Der Himmel über Nebra - Erdem Uçar - E-Book

Der Himmel über Nebra E-Book

Erdem Uçar

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Beschreibung

Etienne Pettit fristet ein Leben als erfolgloser Kleinganove. Für den berüchtigten Patron soll er eine heikle Aufgabe erledigen: Etienne muss die Himmelsscheibe von Nebra – ein unbezahlbares Artefakt – stehlen. Dicht auf der Spur sind ihm der kauzige Kommissär Christoph Lenz und Stefanie Gerber, eine junge Fernsehjournalistin. Wird Etienne Pettit die Himmelsscheibe beschaffen können oder verhindern seine beiden Gegenspieler die Tat?

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Erdem Uçar

Der Himmel über Nebra

Krimi

Friedrich Reinhardt Verlag

Alle Rechte vorbehalten © 2016 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel Projektleitung: Beatrice Rubin ISBN 978-3-7245-2149-5 ISBN der Druckausgabe 978-3-7245-2109-9

www.reinhardt.ch

Dieses Buch ist meiner Mutter Saniye Uçar gewidmet.

Kapitel I

Lange Zeit habe ich mir diesen Moment ausgemalt. Wie es wohl wäre, mich von allem Irdischen zu lösen und der Sorglosigkeit hinzugeben, die ich all die Jahre gesucht habe. Das Leben nur noch einen kurzen, letzten Augenblick auszukosten, es zu fühlen, zu riechen und ein Teil davon zu sein, um es dann loszulassen mit Tränen in den Augen und einem Lächeln im Gesicht. Ich fühle mich in diesem Augenblick so leicht wie noch nie in meinem Leben. Ein warmes, rhythmisches Pulsieren durchströmt meinen Körper, ich spüre den harten Betonboden mit all seinen Unebenheiten unter mir. Ich liege da. Reglos. Sorglos.

Wie gern würde ich die Augen ein letztes Mal öffnen, die warme Abendsonne, die meinen kalten Körper erwärmt, noch einmal geniessen, doch Dunkelheit umgibt mich. Ich spüre den Wind, der von Zeit zu Zeit meinen Körper streift, und schmecke die Hafenluft auf meinen Lippen. Ich ertappe mich dabei, dass ich mir meinen eigenen Tod sehnlichst herbeiwünsche.

In diesem Augenblick kehrt mein Sehvermögen zurück. Langsam öffne ich meine Lider und spüre, wie sich meine Pupillen im grellen Abendrot blitzschnell zusammenziehen. Zunächst erkenne ich farblose verschwommene Silhouetten, die sich mit jedem schmerzhaften Wimpernschlag mehr und mehr zu mir bekannten Objekten formen. Ich versuche, meine Kraftreserven ein letztes Mal zu bündeln, den Arm zu erheben, um einen genaueren Blick auf das Ding vor mir zu erhaschen, das mein Schicksal besiegeln wird. Ich gestehe mir ein, dass ich nur noch einen letzten Versuch habe, bevor meine Reserven vollkommen erlöschen. In Zeitlupe, so kommt es mir vor, führe ich meine linke Hand an meinen Kopf. Mein ganzer Körper zittert. Mit der bluttriefenden Hand verdecke ich mein linkes Auge und versuche, einen kurzen, aufklärenden Blick auf die Person vor mir zu werfen. Mein Verdacht wird bestätigt. Vor mir steht ein alter Mann, dessen Haare den Kampf gegen das Alter eindeutig verloren haben und dem man den übermässigen Zigarettenkonsum in den eingefallenen Wangen deutlich ablesen kann. Er trägt einen grauen Nadelstreifenanzug und italienische, handgearbeitete Lederschuhe. In seiner rechten Hand hält der Mann eine halbautomatische Pistole, die in meine Richtung zielt.

Mein Name ist Etienne Pettit und das ist meine Geschichte.

Kapitel II (05. Februar 2002)

Die frühe Morgensonne schien durch die alten, schweren Gardinen und erhellte den zugestellten, von Zigarettenrauch verqualmten Raum. Einen Moment schien es, als würden die Sonnenstrahlen mit den sonst unsichtbaren Staubflocken Tango tanzen. Dieser Raum hatte schon lange keinen Putzlappen mehr gesehen. Eine Ausnahme war dabei der dunkle und massive Nussbaumtisch, der so sauber und ordentlich war, wie man es sich klischeehaft bei Staatsbeamten vorstellt. Darauf befanden sich lediglich ein Schreibblock mit zahlreichen, verwirrenden Notizen, ein zerkauter Bleistift, ein Telefon, eine moderne Tischlampe und ein offensichtlich selten benutzter Computer. Einzig ein in die Jahre gekommener Bilderrahmen mit einem längst vergilbten Foto verlieh dem Tisch eine persönliche Note.

Tief eingesunken im abgewetzten, schwarzen Ledersessel sass ein grauhaariger, magerer Mann mit ungepflegtem Schnurrbart und glasigen Augen – Kriminalkommissär Christoph Lenz. So alt wie seine graue Tweedjacke war auch seine Alkoholsucht. In der mit zahlreichen winzigen Äderchen übersäten linken Hand hielt Kommissär Lenz ein volles Glas mit einem für seine Lohnklasse zu billigen Single-Malt Whiskey und in der anderen schaukelte er die Flasche wie ein Baby hin und her. Mit einem beschämten Blick zur untersten Schublade seines Schreibtisches gestand sich Kommissär Lenz ein, in letzter Zeit viel zu oft von dieser Flasche Gebrauch gemacht zu haben, lenkte dann aber seinen Blick und seine Gedanken wieder auf das vollkommen verblasste Bild auf dem Tisch.

Still betrat Detektiv-Korporal Mendelin das völlig verqualmte Zimmer. Er war einer der vielen blutjungen Korporale, die, wie Lenz fand, aus dem Boden schossen wie Amberbäume. Einen Moment lang schwelgte der Kommissär in Gedanken und versuchte sich an seine Kindheit zu erinnern, an die vielen herbstlich blutrot gefärbten Blätter dieser Bäume, die er so oft in den Ferien mit seinen Eltern gesehen hatte. Sein altes Herz machte einen Sprung, als er merkte, dass seine Gedanken abschweiften, und er sich dabei erwischte, wie er innerlich eine Debatte über den Nutzen der vielen jungen Korporale führte. Er fand, dass diese jungen Detektive nichts vom Schneid und Spürsinn eines alten Hasen besassen und stattdessen stets nach dem Lehrbuch handelten. Paragrafenlecker nannte er solche Beamten. Sie fürchteten zu viel und fühlten zu wenig.

Einen Moment später bereute er diesen Gedanken und er entschuldigte sich innerlich bei Mendelin, ihn mit allen anderen Detektiven in denselben Topf geworfen zu haben. Er mochte den Korporal und die Art, wie er die Dinge anpackte; immerzu erledigte er seine Arbeiten souverän und mit einem derart strukturierten Vorgehen, wie er es noch bei keinem seiner Kollegen erlebt hatte. Darüber hinaus sah er auch noch gut aus, wie Kommissär Lenz fand – soweit er das als Mann beurteilen konnte. Dieser Mendelin könnte es noch weit bringen, dachte er sich, wenn ihm ein erfahrener Vorgesetzter unter die Arme greifen würde. Aber dieser eine zu sein, dafür war ihm seine eigene Zeit viel zu kostbar. Zu sehr hatte er sich in den letzten Jahren mit seiner Arbeit als Kriminalkommissär abgeschuftet, mit grossem Erfolg, wie die zahlreichen verstaubten Urkunden und Zeitungsartikel an den Wänden bewiesen, als dass er es diesem Mendelin zu leicht machen wollte. Er sann darüber nach, dass er sich zu sehr für seinen Erfolg aufgeopfert hatte und sich zu wenig auf das Wesentliche konzentriert hatte.

Als Korporal Mendelin bereits mit einem Bein im Zimmer stand, die Türklinke versonnen in der rechten Hand haltend, bemerkte er erst, dass er nicht alleine war.

«Herr Kommissär? Entschuldigen Sie … Ich habe Sie nicht …», stotterte er. «Ich wusste nicht, dass Sie … ähm … schon im Büro sind …» Seine Verlegenheit war ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben.

«Was wollen Sie? Was kann so wichtig sein, dass Sie in dieser Herrgottsfrühe in mein Büro spazieren?», entgegnete ihm Kommissär Lenz mit fester Stimme, sodass es ihm einen kurzen Moment später noch im Hals kratzte.

