich versteckt.«
Auf dem Bild war ein grosses Gebäude mit der Statue einer Frau im Vordergrund.
»Und wie wollen Sie das wissen?«
»Ich spüre es, ich bin mir sicher, die Bilder sind da.«
»Und wo soll das sein?«
»Das weiss ich nicht, aber Sie als guter Detektiv, werden es herausfinden, sonst wäre ich enttäuscht. Ich stelle ihnen das Bild zur Verfügung, bis Sie alle Bilder gefunden haben.«
»Normalerweise kann man gestohlene Sachen nicht durch Gefühle finden. Und wie soll ich herausfinden, wo dieses Gebäude mit der Statue ist? Ich kann es versuchen, aber machen Sie sich nicht zu viel Hoffnung.«
»Ich verlasse mich auf Sie, Sie werden das schon hinbekommen. Haben Sie sich überlegt, was Sie für Ihre Arbeit wollen?«
»Der Preis berechnet sich nach Zeitaufwand, ich werde Ihnen am Schluss eine Rechnung zukommen lassen.«
»Das ist gut, meine Adresse und meine Telefonnummer haben Sie ja. Melden Sie sich bei mir, wenn Sie mehr wissen.«
Als Gummimann wieder allein war, schaute er sich das Bild an. Es soll auch von diesem Progard sein. Es war eine genaue Farbstiftzeichnung, war klein, ungefähr zwanzig auf dreissig Zentimeter, mit einem schlichten, schönen Rahmen. Man sah ein altes grosses Gebäude, mit einem Anbau auf der rechten Seite. Es hätte ein Hotel oder auch ein Schulhaus sein können, mit vielen Fenstern. Vermutlich stand es im Wald, schwach sah man Bäume. Die Umgebung war irgendwie wie im Nebel. Das Dach war sehr schwarz, als ob es dort gebrannt hätte. Und dann stand da noch die Statue einer Frau vor dem Gebäude, die nur mit einem Tuch ihre Blösse verdeckte.
Der Rahmen des Bildes war schön, das musste Gummimann zugeben, die Zeichnung selbst war zwar hübsch, aber nichts Umwerfendes. Er versorgte es in der Schutzhülle, genoss noch den Ausblick Richtung Basel, und machte sich auf den Heimweg.
Gummimann sass vor dem Computer. Das Bild hatte er an den Monitor gelehnt, um die Häuser besser vergleichen zu können, die er seit zwei Stunden erfolglos aufrief. Zuerst suchte er Schulen, dann alte Hotels und jetzt war er bei Kliniken angekommen. Viele Gebäude glichen der Zeichnung, aber sie waren es nicht, sie hatten entweder weniger oder andere Fenster, waren höher oder die Umgebung stimmte nicht, viele waren zu neu oder seit Jahren abgerissen. Es war zum Verzweifeln. Wie sollte er jemals herausfinden, welches Gebäude es ist und wo es stand? Vielleicht wurde es abgerissen oder umgebaut und sah jetzt vollkommen anders aus. Das Bild war mindestens dreissig Jahre alt und in dieser Zeit konnte sich vieles ändern. Vielleicht brachte ihn die Statue weiter. Doch auch da musste er bald aufgeben, es gab Hunderte Bilder von ähnlichen Statuen. Wahrscheinlich war es eine Kopie, wie die meisten Abgebildeten. Trotzdem fand er nach längerem Suchen zwanzig Fotos mit genau dieser Statue, die an verschiedenen Orten standen, doch auch hier passte keine. Frustriert lehnte er sich im Stuhl zurück, verschränkte die Hände im Nacken und schloss die Augen.
»Wie soll ich da weiter kommen?«, sprach er laut mit sich.
Er setzte sich in seinen Polstersessel. Das Bild von diesem Progard, machte ihn fast wahnsinnig, keine Anhaltspunkte, ausser der Vermutung es könnte in Frankreich sein. Noch immer hatte er Mühe zu glauben, die gestohlenen Bilder seien dort. Er zweifelte stark an Jaegers Gefühl, es müsse in diesem Gebäude sein. Es war dunkel geworden, er spürte erst jetzt, wie hungrig er war. Er hatte die Zeit vergessen. Im Kühlschrank fand er nur noch etwas Aufschnitt.
Sein Handy meldete sich mit 'Axel F', das konnte nur Sir Clearwater sein.
Ihn hatte er gebeten, über Robert Jaeger und den Maler Progard Informationen einzuholen. Da er als Chef beim Geheimdienst der Nordwestschweiz arbeitete, hatte er mehr Möglichkeiten. Er war ein älterer Herr und sein Markenzeichen war seine weisse Kleidung und sein weisser Panamahut. Bei vielen seiner Fälle hatte er ihm geholfen und das hoffte er auch jetzt.
»Gummimann.«
»Clearwater, ich hoffe, ich habe Sie um diese Zeit nicht gestört.«
»Nein, sicher nicht, bis Mitternacht können Sie mich problemlos anrufen.«
Er setzte sich an den Küchentisch und packte mit einer Hand die Wurst aus, mit der anderen hielt er das Telefon.
»Ich sollte doch für Sie Nachforschungen über Robert Jaeger anstellen. Da gibt es aber nicht viel. Er hat eine gut gehende Galerie in Basel, keine Vorstrafen, ist bis jetzt nur durch seine Seriosität aufgefallen. In Bottmingen, im Bertschenacker hat er ein Haus, ist verheiratet, hat zwei kleine Kinder, und ist Mitinhaber der Galerie Fantos in Zürich. Das wäre alles. Nicht viel und nichts Negatives.«
»Das ist gut, ich habe ihm nämlich zugesagt, er hat mir noch ein Bild von diesem Progard gegeben. Auf diesem Bild sieht man den Ort, so behauptet er, an welchem die Diebe die Bilder versteckt hätten. Verrückt, was? Ich habe den Ort nicht gefunden, vermutlich gebe ich ihm das Bild wieder zurück und beende den Auftrag.«
»Das wäre schade. Apropos, Sie fragten mich noch nach diesem Progard, ich habe nur eine kurze Biografie von ihm gefunden. In dieser steht, er arbeitete einst in Paris und wäre dann bis zu seinem Tod in einer psychiatrischen Anstalt in Eggerswiller im Elsass gewesen.«
»Ja, ich weiss, er war in einer Anstalt. Wo sagten Sie? Sie haben einen Ort?«
»In Eggerswiller im Elsass, so mindestens steht es in der Biografie der Galerie Breitenmoser in Basel.«
»Glauben Sie mir, Sir Clearwater, Sie haben mir so was von weitergeholfen. Vielen Dank, ich kenne jetzt mein nächstes Ausflugsziel. Ich werde mich wieder bei Ihnen melden.«
Gummimann hängte auf, das Essen konnte warten.
