Der Himmel über Amerika – Leahs Traum - Karin Seemayer - E-Book
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Der Himmel über Amerika – Leahs Traum E-Book

Karin Seemayer

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Beschreibung

Die Sehnsucht nach Selbstbestimmung und Freiheit.

Jacobstown, 1917: Leah ist das, was man einen »Blaustrumpf« nennt: voller Wissbegier und Neugier auf Erfindungen wie Autos und Telefone. Ihre Träume gehen über den engen Horizont ihrer Amisch-Gemeinde hinaus. Leahs beste Freundin Grace, deren Mutter eine Pension besitzt, versorgt sie mit Büchern und Zeitungen. Als Leah die Gelegenheit hat, in die Stadt zu ziehen und im Laden ihrer Tante auszuhelfen, packt sie der Wunsch nach einem freieren Leben – und sie verliebt sich in den jungen Richard. Doch Leah weiß, dass sie sich früher oder später entscheiden muss … 

Das berührende Schicksal einer jungen Frau auf der Suche nach dem persönlichen Glück – mit faszinierenden Einblicken in die Welt der Amisch.

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Seitenzahl: 437

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Über das Buch

Leah ist die Tochter einer Amisch-Familie, doch durch ihre Freundin lernt sie auch das Leben außerhalb der Gemeinschaft kennen. Entgegen dem Wunsch ihrer Eltern will sie in der Stadt arbeiten. Zum ersten Mal trägt Leah farbenfrohe Kleidung, fährt im Automobil und hat unbegrenzten Zugang zu Büchern, die Welt erscheint ihr ungeahnt weit. Sie verliebt sich in Richard, den Sohn einer wohlhabenden Familie, entfernt sich jedoch immer weiter von ihrer Familie – Leah ist hin- und hergerissen zwischen ihren Wurzeln und einem freieren Leben. Nur Joshua, ein junger Mann aus ihrer Gemeinde, hat Verständnis für sie, denn auch er verließ einst die Amisch. Leah weiß, früher oder später wird sie sich entscheiden müssen …

Über Karin Seemayer

Karin Seemayer, geboren 1959, machte eine Ausbildung zur Reiseverkehrskauffrau und war beruflich und privat viel unterwegs. Die meisten ihrer Romanideen sind auf diesen Reisen entstanden. Allerdings musste die Umsetzung warten, bis ihre drei Kinder erwachsen waren. Heute lebt sie im Taunus.

Im Aufbau Taschenbuch sind ihre Romane „Die Tochter der Toskana“, „Das Gutshaus in der Toskana“, „Sterne über der Toskana“, „Die Sehnsucht der Albatrosse“ und „Das Geheimnis des Nordsterns“ sowie die ersten beiden Bände der Amisch-Saga „Der Himmel über Amerika. Rebekkas Weg“ und „Der Himmel über Amerika. Esthers Entscheidung“ lieferbar.

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Karin Seemayer

Der Himmel über Amerika – Leahs Traum

Roman

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

I. Teil — Aufbruch

1. Kapitel: Jacobstown, Januar 1917

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

II. Teil — Rückkehr

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel: Camp Meade, Winter 1917/18

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Epilog — Jacobstown, Sommer 1925

Nachwort und Danksagung

Impressum

Wer von dieser Saga begeistert ist, liest auch ...

I. Teil

Aufbruch

1. Kapitel

Jacobstown, Januar 1917

Leah, beeile dich. Dein Vater hat schon angespannt.«

Die Stimme ihrer Mutter klang durch das Treppenhaus. Hastig riss Leah die dunkle Haube aus dem Schrank, setzte sie auf und verknotete die Bänder unter dem Kinn. Heute würde sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester Deborah in die Stadt fahren und Stoff kaufen. Deborah brauchte welchen für ihr Hochzeitskleid, und Leah sollte ebenfalls ein neues Kleid bekommen. Sie schlüpfte in die Stiefel, band mit fliegenden Fingern die Schnürsenkel zu und rannte die Treppe hinunter.

Ihre Mutter wartete im Flur auf sie. »Du rennst immer noch, als wärst du ein Kind. Dabei bist du achtzehn Jahre. Und deine Haube hast du auch nicht richtig auf.«

Sie reichte Leah ihren Mantel, dann schob sie einige Locken zurück, die sich aus Leahs Haarknoten gelöst hatten und sich um ihr Gesicht ringelten, und zog die Haube so weit nach vorne, dass Leahs Haaransatz bedeckt war. Leah seufzte. Nur wenige Frauen aus ihrer Gemeinde trugen noch so eine große Haube. Die meisten hatten kleinere Bonnets, die den Haaransatz freiließen. Manche gingen auch nur mit der »Kapp« nach draußen, der leichten weißen Organdy-Haube, die vor allem im Sommer angenehmer zu tragen war. Doch ihr Vater bestand darauf, dass sie ihr Haar in der Öffentlichkeit vollständig bedeckt trug. Denn selbst wenn nur der Haaransatz zu sehen war, zog ihr Haar, das so rot war wie der Ahorn im Indian Summer, zu viele Blicke auf sich, sagte er.

Bei den Amisch von Jacobstown war die Farbe Rot verpönt. Es gab keine roten Häuser, keine roten Stoffe für Vorhänge oder rote Gebrauchsgegenstände, denn es war die Farbe des Blutes, das Jesus für die Sünden der Menschen vergossen hatte. Und außerdem war rotes Haar nicht »schlicht«.

Leah hatte sich oft gefragt, warum Gott sie mit dieser auffälligen Farbe bedacht hatte. Das Blond ihrer Schwester Deborah hatte nur einen rötlichen Schimmer, ebenso wie das dunkelbraune Haar ihrer Brüder. Und nicht nur die Farbe ließ jegliche Schlichtheit vermissen, nein, ihr Haar war so lockig, dass es sich kaum bändigen ließ. Egal, wie straff sie es zurückkämmte und wie fest sie den Knoten schlang, immer wieder lösten sich einzelne Strähnen, mogelten sich unter der Haube hervor und ringelten sich um ihr Gesicht. Es schien, als wehrten die roten Locken sich dagegen, verborgen zu werden.

Ihre Mutter setzte sich neben ihrem Vater auf die vordere Bank des Dachwägeles, Leah und Deborah kletterten auf die hintere Bank und legten sich die Decke über die Beine. Es war ein unangenehmer feuchtkalter Tag. Ihr Vater schnalzte mit der Zunge. »Hopp, Joschi, lauf.«

Das Pferd trabte an. Sie fuhren vom Hof auf eine schmale Straße, die am Mill Creek entlangführte. Die Mühle, die dem Bach den Namen gegeben hatte, lag hinter ihnen. Sie gehörte schon seit fast hundert Jahren der Familie Hochleitner. Leahs Ururgroßvater hatte sie 1819 erbaut.

Am Hof der Kauffmanns bogen sie auf die Straße nach Jacobstown ab. Plötzlich wurde das Klappern der Pferdehufe durch ein immer lauter werdendes Rattern übertönt. Leah sah aus dem rückwärtigen Fenster. Auf der Straße näherte sich eines dieser neumodischen Automobile. Als es direkt hinter ihnen war, ertönte ein Krachen, der Motor heulte auf, dann scherte das Gefährt aus und fuhr an ihrer Kutsche vorbei.

Leah erhaschte einen Blick auf die Insassen. Der Fahrer trug eine eng anliegende Mütze, die Frau neben ihm hatte sich einen Schal um den Kopf geschlungen.

Sie sah zu ihnen herüber, und dann war das Automobil schon neben dem Pferd. Joschi warf den Kopf zurück und scheute, als das Fahrzeug ihn überholte und vor ihm einscherte.

»Hoooh, ganz ruhig«, rief ihr Vater besänftigend und nahm die Zügel kürzer. Joschi machte ein paar Galoppsprünge und fiel dann wieder in seinen üblichen gleichmäßigen Trab.

»Diese Dinger sind eine Plage«, schimpfte ihr Vater. »Sie machen Krach, stinken und kosten unnötig viel Geld für Treibstoff.«

Leah und Deborah wechselten einen Blick. Einige der jungen Leute bei den Amisch dachten anders über Automobile, manche besaßen sogar welche. Erst kürzlich hatte Leah in einer Zeitung einen Artikel über zwei junge Männer aus Mifflin gelesen, über die der Bann verhängt worden war, weil sie sich weigerten, ihre Fahrzeuge abzugeben.