«Der Staatsanwalt, Herr Kommissär. Im Rheinhafen St. Johann wurde eine Leiche gefunden und der erste Staatsanwalt hat Ihnen diesen Fall zugeteilt. Er wollte Sie …» Der Schreck, ertappt worden zu sein, sass dem Korporal immer noch in den Gliedern und er umklammerte die Türklinke noch fester als zuvor.

In einem Moment der völligen Stille stellte Kommissär Lenz bedächtig das Glas neben das Bild und blaffte dann los: «Geben Sie schon die Fallakte her!» Er erkannte, wie er den jungen Detektiv in eine für ihn äusserst prekäre Lage versetzt hatte, beugte sich dann etwas vor und streckte ihm die frei gewordene Hand entgegen. «Falls der ehrenwerte Herr Staatsanwalt das nächste Mal glaubt, dass ich sein Traumkandidat für solche frühmorgendlichen Fälle sei, erwidern Sie ihm, dass wir hier bei der Staatsanwaltschaft kein Wunschkonzert haben. Er soll doch lieber beim Radio anrufen. Das ist ein Befehl.»

Korporal Mendelin war sich einen Augenblick lang nicht sicher, ob er im fahlen Licht ein verschmitztes Lächeln erkennen konnte, liess aber endlich die Türklinke los und trat in das Büro. Als er die Mitte des Raumes erreicht hatte, erkannte er, dass die unzähligen Erinnerungsstücke, die an den Wänden hingen und etliche Kisten und Regale füllten, dieses Büro zu einem Museum oder vielmehr zu einem Archiv umgestaltet hatten. Er hielt einen Moment lang inne und merkte, wie ihn die fahlen Augen des Kommissärs anglotzten, wie ein Löwe, der eine Antilope fixiert. Er übergab die Akte, machte einen wackligen Schritt rückwärts, um sich dann rasch umzudrehen und das Zimmer zu verlassen. Kommissär Lenz wartete eine Weile ab, bis er von draussen nichts mehr hörte und sicher sein konnte, dass ihn in den nächsten Minuten keine Menschenseele stören würde, dann stand er auf. Ihm wurde schwarz vor Augen, sodass er sich mit der linken Hand an seinem Schreibtisch abstützen musste, damit er nicht zu Boden stürzte. Er stand schwankend da und schwor dem Trinken ab, wie er es schon so oft getan hatte. Als er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war, beugte er sich vor, holte aus einer dunklen Ecke einen schweren schwarzen Mantel und zog ihn gemächlich an. Dann ging er um den Tisch herum in eine andere dunkle Ecke, dabei wusste er ganz genau, wann er welchen Fuss zu heben hatte, damit er nicht über eine der vielen Kisten stolperte. Er räumte unzählige Dinge um und es kam ein dunkelbraunes Ledersofa zum Vorschein, auf welches er sich legte, um seinen Rausch auszuschlafen.

Der Schlaf hielt nicht lange an. Kommissär Lenz erwachte schmatzend und mit dröhnenden Kopfschmerzen. Der saure Geschmack in seinem Mund liess ihn zusammenzucken, es folgte ein äusserst unangenehmer Hustenanfall, der seinen ganzen Körper bis ins Mark erschütterte. Danach lag er eine Weile reglos da. Beim Versuch, sich vom Ledersofa aufzustemmen, verkrampften sich seine zittrigen Finger. Eine Tatsache, die ihm vor einigen Jahren noch grosse Sorgen bereitet hatte, doch diese Bedenken waren mittlerweile in seiner allgemeinen Lethargie untergegangen. Seit fast drei Jahrzehnten hatte er im Dienst keinen Gebrauch mehr von seiner alten SIG P210 gemacht, und selbst die vierteljährlichen obligatorischen Schiessübungen waren eher zu einer Zusammenkunft von ausrangierten Kommissären verkümmert, als dass sie ihren eigentlichen Zweck, die Schiesspräzision mit der eigenen Dienstwaffe unter Beweis zu stellen, erfüllten. Lenz umklammerte mit beiden Händen seine Pistole und ihm wurde einmal mehr klar, dass seine geliebte Militärpistole nicht mehr mit den neuen, modernen Waffen seiner Kameraden mithalten konnte und eher in ein Museum als in den Halfter eines alten Kriminalkommissärs gehörte. Doch er verband mit dieser Pistole zu viele Erinnerungen, als dass er sie einfach wegschliessen und durch eine neue ersetzen konnte, so wie es eigentlich die Vorschriften verlangten.

Eine ganze Weile blieb Kommissär Lenz im schummrigen Licht seines Büros sitzen, bis er endlich den Entschluss fasste, aufzustehen. Er ging zum Schreibtisch, packte das vergilbte Bild und legte es in die oberste Schublade seines Schreibtisches. «Aus den Augen, aus dem Sinn», murmelte er vor sich hin, zog den Mantel noch fester um seinen Körper und ging zur Tür. Dort blieb er einen Moment stehen, um seine Gedanken ein letztes Mal zu ordnen. Dabei strich er sich mit der flachen Hand mehrmals über seinen zerzausten Schnurrbart, eine alte Angewohnheit, die ihm beim Denken half. Er spürte sein raues, mit unzähligen Falten übersätes Gesicht und merkte, wie der abgestandene Zigarettengeruch auf seiner Hand allmählich in seine Nase kroch.

Er stand tief atmend und mit starrem Blick da, nicht wissend, was ihn heute erwartete. Der alte Kommissär hatte Angst. Angst davor, durch diese Tür zu gehen und seinen geliebten Zufluchtsort mit seinen wahllos aufgetürmten, für ihn unbezahlbaren Erinnerungsstücken nie wiederzusehen. Er beugte sich nach vorne, fasste mit der rechten Hand den kalten Edelstahlgriff und drückte ihn bedächtig nach unten. Sein altes Herz schlug schneller.

Als er die Tür öffnete, strömte eine Geräuschkulisse herein, an die er sich die letzten Jahrzehnte so sehr gewöhnt hatte, dass er sich ohne diese verloren vorkam. Zunächst liess Kommissär Lenz die massive Tür nur einen kleinen Spalt offen, gerade so weit, dass er die unterschiedlichen Töne auf sich wirken lassen konnte, und um sich auszumalen, welcher seiner Kollegen an diesem Morgen Dienst hatte. Mit dieser Spielerei wollte er genau den richtigen Moment ausloten, damit er sich aus dem Kommissariat schleichen konnte, ohne in ein Gespräch verwickelt zu werden. Er versuchte herauszufinden, ob seine junge, stets bemühte Sekretärin, Frau Moser, anwesend war. Nachdem er eine Weile an der Tür gehorcht hatte und keinen Laut von ihr wahrnehmen konnte, wagte er sich aus seinem Büro. Doch ein Blick nach rechts sagte ihm, dass er sich geirrt hatte.

«Herr Kommissär, da sind Sie ja!», hallte ihre Stimme durch das Grossraumbüro, so laut, dass einige in die Arbeit vertieften Kollegen kurzzeitig den Kopf hoben. «Ich war gerade auf dem Weg zu Ihnen, um Ihnen Ihren Morgenkaffee zu bringen», rief Frau Moser in einer Lautstärke, die dem Kommissär äusserst peinlich war, stöckelte dann in ihren schwarzen Pumps, die sie mit einem hellgrauen tulpenförmigen Rock mit modischen Seitentaschen, einem tiefschwarzen Kaschmirpullover und einer viel zu glamourösen Perlenkette kombiniert hatte, auf ihn zu. Sie reichte ihm einen Plastikbecher mit Trinkaufsatz. Schelmisch fügte sie hinzu: «So wie Sie ihn mögen. Schwarz wie Ihre Seele.» Das leichte Neigen ihres Kopfes und das spitzbübische Grinsen zeigten ihre Abneigung, die sie gegenüber dem Kommissär hegte und für die er ihr auf der Stelle den Hals hätte umdrehen können. Als sie zu ihrem Schreibtisch zurückstolzierte, ertappte Lenz sich dabei, wie er die junge Frau von oben bis unten musterte. Er schämte sich anschliessend für diese Aktion so sehr vor seinen Kollegen, die ihm aber längst keine Aufmerksamkeit mehr schenkten, dass er, um seine Scham zu verstecken, einen tiefen Schluck vom Plastikbecher nahm. Der Kaffee war heiss.