In Google gab er Eggerswiller ein. Es gab viele Einträge, die meisten waren Namen von Leuten, die im Elsass wohnten. Einen Eintrag gab es von einem Dorf namens Eggerswiller, ein Restaurant wollte umbauen und es musste ausgeschrieben werden. Aber von einer Klinik stand nichts. Auf Google Maps fand er den Ort. Es gab dort nur wenige Häuser und eines davon war wohl das Restaurant. Doch eine Klinik entdeckte er auch auf dieser Karte nicht. Trotzdem beschloss er nach Eggerswiller zu fahren, aber das hatte Zeit bis morgen. Er setzte sich wieder in die Küche und ass sein verspätetes, spärliches Abendessen.
Eine Fahrt durchs Elsass ist meistens entspannend und schön, wenige Autos, kleine Dörfer, grosse Wälder und Wiesen, noch sehr ländlich. Einzig, die Autos hier fuhren schnell und überholten an den unübersichtlichsten Stellen. Auch wenn man glaubt, rassig zu fahren, versuchten sie noch vorzudrängen. Hat man eine Schweizer Autonummer, wie Gummimann, glauben die Elsässer, man würde schleichen. Seit einer Stunde war er unterwegs, sein Navi sollte ihn nach Eggerswiller bringen. Er war erstaunt, dass es einen so kleinen Weiler überhaupt kannte. Es war noch früher Morgen, viele Bauern waren mit ihren Traktoren unterwegs und er musste oft warten oder hinter ihnen her schleichen. Für die Einheimischen kein Problem, sie überholten sie, aber ihm fehlte der Mut dazu. Plötzlich forderte ihn sein Navi zum Wenden auf, er musste eine Abzweigung verpasst haben. An einer Bushaltestelle stoppte er. Im Rückspiegel versicherte er sich, dass kein Raser ihn überholen wollte und wendete. Etwas langsamer fuhr er den Weg zurück, doch die Dame vom Navi forderte ihn nicht zum Abbiegen auf. Nach einem Kilometer hielt er an. Ein Bauer war damit beschäftigt, seinen Anhänger zu entladen.
»Hallo Monsieur, Bonjour, ich möchte nach Eggerswiller.«
»Oui, Eggerswiller, à droite!« und zeigte mit der Hand die Richtung. Gummimann war froh, hat er es nur gezeigt, sein Französisch war nicht gerade berühmt.
Er bedankte sich, der Bauer arbeitete weiter. Bei der nächsten Abzweigung sah er tatsächlich den Wegweiser nach Eggerswiller. Nach weiteren zehn Minuten erreichte er drei Bauernhäuser und ein Restaurant. Ein Baugerüst zierte das Restaurant, ein Anbau war neu erstellt worden. Einige Arbeiter malten an der Fassade. Nicht mehr lange und das Werk würde vollendet sein. Er parkte davor und ging zum Eingang. Gross stand auf einem Schild ›Fermé‹ mit einer Erklärung, die er aber nicht verstand. Trotzdem klopfte er. Im oberen Stock ging ein Fenster auf. Eine junge Frau, mit kurzen, blonden Haaren und einer Zigarette im Mund, blickte hinaus. Gummimann hoffte, sie spreche Deutsch.
»Hallo, Bonjour Madame, parlez vous allemand.«
»Bonjour Monsieur. Ja, womit kann ich behilflich sein?«, fragte sie in typischem Elsässer Dialekt.
»Ich suche eine Klinik, die muss hier in Eggerswiller sein, eine psychiatrische Anstalt, ziemlich gross.«
»Noch nie davon gehört, aber ich wohne erst seit Kurzem hier. Doch fragen Sie Pierre, der wohnt schon lange hier, der weiss Bescheid.«
»Und wo finde ich diesen Pierre?«
»Dort sitzt er«, sie zeigte zum nächsten Bauernhaus, »da, auf dem Bänkchen, er ist alt, aber weiss alles über Eggerswiller.«
Sie verabschiedete sich und schloss das Fenster. Gummimann überquerte den grossen Platz und ging den Weg zum alten Bauernhaus hinauf. Ein alter Mann sass Pfeife rauchend auf einer Bank. Sein langer, grauer Bart und sein schütteres Haar zeugten von seinem Alter, aber seine Augen waren hellwach. Sein Haus war nicht mehr im besten Zustand, überall bröckelte der Putz, aber das schien ihn nicht zu stören.
»Sie sind Pierre, stimmt's?«
»Oui, das bin ich, wer will das wissen?«
»Ich heisse Martin Gummimann, bin von der Schweiz und suche eine Klinik. Es soll ein grosses Gebäude sein.«
»Ja, ich weiss, für Bekloppte. Die gab es hier, ist aber vor dreissig Jahren abgebrannt. Marta, meine ehemalige Frau, Gott hab sie selig, arbeitete dort. Nach dem Brand war alles vorbei, die Klinik wurde für immer geschlossen. Es gab viele Tote, Monsieur. Meine Frau hatte an diesem Tag frei, ihr Glück. Das waren noch Zeiten, damals. Jetzt gibt es hier nur noch das 'la Poste', früher war das sogar wirklich eine Post, jetzt nur noch ein Restaurant, für Leute mit Geld.«
Die Pfeife war ausgegangen, er betrachtete sie lange.
»Gibt es noch etwas von der Klinik?«
»Oui Monsieur, im Wald, ich weiss aber nicht, ob der Weg dorthin noch befahrbar ist. Viel sehen Sie da nicht mehr, das meiste ist eingestürzt, aber man kann sich noch gut vorstellen, wie gross die Klinik war. Hinter dem Restaurant geht der Weg durch den Wald, zu Fuss vielleicht dreissig Minuten. Ich würde das Auto hier lassen. Aber man munkelt, dass es in der Klinikruine Geister gäbe.« Er kicherte und machte eine abwinkende Geste. »Dummes Geschwätz!«
Er hatte Streichhölzer aus seiner Hosentasche gefischt und versuchte nun, seine Pfeife wieder zum Brennen zu bringen.
Gummimann bedankte sich bei Pierre. Dieser winkte ab und lachte, er zündete ein weiteres Streichholz an, hielt es an die Pfeife und saugte Luft ein.