»Ich würde zu gerne einmal in so einem Automobil fahren«, raunte Leah ihrer Schwester zu.

Deborah nickte. »Ich auch. Papa sagt immer, sie wären nicht viel schneller als ein Buggy, aber schau doch nur, wie weit es jetzt schon weg ist.«

Tatsächlich hatte das Fahrzeug einen beträchtlichen Vorsprung.

Leah seufzte. »Wenn wir so etwas hätten, könnten wir viel schneller in die Stadt kommen.«

»Und dort dem Müßiggang frönen.« Deborah kicherte leise. »Vielleicht hat die Gemeindeversammlung die Automobile deswegen verboten. Aus Angst, die Leute hätten dann zu viel Zeit.«

Eine halbe Stunde später zügelte ihr Vater das Pferd vor Peter Landers Stoffladen und ließ sie aussteigen.

»Ich fahre zum Eisenwarenhandel und hole euch danach wieder ab.«

Vor dem Laden stand ein Automobil, aber es sah anders aus als das, das sie überholt hatte.

Als sie eintraten, klingelte ein Glöckchen über der Tür.

Im Laden stand eine Frau in einem Kleid, das ihr nur bis zum Knöchel ging. Ihre Füße steckten in hochhackigen Schuhen aus glänzendem Leder. Auf dem Kopf trug sie einen breitkrempigen Hut, der mit einer künstlichen Blume verziert war. Sie drehte den Kopf, und ihr Blick wanderte von Leahs Haube über ihr schlichtes dunkelgraues Kleid zu ihren einfachen geschnürten Schuhen, die gegen ihre zierlichen Schühchen plump wirkten. Sie hob eine Augenbraue und wandte sich dann wieder dem Tisch zu, auf dem mehrere Ballen gemusterte Stoffe halb ausgerollt lagen.

An der Wand lehnte ein Mann im Anzug und drehte seinen Hut in den Händen. »Du wolltest Stoff für ein Ausgehkostüm kaufen und nicht deinen gesamten Kleiderschrank neu bestücken, Liebling. Also entscheide dich.«

»Aber ich kann mich nicht entscheiden«, klagte die Frau. »Der gestreifte hier ist wunderschön, aber ich weiß nicht, ob mir dieses Dunkelblau und Weiß steht. Vielleicht sollte ich doch besser den mit dem zartgrünen Karomuster nehmen?« Unschlüssig schob sie die Stoffe zusammen. »Wobei dieser dunkelrote auch sehr schön ist.«

Leah betrachtete die Auswahl an Stoffen, die vor der Frau ausgebreitet lag. Es waren bestimmt zehn verschiedene. Wie lange sie hier wohl schon stand? Wenn sie die Ungeduld in der Miene ihres Begleiters richtig deutete, ziemlich lange.

»Nimm den karierten«, sagte der Mann.

»Wirklich? Aber Streifen sind dieses Jahr viel moderner. Ich könnte aus dem gestreiften Stoff einen Rock machen lassen und aus diesem dunkelblauen die passende Jacke dazu, im Matrosenstil.«

»Kostüme im Matrosenstil sind in dieser Saison der letzte Schrei«, schaltete sich Mr. Landers ein. »Vielleicht möchte die Dame einen Blick in dieses Modemagazin werfen.«

Er holte ein Heft aus einer Schublade unter der Verkaufstheke. Leah warf einen Blick auf das Titelblatt, auf dem eine Frau in einem dunkelgrünen Mantel abgebildet war. Harper’s Bazar stand in Großbuchstaben darüber.

Mr. Landers legte das Heft auf den Tisch. »Lassen Sie sich Zeit«, sagte er. »Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« Dann wandte er sich an Leahs Mutter. »Guten Tag Mrs. Hochleitner. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir brauchen Stoff für ein Hochzeitskleid.«

»Oh, herzlichen Glückwunsch. Wer ist denn die Glückliche?«

»Meine Tochter Deborah.« Sie winkte Deborah heran.

»Nun, ich habe ein paar schöne Leinenstoffe hier.« Mr. Landers deutete auf das Regal mit den Ballen. »Welche Farbe darf es denn sein? Vorige Woche war Mrs. Wenger aus Strinestown hier und hat für ihre Tochter diesen schönen taubenblauen Stoff gekauft.« Er griff nach einer Stoffrolle und legte sie auf den Tisch.

Leah bemerkte, wie Deborah ihrer Mutter einen bittenden Blick zuwarf.

»Taubenblau ist doch auch schlicht, Mama«, sagte sie auf Deutsch.

Doch Maria schüttelte den Kopf. »Nicht für ein Hochzeitskleid. Wir möchten einen dunkelblauen bitte.«

Mr. Landers holte zwei Stoffe aus dem Regal und rollte ein paar Ellen ab. Einer war dunkelblau, fast schwarz, der andere indigoblau und hatte einen leichten Schimmer.

Deborah griff nach dem helleren Stoff. »Der gefällt mir!«

»Eine sehr gute Wahl«, sagte Mr. Landers. »Das ist feines Leinen. Es ist etwas leichter als der andere Stoff und trägt sich sehr schön. Genau richtig für eine besondere Gelegenheit.«

Deborah ließ den Stoff durch die Hände gleiten. »Er fühlt sich auch schön an. Mama, bitte lass uns diesen nehmen.«

Maria wiegte zweifelnd den Kopf. »Ist er denn auch so haltbar wie der andere?«, wandte sie sich an Mr. Landers. »Das Kleid wird zukünftig ihr Sonntagskleid.«

»Nur, weil er leichter ist, ist er nicht von schlechterer Qualität, im Gegenteil. Er wurde aus besonders feinen Fasern gewebt, ist aber ebenso haltbar wie das festere Leinen.«

Leah unterdrückte ein Lächeln. Mr. Landers kannte die Amisch und wusste, wie man sie überzeugen konnte. Nur wenige webten heutzutage noch selbst, die meisten kauften ihre Stoffe in seinem Laden. Er hatte immer eine große Auswahl an Leinen- und Baumwollstoffen in den gedeckten Farben, die die Amisch bevorzugten, vorrätig.

»Nun, dann nehmen wir diesen.«

Deborah strahlte. »Danke, Mama.«

Mr. Landers holte seine Elle und maß den Stoff ab. Anschließend warf er einen kurzen Blick auf die andere Kundin, die immer noch in dem Magazin blätterte.

Maria sah ebenfalls hinüber und schüttelte missbilligend den Kopf.

»Wir brauchen noch einen Stoff für ein Kleid für Leah.«

»Auch für einen besonderen Anlass?«

Leah presste die Lippen zusammen. Wenn es nach ihren Eltern ging, wäre das Kleid tatsächlich für einen besonderen Anlass, nämlich für ihre Taufe. Doch sie wollte sich noch nicht taufen lassen. Nicht, weil sie Zweifel hatte, dass sie der Gemeinde, in der sie aufgewachsen war, beitreten wollte, sondern weil sie noch »rumspringe« wollte.

Ab dem sechzehnten Lebensjahr galt man nicht mehr als Kind, doch vollwertiges Mitglied der Amisch-Gemeinde wurde man erst mit der Taufe. Diese Zeit nannten die Amisch »Rumspringa«. Wie lange sie dauerte, war bei jedem anders. Manche ließen sich mit achtzehn taufen, andere erst mit einundzwanzig. Während der Rumspringa lernten viele junge Leute auch die Welt außerhalb ihrer Gemeinde kennen, manche pflegten Umgang mit Englischen. Sie waren immer noch an den Glauben und die Regeln ihrer Gemeinschaft gebunden, aber kleinere Verstöße gegen die Ordnung wurden geduldet. Nicht alle Amisch fanden das richtig, doch die jährliche Dienerversammlung hatte sich dafür ausgesprochen, dass die jungen Leute die moderne Welt mit ihren Verlockungen kennenlernten, bevor sie sich taufen ließen.

Leah wollte unbedingt noch eine Zeit außerhalb der Gemeinde verbringen, mehr von der Welt und ihren wunderbaren Erfindungen sehen, bevor sie sich taufen ließ.