Als er seinen Blick senkte, fixierte er nicht mehr die junge Frau Moser, sondern er blickte zu seinem Vorgesetzten, dem leitenden Staatsanwalt der Kriminalabteilung, Pascal Amstutz, in seinen Augen ein verwöhnter schnöseliger Esel. Er stand gerade im Türrahmen seines Büros, hielt die Tür hinter sich zu, als ob er etwas zu verstecken hatte, und flüsterte seinem Assistenten etwas ins Ohr. Dem Kommissär kam diese Situation suspekt vor und er wollte deshalb dem Ganzen auf den Grund gehen. Als Ermittler der alten Schule empfand er dies als seine Pflicht.

Das Büro des Staatsanwalts lag direkt gegenüber von seinem. Er ging an seiner Sekretärin vorbei, die ihn – diesmal mit leiser Stimme – darüber informierte, dass Detektiv-Korporal Müller in der Tiefgarage auf ihn wartete. Anschliessend passierte er zwei Kollegen. Kurz vor seinem Ziel verlangsamte Kommissär Lenz seine Schritte. Er wusste, dass ihm das grosse Innenfenster, das man vor einigen Jahren eingebaut hatte, um die Offenheit des Vorgesetzten für die Anliegen seiner Belegschaft zu symbolisieren, einen kurzen, aber geeigneten Blick verschaffen würde.

Bestimmt ging er Richtung Aufzug, den Kopf dabei leicht gebeugt, sodass er durch das Fenster in den Raum schauen konnte. Dieser kurze Augenblick reichte gerade aus, um Pascal Amstutz zu erblicken, der an seinem Schreibtisch sitzend in eine angeregte Diskussion mit seinem Gegenüber vertieft war. Von diesem Fremden konnte der Kommissär nur den schmucken grauen Anzug und die klassischen schwarzen Lederschuhe wahrnehmen. Einen Augenblick später stand der Kommissär bereits im Aufzug. Er war sich sicher, dass sich die beiden kurz umgeblickt hatten, aber nichts Verdächtiges erkennen konnten.

Im schummrigen Licht der Tiefgarage, die nach frischen Motorabgasen roch, musste sich Lenz einen Moment lang orientieren, um den Kollegen Müller zu finden. Dieser gab ihm ein kurzes Lichtsignal und Kommissär Lenz ging in Richtung des Wagens. Seine Schritte hallten laut aus allen Richtungen wider. Er stieg ins Auto, brummte mit heiserer Stimme «Müller» und schnallte sich an.

Die Fahrt verlief schweigend, was der Kommissär an diesem Morgen, angesichts seiner Kopfschmerzen, die durch die holprige Autofahrt auch nicht gerade besser wurden, besonders zu schätzen wusste. Er schob den Sitz nach hinten, stellte die Rückenlehne in eine angenehme Position und schloss für einige Sekunden die Augen, um mit seinen Gedanken alleine zu sein.

Das Auto hielt an. Der Kommissär erwachte aus seinem Nickerchen, schmatzend wie immer, und strich sich als Erstes mit der flachen Hand durch seinen Schnurrbart. Energisch stieg der Kollege Müller aus, Lenz folgte ihm gemächlicher. Die seit Wochen anhaltende Kälte und der starke Wind liessen ihn einen Moment lang am ganzen Körper zittern.

Reiss dich zusammen, dachte er sich, knöpfte den schweren Mantel zu und ging los. Beim bereits gesicherten Tatort wurden der Kommissär und Detektiv-Korporal Müller von zwei Streifenpolizisten empfangen. «Steiner», stellte sich der kleinere der beiden Polizisten vor. Er stellte auch seinen Partner vor.

«Was haben wir hier?», eröffnete Detektiv-Korporal Müller das Gespräch, während sein Blick unauffällig zum Kommissär wanderte und verriet, dass er dessen höheren Dienstgrad mit dieser voreiligen Frage auf keinen Fall untergraben wollte.

«Heute Morgen gegen halb sieben Uhr haben zwei Maurer auf der Baustelle eine Leiche gefunden. Zirka 1,92 Meter gross, männlich, weiss.» Korporal Steiner drehte sich um und deutete an, ihm zu folgen. Der Tatort lag inmitten einer Grossbaustelle. Von Weitem erkannte Lenz einige Kriminaltechniker und Detektive, die erste Spuren sicherten.

«Soweit wir das beurteilen konnten, weist die Leiche auf den ersten Blick keine Abwehrverletzungen an Händen oder Armen auf. Auch sonst lässt sich im Moment nichts über die Todesursache sagen.»

Der bitterkalte Wind blies dem Kommissär jetzt noch stärker in den Nacken und zerstreute seine gesamte Aufmerksamkeit, die er dem Polizisten hätte widmen sollen. Dafür wanderte sein Blick allmählich zum beeindruckenden Neubau der Dreirosenbrücke, die sich über ihren Köpfen bis hin zur Mitte des Rheins erstreckte. Von Nahem schien sie noch imposanter, als sie es von der Mittleren Rheinbrücke aus war. Als der Kommissär merkte, wie seine Gedanken immer weiter abschweiften, schüttelte er leicht den Kopf und stellte eine seiner unbedeutenden Fragen, die er im Laufe seiner langen Karriere in sein Repertoire aufgenommen hatte, um sich aus genau solchen Situationen zu retten: «Was wissen wir noch?»

«Die Leiche muss in der Nacht auf heute hier abgeladen worden sein», entgegnete ihm der zweite Polizist, an dessen Namen er sich nicht mehr erinnern konnte.

Korporal Steiner fuhr fort: «Ja, gestern Abend lag sie ja jedenfalls noch nicht da.» Er schmunzelte. «Um genau 6.37 Uhr ging bei uns in der Einsatzzentrale ein Anruf von einem der Bauarbeiter ein, dass eine Leiche gefunden worden sei. Wir waren gerade in der Gegend auf Patrouille, als wir hergerufen wurden.» Korporal Steiner hatte eine ungewöhnlich stark ausgeprägte Gestik, die seine sonst schon deutliche Aussprache noch mehr unterstrich. Der Kommissär fragte sich, ob der Korporal sich dessen bewusst war.

«Wir haben dann den Tod des Opfers festgestellt, den Tatort gesichert und die Staatsanwaltschaft benachrichtigt.»

Sie kamen bei der Leiche an, die man mit einem grauen Tuch vor den Blicken der umstehenden Bauarbeiter geschützt hatte. Kommissär Lenz kniete sich nieder und hob langsam das Tuch hoch.

«Wir haben zwar kein eindeutiges Anzeichen für die Todesursache gefunden, aber die unnatürliche Positionierung der Leiche weist darauf hin, dass sie post mortem hier abgelegt wurde. So stirbt doch keiner», erklärte Steiner und zeigte dabei auf die Hände, die seltsam mit der Handinnenseite an der Leiche lagen.

«Ich sehe, was Sie meinen», erwiderte Kommissär Lenz etwas desinteressiert und entfernte vorsichtig das Tuch, um sich einen besseren Blick auf die Leiche zu verschaffen. Vor ihnen lag eine weisse, männliche Leiche, bleich und kalt, in einem gut sitzenden, schwarzen Anzug, einem Hemd mit Krawatte und schwarzen Lederschuhen. Auch wenn der Kommissär während seiner Karriere schon einige Leichen gesehen hatte, musste er jedes Mal gegen den Brechreiz ankämpfen. Er liess sich jedoch nichts anmerken. Doch als ihm der süsslich-muffige Leichengeruch in die Nase stieg, wurde es unerträglich, sodass er gegen den abstossenden Geruch intuitiv die Hand vor die Nase hielt. Es herrschte vollkommene Ruhe. Keiner der Anwesenden sprach ein Wort. Die beiden Polizisten standen immer noch gespannt neben dem Kommissär und beobachteten jede seiner Bewegungen.

Mit einem Bleistift, den der Kommissär aus der Brusttasche seiner grauen Tweedjacke hervorkramte, untersuchte er vorsichtig die vor ihm liegende Leiche, hob dabei sachte einzelne Kleidungsstücke hoch, um wichtige Beweisstücke oder die Todesursache selbst ausfindig zu machen. «Keine Spuren von Blut», murmelte er vor sich hin. Das gefiel ihm gar nicht. Es würde seine Arbeit erschweren. Der Kommissär blickte hoch zu Korporal Steiner, dessen blonde Haare ihn jetzt im Gegenlicht der Sonne blendeten, und fragte kurz und prägnant: «Ich hoffe, Sie haben nicht schon …?», und zeigte mit dem Bleistift auf die Leiche.

«Nein, haben wir nicht. Wir haben nach Vorschrift nur die Erstsicherung des Tatorts vorgenommen.»