Aus seinem königsblauen Peugeot 107 – klein, aber fein, Gummimann war stolz auf ihn – holte er noch ein paar Sachen, die er für seinen Ausflug zur Klinik wichtig fand. Er hatte Pierres Bemerkung, das Auto auf dem Parkplatz stehenzulassen, ernst genommen. Eine halbe Stunde Fussmarsch ist gesund und die Gegend hier ist schön. Das Wetter stimmte auch, blauer Himmel, ein schwaches Lüftchen wehte, nicht zu warm. Nochmals kontrollierte er, ob er alles bei sich hatte: Progards Bild, die Taschenlampe, das Taschenmesser und sein Handy.
Der Weg führte um das Restaurant herum zum Wald. Im Wald wurde der Weg schlechter, mit kleinen Bäumen und Gras auf der Fahrbahn, man merkte, der wurde selten benutzt. Vom Teer war kaum mehr was zu sehen.
Nach zwanzig Minuten kam er an eine Abzweigung. Das leere Gestell eines Schildes, vermutlich einst mit dem Namen der Klinik, zeigte zum Eingang. Ziemlich sicher konnte dieser Teil früher abgesperrt werden, aber nur Reste eines Zauns, waren noch vorhanden, das Tor fehlte. Noch kurz ging es den Weg entlang, dann stand er vor der Ruine der Klinik. Sie musste wirklich gross gewesen sein. Doch der Wald hatte sich seinen Platz zurückerobert, nur noch ein kleiner Teil der ehemaligen Klinik war durch die Bäume zu sehen. Einst war das, worauf er stand, wahrscheinlich der Parkplatz, jetzt aber wäre es unmöglich, ein Auto dort abzustellen. Das Dach des Gebäudes fehlte, und die oberen Stockwerke waren nur noch andeutungsweise vorhanden. Das meiste war eingefallen und auf den Mauern machte sich die Natur breit.
Gummimann kämpfte sich der Klinik entlang durch den Wald und stand plötzlich vor der Statue der nackten Dame. Sie lächelte und hielt brav das Tuch über ihre Blösse, wirklich frisch sah sie aber nicht mehr aus, der Zahn der Zeit hatte ihr ziemlich zugesetzt. Er hielt an und nahm das Bild von Progard aus der Tasche. Von hier aus hatte er einen etwas besseren Überblick. Es musste einst wirklich eine stolze Klinik gewesen sein. Warum sie abgebrannt war, wusste er nicht. Viele Teile des Hauses waren fast nicht mehr vorhanden, nur das Gebäude am südlichen Ende stand zum Teil noch.
Da überkam ihn ein eigenartiges Gefühl, ein Gefühl, das ihn zu einer Tür im hinteren Klinikteil führte. Und er wusste plötzlich, dort waren die Bilder. Gummimann war irritiert, auch Jaeger behauptete doch, den Fundort der Bilder gespürt zu haben und genau das geschah jetzt bei ihm. Er wusste, wo er suchen musste. Er kletterte durch das dichte Unterholz, über eine kaum mehr vorhandene Stacheldrahtbarriere, zur Klinik. Dann vorbei an Fenstern ohne Scheiben, zu einer Tür, wahrscheinlich einst der Lieferanteneingang, der auch auf dem Bild zu sehen war. Sie war zu, aber nicht abgeschlossen. Doch sie klemmte, die ersten Versuche, sie zu öffnen, scheiterten. Er stellte die Tasche mit dem Bild an die Mauer und stemmte sich mit voller Kraft dagegen. Langsam gab sie nach, und er konnte sie so weit öffnen, um hindurchzukommen. Drinnen war es dunkel, das Licht von der Tür reichte nicht weit. Ein muffiger Geruch schlug ihm entgegen. Er knipste seine Taschenlampe an. Ein langer, schmaler Korridor, mit schimmligen Wänden, führte zu mehreren Türen, die rechts und links abgingen. Welches die richtige Tür war, musste er nicht ausprobieren, er wusste es. Ein Geräusch liess ihn herumfahren. Die Eingangstür hatte sich geschlossen. Erstaunlich, hatte er doch grosse Mühe, sie zu öffnen, und jetzt schloss sie sich von selbst. Ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, ging er zu der Tür, bei der die Bilder waren. Auch hier war es dunkel, ausser einem schwachen Lichtschimmer an der Decke. Irgendwo muss ein Fenster sein. Vor ihm lag ein riesiger Schuttberg, als sei dort die Decke eingestürzt. Aber die war unbeschädigt. Das Licht kam von der anderen Seite des Schuttbergs. Um dorthin zu kommen, musste er darüber klettern. Plötzlich fiel ihm mit lautem Getöse ein Stück Beton vor die Füsse, dieses hatte sich wirklich von der Decke gelöst. Gummimann kletterte darüber. Hinter ihm lösten sich immer mehr Betonteile und begannen den Eingang zuzuschütten, bis er unpassierbar war. Glücklicherweise wurde er nicht getroffen, doch der Rückweg war ihm versperrt. Das Ganze hatte sich wieder beruhigt. Misstrauisch schaute er zur Decke, er befürchtete, es könnte noch mehr herunterkommen.
Er wollte so schnell wie möglich weiter und begann auf den Schuttberg zu klettern. Sein Ziel die andere Seite, eine Alternative gab es nicht. Jetzt kam seine Fähigkeit zum Zug. Im oberen Drittel machte er sich kleiner. Solang er seine Taschenlampe in der Hand hielt, schrumpfte sie mit. Obwohl er jetzt klein war, musste er auf allen vieren durch den Spalt kriechen. Spitze Steine und scharfe Metallstücke zwangen ihn, es langsam anzugehen. Der Schuttberg war viel grösser, und der Spalt viel schmaler, als er dachte. Ohne sich kleinzumachen, hätte er keine Chance gehabt. Doch die helle Stelle kam immer näher und bald hatte er es geschafft, er war auf der anderen Seite.
Das Licht kam aus einem weiteren Raum, dort musste das Fenster und die Bilder sein. Wieder gross, kletterte er vom Schuttberg hinunter. Er war immer froh, wenn seine Grössenveränderungen nicht zu lange dauerten, denn je kleiner oder grösser er sich machen musste, umso anstrengender war es. Trotz des Kleinmachens war er ziemlich staubig, er schüttelte mit der Hand die Haare aus, den Rest verschob er auf nachher. Die Taschenlampe brauchte er hier nicht, es war hell genug. Vor ihm der Durchgang zum nächsten Raum. Die Tür fehlte, doch ein Brett versperrte den Weg. Vermutlich war einst der ganze Durchgang zugenagelt. Er wollte darüber klettern, doch vor ihm war ein tiefes Loch. Erst nach ein paar Meter begann der Boden wieder.