Sie spürte den Blick ihrer Mutter auf sich ruhen und hob den Kopf. »Nein. Für ein Alltagskleid.«

»Ich habe hier einen schönen Stoff. Schauen Sie mal.«

Der Stoff, den er ausrollte, war silbrig-grün wie Salbei. Entzückt strich Leah über das Gewebe. Die Farbe gefiel ihr sehr. Sie war schlicht und trotzdem irgendwie besonders.

Ihre Mutter wiegte zweifelnd den Kopf. »Ich finde die Farbe sehr ungewöhnlich.«

»Nun«, sagte Mr. Landers. »Vor ein paar Tagen hat Mrs. Zook diesen Stoff für ein Kleid gekauft. Und wenn die Frau des Bischofs diese Farbe trägt, ist sie sicher nicht unpassend.«

Das überzeugte ihre Mutter. »Gut. Dann nehmen wir diesen und bitte das passende Nähgarn dazu.«

Die andere Kundin hatte mittlerweile das Modeheft weggelegt und blickte sich gelangweilt um. Sie war nicht so jung, wie Leah zunächst gedacht hatte. Ihre extravagante Kleidung und der Hut ließen sie jünger wirken. Doch um ihre Augen zeigten sich Fältchen, und auch von der Nase zu den Mundwinkeln zogen sich zwei feine Linien. Sie begann, mit den Fingern auf den Tisch zu trommeln. Ihre Hände waren sehr gepflegt, ihre Fingernägel überaus lang. Unwillkürlich sah Leah auf ihre Hände. Sie waren sauber, die Nägel kurz, aber man sah ihnen an, dass sie damit arbeitete.

»Ich bin sofort wieder für Sie da«, sagte Mr. Landers.

Er legte die passenden Garne zu den Stoffen, schlug sie in Papier ein und reichte sie Leahs Mutter. Sie bezahlte.

»Vielen Dank für Ihre Geduld«, sagte sie höflich zu der Dame. Die riss erstaunt die Augen auf, ihr Begleiter dagegen war sichtlich erheitert und lächelte den drei Frauen zu.

Leah warf einen letzten Blick auf die Stoffe. Für welchen würde die Frau sich wohl entscheiden? Wenn sie selbst die Wahl gehabt hätte, hätte sie den blauweiß gestreiften genommen. Er würde einen wunderbaren Rock ausmachen. Sie seufzte innerlich. Wie es sich anfühlen mochte, Kleider aus solchen fließenden bunten Stoffen zu tragen? Und einen Hut statt die dunkle Haube.

Ihr Vater war noch nicht wieder da, als sie auf die Straße traten. Wahrscheinlich fachsimpelte er wieder mit Mr. Blosser, dem Eisenwarenhändler, über Werkzeuge.

»Leah! Hallo!«

Leah sah auf. Auf der anderen Straßenseite standen ihre Freundin Grace und deren Mutter vor der Bäckerei. Grace überquerte die Straße, gefolgt von ihrer Mutter.

»Guten Tag, Mrs. Hochleitner. Wie schön, dass ich Sie hier treffe. Ich wollte Grace heute zum Mühlenhof schicken. Wir brauchen wieder eine Lieferung von Ihrem köstlichen Ziegenkäse. Meine Gäste lieben ihn.«

Während ihre Mütter über den Ziegenkäse sprachen, zog Grace Leah ein paar Schritte zur Seite.

»Wie geht es dir? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.«

»Es tut mir leid. Es gibt viel Arbeit …«

Es war zwar keine Lüge, aber auch nicht die ganze Wahrheit. Grace war ihre Freundin, seit sie Kinder waren, und Leah hatte jede Gelegenheit genutzt, um Grace zu treffen. Im letzten halben Jahr hatten sie sich seltener gesehen, weil Leahs Eltern befürchteten, Leahs Zögern, sich taufen zu lassen, läge am schlechten Einfluss ihrer »englischen« Freundin. Was auch zutraf. Mit Grace teilte Leah ihre Träume von der Welt, über die sie so gern mehr wissen wollte. Heimlich las sie die weltlichen Bücher, die Grace ihr lieh. Sie war mit Huckleberry Finn auf dem Mississippi gereist, mit Mowgli durch den indischen Dschungel gelaufen und mit Kapitän Nemo zwanzigtausend Meilen unter dem Meer gefahren.

Grace sah sie nachdenklich an, dann hellte sich ihr Gesicht auf. »Ich habe den dritten Band von ›Anne auf Green Gables‹ zu Hause. Meine Eltern haben ihn mir geschenkt.«

»Oh, und wie ist er?«

»Genauso gut wie die ersten beiden.«

Leah seufzte. Die Geschichte des temperamentvollen Waisenmädchens, das zu Leuten kommt, die eigentlich einen Jungen erwartet hatten, und dann doch deren Herz gewinnt, hatte es ihr angetan. Außerdem erkannte sie in Anne viel von sich selbst. Anne hatte eine blühende Phantasie, sie war verträumt und redete viel. Und sie hatte rote Haare.

»Wenn du willst, leihe ich dir das Buch«, sagte Grace.

In diesem Moment bog der Buggy ihres Vaters um die Ecke. Er zügelte das Pferd und begrüßte Mrs. Halsey und Grace.

»Wäre es recht, wenn ich heute Nachmittag Grace zu Ihnen schicke, um frischen Käse zu holen?«, fragte Mrs. Halsey.

Leahs Mutter nickte. »Wir haben noch Vorräte. Ich packe Ihnen einen Korb.«

»Oh. Darf Leah dann bis heute Nachmittag bei uns bleiben? Wir haben uns so lange nicht gesehen. Ich bringe sie dann nach Hause, wenn ich den Käse hole.«

»Von mir aus gerne. Wenn ihre Eltern einverstanden sind?«

Rasch wandte sich Leah an ihre Eltern. »Ich habe heute Morgen die Ziegen versorgt. Eigentlich ist Deborah am Abend dran, aber wenn ich bleiben darf, übernehme ich das auch.«

»Das wäre mir lieb«, schaltete Deborah sich ein. »Samuel wollte mich zu einer Ausfahrt abholen. Dann hätten wir mehr Zeit.«

Ihr Vater sah von Deborah zu Leah, dann nickte er. »Wenn eure Mutter keine Einwände hat.«

Maria lächelte resigniert. »Ich habe keine.«

Dankbar erwiderte Leah ihr Lächeln. Grace stieß einen kurzen Freundschrei aus.

»Geht schon mal heim und nehmt das Brot mit«, sagte Mrs. Halsey. »Ich muss noch zum Metzger.«

Grace schnappte mit einer Hand den Korb mit den zwei Broten, mit der anderen Leahs Arm. Lachend liefen sie durch die Straßen bis zum Haus der Halseys.

Graces Mutter war verwitwet und betrieb eine Pension, Grace half ihr dabei.

Um diese Uhrzeit waren keine Gäste im Haus. Grace stellte den Korb mit dem Brot in die Küche, dann gingen sie hinauf in den zweiten Stock, wo Grace ihr Zimmer hatte.

»Hier ist das Buch« sagte Grace und nahm es aus dem Regal. »Ich schlage es dir in eine Zeitung ein.« Sie zwinkerte Leah zu. Es war ein Trick. Grace wickelte alles, was sie Leah gab, in Zeitungen. So konnte Leah nicht nur Bücher, sondern auch englische Zeitungen heimlich lesen.

»Danke schön.«

Leah nahm die Haube ab und legte sie auf eine Kommode.