Offensichtlich war Steiner mit der banalen Aufgabe, mit der er beauftragt wurde, unzufrieden und fügte hinzu: «Die Aussagen der beiden Zeugen dort drüben», er zeigte auf zwei verwirrte Bauarbeiter, «müssen auch noch aufgenommen werden.» Nicht zu überhören war der zynische Unterton des Polizisten.

Der Kommissär gab Detektiv-Korporal Müller mit einer Kopfbewegung in Richtung der Bauarbeiter zu verstehen, was er zu tun hatte. Mit Block und Kugelschreiber machte sich dieser auf den Weg. Kommissär Lenz widmete sich wieder der Leiche, während zwischen den beiden Polizisten gerade eine heisse Diskussion über mögliche Todesursachen entflammt war.

Sowohl die Brusttasche als auch die äusseren Seitentaschen des Vestons waren leer. Als er aber seinen Kopf auf Höhe des Brustkorbes leicht neigte, um einen besseren Blick in die innere Brusttasche zu haben, fiel ihm die glänzende und leicht zerknitterte Krawatte auf, die das Licht in den Falten ganz schwach reflektierte. Die Seidenkrawatte wies keine verwertbaren Spuren auf. Mit dem Bleistift schob er die Krawatte zur Seite, um einen Blick auf das Hemd zu werfen. «Ein Knopf fehlt», nuschelte Kommissär Lenz so leise, dass ihn die zwei Polizisten überhörten. Der fehlende Knopf war zwar nirgends auffindbar, doch war auf der Haut des Opfers, genau dort, wo der Knopf am Hemd hätte angemacht sein sollen, ein kleiner dunkelblauer Bluterguss erkennbar. Erfahrungsgemäss war dieses Hämatom aber viel zu klein, um für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein. Trotz einer genaueren Untersuchung des Bauches gab es hier keine weiteren auffälligen Spuren. Die Kriminaltechniker und der Gerichtsmediziner würden diese Stelle bestimmt noch genauer untersuchen. Der Kommissär wandte sich nun den Beinen des Opfers zu und erkannte bei näherer Betrachtung weitere Stofffalten an den Kniekehlen des Opfers, die er jedoch als übliche Nutzungserscheinungen einer Stoffhose abtat.

Die linke Hosentasche war leer. Um einen Blick in die andere Hosentasche zu werfen, erhob Kommissär Lenz sich vom Boden, was ein lautes Knacken in seinem Knie auslöste und die Diskussion der nebenstehenden Polizisten kurz unterbrach. Als Korporal Steiner mit halb offenem Mund dem Kommissär seine Hilfe beim Aufstehen anbieten wollte, schüttelte dieser mit zusammengepressten Lippen den Kopf und humpelte langsam um die Leiche herum. Beim Hinknien knackte es erneut.

Nach einem Blick in die Hosentasche winkte er Detektiv-Korporal Müller zu, der gerade von der Erstbefragung der beiden Bauarbeiter zurückkehrte. Dieser reichte ihm einen kleinen Plastikbeutel und ein Paar frische Latexhandschuhe, die er aber nicht anzog, weil er den penetranten Geruch des Latex auf seiner Hand nicht mochte. Er umhüllte nur oberflächlich seine Hände mit den Plastikhandschuhen, um keine Fingerabdrücke oder andere Spuren zu hinterlassen. Vorsichtig griff er in die Hose. Er stiess mit den Fingerspitzen auf einen kleinen Gegenstand und zog ihn sachte aus der Tasche. Detektiv-Korporal Müller stand immer noch gespannt an seiner Seite und beobachtete, wie der Kommissär das einzige brauchbare Beweisstück, das sie an diesem Morgen finden sollten, in aller Seelenruhe begutachtete. Es war die Visitenkarte eines Platzwartes der Sportanlage Grendelmatte. Als er das Beweisstück in den Plastikbeutel schob und diesen versiegelte, fiel ihm etwas auf: Die Visitenkarte eines Giacomo Maggliocca – er versuchte den Namen in seinen Gedanken laut auszusprechen, scheiterte aber an der italienischen Aussprache – wies absolut keine Abnutzungserscheinungen an Kanten und Ecken auf, so wie es üblich gewesen wäre, wenn diese in einer Hosentasche mitgetragen worden wäre. Er wurde misstrauisch. Selbst wenn sich die Visitenkarte nur in der Zeit zwischen dem Eintritt des Todes und seiner Untersuchung in der Tasche befunden hätte, müsste sich dies auf irgendeine Weise auf dem Papier bemerkbar gemacht haben. Davon war der Kommissär überzeugt. Er war sich sicher, dass Detektiv-Korporal Müller dieses wichtige Merkmal nicht erkannt hatte.

«Was haben Sie denn da?», interessierte sich nun auch Korporal Steiner für das Fundstück und rückte dem Kommissär derart auf die Pelle, dass es ihm unangenehm wurde.

«Nichts, das Sie interessieren könnte», konterte Lenz blitzschnell und machte einen Schritt rückwärts, um sich vom aufdringlichen Polizisten zu entfernen. Er wartete einen kurzen Moment, drehte sich dann vom Korporal ab und fügte anschliessend hinzu: «Meine Ermittlung. Meine Beweise», und steckte die Visitenkarte samt Plastikbeutel in ein undurchsichtiges beiges Couvert, das ihm der Detektiv-Korporal gerade reichte, und versiegelte es. Es war nicht so, dass er Korporal Steiner nicht traute. Es lag vielmehr daran, dass er per se niemandem vertraute. Er übergab das Couvert Müller. «Geben Sie das den Kriminaltechnikern. Die sollen es sich mal genauer anschauen.»

Er merkte, dass der Polizist die plötzliche Feindseligkeit nicht verstand. Und auch wenn ihn dieser Umstand nicht sonderbar störte, war ihm die Stille, die jetzt eintrat, etwas unangenehm. Ausserdem war ihm das Augenverdrehen von Korporal Steiner nicht entgangen. Er entfernte sich einige Meter vom Tatort, griff in seinen schweren Mantel und zog eine Zigarettenpackung heraus. Mit spröden Lippen zog er eine Zigarette aus der Packung und tastete dann am ganzen Körper nach einem Feuerzeug. Er fand in der Innentasche seiner Tweedjacke eine Schachtel Streichhölzer, zündete sich die Zigarette an und zog den Rauch tief in seine Lunge. So nahe am Ufer des Rheins spürte er die Bise noch stärker und fühlte, wie sich die beissende Kälte mit dem Zigarettenrauch in seinen Lungen vermischte. Der Kommissär bekam einen Hustenanfall. Als der trockene Reizhusten allmählich abklang, registrierte er ein leises Klirren, das aus seiner Hosentasche zu kommen schien. Seine adrige Hand wanderte in die Tasche und er ertastete zwei Einfrankenstücke. Die beiden Geldstücke in der flachen Hand haltend, kam ihm sein alter Freund Charon in den Sinn, der als Fährmann schon so einige Franken gesehen hatte und der ihm an einem feuchtfröhlichen Abend und bei einem Bier zu viel verraten hatte, dass der Einfränkler genau doppelt so schwer wie ein Fünfzigrappenstück und genau halb so schwer wie ein Zweifränkler sei. Er erinnerte sich an dieses spezielle Ereignis nur, weil ihm das in all den Jahren nie aufgefallen war. Lenz schmunzelte.

Die Worte «Ein Obolus für den Fährmann» verliessen seine nach Rauch schmeckenden Lippen, als er bemerkte, dass die nahe gelegene St. Johann-Fähre vom Ufer ablegte.

Kapitel III (05. Februar 2002)

Es war einer dieser irrwitzigen Tage, der keinem Gesetz und keiner Ordnungsmässigkeit folgte und die Arbeit so sehr erschwerte, dass der Wunsch, alles hinzuschmeissen, in der Luft spürbar war. Das andauernde Klingeln der Telefone, das laute Getöse des Kopierers und das Tippen der Kollegen auf den vergilbten, alten Tastaturen – das alles und noch mehr vermischte sich zu einem unerträglichen Lärm, der bis zum Feierabend kein Ende finden sollte. Einen Moment der vollkommenen Ruhe, das war das Einzige, das Stefanie jetzt brauchte.

«Hast du dich schon um die neue Meldung der Depeschenagentur gekümmert? Ich brauche sie so rasch wie möglich!», rief ihr jemand zu. Ihr Arbeitsplatz befand sich in der hintersten und dunkelsten Ecke der kleinen Nachrichtenredaktion. Es war der einzige freie Platz gewesen, als sie vor fünf Jahren als junge und begeisterte Praktikantin mit grossen Träumen hier angefangen hatte. Doch heute fristete sie ein Leben als eine der unzähligen Journalisten der regionalen Medienlandschaft, die über die unbedeutenden Geschehnisse der provinziellen Politik und die lokale Cervelatprominenz berichten mussten.