Ihm kam plötzlich Pierre in den Sinn, der von Geistern sprach, die es hier geben soll. Waren diese Hindernisse ihr Werk? Eigentlich glaubte Gummimann nicht an solche Sachen, aber langsam vermutete er, es könnte doch stimmen.
Um seinen Auftrag zu erfüllen, musste er auf die andere Seite. Zuerst überlegte er, hinüberzuspringen, doch es war zu weit. An den Rändern entlang angeln ging nicht, es gab keine Kanten, wo er sich festhalten konnte. Das Einzige, was möglich war, und das liebte er überhaupt nicht, war der Brückentrick. Dazu stellte er sich an den Rand des Lochs, machte sich möglichst gross und hoffte, dass die Distanz stimmte. Dann liess er sich nach vorne fallen und fing sich mit den Händen auf dem Boden der anderen Seite auf und hielt sich daran fest. Indem er sich wieder kleiner machte, fiel er gegen die gegenüberliegende Wand und zog sich dort hoch. Nicht einmal die Knie hatte er an der Wand angeschlagen.
Weitere solche Löcher hoffte er nicht anzutreffen. Um sicher zu sein, dass der Boden hielt, stampfte er ein paar Mal fest, er hielt. Ein Blick zurück, liess ihn staunen, es sah aus, als ob jemand den Boden herausgesägt hätte. Den gleichen Weg zurück, konnte er vergessen, schon wegen der eingestürzten Decke, aber er würde einen Rückweg finden, davon war er überzeugt.
Das Wichtigste waren im Moment die Bilder. Er spürte sie, wie der Hinweis bei Progards Klinikbild. Irgendwo hier müssten sie sein. Nur, wo sollte er mit dem Suchen beginnen?
An den Wänden, über dem intakten Boden, hingen alte Plakate verschiedener Veranstaltungen der Umgebung und Bilder von sehenswerten Orten, die man besuchen sollte.
Er spürte die Bilder immer stärker und ohne lange suchen zu müssen, entfernte er ein Plakat und darunter hing das erste Bild: Eine auf einem Couch sitzende leicht bekleidete Dame, die träumerisch zu einer kleinen Uhr blickte, die an der Wand hing. Man sah sie von der Seite, sie schien zu lächeln. Das Bild war ungefähr so gross wie das Klinikbild, eine sehr gute, detailreiche Zeichnung.
Gummimann war zufrieden, den ersten Drittel der Aufgabe gelöst zu haben.
Die andern Bilder würde er hinter den restlichen Plakaten finden. Vorsichtig nahm er das Bild von der Wand und rollte es auf. Das nächste Plakat, ein Wettrennen von Landmaschinen, hing neben dem Fenster, aber dahinter war nichts. Auch nicht hinter dem Nächsten. Er holte alle Plakate von der Wand, aber kein weiteres Bild kam zum Vorschein. Auch das Gefühl blieb aus. Er musste sich eingestehen, hier gab es nur dieses Bild zu holen, die anderen waren an anderen Orten. Er seufzte, der Auftrag schien schwieriger zu sein, als er dachte.
Das Fenster war ein Kippfenster. Vermutlich war der Raum einst eine Waschküche. Gummimann hängte es aus, klappte es herunter und kletterte mit der Plakatrolle ins Freie. Er musste sich nicht einmal kleiner machen. Es ärgerte ihn, sich den ganzen Weg durch den Keller gekämpft zu haben, durch das Fenster, wäre es viel einfacher und schneller gewesen. Egal. Hauptsache, er hatte das Bild und die andern würde er auch noch finden, davon war er überzeugt. Beim Lieferanteneingang stand noch immer seine Tasche mit dem Klinikbild. Ihn interessierte, ob sich die Tür nun einfacher öffnen liess, nachdem sie sich von selbst geschlossen hatte. Er drückte die Klinke nach unten und versuchte, sie zu öffnen. Sie war abgeschlossen, auch stossen brachte nichts. Irritiert liess er es bleiben. Kopfschüttelnd nahm er die Tasche, versorgte die Plakate mit dem Bild hinein und machte sich auf den Weg zurück zum Auto. Bei der Statue blieb er stehen und betrachtete nochmals das Klinikbild, er hoffte, es würde ihm zeigen, wo die nächsten Bilder zu finden waren. Lange studierte er es, doch er spürte weder etwas noch fand er einen Hinweis. Er glaubte ein Lachen zu hören.
Als er beim Auto eintraf, wartete Pierre auf ihn. Er hatte wieder seine Pfeife im Mund, aber rauchte nicht. In der Hand hielt er ein Plastikmäppchen.
»Bonjour Monsieur, haben Sie die Klinik gefunden? Viel ist da ja nicht mehr.«
»Oui Pierre, in der Tat, viel gibt es nicht mehr. Aber nochmals vielen Dank für die Hilfe.«
»De rien, das ist in Ordnung. Ich habe noch einen Zeitungsartikel vom Brand der Klinik gefunden, sogar auf Deutsch, den habe ich damals aus einer Zeitung ausgeschnitten. Ja, die alten Zeiten, da gab es noch deutschsprachige Zeitungen, aber jetzt, rien, nichts, schlimm.«
Er übergab Gummimann das Mäppchen.
»Ich kann eine Kopie davon machen lassen.«
»Non, ce n'est pas nécessaire, behalten Sie es, ich brauche es nicht mehr. Au revoir, Monsieur.«
Mit einem kurzen Winken mit seinem Gehstock verabschiedete er sich, kicherte und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Hof. Gummimann versorgte das Mäppchen in die Innentasche seiner Jacke und schaute dem alten Mann erstaunt nach.
Auf dem Heimweg fuhr er im nächsten Dorf zur Mairie, das Gemeindehaus. Er wollte nach den Namen, der beim Brand gestorbenen Menschen fragen. Da es dreissig Jahre her war, mussten sie die Unterlagen lange suchen und gaben ihm schlussendlich eine Kopie. Fast zufrieden mit dem Resultat fuhr er zurück nach Wallgisdorf.
»Gummimann.« Er hatte das Handy zwischen Ohr und Schultern geklemmt, damit beide Hände frei waren, und versuchte, ein Stück Brot abzuschneiden.
»Clearwater, hallo Detektiv, hat es geklappt, haben Sie die Bilder?«
Das Brot war hart und liess sich sehr schlecht schneiden, er hätte Frisches einkaufen sollen.
»Eines, ja, aber wirklich nur eines und dieses zu bekommen war keine einfache Sache.«
Das Schneiden gab er auf. Er nahm das Handy in die Hand und setzte sich an den Küchentisch.
»Und die andern beiden Bilder, gibt es die überhaupt?«, wollte Clearwater wissen.