»Ich finde dein Haar so schön«, sagte Grace. »Zu schade, dass du es immer verstecken musst.«

Leah zuckte mit den Schultern. Es war eben so. Sie erzählte Grace von der Frau im Stoffladen. »Das hättest du sehen sollen. Zehn verschiedene Stoffe vor ihr, einer schöner als der andere.« Sie ahmte die Frau nach. »Ich kann mich nicht entscheiden, soll ich den gestreiften nehmen oder den karierten?«

Grace kicherte. »Die kenne ich. Es sind Gäste von uns. Sie sind vor zwei Tagen angekommen und reisen morgen ab.«

»Was tun sie denn hier?«

»Soweit ich weiß, sind sie auf der Suche nach einem Grundstück auf dem Land, für ein Wochenendhaus.«

»Für was?«

»Ein Wochenendhaus. Sie wohnen in Harrisburg und wollen ihre Wochenenden nicht in der Stadt verbringen.« Jetzt ahmte Grace die Frau nach. »Es ist so laut dort, und die Luft hier auf dem Land ist viel gesünder, nicht wahr, Liebling?«

»Du meine Güte. Ein Haus, in dem man nur die Wochenenden verbringt. So was habe ich noch nie gehört.«

»Das gibt es wohl häufiger. Nicht unbedingt in York County, aber in Kalifornien haben viele reiche Leute Wochenendhäuser.«

»Ach so.«

»Unglaublich, dass sie Stoff kauft. Ich habe in ihren Schrank geschaut, als ich ihre Betten gemacht habe. Der ist voll mit Kleidern, und sie hat bestimmt fünf Paar Schuhe mit.«

Leah riss die Augen auf. Fünf Paar Schuhe! Sie besaß gerade mal zwei. Dicke Stiefel für den Winter, die sie jetzt trug, und einfache Schnürschuhe für den Sommer. Auf dem Mühlenhof ging sie vom Frühling bis in den Herbst barfuß.

»In denen, die sie im Laden getragen hat, könnte ich keinen Schritt laufen.« Leah zeigte mit den Händen die Absatzhöhe und die spitz zulaufende Schuhspitze.

»Ich weiß. Sie hat nur solche spitzen Dinger. Und ihre Hüte … so was habe ich noch nie gesehen.« Grace hielt inne. »Warte, heute Morgen hat sie eine von diesen Modezeitschriften im Frühstücksraum liegen lassen. Ich schaue nach, ob sie noch da ist.«

Während Grace nach unten lief, sah Leah sich im Zimmer um. Bis vor einem Jahr war sie oft hier gewesen, doch dann waren ihre Eltern der Meinung gewesen, dass sie zu viel Zeit mit dem englischen Mädchen verbrachte und diese ihr Flöhe ins Ohr setzte.

Graces Zimmer war ganz anders als ihr eigenes im Mühlenhof. An den Fenstern hingen bunt gemusterte Vorhänge und an den Wänden Fotografien von Männern und Frauen. »Filmstars« nannte Grace sie. Es waren wunderschöne Menschen. Von einem Mann hatte sie mehrere Bilder aufgehängt.

Im Zimmer stand nicht nur ein einfacher Waschtisch, sondern ein »Toilettentisch«. Er hatte Schubladen, in denen Grace Bürsten, Kämme und Haarbänder aufbewahrte, und auf ihm stand ein Spiegel mit verziertem Rahmen.

Leah setzte sich auf den Stuhl davor und betrachtete sich im Spiegel. Die Sonne schien zum Fenster herein und brachte ihr Haar zum Leuchten. Schon wieder hatten sich einige Locken aus dem festen Dutt gelöst und ringelten sich um ihr Gesicht bis zum Kinn. Eigentlich sah es schön aus. Es machte ihr Gesicht weicher. Ihre Augen waren groß und schimmerten in einer Farbe irgendwo zwischen Grün und Blau.

Als sich die Tür öffnete, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Bei den Amisch gab es keine Spiegel, sie galten als eitel. Einzig den Männern war ein kleiner Spiegel zum Rasieren erlaubt. Allerdings gab es auch viele, die sich ohne rasieren konnten, wie ihr Vater.

Grace trat hinter sie und lächelte ihrem Spiegelbild zu. »Du bist wirklich hübsch.«

»Findest du?«

»Ja.« Grace wedelte mit der Zeitung. »Ich habe sie.«

Sie setzten sich nebeneinander auf Graces Bett und blätterten die Zeitschrift durch. Fast alle abgebildeten Kleider ließen die Knöchel frei. Die Frauen trugen ebenso spitze Schuhe wie die Damen in Mr. Landers Laden. Auf einer Seite war eine Frau in einem Kleid aus glänzendem dunkelgrünen Stoff abgebildet, ihr rotes Haar war am Hinterkopf locker hochgesteckt, einige Strähnen waren über den Ohren zu schimmernden Wellen frisiert.

»Das Kleid gefällt mir«, sagte Leah. »Wie ich wohl darin aussehen würde?«

»Bestimmt toll. Mit deiner Figur kannst du alles tragen.«

Leah sah hinüber in den Spiegel und versuchte, sich ihr Gesicht mit der Frisur aus der Zeitung vorzustellen. Wenn sie doch nur einmal so ein Kleid anprobieren könnte. Nur um zu wissen, wie sie darin aussah, wie es sich anfühlte.

»Was habt ihr denn bei Mr. Landers gekauft?«, fragte Grace.

»Einen Stoff für Deborahs Hochzeitskleid und einen für ein Alltagskleid für mich.«

Grace beugte sich vor. »Deborah heiratet? Wen denn?«

»Samuel Wagner. Du hast ihn bestimmt schon mal gesehen. Mittelgroß, kräftig, blond, blaue Augen.«

»Na ja, so sehen viele bei euch aus. Ist irgendetwas Besonderes an ihm?«

Leah dachte nach. Bestimmt war etwas Besonderes an Samuel. Nur kannte sie ihn schon ihr Leben lang, und seine Erscheinung war wirklich nicht auffallend.

Sie lachte. »Deborah würde ihn wohl anders beschreiben als ich. Er hat ein nettes Lächeln und ein Grübchen im Kinn. Und er kann sehr gut mit Pferden umgehen.« Und dann fiel ihr doch noch etwas ein. »Er hat ziemlich abstehende Ohren.«

Grace prustete. »Ich glaube, ich erinnere mich. Ein schüchterner Junge mit einem wirklich netten Lächeln. Ja. Ich hoffe Deborah wird glücklich mit ihm.«

»Das wird sie bestimmt. Sie mag ihn sehr.«

»Sie mag ihn? Sollte sie nicht verrückt nach ihm sein?«

»So ist das bei uns nicht. Wir zeigen unsere Gefühle nicht so deutlich, selbst wenn wir verliebt sind. Das ist weltlich.«

Grace hob die Augenbauen. »Wenn man wirklich verliebt ist, dann kann man es doch gar nicht verbergen. Ich wünsche mir einen Mann, bei dem mein Herz klopft, wenn ich ihn sehe, der meine Träume und meine Gedanken mit mir teilt und der ebenso wenig ohne mich leben kann wie ich ohne ihn.«

»Nun.« Leah lachte. »Es wäre schlecht um dich bestellt, wenn dein Herz nur dann schlägt, wenn du verliebt bist.«

»Ach du.« Grace boxte sie leicht gegen den Arm. »Du weißt genau, wie ich es meine.«

Ja, das wusste sie. Und trotz ihres Lachens hatten Graces Worte etwas in ihr berührt. Jemand, der meine Träume und meine Gedanken mit mir teilt. Konnte sie so einen Mann in ihrer Gemeinde finden?

»Wie ist es mit dir?«, fragte Grace. »Du gehst doch schon länger zum Singen. Gibt es keinen, der dich interessiert?«

Leah schüttelte den Kopf. »Ich bin mit diesen Jungen aufgewachsen. Die meisten sind wie Brüder für mich. Ich kann mir nicht vorstellen, mich in einen von ihnen zu verlieben. Wie ist das denn bei dir?«

Grace errötete und biss sich auf die Unterlippe. »Auf dem Markt ist seit einiger Zeit ein neuer Händler. Er hat einen Sohn …«

»Ja? Erzähl! Wie alt ist er, wie heißt er, wie sieht er aus?«

»Er heißt Antonio, ist neunzehn Jahre alt und hat dunkle, lockige Haare und braune Augen. Er hat mich immer angelächelt, wenn wir dort einkaufen waren. Irgendwann hat er angefangen, mir jedes Mal eine Kleinigkeit zu schenken. Einen Apfel oder so. Vor drei Wochen bin ich kurz vor Marktende erst hingegangen, und wir haben uns unterhalten. Seine Großeltern sind aus Italien hierhergekommen.«

»Antonio. Das ist ein schöner Name.«

»Seine Freunde nennen ihn Tony.« Grace senkte die Stimme. »Er hat gesagt, ich hätte so schöne blonde Haare und dass er demnächst mit mir ausgehen möchte. Meine Mutter weiß nichts davon. Sie findet, der Sohn eines Obst- und Gemüsehändlers ist keine passende Partie.«

Das Klappern der Hautür unterbrach ihr Gespräch.