Als Stefanie vorsichtig über die Kante ihres Bildschirms in die Redaktion schielte, dröhnte die Stimme erneut: «Ich brauche deine Korrekturen zur Pressekonferenz. Sofort!» Als sie ihren Kopf wieder gesenkt hatte, nahm sie die dunkle Hornbrille ab, die auf ihrer Nase einen rötlichen, leicht schmerzenden Abdruck hinterliess, und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Sie merkte, dass sich aus ihrem Pferdeschwanz einige Strähnen gelöst hatten. Sie öffnete ihn, strich sich die blonden Haare streng von der Stirn aus nach hinten und band sie am Hinterkopf erneut zusammen. Der Pferdeschwanz, der ihre hohen Wangen und den breiten, aber trotzdem sehr weiblichen Unterkiefer besonders betonte, gab ihr die Seriosität, die man von einer Journalistin erwarten durfte – so ihre Vorstellung.

«Ich hab die Aufnahmen vom Rathaus dem Cutter hingelegt», klang eine vertraute Stimme aus dem alltäglichen Tumult heraus. Sie nickte freundlich, so wie sie es immer tat. Vor ihr stand ein aufgeweckter schlanker Mann mit Dreitagebart und langem schwarzem Kraushaar, das er mit einem Haargummi zu bändigen versucht hatte. Trotz den langen Haaren war aber der Ansatz von Geheimratsecken unverkennbar. Lukas Nigg war ein begeisterungsfähiger und engagierter Kameramann, der besonders durch seine offene und direkte Art auffiel. «Sag dem Cutter, er soll das gesamte Band kurz sichten. Ich war nochmal da und hab noch Aufnahmen von der Grossratssitzung gemacht. Die Bilder von der Abstimmung kommen echt gut!» Lukas grinste.

«Du hast was gut bei mir. Merci!», rief ihm Stefanie nach, als er schon fast wieder aus dem Raum war. Sie wusste, dass er sich in der Redaktion unwohl fühlte, nicht wegen den vielen dauernd gestressten Redaktoren, die vom Produzenten stets an der kurzen Leine gehalten wurden, sondern weil ihm die kreative Arbeit an der Kamera mehr Freude bereitete. Stefanie mochte die Arbeit mit ihm und sie mochte ihn.

«Und fertig?», erkundigte sich Produzent Christian Lüthy, der sich derweil an Stefanie herangeschlichen hatte.

«Ja, alles erledigt. Wird gerade gedruckt.» Gesagt und zwei Klicks am Computer später auch so geschehen. Ein kurzes Nicken und eine Erinnerung daran, dass sie in zehn Minuten für den Schnitt eingeteilt sei, das war alles, was sie für ihre heutige Arbeit ernten sollte. Gerade als Stefanie sich zurücklehnen und einen Moment der Ruhe geniessen wollte, erspähte sie Lukas, der ein weiteres Mal in die Redaktion gekommen war. Ihre Blicke begegneten sich. Als er an ihrem Tisch angekommen war, schaute er sich kurz um und fragte: «Habt ihr was von einem Mord gehört?»

Sie blickte auf ihren Bildschirm und wandte sich wieder Lukas zu. «Ich habe einen Unfall auf der A2 und eine Meldung zu einem Enkeltrickbetrüger.»

Er schaute sie verdutzt an. «Also kein Mord?», vergewisserte er sich ein weiteres Mal.

«Ich habe gerade vor fünf Minuten meinen Pager, alle Briefe und die eingegangenen Faxe gecheckt. Nein, nichts.»

«Ich hab von einem Bekannten erfahren, dass heute früh bei irgendeinem Hafen eine Leiche aufgetaucht sein soll. Das wär doch eine Geschichte wert?»

Er hatte ihr ein Lächeln ins Gesicht gezaubert. Für solche Storys war sie leicht zu begeistern.

«Dann hab ich endlich was Gutes für die Nachrichten. Warte mal!» Stefanie klapperte noch einmal alle gängigen Nachrichtendienste ab und vergewisserte sich sogar bei zwei Arbeitskollegen, dass es nichts Derartiges zu vermelden gab.

«Scheint niemand was davon zu wissen. Aber ich rufe gleich mal bei der Staatsanwaltschaft an und klär das trotzdem kurz ab. Kennst die ja, die halten sich gerne mal bedeckt.» Sie streckte belehrend den Zeigefinger aus, wobei es ihr nicht gelang, ein breites Grinsen zu verkneifen: «Oder noch besser: Die haben es schlicht und einfach verschwitzt.»

Diesmal zauberte sie ihm ein Lächeln ins Gesicht. «Da muss etwas im Busch sein. Bleib dran!» Er drehte sich um und verliess die Redaktion.

Stefanie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und nahm einen tiefen Schluck aus der grossen blauen Tasse, die auf ihrem Tisch stand. Eine ganze Weile sagte sie nichts und genoss den lauwarmen Lotustee. Sie spürte, wie er ihren Körper angenehm erwärmte und ihr die Gemütsruhe gab, die sie an diesem Tag so bitter nötig hatte. Ein zweiter tiefer Schluck – und ihre Sorgen waren vergessen. Sie setzte die Keramiktasse ab, hob den Telefonhörer an ihr rechtes Ohr und wählte die Kurzwahltaste Zwei. Es klingelte.

Stefanie befeuchtete ihre blassen Lippen, als das Tuten am Hörer aufhörte. Die Person in der Leitung stellte sich kurz mit Namen und Funktion vor.

«Herr Graf, guten Tag», klang Stefanies unsichere Stimme. «Stefanie Gerber vom Stadtfernsehen am Telefon.» Sie tauschte einige höfliche Floskeln aus und kam dann zum Grund ihres Anrufes: «Wir haben hier in der Redaktion erfahren, dass es heute bei einem Hafen einen Vorfall gab. Die Rede war sogar von einer Leiche.» Sie hörte ein leises Murmeln und fuhr dann ungebremst fort: «Wir gehen in einer guten Stunde auf Sendung und würden die Meldung auch bringen, sofern Sie dazu Stellung nehmen möchten.» Sie wartete auf eine Antwort. Die tiefe ruhige Stimme antwortete kurz und knapp.

«Ja, aber, Herr Graf …» Sie bemerkte erst jetzt den direkten Tonfall des Mediensprechers, fragte aber trotzdem erneut nach: «Und Sie wissen wirklich nichts davon?» Sie seufzte.

Er bestätigte ihr, dass vonseiten der Staatsanwaltschaft in dieser Sache keine Ermittlungen aufgenommen wurden und die Medien selbstverständlich informiert würden, falls es etwas gäbe, das im Interesse der Allgemeinheit stünde. Sie wusste, dass es sich dabei um eine leere Phrase handelte, denn sie hatte genau diese Worte schon so oft von ihm gehört. Sie mochte dieses Bürokraten-Deutsch überhaupt nicht.

«Könnten Sie mir aber …», wollte sie nachhaken, aber Graf unterbrach sie, liess sich wegen einer dringenden Sitzung entschuldigen und beendete das Telefonat. Wenn Stefanie in diesem Moment auch nur ansatzweise geahnt hätte, was sich wirklich hinter diesem Gerücht verbarg, hätte sie sofort alles daran gesetzt, eine der bedeutendsten Geschichten ihrer Karriere aufzudecken. Stattdessen lehnte sie sich zurück und schlürfte weiter an ihrem Lotustee.

Kapitel IV (05. Februar 2002)

«Ich bin das Alpha und das Omega.» Diese Grundwahrheit des Lebens liess Etienne nicht schlafen. Auch wenn die eisige Februarkälte durch die alten Fensterabdichtungen ins abgedunkelte Schlafzimmer zog, lag er ohne Decke mit offenen Augen regungslos da und starrte an die vergilbte Decke. Von Zeit zu Zeit hauchte er diesen einen Satz, den er sich zu seinem ganz persönlichem Credo gemacht hatte.

Etienne setzte sich auf, liess die Beine von der hohen Bettkante hängen und spürte die stechende Kälte an seinen Fusssohlen, die allmählich auch seine Beine hochkletterte. Er schloss seine Augen und hauchte ein letztes Mal die Worte: «Ich bin das Alpha und das Omega.»