»Vermutlich gibts die, nur wo die sind, weiss ich noch nicht. Mal sehen, ob das Klinikbild noch Geheimnisse freigibt.«
»Ich sehe schon, Sie machen es gut, dann hat Ihnen der Ort doch geholfen. «
»Ja, eines war dort, die andern werde ich auch noch finden. Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich mehr weiss. Ach ja, Progard ist beim Brand nicht gestorben, ich bekam eine Liste der damals Verstorbenen und da war er nicht dabei.«
»Das habe ich mir gedacht, er soll ja an Krebs gestorben sein. Ich habe mich mal umgehört, niemand kennt den Ort seines Todes und wo er begraben wurde. Das ist eigenartig, wirklich Herr Gummimann, sehr eigenartig. Also, ich höre von Ihnen.«
Sie verabschiedeten sich, Gummimann legte das Handy auf den Tisch und schaute zum Fenster hinaus.
Der Auftrag wurde langsam unheimlich, ein Maler, der gestorben sein soll, aber niemand weiss wo, ein Bild, das Gefühle aussendet, eine Tür, die selbstständig zugeht und sich dann nicht mehr öffnen lässt, eine Decke, die einstürzt und so weiter. Es mögen Zufälle sein, aber so viele? Richtig glauben konnte er es nicht.
Sein Hunger plagte ihn, er musste etwas essen. Leider hatte er in Frankreich nicht eingekauft, dort wäre es billiger gewesen. Aber zum Glück war der Laden hier nicht weit.
Als er zurückkam, biss er beherzt in eines der Brötchen, belegt mit Schinken. Brot war aus. Vor ihm lag das Klinikbild, aber irgendwie hatte es sich verändert. Der Nebel war nicht mehr so dicht und er sah einen Turm. Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen, einfach übersehen konnte man es nicht. Von einem Turm bei der Klinik wusste er nichts, den hätte er sicher sehen müssen. Auf dem Bild war der Turm oberhalb des Gebäudes dargestellt, und wirkte sehr dominant, während die Klinik jetzt wie nebensächlich, leicht unscharf aussah. Die Details, die er am Anfang so bewundert hatte, fehlten. Erst jetzt fiel ihm auf, auch die Statue war verschwunden. Das Bild hatte sich stark verändert. Er bekam richtig Herzklopfen bei dieser Erkenntnis. Um sich zu beruhigen, atmete er ein paar Mal tief durch. Die Statue war verschwunden, der Nebel zurückgegangen, der Turm erschien, es war nicht mehr das Bild, das er bekommen hatte. Ob sich auch das Bild von der sitzenden Dame änderte?
Gummimann nahm ein weiteres Brötchen, füllte es mit Schinken, und rollte das Bild mit der Dame auf. Lange betrachtete er es, es schien sich nicht verändert zu haben. Doch so genau hatte er es vorher nicht angesehen, vermutlich würde ihm eine Änderung gar nicht auffallen. Er legte es wieder zurück und studierte erneut das Bild mit dem Turm, und spürte, der würde sein nächstes Ziel sein.
Das grösste Problem war wieder der Ort. Wo könnte so ein Turm stehen? Er war rund und nicht sehr gross, das Dach auf der Vorderseite beschädigt, im oberen Teil gab es ein Fenster, natürlich ohne Glas, wie das alte Türme so an sich hatten, dafür hatte es ein Eisengitter. Vermutlich gab es viele ähnliche Türme. Bei der Klinik war er nicht, das war ihm bewusst. Wieder gab es eine Internet-Suche.
Während der Computer hochfuhr, holte er ein weiteres Brötchen mit Schinken und machte das Licht an, langsam wurde es dunkel.
Zuerst suchte er im Elsas. Dann rief er die erste Gemeinde auf, es war Ferrette. Er wusste, dort gab es eine Burgruine namens Hohenpfiert, mit zwei Türmen, die ein Teil der früheren Befestigungsmauern waren. Diese entsprachen jedoch dem gesuchten Turm überhaupt nicht. Er versuchte es beim nächsten Ort mit einer Ruine, dann bei weiteren. Nirgendwo gab es einen Turm, der dem auf dem Bild glich. Enttäuscht hielt er die Hände hinter seinen Kopf, gähnte, und massierte sich seinen Nacken, um zu entspannen. Zwei Stunden war er jetzt geistig durchs Elsass gesurft ohne Resultat, er würde sich wohl auf die Schweiz konzentrieren müssen.
Die Brötchen waren aufgebraucht und er musste den restlichen Schinken ohne essen. Sein Kopf brummte, leichte Kopfschmerzen machten sich bemerkbar, er hatte zu lange angestrengt auf den Bildschirm geschaut. Das Beste, um wieder fit zu werden, waren ein paar Schritte zu gehen, so konnte er seinen Geist lüften. Er zog die Jacke an und wollte das Licht löschen, als er etwas in der Innentasche spürte. Zuerst dachte er, es sei ein Werbeprospekt, welcher er noch nicht entsorgt hatte, dann aber erinnerte er sich an Pierre, der ihm beim Parkplatz ein Plastikmäppchen mitgegeben hatte. Die frische Luft war vergessen, er zog die Jacke wieder aus, warf sie auf einen Stuhl und setzte sich an den Küchentisch. Im Mäppchen war der Zeitungsartikel des Brandes der Klinik. Es wurde über die Probleme der Feuerwehr, zum Gebäude zu kommen, berichtet. Auch über den Wasserdruck, der zu schwach war und das Löschen schwierig bis fast unmöglich machte. Zum Glück hatte es nur noch wenige Insassen, aber zwei starben an Rauchvergiftung, drei verbrannten. Einige der Überlebenden wurden nach Paris in eine Anstalt gebracht, die anderen in eine betreute Wohngemeinschaft in einem Bauernhaus in Büren, im Kanton Solothurn in der Schweiz. Gummimann schluckte leer. Büren wäre nah, aber gibt es dort den gesuchten Turm? In Paris danach zu suchen, wäre schwierig und aufwendig. Er setzte sich erneut vor den Computer und hatte schon nach ein paar Sekunden, die Homepage von Büren auf dem Bildschirm. Unter Geografie gab es tatsächlich einen Eintrag über die Ruine Sternenfels und ihrem Turm, sogar mit Bild. Es war der Gesuchte, er hatte ihn gefunden. Am liebsten hätte er sofort Clearwater angerufen, um ihm seinen Erfolg mitzuteilen, aber es war zu spät und morgen würde auch wieder ein Tag sein. Auch musste er dann noch Jaeger Bescheid geben, darauf freute er sich weniger.