»Ich bin wieder da!«, rief Graces Mutter nach oben. »Habt ihr Hunger?«

»Ich habe Hunger, und du?«, fragte Grace. Leah nickte.

Rasch liefen sie hinunter in die Küche. Mrs. Halsey packte Kuchen aus. Nach dem Essen spannten die Mädchen den Wagen an, und Grace brachte Leah nach Hause.

An diesem Abend ging Leah früher auf ihr Zimmer als sonst. In dem Raum, den sie mit Deborah teilte, zündete sie die Lampe an und schloss die Vorhänge. Rasch zog sie sich aus, wusch sich und streifte ihr Nachtgewand über. Dann holte sie das Buch aus der Schublade, in der sie ihre Unterwäsche aufbewahrte. Die Zeitung ließ sie dort. Sie kuschelte sich in ihr Bett und schlug es auf. Endlich Zeit zum Lesen. Darauf hatte sie sich schon den ganzen Nachmittag gefreut.

Die Ernte ist eingebracht, und der Sommer ist vorbei.

Im Schein der Lampe las Leah die ersten Kapitel, begleitete Anne auf das College nach Kingsport.

Als sich die Tür öffnete, schreckte sie auf und schob das Buch hastig unter die Decke. Es war nicht verboten, die Bücher der Englischen zu lesen, aber ihre Eltern sahen es nicht gerne, und gerade jetzt wollte sie Streit vermeiden. Ihr Entschluss, sich erst im nächsten Jahr taufen zu lassen, und ihr Wunsch, vorher einige Zeit woanders zu verbringen, stieß vor allem bei ihrem Vater auf Unverständnis.

Doch es war nur Deborah. »Du bist noch wach?«

»Ja, ich habe noch gelesen.« Sie zog das Buch unter der Decke hervor. »Grace hat es mir geliehen. Wie war deine Fahrt mit Samuel?«

Deborah lächelte, während sie ihre Kapp abnahm und die Nadeln aus dem Haarknoten zog. »Sehr schön. Wir sind wieder zu dem Stück Land gefahren, das er von seinem Vater bekommt, und haben uns an die Stelle gesetzt, wo das Haus später stehen wird. Man hat einen schönen Blick über das Tal. Wir wollen Pfirsichbäume entlang der Zufahrt pflanzen.«

Sie griff nach der Bürste und kämmte sich das Haar. Dabei blickte sie verträumt aus dem Fenster.

Leah freute sich für sie. Samuel war vielleicht nicht besonders aufregend, aber er und Deborah verstanden sich sehr gut, und Samuels Eltern waren nicht so streng in ihren Ansichten. Sie hatten ein Automobil besessen, als diese noch erlaubt gewesen waren, und in seinem Elternhaus hatte es sogar noch ein Telefon gegeben, als Telefone von den Ältesten schon »gebannt« worden waren. Erst als der Bischof sich eingeschaltet hatte, hatten sie die Leitung herausreißen lassen. Samuel selbst war in seiner Rumspringazeit auf dem elterlichen Hof geblieben und hatte nur ein paar Ausflüge in die Stadt gemacht. Doch sein jüngerer Bruder, Joshua, war im letzten Herbst nach Harrisburg gegangen und lebte dort bei entfernten Verwandten der Wagners, die den mennonitischen Glauben angenommen hatten.

2. Kapitel

Eine Woche später bat ihr Vater sie zu einem Gespräch in die Stube.

»Nun, Tochter …«

Unwillkürlich setzte sich Leah gerade hin und nahm die Schultern zurück. Wenn ihr Vater so anfing, wollte er über etwas Wichtiges sprechen, und sie glaubte zu wissen, worüber.

Er strich über seinen blonden Bart und sah ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick. Ihre Augen glichen sich, sagten die Leute.

»Deine Mutter sagte mir, du hättest dich immer noch nicht dazu entschieden, dich taufen zu lassen. Zweifelst du an unserem Glauben?«

»Nein, das tue ich nicht«, sagte sie langsam. Wie sollte sie ihrem Vater ihre Unruhe verständlich machen, diese vage Sehnsucht nach der Welt außerhalb der Amischgemeinde? Sie wusste ja selbst kaum, wonach sie sich sehnte. Sie glaubte an Gott, sie glaubte an die Gemeinschaft, und doch wollte sie mehr. Mehr wissen, mehr sehen, mehr erfahren, bevor sie sich taufen ließ.

»Ich zweifle nicht am Glauben. Trotzdem möchte ich die Zeit der Rumspringa nutzen, um ein wenig mehr vom Leben außerhalb der Gemeinde kennenzulernen.«

Sie wusste, dass sie es durfte. Doch wenn ihr Vater es verbot, würde sie ihr Recht vor dem Bischof einfordern müssen, und das würde unweigerlich zu einem Zerwürfnis mit ihren Eltern führen. Eine ungehorsame Tochter war keine gute Tochter.

»Wozu? Wenn du doch weißt, dass du dich für ein Leben in der Gemeinde entscheiden wirst?«

»Ich hätte ein besseres Gefühl dabei. Das Leben draußen mit all seinen Verlockungen zu kennen und sich dann zu entscheiden, ist etwas anderes, als nichts davon zu wissen«, sie zögerte, »und es dann vielleicht zu bereuen.«

Ihr Vater zog die Brauen zusammen. »Also bist du deiner doch nicht so sicher?«

»Doch, aber wenn ich das andere Leben kennen würde, dann hätte ich Gewissheit. Jonas durfte nach Philadelphia gehen. Warum sollen für mich andere Regeln gelten?«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihres Vaters, er nickte bedächtig. »Eine gute Frage. Wenn ich ehrlich bin, fürchte ich ein wenig deinen Lebenshunger und deine Wissbegier. Deine Schwestern wollten nie von hier fort. Du bist anders.«

Hatte er Angst, dass sie nicht zurückkommen würde?

»Meine Schwestern haben sich auch hier verliebt. Ich weiß nicht, ob ich mich in einen Mann aus unserer Gemeinde verlieben könnte. Ich gehe seit einem Jahr zum Singen, und die jungen Männer sind alle wie Brüder für mich. Vielleicht treffe ich in einer anderen Gemeinde jemanden. Ich will ja gar nicht nach Philadelphia.«

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, sie würde nur zu gern dorthin, doch das würden ihre Eltern nicht erlauben.

»Nun gut, was hältst du davon, wenn du Caleb in Lancaster besuchst?«

Leah unterdrückte ein Seufzen. Davon hielt sie gar nichts. Ihr ältester Bruder war ebenso streng wie ihre Eltern, und seine Farm in Lancaster County lag sehr abgelegen. Etwas anderes als im Garten zu arbeiten und auf ihre Nichten und Neffen aufzupassen, würde sie dort nicht tun können. Da konnte sie genauso gut auf dem Mühlenhof bleiben.

»So weit weg wollte ich gar nicht.«

Die Miene ihres Vaters hellte sich auf. »Ach so. Was wolltest du denn dann tun?«

Jetzt war die Gelegenheit, ihm ihre Idee zu unterbreiten.

»Ich habe gedacht, ich könnte vielleicht Tante Rachel im Laden helfen. Du weißt doch, Mattie bekommt demnächst ihr Kind und fällt dann für eine Weile aus, und Tante Rachel möchte keine Englische anstellen, hat sie gesagt.«

Rachel Gerber war eine Cousine ihres Vaters. Sie war verwitwet und verdiente ihren Lebensunterhalt mit einem Laden in einem neuen Viertel von Jacobstown, wo viele Englische wohnten. Ihnen verkaufte sie amische Produkte, Backwaren, Gemüse und Obst, aber auch Quilts, bestickte Tischdecken und Taschentücher, Kerzen und handgeflochtene Körbe. Dass sie Hilfe für den Laden suchte, hatte sie bei der letzten Gemeeh erzählt, und Leah hatte sofort die Möglichkeit für sich gesehen. Der Laden lag im Norden von Jacobstown. Die Arbeit würde ihr bestimmt Spaß machen, sie konnte andere Leute kennenlernen und tat auch noch ein gutes Werk.