Etienne brauchte dringend eine Dusche. Er fühlte sich schmutzig. Noch sitzend zog er den schwarzen Kapuzenpullover mit Aufdruck und die schwarzen Jeans aus, stand dann vom Bett auf und warf die Kleider neben sich auf den Boden. Auf wackligen Beinen tapste er Richtung Badezimmer. An der Tür zum Bad blieb er kurz stehen, strich sich durch die zerzausten und leicht fettigen Haare und trat dann vorsichtig ins Badezimmer. Die Fliesen fühlten sich eiskalt an, sodass Etienne vorsichtig von Teppich zu Teppich hüpfte. Am Lavabo angekommen, stand er versteinert vor dem Spiegel und blickte in das fahle Gesicht, das ihn anglotzte. Etienne seufzte.

Im Spiegel sah er einen jungen Mann, der auf die dreissig zuging, dessen Gesichtszüge durch den exzessiven Alkoholkonsum derartig leblos wirkten, dass dieser Anblick in ihm eine ungewohnte Scham auslöste. Auch wenn die Person im Spiegel genau so aussah wie er und jede seiner Bewegungen perfekt nachahmte, war er sich sicher, dass er es nicht war. Er konnte es nicht sein. Das faltige Gesicht, die tiefen Augenringe und die zerzausten fettigen Haare liessen ihn an sich selbst zweifeln. Wann hatte er sich selbst aufgegeben? Er wusste, dass es auf diese Frage keine Antwort gab. Er wusch sich das Gesicht am Lavabo und genoss anschliessend die heisse Dusche.

Etienne verliess seine kleine Wohnung mit schnellen Schritten in Richtung der nächstgelegenen Busstation. Auch wenn ihm in der einbrechenden Abenddämmerung der eisige Wind den Rücken hochkroch, liess er seinen knielangen, militärgrünen Parka offen. Um die stechende Kälte dennoch zu bekämpfen, verbarg er seine rauen Hände in den gefütterten Seitentaschen. Zwei Minuten. So lange musste er auf die Ankunft des beheizten Busses warten. Er verliess das warme Fahrzeug am Claraplatz wieder. Dieser Platz schien auch zu frühabendlicher Stunde noch voll mit Leben zu sein. Er überquerte den Platz und ging zu einer kleinen Parkanlage. Ungeachtet der einzigartigen zentralen Lage hatte sich dieser Park in der kalten Jahreszeit zu einem fast verwaisten Ort entwickelt, was Etienne aber nicht davon abhielt, dort einen Bekannten aufzusuchen.

«Mike!», rief er, als er in der Mitte des Stadtparks stand. Eine Mutter, die gerade ihr Kleinkind auf die Schaukel setzte, schielte verdutzt zu Etienne rüber. Keine Reaktion. Stattdessen stand ein gross gewachsener, massiver Mann von einem der Tischtennistische auf und lief auf Etienne zu. Er trug übergrosse verwaschene Jeans, einen grauen Hoodie und eine schwarze Sportjacke, auf der mit grossen Lettern «Raiders» stand. Als sich die beiden gegenüberstanden, schaute Etienne ihm einen Moment lang regungslos in die dunklen Augen, bis dieser mit seiner rechten Hand ausholte.

«Yo, Edi! Wie gehts, wie stehts?» Die ungewohnt ernsthafte Situation löste bei beiden ein verhaltenes Schmunzeln aus. Sie tauschten einen Handschlag aus. Was dabei das ungeschulte Auge nicht sah: Eine kleine Tüte und einige Banknoten wechselten jeweils den Besitzer. «Schön, dich auch mal wieder zu sehen!» Mike grinste von einem Ohr zum anderen. Diesmal war seine Reaktion nicht aufgesetzt.

«Was hast du für mich?», erkundigte sich Etienne. Dieser Mike war ein nützlicher Informant und sein teures Geld wert.

«Scheisse! Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll.» Mikes feuchte Ausdrucksweise, besonders bei Kraftausdrücken, war eine seiner vielen Angewohnheiten, an denen sich Etienne störte. Die beiden liefen im Park herum, es war viel zu kalt, um stehen zu bleiben.

Mike fuhr fort: «Es ist beschissen. Der Patron hat jetzt die ganze Stadt im Griff.» Er drehte sich trotz seinem Gewicht mit ausgestreckten Armen schwungvoll um seine eigene Achse. Dabei blieb etwas Dreck an seinen Stiefeln haften. «Schau dich um. Du kannst nicht mal mehr auf dieser Seite des Rheins etwas Krummes drehen, ohne dass der was mitverdient. Und wenn doch, dann nur, weil er das so will.» Mike lachte bitter.

Etienne mochte diese grossschnäuzige Gossensprache nicht. «Und was ist mit den Russen? Du weisst doch …», fragte Etienne.

«Nichts», kam als Antwort. Die beiden schauten sich an. «Soweit ich weiss, haben die Russen nichts mehr zu melden. Einige von ihnen haben sich dem Patron angeschlossen und von den anderen hat niemand mehr was gehört.» Mike rieb sich die Nase.

Etienne blieb kurz stehen, worauf sich Mike, der ihm einen Schritt voraus war, zu ihm umdrehte.

«Und dein Arsch? Wem gehört der?», fragte Etienne.

Mike befeuchtete seine Lippen und lief schnurstracks auf ihn zu. «Dem Mistkerl mit der meisten Kohle.» Er verlor sich dann in einem krankhaften Lachen, das durch seine Kurzatmigkeit jäh in einem leisen Keuchen endete.

Seine aufgeblasene Art ging Etienne langsam, aber sicher auf die Nerven. Er musste sich zusammenreissen, um diesem Aushilfsgangster nicht die Fresse zu polieren. Auch wenn er heute durch Mike nichts in Erfahrung bringen konnte, was er nicht bereits wusste, durfte er es sich mit ihm nicht verscherzen. Er könnte noch sehr hilfreich werden.

«Und da kann man bestimmt nicht was unter der Hand mitverdienen?», fragte Etienne trotzdem weiter. Mike fing ein weiteres Mal an, lautstark zu lachen. Die Mutter mit dem spielenden Kind drehte sich kurz um und beobachtete die beiden.

Schliesslich fragte er todernst zurück: «Du willst dich doch nicht mit ihm anlegen?»

«Lass das meine Sorge sein. Wo finde ich diesen Patron?»

«Wenn er will, findet er dich. Ich könnte einem seiner Männer natürlich auch stecken, dass du dich mit ihm treffen willst.»

Etienne verstand die Anspielung und übergab dem Schwergewicht weitere zusammengefaltete Geldnoten, die er für genau diesen Augenblick vorbereitet hatte.

«Etienne, ich geb dir aber so unter Freunden noch einen Tipp und der ist vollkommen umsonst: Halt dich von ihm fern, das könnte sonst dein Ende sein. Du weisst nicht, zu was er imstande ist.»

Unbewusst und ohne sich Gedanken darüber zu machen, realisierte Etienne, dass sich die Mutter wieder ganz ihrem Kind zugewandt hatte. Er sann darüber nach, was dieser grosskotzige Mistkerl damit meinte, als er ihn als seinen Freund bezeichnet hatte. Die beiden verband nichts. Als er seinen Blick von Mikes schmutzigen Schuhen hob, sah er von Weitem einen Streifenwagen, der in ihre Richtung fuhr. Etienne gab seinem Gegenüber unauffällig ein Zeichen und die beiden trennten sich wortlos.

Kapitel V (06. Februar 2002)

Kommissär Lenz stand in einer ruhigen Ecke des Grossraumbüros an die Wand gelehnt und überblickte mit seiner chronischen Teilnahmslosigkeit das tägliche Geschehen. Tag für Tag kamen diese Sklaven des Systems zur Arbeit und erledigten ihre langweiligen Aufgaben, tranken Kaffee und tratschten mit Kollegen über Banalitäten, die lieber unausgesprochen geblieben wären. Der Kommissär hatte alle im Blickfeld, doch keiner von ihnen würdigte ihn eines Blickes. Das Leben war eine reine Zeitverschwendung. Einen Augenblick später, als der Kommissär erneut vom sehnigen Trockenfleisch abbiss, das sein mageres Frühstück war, zischte es von der Seite: «Christoph?»

Pascal Amstutz, der leitende Staatsanwalt, blieb einen Moment in der Tür stehen, auch dann noch, nachdem sich ihre Blicke begegnet waren, und liess, als er wieder in sein Büro trat, die Türe hinter sich einen Spalt weit offen. Der Kommissär blieb noch so lange stehen, bis er das würzige Trockenfleisch heruntergewürgt hatte, dann folgte er seinem Vorgesetzten in dessen Büro. Amstutz sass tief in den schwarzen Bürostuhl zurückgelehnt und blickte durch die grosse Fensterfront in die lebendige Innenstadt.