Am nächsten Morgen noch vor dem Kaffee, und das hiess etwas bei Gummimann, rief er Clearwater an.
»Herr Gummimann«, sagte die Stimme am anderen Ende.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt.«
»Nein, es ist acht Uhr, seit einer Stunde bin ich am Arbeiten.«
»Sehr gut. Ich vermute, zu wissen, wo das nächste Bild zu finden ist. Wahrscheinlich ist es in Büren, Kanton Solothurn, im Turm der Ruine Sternenfels.«
»Aber sicher sind Sie nicht?«
»Nein, bin ich erst, wenn ich es dort gefunden habe. Aber mein Gefühl sagt mir, dass ich recht habe.«
»Nicht schlecht. Und wie sind Sie zu dieser Information gekommen?«
»Auf einem alten Zeitungsausschnitt, den ich in Eggerswiller erhalten habe, wurde Büren erwähnt. Einige der Insassen wurden dort in eine betreute Wohngemeinschaft verlegt.«
»Und wieso glauben sie, es sei im Turm?«
»Ja, das ist eher unheimlich. Das Bild von der Klinik, welches ich von Jaeger bekommen habe, veränderte sich plötzlich. Am Anfang war um die Klinik herum nur Nebel, dann löste sich dieser auf, der Turm erschien und die Klinik trat in den Hintergrund. Es war richtig unheimlich.«
»Es veränderte sich, sagen Sie, das ist wirklich seltsam. Und Sie sind sicher, den Turm vorher nicht einfach übersehen zu haben?«
»Ganz sicher, es hat sich verändert, so unwahrscheinlich das klingen mag. Aber wer ist dieser Progard, dass er solche Bilder malen kann?«
»Es ist fast nicht zu glauben, aber ich werde mich noch genauer über diesen Progard informieren.«
»Das ist gut, Sir Clearwater. Und ich fahre nach Büren, dann weiss ich vielleicht mehr.«
»Viel Glück, Herr Gummimann, aber seien Sie vorsichtig.«
»Bin ich immer, Sir Clearwater, bin ich immer« und hängte auf.
Gummimann machte sich einen Kaffee und setzte sich wieder an den Küchentisch. Es war ein schöner Morgen, eigentlich der perfekte Tag zum Joggen, doch Büren und die Bilder waren ihm wichtiger. Er glaubte nicht mehr an Diebe und den Diebstahl, es war etwas anderes und Jaeger wusste das. Aber was? Dieser Progard ging ihm nicht aus dem Sinn. Woher wusste der schon vor dreissig Jahren, wo die Bilder sein würden? Oder hatte Jaeger den angeblichen Diebstahl nur als Vorwand genommen? Vermutlich hatte Progard vor dreissig Jahren die Bilder selbst versteckt, aber warum?
Der Anruf zu Jaeger lag ihm auf dem Magen. Was sollte er ihm sagen, sollte er ehrlich sein? Er beschloss, ihm von seinem Fund noch nichts zu erzählen, zuerst wollte er alle Bilder finden und dann weiter sehen. Er war überzeugt, Jaeger hatte ihn angelogen, er wusste mehr. Warum nur machte er so ein Geheimnis darum. Er wählte seine Nummer. Es läutete, einmal, zweimal, dreimal, niemand nahm ab. Nach weiteren fünfmal Klingeln wollte er gerade auflegen, als sich doch noch eine verschlafene Stimme meldete.
»Ja, hallo.«
»Gummimann. Sind sie es, Herr Jaeger?«
»Ja, ich bin es«, tönte es gähnend. »Guten Tag, Herr Gummimann, haben sie neue Informationen?« Wieder musste er ein Gähnen unterdrücken.
Jaeger war noch nicht ganz wach. Aber Gummimann war das egal.
»Ja, ich vermute, ich weiss jetzt, wo die Bilder sind«, erklärte Gummimann, »ich glaube, sie sind in Frankreich. Ich war auch schon dort, habe aber noch nichts gefunden, ich suche weiter.«
»Ja, gut. Eigenartig.«
»Wieso eigenartig?«
»Eigenartig, dass das Gebäude, das man auf dem Bild sieht, in Frankreich sein soll? Na ja, Sie werden sie schon finden. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie mehr herausgefunden haben.«
»Klar, mach ich, auf Wiederhören Herr Jaeger.«
Damit hängte er auf.
Er trank die letzten Schlucke von seinem lauwarmen Kaffee.
Jaeger wollte etwas anderes sagen, er weiss etwas, davon war Gummimann jetzt vollends überzeugt.
Gummimann fuhr von Wallgisdorf über Nuglar-St.Pantaleon nach Büren. Weit war es nicht und trotzdem war er noch nie dort. Büren war noch richtig ländlich, knapp tausend Einwohner. Hier hatte es noch Bauernhöfe und Misthaufen mitten im Dorf, aber auch viele Mehr- und Einfamilienhäuser, die dem Dorf einen moderneren Look verpassten. Die Gemeindeverwaltung war im Dorfzentrum an der Durchfahrtsstrasse, ein relativ neues Gebäude. Hier hielt er an. Der ländliche Duft, durchsetzt mit Autoabgasen, empfing ihn, als er ausstieg und über den Parkplatz zum Eingang ging. Der Bus Nummer 67 nach Liestal fuhr lärmig vorbei, er hörte ihn nur noch kurz, dann schloss sich die Eingangstür hinter ihm. Hinter dem Schalter sah er zwei Personen arbeiten. Eine junge, hübsche Dame kam an die Theke und begrüsste ihn.
»Grüezi, womit kann ich Ihnen helfen?«
Gummimann war im ersten Moment etwas irritiert. Mit ihren blonden langen Haaren, dem sinnlichen Mund und den blauen Augen, machte sie ihn richtig verlegen.
»Äh, ja, hallo, ähm, ich bräuchte ein paar Auskünfte«, nach etwas stottern, schaffte er es doch, sein Anliegen vorzubringen. »Ich suche die Ruine Sternenfels.«
»Die Ruine Sternenfels, ja die gibts, aber da ist leider nicht mehr viel zu sehen. Der Turm steht noch und ein paar Mauerreste.«
Sie lächelte ihn an, mit der Hand wischte sie eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht.
»Ja! Das habe ich vermutet, ich besuche auch noch andere Ruinen im Solothurnischen und im Baselbiet. Ich habe grosses Interesse an alten Burgen.« Warum er eine Erklärung abgab und dabei schwindelte, wusste er selbst nicht.