Hoffnungsvoll sah sie ihren Vater an. Er wiegte unschlüssig den Kopf. »Du müsstest bei Rachel wohnen. Es ist zu weit, um jeden Tag hin und her zu fahren.«

»Ich weiß. Aber Tante Rachel hat Platz. Ich könnte in Matties altem Zimmer wohnen.«

Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihres Vaters. »Du hast dir schon alles genau überlegt, was? Ich rede mit deiner Mutter darüber.«

Erleichtert atmete sie auf. Ihre Mutter würde es bestimmt nicht ablehnen. Ihr Vater war der Strengere in der Familie.

Sie lächelte ihn an. »Ich danke dir.«

Eigentlich hatte sie erwartet, dass ihre Eltern ihr gleich am nächsten Morgen sagen würden, ob sie in die Stadt gehen durfte, aber beim Frühstück wurde über alles Mögliche gesprochen, nur nicht darüber.

Sie saß am Tisch, stocherte in ihrem Rührei herum und versuchte, ihre Ungeduld nicht zu zeigen. Hatte ihr Vater noch gar nicht mit ihrer Mutter gesprochen? Oder waren sie sich nicht einig? Auch wenn bei den Amisch das Wort des Mannes in den meisten Fällen galt, mussten sich bei wichtigen Angelegenheiten wie einer Heirat oder auch der Rumspringa beide Elternteile einig sein. Allerdings hatte Leah noch nie erlebt, dass ihre Mutter eine andere Meinung vertreten hatte als ihr Vater.

Auch am Abend wurde nicht über Leahs Rumspringa gesprochen.

»Ich dachte, ich hätte ihn überzeugt«, sagte Leah enttäuscht zu Deborah, als sie zu Bett gingen.

»Möglicherweise zögert er wegen Joshua.«

»Wegen Joshua?«

Joshua verbrachte seine Rumspringa in Harrisburg und arbeitete in einem Eisenwerk. Was hatte das mit ihr zu tun?

»Es heißt, dass er sich ein gebrauchtes Automobil gekauft hat und mit Engländerinnen ausgeht. Samuels Eltern sind wohl ein wenig besorgt deswegen.«

»Nur ein wenig?«

Leah stellte sich vor, wie ihre Eltern reagiert hätten, wenn Jonas sich während seines Aufenthalts in Philadelphia ein Auto gekauft hätte. Ihr Vater hätte ihn umgehend nach Hause beordert.

»Nun ja, sie sagen, er sei jung und neugierig und solle sich ruhig die Hörner abstoßen. Aber in der Gemeinde wird darüber gesprochen, und andere sehen es nicht so gelassen. Vor allem Eli Weaver hat ziemlich deutlich gesagt, dass man so etwas nicht dulden soll, selbst wenn Joshua noch nicht getauft ist. Bestimmt hat Papa auch davon gehört.«

Herrje, da hatte sie den Grund. Das Leben außerhalb der Gemeinde kennenzulernen war eine Sache, gegen die Ordnung zu verstoßen eine andere, auch wenn Joshua deswegen nicht gebannt werden konnte. Warum musste diese Geschichte ausgerechnet jetzt in der Gemeinde die Runde machen? Und sich dann auch noch Eli Weaver dazu äußern. Er war einer der drei Ältesten und legte die Ordnung besonders streng aus. Bei der letzten Gemeeh hatte er gegen »selbstverliebtes Lockendrehe« gewettert und dabei Leah angesehen. Als könne sie etwas dafür, dass sich ihr Haar lockte und sich immer wieder aus dem Knoten löste.

»Meinst du, Joshua verkauft sein Automobil wieder und kommt zurück?«

»Samuel sagt ja. Er hat erzählt, Joshua habe sich schon immer für die Technik der Englischen interessiert und ihm erzählt, dass er mal ein Automobil fahren wolle, um herauszufinden, ob es wirklich besser sei als unsere Buggys.«

Ruben Wagner, der Vater von Samuel und Joshua, baute Wagen und Buggys, er hatte es von seinem Onkel gelernt, der es wiederum von seinem Vater gelernt hatte. Joshua hatte vor seiner Rumspringa ebenfalls Wagen gebaut.

Leah hatte Joshua nie besonders beachtet. Wie alle jungen Männer in der Gemeinde kannte sie ihn von klein auf.

Am nächsten Morgen spannte ihr Vater den Braunen vor den Wagen und fuhr weg. Nach zwei Stunden kehrte er zurück, bat ihre Mutter, in die Stube zu kommen, und schloss die Tür.

Leah und Deborah bereiteten die Samstagssuppe vor. Über den Küchentisch hinweg blickten sie sich an. Was hatte das zu bedeuten?

Kurze Zeit später rief ihr Vater Leah in die Stube.

»Setz dich.«

Sie nahm am Tisch gegenüber ihren Eltern Platz und legte die Hände in den Schoß.

»Ich war beim Bischof, um über deine Rumspringa zu reden. Eigentlich hatte ich mit deiner Mutter schon besprochen, dass du für ein paar Monate zu Rachel ziehen kannst und ihr im Laden hilfst, doch was man über Joshua Wagner hört, hat mich doch zweifeln lassen, ob es das Richtige ist.«

Leah knetete den Stoff ihres Kleides. Das hatte sie befürchtet.

Ihr Vater fuhr fort: »Du hast sicher auch von den beiden jungen Männern gehört, die sich Automobile gekauft und dann lieber die Meidung auf sich genommen haben, als ihre Wagen wieder herzugeben.«

Sie nickte stumm. Es hatte sogar in der Zeitung gestanden, und natürlich hatte die Geschichte die Runde durch die Amischgemeinde von Jacobstown gemacht.

»Bischof Zook meint, solche Sachen passieren, und man könne sie auch nicht verhindern, indem man den jungen Leuten verbietet, weltliche Erfahrungen zu machen. Er ist der Meinung, dass überwundene Versuchungen stark machen, und glaubt fest daran, dass Joshua nicht abtrünnig werden wird. Kurz: Er ist der Meinung, wir sollten dich zu Rachel schicken.«

Zitternd atmete Leah ein. Ihre Fingergelenke schmerzten, so fest hatte sie die Hände in den Stoff gekrallt. In ihrem Herzen dankte sie Bischof Zook für sein Verständnis.

»Morgen bei der Gemeeh werden wir Rachel fragen, ob sie einverstanden ist.«

Der Gottesdienst fand diesmal bei den Wagners statt. Am Ende erhob sich Bischof Zook und trat vor die Gemeinde.

»In den letzten Tagen ist darüber geredet worden, dass die jungen Leute in der Rumspringa Versuchungen ausgesetzt werden, denen sie vielleicht erliegen könnten. Ihr habt alle von den beiden jungen Männern in Kansas gehört. Deswegen möchten einige, dass die jungen Leute während der Rumspringa nicht mehr von zu Hause fortgehen dürfen.«

Leah riss die Augen auf. Neben ihr stieß ihre Freundin Anna Yoder heftig die Luft aus. Sie war siebzehn Jahre alt. Ein Verbot würde sie genauso treffen wie Martha Graber, Jacob Fischer oder Leahs Bruder Gideon.

Vor ihr nickte die alte Katharina Wyse heftig mit dem Kopf, und auch manche Männer murmelten zustimmend.

»Ich habe einen Sohn im Rumspringa-Alter und kann die Bedenken sehr gut verstehen«, fuhr Bischof Zook fort. »Trotzdem bin ich dagegen, es zu verbieten.«

Wieder zog Geflüster durch die Scheune. Der Bischof hob die Hände.