«Christoph, nimm doch Platz!», forderte ihn der Staatsanwalt auf. Kommissär Lenz räusperte sich und setzte sich. Er ging davon aus, dass Amstutz ein kurzes Briefing über den Stand der Ermittlungen haben wollte. Auch wenn alle Akten jederzeit für ihn einsehbar waren, bevorzugte er stets das persönliche Gespräch. Zum Leidwesen des Kommissärs.

«Der Hafenmord von gestern Morgen», fing Amstutz das Gespräch an, «ist dein Fall, ja?» Lenz nickte zustimmend auf diese offensichtlich rhetorische Frage. «Und habt ihr durch die Sonderkommission schon verwertbare Hinweise erhalten?» Der Staatsanwalt strich sich durch die langen, glänzenden Haare, während Kommissär Lenz mit aller Kraft gegen die Müdigkeit ankämpfte. Ein einfaches «Nein» war für den Augenblick alles, was er über seine spröden Lippen brachte. Um der Müdigkeit entgegenzuwirken, rieb sich der Kommissär mit der flachen Hand am Oberlippenbart.

«Das wird dir nicht gefallen, aber», fuhr Amstutz fort, «Bosshardt, der erste Staatsanwalt, will diesen Fall unbedingt …»

Der Kommissär unterbrach ihn: «Kannst du nicht jemand anderen auf diesen Fall ansetzen?» Das Jammern in seiner Stimme war unüberhörbar. «Ich kann dir eine Handvoll Männer und Frauen nennen, die für diesen Fall genauso gut geeignet wären.» Dem Kommissär wurde bewusst, dass er am Tiefpunkt seiner Würde angekommen war.

Der Staatsanwalt atmete ruhig. Er lehnte sich über den Tisch und flüsterte mit ruhiger Stimme: «Christoph, hör mir zu. Du hast noch zwei oder drei Jahre bis zur Pensionierung, ja?»

Er wartete, bis der Kommissär zustimmend nickte.

«Ich weiss, dass du es momentan nicht einfach hast. Ich kann dich verstehen. Das sage ich dir jetzt nicht als Chef, sondern als dein Freund.» Lenz hatte derweil seinen Blick gesenkt. «Wir stehen das durch, aber du musst mir auch etwas entgegenkommen. Beende diesen Fall und ich kümmere mich persönlich darum, dass du diese Ausseneinsätze nicht mehr machen musst, wenn es das ist, was du willst.» Er machte eine Handbewegung und fügte hinzu: «Und mach dir auch keine Sorgen um deine Rente.» Der Staatsanwalt blickte dem Kommissär dabei in die matten, altersmüden Augen, der den Blick nicht erwiderte, sondern auf den Boden starrte.

«Christoph? Hast du mich verstanden?», fragte ihn Pascal Amstutz.

Gerade als ihm Kommissär Lenz eine mürrische Antwort geben wollte, klopfte es energisch an der Tür. Herein trat, nach der Aufforderung des Staatsanwalts, dessen junger Assistent.

«Entschuldigen Sie, Herr Amstutz? Ahh … Ich wusste nicht, dass Sie in einer Besprechung sind.» Die Überraschung war ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. «Sie werden bei der Sitzung mit Herrn Bosshardt erwartet.»

Amstutz bedankte sich bei seinem Assistenten für die Erinnerung, über die er sichtlich froh schien. Als die Tür sich wieder schloss, kippte auch der Umgangston des Staatsanwalts. «Also, Christoph! Was ich sagen wollte: Ich habe schlechte Nachrichten für dich. Ich muss einige Leute von deiner Soko abziehen.»

Auch wenn der Kommissär jetzt seinen Blick auf seinen Gesprächspartner gerichtet hatte, war sein Desinteresse unübersehbar.

«Ich brauche einige deiner Leute beim Fall der vermissten Julia und bei den neusten Vorfällen in der Stadt. Wir müssen da unbedingt schnell reagieren. Du verstehst mich doch? Wir müssen Präsenz markieren.»

Kommissär Lenz nickte und murmelte ein undeutliches:

«Ja, ist ja schon gut.»

Die Mimik des Staatsanwalts verriet dem alten Kommissär, dass er mit deutlich mehr Gegenwehr gerechnet hatte.

«Dann ist ja gut!», rief Amstutz und klatschte mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Auch wenn der Staatsanwalt seine Verblüffung mit einem spitzbübischen Lächeln zu überspielen versucht hatte, gelang es ihm noch immer nicht, sein Erstaunen vor dem Kommissär zu verbergen. «Da die ersten achtundvierzig Stunden für einen Fall essenziell sind, kannst du natürlich noch für heute auf das gesamte Team zurückgreifen. Ich wäre froh, wenn du mir bis heute Abend die Namen von vier Kollegen nennen würdest, die ich dir zuteilen soll. Aber das hat …»

«Müller, Mendelin», fiel ihm Lenz ins Wort. Er überlegte kurz, «Schmidt und ähm … dieser komische Kauz aus dem Labor.» Der Kommissär schloss die Augen, um sich besser zu konzentrieren, und murmelte: «Der mit den langen Haaren … ähm … Martinelli! Ja genau, Martinelli.»

Mit leichtem Kopfnicken notierte sich der Staatsanwalt die Namen auf einem Notizzettel, stand auf und verliess, nachdem er dem noch sitzenden Kommissär die Hand gegeben hatte, das Büro. Der gleichgültige Blick des Kommissärs richtete sich auf die noch halb offene Tür.

Kapitel VI (06. Februar 2002)

Stefanie hielt das Dokument mit beiden Händen fest umklammert. Ein weiteres Mal las sie das Fax. Diesmal aber strich sie mit ihrem Zeigefinger über die Wörter, um auch ja keines zu übersehen. Nein, sie hatte sich also nicht verlesen. Noch immer stand auf dem Papier dasselbe wie beim ersten Mal.

Stefanie kontrollierte die Anschrift und die Signatur auf dem Dokument. Ein nervöser Blick auf das Faxgerät verriet ihr die Telefonnummer des Absenders. Alles hatte seine Richtigkeit. Die Anschrift und die Faxnummer stimmten mit jener des Mediensprechers der Staatsanwaltschaft überein. Somit konnte es kein Fehler sein.

Stefanie wurde nervös und ihre Hände begannen zu schwitzen. Ihr Herz pochte schneller.

Sie wartete weitere fünf Minuten vor dem Faxgerät auf eine Berichtigung, denn sie durfte sich in diesem Fall keinen Fehler erlauben. Ungeduldig lief sie in der Redaktion auf und ab, weswegen sie von ihren Kolleginnen und Kollegen genervte Blicke erntete.

Nichts. Kein Fax, kein Anruf. Totenstille. Stefanie machte zwei Kopien der Medienmitteilung. Sie beugte sich vor und entnahm die beiden Kopien aus dem Fach. Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, um an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren, stand vor ihr plötzlich ein gross gewachsener, schlanker Mann mit faltigem Gesicht und grau-schwarzen Haaren – Thomas Schneeberger, der Chefredaktor. Sein Blick und besonders seine grosse Nase erinnerten Stefanie an eine Krähe, die an einem eiskalten Wintermorgen auf einem weiten Feld auf dem Boden hin und her hüpfend auf der Suche nach etwas Essbarem war. Er blickte auf sie runter. Zuerst ihr direkt in die Augen, dann auf die Kopien in ihren Händen.

«Was hast du da?», fragte ihr Chef und machte eine Handbewegung.

Stefanies Blick wanderte von den frisch bedruckten Blättern mit grosser Vorsicht hoch. Erst jetzt registrierte sie das ungepflegte Erscheinungsbild ihres Gegenübers, das ihrer Meinung nach dem eines Chefredaktors nicht würdig war. Insbesondere der alte, schwarze Appenzeller Ledergürtel, der durch den jahrelangen Gebrauch speckig geworden war und dessen Länge aufgrund des hohen Gewichtsverlusts seines Trägers in den letzten Jahren nun lächerlich wirkte, störte die junge Redaktorin.

«Ich wollte gerade zu dir.» Sie hatte ihren Blick gesenkt, da sie befürchtete, dass die alte Krähe ihre Gedanken hören könnte. Sie wusste, dass er sie mit seinem durchbohrenden Blick musterte.