»Also, von hier fahren Sie am besten durch die Seewenerstrasse bis zur Kreuzung im Dorf, dann biegen Sie links in die Gempenstrasse ab. Sie bleiben auf dieser, bis dann rechts der Dummerweg abgeht, und folgen ihm bis zum Parkplatz. Dann geht es zu Fuss durch den Wald zur Ruine.«
»Vielen Dank, aber ich habe noch eine Frage. 1982, nach dem Brand einer psychiatrischen Klinik im Elsass, wurden hier, in einer betreuten Wohngemeinschaft, Menschen aufgenommen. Gibt es noch Namenslisten aus dieser Zeit?«
»Uii, das ist schon ein paar Jahre her, mal sehen, ob ich da noch was finde, einen Moment.«
Gummimann nutzte die Zeit, sich ein wenig umzusehen. Viel gab es da aber nicht. Eine grosse Zimmerpflanze beim Fenster, fast ein kleiner Baum, brachte ein bisschen Farbe in den sonst eintönigen Raum. Zwei Stühle standen dem Schalter gegenüber an der Wand und dort gab es auch ein Gestell mit Prospekten verschiedener Organisationen, sowie ein Anschlagbrett mit Mitteilungen der Gemeinde. Er setzte sich auf einen der Stühle und studierte einen Prospekt der Spitex. Nach ein paar Minuten rief ihm die Dame.
»Ich habe etwas gefunden.«
Die hübsche Dame erschien wieder an der Theke. Gummimann stopfte den Prospekt zurück und trat zu ihr.
»Das war auf dem Güggelhof, zwanzig Personen«, sie schob ihm die Blätter über den Tresen hin, »sogar mit den Geburtsdaten, aber das war vor mehr als dreissig Jahren, viele sind vermutlich gestorben, darüber habe ich leider nichts gefunden. Die wohnten auch nur zwei Jahre hier, dann wurden sie auf verschiedene Anstalten verteilt, wohin, darüber geben mir die Papiere leider keine Auskunft.«
Gummimann nahm die Blätter und überflog sie kurz.
»Aber den Güggelhof und die betreute Wohngemeinschaft, gibs noch?«
»Den Hof gibs noch und die Wohngemeinschaft meine ich auch.«
»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.«
Er bedankte sich nochmals und verabschiedete sich von der netten Dame.
Im Auto studierte er die Blätter genauer. Es waren viele Namen, doch Progard war nicht dabei.
Hatte er seinen Namen geändert, oder war er doch gestorben? Aber wie konnte er dann die Bilder verstecken?
Er fuhr zum Dummerweg.
Da war er, der Turm der Ruine Sternenfels. Es war kein weiter, aber steiler Waldweg bis zum Turm. Und die Wanderung war schön und angenehm, fast so entspannend wie joggen. Sie hatte recht, ausser dem Turm und ein paar Mauern, gab es nichts. Er nahm das Klinikbild aus seiner Tasche und verglich es mit der Wirklichkeit. Es war der gesuchte Turm, nur das Dach war etwas mehr eingefallen, sonst stimmte es überein. Auch die alten Mauern waren noch da. Während er das Bild betrachtete, überkam ihn wieder das eigenartige Gefühl, welches ihm zeigte, wo er das nächste Bild finden konnte. Der Turm war ungefähr zehn Meter hoch, vielleicht sogar etwas mehr, war rund und hatte einen Eingang. Im oberen Teil war das kleine Fenster mit dem Gitter, das sah man gut auf der Zeichnung, in diesem Raum müsste das gesuchte Bild sein, das spürte er. Er umrundete den Turm und betrachtete ihn von allen Seiten. Das Bild zu finden, schien eine einfache Aufgabe zu sein, durch den Eingang und dann hinauf in den Raum, wo das Bild sein musste. Doch schon beim Eintreten begannen die Schwierigkeiten, es gab keine Treppe, nicht einmal eine Öffnung in den oberen Teil. Der Raum war klein, und es lag viel Abfall herum, der von nicht sehr umweltfreundlichen Besuchern zeugte, sonst war er leer. Einen anderen Eingang gab es nicht.
Wieder vor dem Turm schaute er ihn von aussen genauer an. Um zum Fenster mit den Bildern zu kommen, musste er aussen hinauf. Dort könnte er sich notfalls, durch das Gitter des Fensters zwängen. Das wäre das kleinste Problem, aber wie kommt man dorthin. Auch mit Grossmachen war es zu hoch für ihn, mehr als vier Meter schaffte er nicht und auch das nur mit grösster Anstrengung. Bis zum Fenster dürften es aber gute acht oder mehr Meter sein.
Einige der Steine standen leicht aus der Mauer heraus, sie bildeten fast eine Treppe. Vielleicht war das früher sogar eine. War das der Weg hinauf? Seine Begeisterung hielt sich in Grenzen, der Aufstieg würde schwierig werden, er hatte leichte Höhenangst, und die Steine waren kurz, doch einen anderen Weg sah er im Moment nicht.
Er liess seine Tasche am Boden stehen und suchte den Einstieg in die Turmwand. Neben dem Eingang fand er den ersten Stein. Er machte sich etwas grösser, hielt sich am dritten Stein fest, zog sich hinauf, indem er sich kleiner machte und kletterte darauf. Damit begann der Aufstieg. Um zum nächsten Stein zu kommen, machte er sich gerade so gross, um ihn zu erreichen. Dann musste er sich leicht nach vorne fallen lassen und sich hinaufziehen. Jetzt machte sich seine Höhenangst bemerkbar, herunterblicken war verboten. Diese Taktik ging zwei weitere Steine gut. Noch könnte er, wenn er sich ganz gross machte, im schlimmsten Fall hinunterspringen. Nochmals schaffte er zwei Steine, dann war der Aufstieg für ihn zu Ende, der nächste Stein war so weit entfernt, er konnte ihn auf keine Weise erreichen. Er nervte sich! Um sicher auf dem Absatz zu stehen, machte er sich so klein wie möglich und versuchte, sich etwas zu beruhigen. Wars das? Musste er eine Leiter organisieren? Da schreckte ihn ein lautes Kreischen auf. Ein grosser Raubvogel, vermutlich ein Adler, stürzte auf ihn zu. Wahrscheinlich hatte er auf dem Dach ein Nest und verteidigte seine Jungen. Gummimann, der nun klein war, duckte sich und die scharfen Krallen des Tieres schrammten um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei. Er hatte Angst und versuchte, zurück auf den unteren Stein zu klettern, merkte aber bald, so einfach war es nicht. Der Vogel kreiste über dem Turm und stiess immer wieder Warnschreie aus. Dann kam er näher. Gummimann überlegte, ob er sich nicht einfach ganz gross machen und hinunterspringen sollte. Doch es war hoch, weit über der Grenze seiner Fähigkeit. Im Notfall würde er es machen, obwohl die Landung, im Gebüsch mit Stacheln, sehr unangenehm wäre. Noch während er darüber nachdachte, griff der Vogel erneut an, nur diesmal verfehlten ihn die Krallen nicht. Er wurde an seiner Jacke gepackt, der Vogel riss ihn vom Steinabsatz und flog mit ihm davon. Die Höhe machte Gummimann ganz schwindlig. Seine Befürchtung, der Vogel könnte ihn fallen lassen oder seine Jacke könnte reissen, stieg mit jedem Flügelschlag. Nach unten blicken durfte er nicht, er hatte starkes Herzklopfen und spürte ein Kribbeln in seinem ganzen Körper, das immer wie unangenehmer wurde. Beim Blick zur Seite sah er die Krallen des Vogels, die direkt neben seinem Kopf die Jacke hielten. Es gelang ihm, zuerst mit einer, dann mit beiden Händen die Füsse des Tieres zu erreichen und sich daran festzuklammern. Das beruhigte ihn etwas. Der Raubvogel flog zweimal um den Turm und setzte dann zur Landung an. Gummimann zwang sich, kurz nach unten zu blicken, und sah das Nest auf ihn zukommen. Der Vogel musste ihn für eine Maus halten, und die Vogeljungen freuten sich schon auf eine gute Mahlzeit. Frischer Gummimann stand heute auf dem Speiseplan bei Familie Adler. Der Vogel liess ihn fallen. Noch während er nach unten fiel, machte er sich gross, der Adler sah ihn verdutzt an, kreischte und flog erschrocken davon, die Jungen schrien.