»Vor vierhundert Jahren haben unsere Vorfahren beschlossen, ihre neugeborenen Kinder nicht mehr taufen zu lassen, weil man erst als Erwachsener in der Lage ist, eine Wahl zu treffen und sich für oder gegen den Glauben zu entscheiden. Dafür wurden sie verfolgt, aber sie hielten daran fest und tun es bis heute. Wir alle finden es richtig so.« Er machte eine Pause und ließ seinen Blick über die Köpfe der Versammelten schweifen. »Aber damals ging es nur um das Bekenntnis zum Glauben, die Lebensweise der Amisch unterschied sich kaum von der anderer einfacher Menschen. Seit einiger Zeit hat sich das geändert. Es gibt viele neue Erfindungen. Manche nutzen wir, andere lehnen wir ab. Wenn sich heutzutage junge Menschen entscheiden sollen, unserer Gemeinde beizutreten, geht es nicht mehr nur um die Glaubensfrage. Sie müssen wählen, ob sie auf die Vorteile, die der Fortschritt ihnen bietet, verzichten, weil unser Glaube das verlangt. Doch man kann nur wählen, wenn man die Wahl hat, wenn man weiß, wofür oder wogegen man sich entscheidet. Und deshalb plädiere ich für die Rumspringa.«

»Gott segne Bischof Zook«, flüsterte Anna kaum hörbar. Leah nickte.

3. Kapitel

Tante Rachel war einverstanden, dass Leah für drei Monate zu ihr ziehen und ihr ihm Laden helfen würde. »Ich freue mich sehr. Du kannst in Matties altem Zimmer wohnen.«

Sie kam nach der Gemeeh mit auf den Mühlenhof und besprach mit Leahs Vater die Einzelheiten. Leah würde von Montag bis Samstag im Laden arbeiten und dafür zehn Dollar die Woche bekommen, einen Nachmittag in der Woche hatte sie frei.

Und so packte Leah zwei Tage später ihre Taschen, und ihr Vater brachte sie nach Jacobstown.

Vor Rachels Haus hielt er an und half Leah, ihre Tasche abzuladen. Rachel trat aus der Haustür.

»Guten Tag, ihr beiden. Kommt herein. Mattie ist im Laden.«

»Guten Tag, Rachel. Ich fahre gleich wieder«, sagte ihr Vater. Er legte Leah die Hand auf die Schulter. »Ich wünsche dir eine gute Zeit. Lass sie nicht zu lange dauern.« Dann drückte er ihr einen Zehn-Dollar-Schein in die Hand. »Ein bisschen Geld. Du wirst es brauchen, bis du deinen ersten Lohn bekommst. Gott sei mit dir.«

Er kletterte wieder in den Buggy und wendete. Leah blickte ihm hinterher, bis er um die Ecke gefahren war. Dann wandte sie sich um und trat in den Hausflur.

Rachel lächelte sie an. »Komm, ich zeige dir dein Zimmer.« Sie deutete auf eine Tür links von ihnen. »Hier geht es zum Laden. Und hier«, sie wies auf eine Tür rechts, »ist die Küche. Wir haben fließendes Wasser aus der Leitung, weil es keine Brunnen in der Nähe gibt. Bischof Zook hat es ausnahmsweise erlaubt.«

Leah folgte ihr die Treppe hinauf. »Im ersten Stock sind mein Zimmer und die Stube.« Sie gingen weiter in den zweiten Stock.

»Hier ist dein Zimmer.«

Leah trat ein und sah sich um. Es war ein Dachzimmer mit schrägen Wänden und einer Gaube, in der sich ein Fenster befand. Die Vorhänge waren zurückgebunden und ließen die Strahlen der Mittagssonne ins Zimmer. Die Möbel waren schlicht wie auf dem Mühlenhof. Trotzdem wirkte das Zimmer einladend und gemütlich. Auf dem Bett lag ein wunderschöner Quilt, neben dem Fenster stand ein Schaukelstuhl. Es gab eine Kommode mit drei Schubladen, einen schmalen Schrank und den üblichen Waschtisch.

»Gefällt es dir?«, fragte Rachel.

»Ja sehr.«

»Es war Matties Zimmer, bis zu ihrer Hochzeit.« Sie legte den Kopf schief und lauschte. »Ich glaube, die Ladenglocke hat geklingelt. Pack deine Sachen aus, und wenn du fertig bist, zeige ich dir den Laden.«

Leah nickte. Sie schloss die Tür hinter ihrer Tante, stellte sich in die Mitte des Raumes und drehte sich einmal um sich selbst. Das also war für die nächsten Monate ihr Zuhause. Etwas mulmig war ihr nun doch zumute. Wie würde sie mit Tante Rachel auskommen? Wenn sie sich bei der Gemeeh oder auf Familienfeiern begegnet waren, hatte sie immer nett und herzlich gewirkt, doch im Grunde wusste Leah nicht viel über sie. Den Laden hatten ihr Mann Eli und sie aufgebaut, als Jacobstown am Ende des vorigen Jahrhunderts gewachsen war und viele Englische in die Stadt gezogen waren. Eli hatte sofort die Möglichkeiten erkannt. Die Englischen waren keine Bauern, sie arbeiteten in Büros oder Läden und waren darauf angewiesen, ihre Lebensmittel zu kaufen.

Eli fuhr mit seinem Wagen zu den Bauernhöfen und kaufte ein, seine Söhne begleiteten ihn, während Rachel und ihre Töchter im Laden halfen. Zu den Lebensmitteln kamen später Handarbeiten. Handgeflochtene Körbe, gestrickte Schals und nachdem eine Englische einen der Quilts gesehen hatte und begeistert war, verkaufte Rachel auch die farbenprächtigen Quilts, die sie und ihre Töchter nähten.

Rachels sieben Kinder waren inzwischen alle erwachsen und lebten woanders, nur ihre jüngste Tochter Mattie und ihr Mann Lukas waren in Jacobstown geblieben. Nach Elis Tod vor fünf Jahren hatte Lukas die Einkaufsfahrten übernommen, und Mattie half ihrer Mutter im Laden.

Mehr wusste Leah nicht über Rachel.

Sie hängte ihre beiden Kleider in den Schrank. Außer dem dunkelgrauen, das sie trug, hatte sie noch ihr neues grünes und ein dunkelblaues mitgenommen. Ihre Schürzen verstaute sie zusammen mit der Unterwäsche und den Socken in der Kommode. Sie band die weiße Schürze um und strich sie glatt, überprüfte den Sitz ihrer Haube und stieg die Treppe hinunter. An der Tür zum Laden hielt sie kurz inne und lauschte. Es war still, also hatte Rachel wohl gerade keine Kunden. Sie öffnete die Tür und trat ein. Leah befand sich in einem kleinen Raum, der wohl als Lager diente. An den Wänden standen Regale. Eine weitere Tür führte in den Laden. Rachel stand mit dem Rücken zu ihr an der Theke, vor ihr zählte eine Englische Münzen aus ihrer Geldbörse. Sie sah auf, und ihr Blick fiel auf Leah. Lächelnd nickte sie ihr zu. Etwas verlegen erwiderte Leah den Gruß.

Rachel wandte sich um. »Hallo Leah.« Sie winkte sie heran.

»Das ist meine Nichte. Sie wird einige Zeit hier im Laden aushelfen. Leah, das ist Mrs. Miller, eine unserer Stammkundinnen.«

»Guten Tag, Mrs. Miller«, sagte Leah höflich.

Rachel wandte sich wieder ihrer Kundin zu. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Auf Wiedersehen.«

Sie lächelte, aber irgendwie wirkte sie verändert. Ihre Augen blieben vom Lächeln unberührt.

Sie wartete, bis Mrs. Miller den Laden verlassen hatte, dann wandte sie sich an Leah. »Heute und morgen schaust du am besten erst einmal nur zu. Versuche, dir möglichst schnell die Namen und Gesichter unserer Stammkunden zu merken, sie mögen es, wenn man sie mit Namen begrüßt.«

Leah nickte, doch insgeheim wurde ihr bange. Sie hatte kein gutes Namensgedächtnis.

»Und leg die Haube ab«, fuhr Rachel fort. »Hier im Laden reicht es, wenn du die Kapp trägst.«

Langsam löste Leah die Bänder der Haube und legte sie auf ein Regal. Wie immer hatten sich einige Locken aus ihrem Haarknoten gelöst. Sie strich sie zurück.