«Schau dir das mal an!» Sie überreichte ihm das Originalfax. Thomas Schneeberger überflog die Medienmitteilung. Erst jetzt hatte sie ihren ganzen Mut aufbringen können, um den abgelenkten Chefredaktor zuzuschauen, wie er Zeile für Zeile das Dokument überflog. Ein kurzer Moment der Stille verging. Er schaute auf und fragte sie mit einem irritierten Blick: «Soll ich dir jetzt erklären, wie du deinen Job zu erledigen hast?»

«Nein, Thomas! Schau dir diese Textpassage mal genauer an.» Sie tippte mit ihrem Zeigefinger auf einen fettgedruckten Abschnitt und merkte dabei, wie lächerlich klein sie neben ihrem Chef wirken musste. Dieser las die Passage erneut, diesmal mit einem leisen Murmeln. Stefanie beobachtete ihn dabei genau.

«Ja und?» Er schaute sie fragend an.

«Das ist der Tote von gestern Vormittag. Der vom Hafen!», posaunte sie.

«Ein toter Bauarbeiter. Das gibt höchstens eine Meldung», entgegnete ihr der Chefredaktor, der schon viele derartige Kommuniqués der Staatsanwaltschaft gesehen hatte. Als er gerade den Mund öffnen wollte, um ihr gegenüber ausfallend zu werden, kam sie ihm zuvor: «Nein, an dieser Medienmitteilung stimmt etwas nicht!» Sie atmete kurz aus.

«Hör zu!», fing sie an. «Du kennst Markus, ja? Meinen Schwager?» Der Chefredaktor nickte zustimmend. Noch immer verstand er ihre Aufregung nicht.

«Markus ist Kranführer auf dieser Baustelle. Er kannte den Toten nicht – niemand kannte den Toten!» Sie blickte ihm in seine müden Augen. Sie konnte genau den Moment erkennen, in dem auch bei ihm der Groschen fiel. Sie wusste, wie sehr Thomas derartige Geschichten mochte.

«Das ist gut. Das ist gut», murmelte der Chefredaktor gedankenversunken. Dann fuhr er energisch fort: «Grossartig! Das hast du gut gemacht! Ich will, dass wir die Ersten sind, die darüber berichten.» Seine wieder mit Leben erfüllten Augen starrten sie jetzt regelrecht an. Stefanie fühlte sich unwohl.

«Das ist deine Geschichte. Mach etwas daraus!», forderte er sie auf.

Von Thomas Schneebergers resolutem Verhalten beeindruckt, schenkte ihm Stefanie lediglich ein lautloses Kopfnicken.

Mit einem verschmitzten Lächeln und erhobenem Zeigefinger mahnte sie der Chefredaktor zur Vorsicht: «Das wird nicht allen gefallen. Pass auf, dass du dir die Finger nicht verbrennst.»

Kapitel VII (07. Februar 2002)

Etienne zitterte am ganzen Körper. Noch vor wenigen Tagen undenkbar, hatte Etienne den knielangen militärgrünen Parka von oben bis unten zugeknöpft und gegen den schneidigen Wind sogar die Kapuze hochgezogen. Mit den eisigen Temperaturen konnte er leben, aber der Wind, der bei jeder seiner Bewegungen eine Möglichkeit zu finden schien, um in das Innere seiner wärmenden Jacke zu gelangen, zermürbte ihn. Es lag nur noch ein kurzer Fussmarsch zwischen ihm und seinem Ziel. Er wusste nicht, was ihn dort erwartete. Die letzten zwei Tage hatte er sich auf den Strassen herumgetrieben, um Informationen über diesen Patron zu sammeln. Nichts. Erst nach Dutzenden Türbesuchen hatte er heute Morgen per SMS von einer anonymen Nummer eine Orts- und Zeitangabe erhalten. Er war knapp in der Zeit; aber eine Verspätung konnte er sich nicht erlauben. Etienne marschierte schneller. Endlich erblickte er auf der anderen Strassenseite sein Ziel, ein kleines zwielichtiges Lokal. Die Ampel signalisierte gerade blinkend das Ende einer Grünphase. Er fing an zu rennen. Als er die Ampel erreicht hatte, stiess er mit einem alten Mann zusammen, der von rechts, nahe der Hausfassade, angelaufen kam und sich ihm in den Weg stellte. Etienne hätte ihn beinahe umgestossen, konnte sich aber mit einem schwungvollen Seitenschritt retten und kam etwas wackelig zum Stillstand. Niemand war zu Schaden gekommen. Nur vier Orangen rollten auf dem Trottoir in alle Richtungen davon. Als sich Etienne dem alten Mann zuwandte, blickte dieser auf den Boden, unschlüssig, welcher Orange er nachschauen sollte.

«’Tschuldigung! Ist Ihnen etwas passiert?», fragte Etienne den alten Mann, der ihn keines Blickes würdigte und noch immer seinen Orangen nachsah. Die einzige Reaktion war ein langsames Nicken. Als sich der alte Mann jedoch plötzlich vorbeugte, um eine der Früchte aufzuheben, wirkte er gar nicht mehr so betagt.

Trotz dem Zeitdruck sorgte sich Etienne um den Unbekannten. «Lassen Sie bitte, ich mach das schon. Es ist ja das Mindeste, was ich tun kann.» Als er die restlichen Orangen vom Boden einsammelte und dem Mann in die Tragetasche legte, blickten sie sich kurz an und Etienne sah ihm an, dass er ihm nicht böse war.

«Ja ja, ist ja schon gut», hauchte der alte Mann und ging mit gesenktem Blick davon. Etienne schaute ihm kurz nach, um sicher zu gehen, dass ihm wirklich nichts geschehen war, und überquerte anschliessend die Strasse bei Rotlicht.

Etienne trat in die warme Gaststube ein. Auch wenn in ihm gerade ein mulmiges Gefühl hochkroch, versuchte er, sich unvoreingenommen an diese Sache zu wagen. Er hatte ja nichts zu verlieren. Es war ein öffentliches Lokal, das sich nahe der Einkaufsstrasse befand, sodass, wenn man ihm hätte etwas anhaben wollen, dies sicherlich nicht unbemerkt hätte bleiben können. Und ausserdem hatte man ihn dorthin bestellt – was konnte ihm also schon geschehen?

Noch bevor hinter ihm die Türe wieder ins Schloss fiel, hatten sich bereits alle Gäste zu ihm umgedreht, was Etienne an einen alten Westernfilm erinnerte. Er musste schmunzeln. Vom massiven Holztisch unmittelbar rechts von der Tür erhob sich ein Ungetüm aus puren Muskeln, das fast so breit wie der Türrahmen war. Der Mann trug die langen grauen Haare nach hinten gekämmt, was sein kantiges Gesicht und die schmalen Lippen besonders hervorhob, und seine Oberarme waren dicker als Etiennes Oberschenkel. Der Mann glotzte auf ihn herab. Äusserlich unbeeindruckt musterte Etienne den Koloss ein weiteres Mal von oben bis unten und ihm wurde bewusst, dass er mit seinen überdurchschnittlichen 1,89 Metern neben diesem Koloss klein und schmächtig erscheinen musste.

«Was willst du hier?», fragte ihn der Riese mit tiefer Stimme.

Etienne gelang es nicht auf Anhieb, seinen Akzent herauszufinden.

«Ich will nur etwas trinken», erwiderte er ruhig, aber bestimmt. Sie hielten Blickkontakt.

«Etwas trinken kannst du auch im Lokal gegenüber!», konterte das Muskelpaket, dessen Herkunft Etienne jetzt in der ehemaligen Sowjetunion vermutete.

Etienne drehte sich um, tat so, als würde er aus dem kleinen Fenster neben der Türe ins Freie blicken, und wandte sich dann wieder dem Russen zu: «Gegenüber ist ein Fotogeschäft. Die schenken wohl kein Bier aus.»

Der Russe grinste schelmisch und zog seine linke Augenbraue nach oben. Diese Reaktion hatte Etienne nicht erwartet, so auch die übrigen Gäste nicht, die mit leisem Getuschel das Geschehen beobachteten.

«Raus!», brüllte das Muskelpaket plötzlich und stiess Etienne rückwärts zur Tür.

«Hey! Komm mal runter!», versuchte Etienne ihn zu beschwichtigen. «Ich will ja nur ein Bier trinken.»

Doch der Riese stiess ihn weiter in Richtung Tür und er musste einsehen, dass jede Gegenwehr sinnlos war.

«Ist ja schon gut! Ich geh ja schon!»

Der Russe liess von ihm ab.

«Raus! Und lass dich nie mehr hier blicken!»