Er war auf dem Turm gelandet, da, wo er hinwollte. Schimpfend, in sicherem Abstand, zog der Adler seine Bahnen um das Nest. Die Gedanken an den Rückweg verschob Gummimann auf später, jetzt wollte er das Bild suchen. Mit einem Fuss stand er im Nest, mit dem andern auf den Steinen, die einst das Dach und Teile der Wand waren. Auf der gegenüberliegenden Turmseite, wo das Dach teilweise noch vorhanden war, sah er eine Steintreppe in den Turm. Er kletterte auf den Boden, ging, ohne zu zögern zur Treppe, machte die Taschenlampe an und stieg ein. In mehreren Windungen führte sie ihn nach unten und endete in einem Raum ohne Licht. Seine Hoffnung, schon im Raum mit dem Gitter angekommen zu sein, erwies sich als falsch. Rein gefühlsmässig musste dieser Raum unterhalb des Gesuchten sein. Hatte er einen Ausgang verpasst? Wieder stieg er die Treppe hinauf, und leuchtete dabei mit der Taschenlampe Zentimeter für Zentimeter die Wand ab, bis er auf dem Dach stand. Nichts, kein weiterer Ausgang.
Zurück im Raum, begann er dort die Wände abzuklopfen. Aber da gab es nichts, kein versteckter Aufgang. Der Raum war komischerweise rechteckig und nicht rund, wie der Turm. Eine Stelle am Boden klang beim Gehen anders und war leicht erhöht. Er reinigte die Stelle vom Staub und es kam eine Steinplatte mit einem Eisenring zum Vorschein. Das musste der weitere Weg sein. Sie war schwer, aber mit dem Eisenring schaffte er es, sie auf die Seite zu schieben. Ein schmaler Graben ging unter der Wand durch. Er machte sich etwas kleiner, kletterte in den Graben, kroch auf die andere Seite und kam in einen fensterlosen Raum. Was sollen diese Räume, überlegte er und leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, dunkle Schemen zu sehen, die auf ihn zukamen, aber das konnte auch nur Einbildung sein. Doch plötzlich wurde es dunkel, das Licht seiner Taschenlampe erlosch, sie musste soeben den Geist aufgegeben haben. Leise fluchend tastete er sich vorwärts. Dann begann es, nach verbranntem Gummi zu stinken. Der Geruch wurde immer stärker, bis er kaum mehr atmen konnte. Ihm wurde schlecht und zugleich hörte er Stimmen, die ihm etwas zuflüsterten, zuerst leise, dann immer lauter, bis sie ihn am Schluss anschrien. Er spürte eine Berührung, vielleicht waren es Hände. Der Lärm und der Gestank wurden beinahe unerträglich. Er wollte zum Graben zurück, fand ihn im Dunkeln aber nicht. Mit den Händen tastete er sich der Wand entlang, um einen Ausgang zu finden. Unsichtbare Hände rissen plötzlich an seinen Kleidern. Gehen war fast nicht mehr möglich. Da ertastete er mit dem Fuss eine Öffnung im unteren Teil der Wand. Sie war nicht sehr gross. Doch die Hände rissen ihn zu Boden und schleiften ihn nach hinten. Im letzten Moment gelang ihm, mit den Händen die Öffnung in der Wand zu erreichen und sich dort festzuhalten. Indem er sich kleinmachte, konnte er sich durch die Öffnung in einen weiteren Gang ziehen. Fast zeitgleich brannte seine Taschenlampe wieder, der Gestank, die schreienden Stimmen und die Hände waren verschwunden. Er war wieder frei und machte sich gross. Eine Zeit lang blieb er erschöpft am Boden sitzen, und versuchte sich, mit langsam ein- und ausatmen zu erholen. Seine Kräfte kehrten zurück. Er sah Licht und eine Treppe. Er rannte dorthin, stieg hinauf und wusste, er hatte es geschafft. Vor ihm der Raum mit dem Gitterfenster. Es war die Erlösung.
Doch der Raum war leer, es gab nichts, sogar der Boden war sauber. Gummimann war irgendwie enttäuscht, er hatte mehr erwartet, Plakate an der Wand oder sonst was, so genau wusste er es selbst nicht, aber einfach nichts, war ein bisschen wenig. Er blickte durch das Gitter und sah den Weg zum Turmeingang.
Noch immer steckten die Erlebnisse vom dunklen Raum in seinen Gliedern. Der Raum war sinnlos, reine Schikane, als ob jemand den Zugang in diesen Raum verhindern wollte. Warum all diese Hindernisse, was ist so speziell an den Bildern? Wenn es wirklich Progards Werk war, dann hätte er super Fähigkeiten gehabt, die einem durch den ganzen Einsatz verfolgten. Er musste ein ganz spezieller Mensch gewesen sein, als wäre er nicht von dieser Welt. Und an den Rückweg wollte Gummimann noch gar nicht denken, schon der Gedanke an die Hände und an den Gestank liessen ihn erschaudern. Die Suche nach dem Bild war jetzt, der Rückweg, später.