Sie verbrachte ihren ersten Nachmittag im Laden damit, sich im Hintergrund zu halten und zu beobachten. Wenn jemand durch die Eingangstür trat, setzte Rachel ihr Lächeln auf und begrüßte denjenigen. Wenn keine Kunden im Laden waren, zeigte sie Leah, wo welche Waren lagen, wie viel was kostete. In Leahs Kopf schwirrten Preise und Kundennamen durcheinander. Wie sollte sie sich das alles bloß merken?

»Mach dir darum keine Gedanken«, sagte Rachel, als sie ihre Bedenken äußerte. »Das geht schneller, als du glaubst.«

Der Nachmittag verging wie im Flug. Um sechs Uhr schloss Rachel die Ladentür und zeigte ihr, wie sie die Kasse machte.

Mattie hatte in der Zwischenzeit das Abendessen vorbereitet. Lukas und sie blieben zum Essen, ehe sie nach Hause gingen. Sie lebten einige Straßen weiter am Stadtrand.

Am nächsten Nachmittag fragte Leah, ob sie vor dem Abendessen zu den Halseys gehen konnte, um Grace zu treffen.

»Halsey? Ist das die Frau, die die Pension im alten Viertel hat?«

»Ja. Grace ist meine Freundin.«

»Nun, dann geh. Aber sei bitte nicht zu spät zurück.«

Leah nahm ihren Mantel vom Haken und lief los. Erst als sie um die Ecke bog und der Wind überraschend kühl über ihren Kopf strich, merkte sie, dass sie ihre Haube nicht aufgesetzt hatte. Sie hielt inne. Sollte sie umkehren und sie holen? Nein. Sie trug die Kapp, das war genug.

Vor einem Laden in der Nähe der Pension standen vier Frauen und unterhielten sich. Als Leah vorbeiging, spürte sie ihre Blicke. Eine der Frauen zeigte mit dem Finger auf sie. »Schau, Mary-Ann, das ist eine von diesen Deutschen, die hier leben.«

Die Frau starrte Leah an. »Eine Deutsche?«, sagte sie laut. »Warum hat sie so komische Sachen an?«

»Vielleicht trägt man das in Deutschland so.«

Leah senkte den Kopf. Dass sie von den Neubürgern in Jacobstown angestarrt wurde, daran war sie mittlerweile gewöhnt. Obwohl die Siedlung vor zweihundertfünfzig Jahren von deutschen Auswanderern, Amischen, gegründet worden war, lebten mittlerweile viele Englische in der Stadt. Aber warum bezeichnete diese Frau sie als Deutsche? Ihre Ururgroßeltern waren 1818 nach Jacobstown gekommen. Ihre Familie lebte mit Sicherheit länger hier als diese Frauen.

Rasch ging sie weiter und bog in die Straße ein, in der sich die Pension der Halseys befand.

Die Tür war offen, also trat sie ein. Mrs. Halsey stand hinter dem Schreibtisch, an dem sie die Gäste begrüßte, und sah auf. Ihre Augen weiteten sich.

»Leah! Was machst du denn hier?«

»Guten Abend, Mrs. Halsey. Ich werde die nächsten Monate in der Stadt sein und im Laden meiner Tante arbeiten. Ich wollte Grace sehen.«

»Oh, also darfst du deine Rumspringa hier verbringen. Wie schön.«

»Was?« Grace eilte aus der Küche. »Deine Eltern haben es dir erlaubt?« Sie fiel Leah um den Hals. »Wohnst du auch hier, oder musst du jeden Abend nach Hause?«

»Ich wohne bei meiner Tante Rachel.«

»Das ist wundervoll, dann können wir zusammen ausgehen. Komm in die Küche, ich muss noch Geschirr abtrocknen, dann habe ich Zeit.«

Leah folgte ihr in die geräumige Küche, holte ein Handtuch vom Haken und half Grace.

»Ich wollte am Samstagabend ins Bingham Café«, sagte Grace und polierte ein Glas. »Hast du Lust mitzukommen?«

»Was tut man denn da?«

»Leute treffen. Tanzen.«

Tanzen?

»Ich weiß nicht … ich kann nicht tanzen. Und es ist auch nicht erlaubt.«

Grace räumte das Glas weg, dann drehte sie sich um und stemmte die Hände auf die Hüften. »Komm, Leah. Es ist deine Rumspringa. Da darfst du alles probieren, auch das, was sonst verboten ist. Das hast du mir selbst erzählt.«

Das war zwar richtig, aber irgendwie ging Leah das alles zu schnell. Sie wollte sich erst einmal in der Welt der Englischen zurechtfinden, sich umschauen.

»Wir müssen ja nicht tanzen. Wir trinken etwas und sehen zu. Ja? Und wenn es dir nicht gefällt, gehen wir wieder.«

Leah gab sich einen Ruck. Worauf wollte sie warten? »Ja, so machen wir das.«

Als sie an diesem Abend nach Hause ging, bemerkte sie, dass ihr Schatten sich veränderte. Er wanderte von vorne nach hinten und tauchte dann wieder vor ihr auf. Verwundert sah sie auf. Die Sonne war untergegangen, Abendämmerung lag über der Stadt. Ihr Schatten kam von den Straßenlaternen, die jetzt leuchteten. Sie waren ihr nie aufgefallen. Und noch etwas war anders als draußen im alten Teil von Jacobstown: Auf jedem Dach standen Vorrichtungen, die aussahen wie Kerzenleuchter. Von einem Hausdach zum anderen waren schwarze Schnüre gespannt, die an diesen »Leuchtern« festgemacht waren. Das mussten die Leitungen sein, die den Strom in die Häuser brachten. Graces Mutter hatte sehr bedauert, dass in ihrem Viertel noch keine Stromleitungen verlegt waren.

Mit lautem Geknatter fuhr ein Automobil an Leah vorbei. Darin saßen zwei junge Männer. O ja, das Leben hier unterschied sich schon an ihrem ersten Tag sehr von dem auf dem Mühlenhof.

In den nächsten Tagen lernte sie, wo sie welche Waren im Laden fand, was sie kosteten, wie man die Registrierkasse bediente und dass ihre Tante auf zwei Arten lächelte. Es gab das Lächeln, das sie aufsetzte, sobald Englische den Laden betraten, und das einer Maske glich. Auch ihre Stimme klang dann anders als sonst. Freundlich, höflich, doch ohne die Herzlichkeit, mit der sie Leah begrüßt hatte.

Und es gab das Lächeln, das sie ihrer Familie, Leah oder amischen Kunden schenkte. Ein echtes, herzliches Lächeln, das ihre Augen strahlen ließ.

»Sei immer nett und höflich«, sagte sie zu Leah. »Aber lass die Englischen nicht zu nahe an dich heran. Sie leben in ihrer Welt, wir in unserer.«

Es dauerte nicht lange, bis Leah die Kunden kannte und sie mit Namen begrüßen konnte.

Mrs. H. Shoemaker war eine große schlanke Frau mittleren Alters. Leah erkannte sie nach kurzer Zeit an ihren stets herabgezogenen Mundwinkeln. Sie sprach sehr schnell, und wenn sie ihre Wünsche äußerte, geschah es im Befehlston. Die Worte »Bitte« und »Danke« schien sie nicht zu kennen.

Mrs. A. Wilson dagegen war klein und rundlich und ausgesprochen höflich. »Höflichkeit ist ja so wichtig«, pflegte sie bei jedem Einkauf zu sagen. »Die jungen Leute heutzutage wissen gar nicht mehr, was das ist. Keine Manieren. Aber ich sage Ihnen, das liegt an den Eltern. Die verwöhnen ihre Kinder zu sehr. Ich musste noch jeden Tag auf dem Feld arbeiten. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Und heute? Gucken Sie sich die jungen Menschen an. Die wissen gar nicht mehr, was Arbeit ist. Finden Sie nicht auch?«

Leah schüttelte innerlich den Kopf, stimmte ihr aber höflich zu. Mrs. Wilson redete um des Redens willen, wie Leah schnell merkte.

Dann gab es noch Mrs. McCorkle. Als Leah ihr das erste Mal begegnete, war sie alleine im Laden, Tante Rachel verstaute gerade neue Ware im Lager. Eine ältere weißhaarige Dame betrat mit einem fröhlichen »Guten Morgen« den Laden, dann blinzelte sie. »Oh, Sie sind neu hier? Wo ist denn Mrs. Gerber?«

»Im Lager.«